… in saecula saeculorum. – Bestandserhaltung im Alltag – Teil 1: Grundlagen

Ein Archivale oder ein Buch einer Bibliothek kann aus vielen Gründen dem Verfall preisgegeben sein. Sei es, weil das Material von Grund auf schlecht fabriziert ist, sei es, dass äußere Umstände zu einem beschleunigten Verfall führen. Drei Faktoren sind es, die Archivare und Bibliothekare zur Bestandserhaltung bestimmen können und immer im Auge haben müssen: die Lagerungstemperatur, die Luftfeuchtigkeit und das Nahrungsangebot für eventuelle Schädlinge. Welche Maßnahmen das Archiv der Erzdiözese Salzburg und die Diözesanbibliothek Salzburg in diesem Bereich setzen, soll in diesem Artikel ein wenig näher beleuchtet werden.

Bestünden unser Archiv und unsere Bibliothek alleine aus Einzelblättern aus Papier, wäre eine Lagerung unter 0° C und eine möglichst niedrige Luftfeuchtigkeit wohl die beste Umgebung um die Bestände “in saecula saeculorum” zu erhalten. Wollte nun jemand diese Bestände benutzen, stünden wir schon vor dem ersten Problem: Lange Aufwärm- und Abkühlzeiten wären nötig um Kondenswasserbildung und Feuchtigkeitseintrag in die Magazine zu vermeiden. Arbeit in den Magazinen wäre außerdem bei diesen Temperaturen nur schwer möglich und nicht besonders angenehm. Da ein Archiv- und Bibliotheksbestand nie nur aus Papier, sondern auch aus Pergament, Leder, Textilien und Leim besteht, muss zwischen den Bedürfnissen (vor allem Feuchtigkeitsbedürfnissen) der einzelnen Materialien ein Kompromiss gefunden werden. Leder und Pergament, Holz und Bindeleim brauchen eine höhere Luftfeuchtigkeit als Papier, um ihre Form nicht zu verlieren. Archivmitarbeiter brauchen Temperaturen, die einer Arbeitsumgebung angemessen sind. Und zu guter Letzt soll die Lagerung auch nicht zu viel kosten. Eine Dauertiefkühlung der Magazine ist also keine angemessen erscheinende Variante. Die in der Literatur und Fachwelt immer wieder empfohlenen Lagerbedingungen (ca. 18° C, ca. 45-55% rel. Luftfeuchtigkeit, möglichst geringe Schwankungen) stellen einen Kompromiss zwischen den zahlreichen Bedürfnissen der gelagerten Materialien dar.

Luftfeuchtigkeit und Temperatur zu kontrollieren und zu verändern, bzw. vor Veränderung zu bewahren ist keine einfache Angelegenheit. Schon die Bauweise eines Magazinraumes hat darauf großen Einfluss. Eine Kontrolle dieser Umweltbedingungen ist unter günstigen Umständen durch bloße Lüftung und gute Wärmeisolierung möglich. Zweifellos ist dafür einige Fachkenntnis von Nöten, bei entsprechender Bauweise und günstigen Umgebungsbedingungen kann dadurch aber durchaus das Klima eines Magazins den oben geschilderten Erfordernissen entsprechend gehalten werden – kleinere Betriebsunfälle und Unachtsamkeiten sind dennoch immer möglich. Unser Archiv besitzt mehrere Tiefspeicher, eine Klimakontrolle durch Lüften ist daher nur schwer möglich. Die hohe Anzahl an Regentagen in Salzburg, die vom Mönchsberg ausgehende Feuchtigkeit und die Staub- und Abgasbelastung in der Stadt sind weitere Argumente gegen ein Magazin, das durch Frischluft klimatisiert wird. Daher werden die klimatischen Bedingungen unsere Magazine durch eine alle Bereiche abdeckende Klimaanlage geregelt. Die Komplexität dieser Anlage ist für einen durchschnittlichen Archivmitarbeiter nur schwer durchschaubar. Fehler können nur mit Hilfe entsprechender Fachkräfte aus dem Bereich der Klimatechnik behoben werden und Betriebsunfälle und Unachtsamkeiten sind hier ebenso möglich, wie bei der oben geschilderten “technikfreien” Methode der Magazinklimatisierung. Das Fazit aus diesen Überlegungen muss also lauten: Das Klima entzieht sich letztlich immer ein wenig unserer vollständigen Kontrolle. Egal, wie ideal ein Archiv angelegt ist, egal wie viel in eine Klimaanlage investiert wird – eine Restunsicherheit bleibt erhalten. Ein paar Stunden erhöhte Luftfeuchtigkeit im Raum mit einem Bestand, der sich schon anfällig gezeigt hat, genügen um den Albtraum eines Archivars oder Bibliothekars zur flaumig weißen Schimmelwirklichkeit werden zu lassen – und kaum einer, der diesem Albtraum nicht schon begegnet ist.

Starker oberflächlicher Schimmelbefall an Büchern, die direkt an einer Wand standen

Weißer Schimmelflor an feucht gelagerten Büchern

Wie in der Einleitung erwähnt, gibt es aber neben der Luftfeuchtigkeit und der Temperatur noch einen dritten Faktor, der aber gerne übersehen wird: das Nahrungsangebot für Schädlinge. Ein solcher Schädling ist meist der Schimmel, manchmal auch ein Schwammbefall, hie und da auch Insekten. Das Nahrungsangebot in Form von Papier, Pergament, Leder und Leim wird sich dem Schädling schwer entziehen lassen, das würde schließlich die Vernichtung des Bestandes bedeuten. Was aber bewirkt werden kann, ist den verschiedenen Schädlingen eine Ansiedlung durch leicht erreichbare Nahrung möglichst schwer zu machen, kurz gesagt: Sauberkeit.

Staub ist ein großer Feind des Buches. Staub enthält Schimmelsporen, Bakterien und unter Umständen auch Insektengelege. Darüber hinaus ist Staub sehr nährstoffreich für Pilze aller Art und leicht erreichbar. Hat er Gelegenheit ins Innere eines Buches einzudringen, werden auch allerhand Schädlinge mit eingebracht. Falls Staub durch einen Schimmelbefall gebildet wurde und daher viele Pilzsporen und Hyphen enthält, hat er auch ein gewisses toxisches Potential und ist damit für den Menschen gesundheitsschädlich. Ist ein Bestand stark staubig und verschmutzt, wird er sich bei erhöhter Luftfeuchtigkeit und Temperatur auch viel anfälliger für einen Schädlingsbefall zeigen. Ein Bestand, der sauber und einigermaßen staubfrei ist, zeigt auch bei länger andauernden, weniger günstigen klimatischen Bedingungen nicht sofort Spuren eines Schädlingsbefalls. Ein sauberes Blatt Papier wird mit etwas Glück selbst bei einem Wasserschaden ohne Schädlingsbefall davonkommen.

Einige Links mit weiterführenden Informationen zum Thema Bestandserhaltung:

Quelle: http://aes.hypotheses.org/240

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Was uns fehlt: medizinhistorische Blogs #catchthekidney

Das sage noch mal einer, das Internet und die sozialen Medien würden unsere sozialen Beziehungen verarmen und uns alle verrohen lassen. Wenn es dafür noch ein Gegenbeispiel gebraucht hätte, dann haben wir es spätestens jetzt. Wer dem Hashtag #catchthekidney auf Twitter folgt, weiß, wovon die Rede ist: Lars Fischer alias @fischblog, einer der bekanntesten und beliebtesten Wissenschaftsblogger in Deutschland (Fischblog bei den SciLogs) und Redakteur bei Spektrum.de, hat an diesem Mittwoch eine Spenderniere von seiner Mutter bekommen. Bereits seit einigen Monaten hat er unter dem hashtag über die Voruntersuchungen und jetzt auch bis kurz vor der OP (und zum Glück auch danach!) getwittert. Aus der Community kamen Zuspruch und Nachfragen über Twitter, da werden virtuell Schokomandeln gereicht und ge-*flauscht*, Trost und Mut zugesprochen und vor allem natürlich Witze gerissen. Zusätzlich wurde ein gleichnamiges Blog aufgesetzt, auf dem Genesungswünsche etc. gesammelt werden.

Im Blog Medicine & More hat Trota von Berlin jetzt aus diesem Anlass einen Beitrag “Transplantation und mehr: Catch the Kidney, @Fischblog!” über Organspenden und Transplantation geschrieben und dabei die Erfolgsstory von #catchthekidney nacherzählt. Gestern wurde zu dieser Blogidee bereits getwittert und die Frage gestellt, ob nicht aus geisteswissenschaftlicher Sicht jemand von de.hypotheses dazu bloggen könnte, ob mit historischem oder mit ethischem Blickwinkel.

Tweetwechsel zur Frage, wie aus geisteswissenschaftlicher Sicht über Organspende und Transplantation gebloggt werden kann.

Community-Managerin Charlotte Jahnz hat es gestern getwittert und in der Tat: Medizinhistorische Blogs fehlen uns auf der deutschen Seite der Plattform. Auf der französischen Seite gibt es Blogs zu Gesundheit und Medizin aus geisteswissenschaftlicher Sicht wie beispielsweise Corps et Médecine oder Anthropologie et santé mondiale. Außerdem kann auf das anregende englischsprachige Blog The Recipes Project verwiesen werden, das mittelalterliche Rezepte, Essen, Zauberei und Medizin behandelt. Vielleicht greift ja jemand die Anregung auf? Ein einzelner Beitrag zur “historischen Nierentransplantation”, wie von TEXperimenTales-Blogger Jürgen Hermes vorgeschlagen, wäre ja schon mal was. Die Community wird es sicherlich danken…

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1470

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SdK 60: Hans-Ulrich Wagner über Klangarchäologie

Hans-Ulrich Wagner untersucht die Geschichte des Radios an der Schnittstelle zwischen Zeitgeschichte und Medienwissenschaft. Die Rekonstruktion von vergangenem Hören vergleicht er mit der Archäologie, da er aus einer Fülle von unterschiedlichen Materialien historische Kommunikationsprozesse analysiert. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Stimme ein, mit deren Hilfe in der Nachkriegszeit ein demokratischer Ton etabliert werden sollte. Das Mikrofon galt als Lügendetektor, weil den Radiostimmen mehr als anderen Medien Authentizität und Ehrlichkeit zugeschrieben wurde.

Linkliste: Hans-Ulrich Wagner, Bismarck-Aufnahme, Franklin D. Roosevelt (Wikipedia), Volksempfänger (Wikipedia), Freies Radio (Wikipedia), Peter von Zahn (Wikipedia), Gerhard Paul

Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk60

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Archivmaterial des französischen Senats zum Ersten Weltkrieg online

commissionsenatDer Sénat, einer der beiden Kammern neben der Assemblée Nationale des Parlamentssystems in Frankreich, mit Sitz im Palais du Luxembourg, hat seine Archivunterlagen zum Ersten Weltkriegs digitalisiert und online zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um die Protokolle seiner Sitzungen und um die Berichte der Kommissionen. Der Zeitraum umfasst die Jahre von 1914 bis 1920. Die Scans werden als pdf zur Verfügung gestellt.

Online zugänglich sind derzeit:

Weitere Informationen zum Digitalisierungsprojekt und zur Arbeit des Senats gibt es hier auf Französisch.

 

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1126

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Eilt wirklich sehr!

Vermerke und Verfügungen auf Aktenschriftstücken richtig einzuordnen, ist ein großer Teil des aktenanalytischen Geschäfts. Deshalb nimmt die Merkmalskunde (so die treffende Bezeichnung bei Neuß 1954: 187) oder Analytische Aktenkunde zu Recht breiten Raum in den Handbücher ein.

Wie die vorliegende Literatur insgesamt, ist auch die Merkmalskunde im Besonderen noch stark auf die Zeit vor 1918 konzentriert. So wie sich das Aktenwesen im 20. Jahrhundert lawinenartig ausbreitete, differenzierten sich auch die inneren Merkmale weiter aus, wechselten ihr Erscheinungsbild und zum Teil auch ihre Funktion. In loser Folge und ohne systematisierenden Anspruch möchte ich einige Vermerke und Verfügungen vor allem in ihren zeitgeschichtlichen Ausprägungen behandeln.

Der Hauptrohstoff jeder Bürokratie ist die Zeit, die auf die Bearbeitung der einzelnen Vorgänge verteilt werden kann. Jeder bürokratische Institution benötigt ein Steuerungsmittel, um besondere Vorgänge mit Priorität bearbeiten zu können: die Beschleunigungsverfügung. Ihre klassische Form ist das lateinische cito! oder citissime!, gern auch kombiniert als cito! citissime! Bis vor kurzer Zeit war im deutschen Auswärtigen Dienst auch noch citissime nachts in Gebrauch: Traf der so bezeichnete Erlass außerhalb der Dienstzeiten in der Botschaft sein, so war der Botschafter notfalls aus dem Bett zu holen. Cito begegnet mitunter auch als grafisches Symbol, bei dem die übrigen Buchstaben in das C eingeschrieben sind. Verdeutscht wurde daraus Eilt! oder Eilt sehr!

Meisner (1935: 150; 1952: 77; 1969: 275) und Kloosterhuis (1999: 483 f.) behandeln cito oder Eilt im Kontext des Empfänger eines Schreibens: als Anordnung z. B. des Behördenleiters zur beschleunigen Erledigung einer Sache, die er auf dem Schriftstück, das den Vorgang auslöst, notiert. Der Konzipient der Antwort übernimmt die Verfügung in seinen Entwurf; Adressat bleiben dabei die nachfolgenden Instanzen im Geschäftsgang der eigenen Institution. Auch Hochedlinger (2009: 72 f.) bleibt in dieser Tradition, gibt aber mit der Erwähnung der Eilbriefe des 20. Jahrhunderts einen Hinweis auf den zweiten Anwendungsbereich, der in den komplizierten Verwaltungsstrukturen der Zeitgeschichte große Bedeutung gewonnen hat.

Eilt kann nämlich der Absender auch, bevorzugt zwischen Kopf und Datum, in sein Schreiben einbauen, um seine Einschätzung der Eilbedürftigkeit einer Sache dem Empfänger aufzwingen. Analytisch liegt also keine vom Kontext getrennte Verfügung vor, sondern ein besonderer Teil des Formulars. Dazu zwei Beispiele:

Eilt sehr 2

Hier wurde Eilt sehr beim Empfänger, dem Referat I B 1 des Auswärtigen Amts verfügt. Quellenkritisch kann daraus mit Sicherheit geschlossen werden, dass das Stück eilig behandelt wurde. (PA AA, B 43, Bd. 147.)

Eilt sehr 1

 

Hingegen wurde im zweiten Beispiel der Stempel Eilt sehr – Sofort auf dem Tisch dem Bericht vom Absender schon mitgegeben. (PA AA, B 43, Bd. 120.) Mehr als eine unverbindliche Empfehlung für die vorgesetzte Zentrale in Bonn kann man darin prima facie nicht sehen. Die hier nicht abgebildeten Bearbeitungsspuren deuten zwar tatsächlich auf eine schnelle Befassung hin: Eingang am 14. Januar, Schlussverfügung zdA am 15. Außer einer einsamen Anstreichung in der mitübersandten Anlage hat dieser Bericht allerdings keine weiteren Aktionen ausgelöst. Schnell zu entscheiden, dass nichts zu veranlassen ist, ist natürlich auch eine Form der schnellen Bearbeitung.

Der Eilt-Stempel wurde in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO nach Aktenlage seinerzeit gern und häufig geschwungen. Ein größeres Eilt (10 x 3,5 cm!) habe ich den Unterlagen des Auswärtigen Amts übrigens noch nicht entdeckt. Waren diese Sachen wirklich immer eilig? Der Verdacht drängt sich auf, dass Eilt (wie auch Geheim) in vielen Fällen als Subsitut für einen im Behördenschriftwesen nicht vorgesehen Wichtig-Vermerk gebraucht wurde. Geschäftstechnische Eilbedürftigkeit und sachliche Wichtigkeit sind aber grundsätzlich verschieden.

So ist Eilt im modernen Behördengeflecht auch ein Mittel, um an höherer Stelle im Wettbewerb mit anderen Aufmerksamkeit für die eigenen Anliegen zu gewinnen. Leicht kann der Gebrauch inflationär werden. Der Brüsseler Eindruck von Dringlichkeit dieser Sache wurde in Bonn jedenfalls nicht geteilt.

Sofort auf den Tisch, wie im Beispiel oben, ist ebenso wie das v. a. bei Kabinetts- und Parlamentssachen anzutreffende von Hand zu Hand ein Zusatz, der die sofortige Vorlage bzw. Weitergabe des Vorgangs ohne Ruhezeiten in Posteingangsstellen und Verteilerzimmern bewirken soll.

Literatur

Hochedlinger, Michael 2009: Aktenkunde: Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien.

Kloosterhuis, Jürgen 1999: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45: 465–563 (Preprint).

Meisner, Heinrich Otto 1935: Aktenkunde: Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meisner, Heinrich Otto 1952: ,Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, 2. Aufl., Leipzig.

Meisner, Heinrich Otto 1969: Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig.
Neuss, Erich 1954: Aktenkunde der Wirtschaft, Bd. 1, Berlin (Schriftenreihe der Staatlichen Archivverwaltung 5).

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/46

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Wie global ist eigentlich global? Oder: Weltbeziehungen, Region, Peripherie

 

Ich betreibe ja Mikrogeschichte. Vergleichend, immerhin (darüber gibt’s demnächst auch mal was). Aber der Fokus liegt auf sehr kleinen Räumen/sozialen Gruppen, eben auf ländlichen Gemeinden, Dörfern. In meinem Fall: so um 1000 Einwohner. Das ist möglicherweise unmodisch. Denn besonders attraktiv wirken ja die großen Ansätze, am besten direkt Globalgeschichte. Das verkauft sich gut, hat was Exotisches und muss sich garantiert nicht fragen lassen, „wie repräsentativ“ das Ganze denn nun sei.

Nun kann man allerdings fragen, wie weit eigentlich die Ansätze von Globalgeschichte und Mikrogeschichte auseinanderliegen – im Zweifel sehr weit. Aber muss das so sein? Nicht erst seit meiner Rezension zum Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2012: Im Kleinen das Große suchen (erscheint hoffentlich bald in der ZfG) denke ich über das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichte nach. Und da ich das ja nicht komplett alleine machen muss, es ganz im Gegenteil viele andere Menschen gibt, die sich auch so ihre Gedanken dazu machen, werde ich in den nächsten Wochen immer wieder Texte diskutieren, die sich dieses Problems annehmen.

Den Auftakt mache ich heute mit einem aktuellen Aufsatz von Johannes Paulmann, erschienen in der letzten HZ und direkt von mir markiert als „muss ich lesen“ (passiert inzwischen häufiger – wer hat sich verändert, die HZ oder ich?).

Worum geht’s? Paulmann versucht, Ansätze der Regionalgeschichte aufzubrechen und in globale Kontexte zu stellen. Er diskutiert unterschiedliche methodische Ansätze und Diskussionen, vor allem solche, die den Konstruktionscharakter von Regionen herausstellen. Statt also von einem gegebenen Territorium auszugehen, wie es die Landesgeschichte lange gemacht hat, soll der Blick darauf gelenkt werden, wie die verschiedensten Akteure an der Konstruktion und Veränderung von Regionen (Regionsvorstellungen und –bezügen) beteiligt sind.

Bei diesem konstruktivistischen Charakter bleibt er aber nicht stehen, sondern betont abseits der Stabilisierung von Regionen deren Verflechtungen und Grenzüberschreitungen. Er greift das Konzept von Translokalität auf und erweitert es zu einem Werkzeug für die Regionalgeschichte: „Transregionalität“ greift also den grenzüberschreitenden Charakter globaler Bezüge auf, ohne die „Region“ als Ausgangspunkt der Interaktion vorauszusetzen. Region entsteht vielmehr auch in dieser Grenzüberschreitung globaler Art.

Dieses Konzept von Transregionalität erprobt Paulmann nun am Beispiel des Südwestens Deutschlands, also letztlich des heutigen Baden-Württembergs bis ins 19. Jahrhundert zurückprojiziert. Anhand von „Welt-Läufern“ (Reisenden und (Re-)Migrierenden) und Institutionen der globalen Wissenserzeugung und Zirkulation (von Völkerkundemuseen bis hin zu alternativen Informationszentren zur „Dritten Welt“) untersucht er, welche Vorstellungen von Region sich in solchen (hierarchischen!) Beziehungen zur „Welt“ niederschlugen und verfestigten, aber auch aufgebrochen wurden.

Über den Aufsatz kann man insgesamt sicher viel diskutieren – etwa, inwieweit gerade der „Südwesten“ ein geeigneter Untersuchungsraum ist, da die Schwierigkeit doch darin besteht, dass er kaum als „Geschichtsregion“ wahrgenommen wird, als Identitätsraum mit historischer Tiefenwirkung also. Oder warum die Weltbeziehungen in erster Linie solche in die südliche Hemisphäre sind, ob die „Welt“ nicht noch mehr ist.

Da aber Paulmann den Aufsatz vor allem als Forschungsaufriss nutzt, um zu zeigen, in welcher Form regionale Ansätze global eingebettet werden können, sind diese Fragen zwar natürlich wichtig, sollten aber nicht als Fundamentalkritik verstanden werden.

Im Gegenteil, ich glaube, dass diese Form der „Beziehungsforschung“ eine interessante Facette regionalhistorischen Arbeitens (und auch globalhistorischen Arbeitens) umreißt, die meiner Meinung nach noch zu wenig beachtet wird, nämlich die Verknüpfung von lokalen Praktiken und „Welt“. Oder, um mit Bruno Latour zu sprechen: „Auch ein großes Netz bleibt in allen Punkten lokal“ (Latour S. 155). Global ist eine Perspektive, keine Seins-Beschreibung. Bleibt man im Konkreten, sind globale Beziehungen lokale Vernetzungspraktiken.

Diese Perspektive ermöglicht es, sehr unterschiedliche Akteure in ihren Praktiken sichtbar zu machen – nicht nur „die“ Politik, „den“ Imperialismus oder „den“ Kapitalismus. Dabei bleibt es aber meiner Meinung nach eine wichtige Aufgabe, die Verkettung dieser Praktiken ebenso sichtbar zu machen – nicht nur einfach alles in einer Menge von Kleinstpraktiken aufzulösen, sondern die Netze dahinter zu rekonstruieren (Latour lässt grüßen), die Zusammenhänge und Machtgeflechte,

So interessant ich den Aufsatz finde, so bleiben trotzdem Fragen. Vielleicht ist das aber auch gerade ein Zeichen dafür, wie weiterführend ich die Idee der Weltbeziehungen finde, als Art und Weise, Fragen zu stellen.

Das ist erstens das Problem der Konstituierung von Regionen. Im Aufsatz von Paulmann geht mir das manchmal zu schnell, die Institutionen und Personen werden in einem Raum situiert, als Beispiel für Weltbeziehungen des Südwestens. Nicht in allen Fällen ist nachweisbar, wie sie an der Regionsbildung selbst teilhaben (etwa: beim Freiburger Informationsdienst Dritte Welt). Wie kann man diese Region wirklich in ihrem Konstruktionscharakter verdeutlichen, und wann ist eine Region etwas „relativ“ Verfestigtes?

Zweitens, davon ausgehend: Warum handelt es sich, so Paulmann, um Transregionalität und nicht um Translokalität? In vielen Fällen sind es sehr punktuelle Praktiken der Raumbeziehung, eine wichtige Rolle spielen konkrete Orte, etwa Stuttgart oder auch die Gemeinde Korntal. Kann man diese Punkte wirklich in einer Fläche aufheben? Wenn ja, wie?

Und schließlich ist die Region hier sehr stark von Punkten, im Zweifel sogar von Zentren her gedacht, noch dazu (häufig, bei den Weltläufern nicht immer) von sozialen Eliten. Das liegt natürlich auf der Hand, weil die Städte und die bürgerlichen Akteure wichtige Ausgangspunkte der offensiven Herstellung von Weltbeziehungen waren. Was aber machen wir eigentlich mit den Orten jenseits der (regionalen) Zentren? Gibt es dort Weltbeziehungen? Rechnen wir einfach die Weltbeziehungen der Städte auf die Regionen hoch? Oder müssen wir von einer punktuellen Globalität des 19. und 20. Jahrhunderts ausgehen, aus denen beispielsweise ländliche Gesellschaften ausgeklammert waren?

Die Perspektive für mich ist natürlich: Welche Formen von Weltbeziehungen bildeten eigentlich ländliche Akteure aus? Welche „Welt“ meinten sie, und wie veränderte sich das? Und: Wie kann ich diese Weltbeziehungen jenseits eigener Migration oder dominanter Institutionen wie Völkerkundemuseen sichtbar machen? Oder muss ich dann bereits die Segel streichen und sagen: Provinz blieb Provinz und der eigene Kirchturm das Zentrum der eng begrenzten dörflichen Welt?

Ich glaube ja, dass die Vernetzung und die Herstellung von Weltbeziehungen analysierbar ist. Die Frage ist nur: Was war die Welt? Möglicherweise endete sie in München. Oder in Rom. Oder in St. Louis (dazu auch bald mehr). Auszuschließen ist das nicht. Ich werde berichten.

Paulmann, Johannes: Regionen und Welten. Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 660-699.

Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Franfurt/Main 2008 [frz. Original 1991].

 

 

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/79

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Elias Khoury: The Spring and the Blood in Syria

Am Mittwoch, 26. Juni 2013, sprach der libanesische Schriftsteller und Intellektuelle Elias Khoury (Beirut/New York University) als Gast des Forschungsprogramms „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“ (EUME) am Forum Transregionale Studien in Berlin.

EUME Discussion: Elias Khoury “The Spring and the Blood in Syria” from maxweberstiftung on Vimeo.

Unter dem Titel “The Spring and the Blood in Syria” verband Elias Khoury seine Analyse der aktuellen Situation in Syrien mit einem weiteren Blick auf die Neubestimmung von Politik, Gesellschaft und Kultur im arabischen Nahen Osten und die Rolle der Intellektuellen. Elias Khoury ist Schriftsteller, Dramatiker, Literaturkritiker, Journalist und einer der bedeu-tendsten Intellektuellen der arabischen Welt. Als “globally distinguished professor” unterrichtet er regelmäßig an der New York University. Seine Kolumnen und Kommentare zur zeitgenössischen Politik und Kultur in der arabischen Welt werden weit rezipiert. Seit 1998 hat er an verschiedenen Initiativen und mehreren Sommerakademien von EUME oder seinem Vorgängerprojekt, dem Arbeitskreis Moderne und Islam mitgewirkt. Im akademischen Jahr 2010-11 war er Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Zuletzt hat er im September 2012 an der EUME  Sommerakademie „Aesthetics and Politics“ in Kairo und im Juni 2013 an der Marburger Konferenz „Committment and Dissent in Arabic Literature“  teilgenommen. Daneben hielt er die Keynote Adress bei der Konferenz “Inverted Worlds – Congress on Cultural Motion” des Orient-Instituts Beirut. Khoury hat mehr als zehn Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Auf Deutsch erschienen sind u.a.: Das Tor zur Sonne (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004), Yalo (Suhrkamp Verlag, Berlin 2011) und Als schliefe sie (Suhrkamp Verlag, Berlin 2012).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/3179

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