Conundrum Ruthenicum – Versuch einer Erhellung der ukrainischen Kalamität

Von Philipp Ammon

„Tschuesch, mij drusche, slawnij junatsche, jak Ukraina stogne i platsche“ – „vernimmst du, mein Freund, du ruhmreicher Recke, wie die Ukraine wehklagt und aufstöhnt“, intonierte in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2014 auf dem Maidan Taras Kompanitschenko, ein aus einer Kosakenfamilie stammender Kobsar (Barde), der bereits die Orangene Revolution 2004/ 2005 musikalisch untermalte. Das Lied handelt von der Unterdrückung durch die Moskowiter, der Text stammt aus dem sowjetisch-ukrainischen Krieg von 1918. Es handelt sich um eine Umdichtung eines russischen Weltkriegsliedes, welches wiederum im sowjetrussischen Bürgerkrieg noch mehrere weiße sowie eine von der Roten Arbeiter- und Bauernarmee gebrauchte Version erhielt. Anders als in der letzteren erfolgt sowohl im weißen als auch im ukrainischen Kehrreim der Aufruf zum Kampf für die „Swjataja (Hl.) Rus“.

Es geht um Legitimität.

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Quelle: http://trafo.hypotheses.org/8797

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Michel Foucault und das Mittelalter? Analysebegriff „Heilsökonomie“

Dieser Beitrag ist das zweite Diskussionspapier in unserer Reihe zur Rezeption der Werke und Ideen Michael Foucaults in den deutschen Geschichtswissenschaften. Der am 27. November 2016 veröffentlichte Artikel zur Einführung in diese Reihe ist hier verfügbar.

Im Mittelalter erfolgte ein langwieriger, aber einschneidender christlich-normativer Wandel, der nicht mit dem Begriff der Christianisierung gleichzusetzen ist. Dieser kann je nach Verwendung bereits die bloße Taufe durch vorbeiziehende Wanderprediger bezeichnen, mit der nicht zwangsläufig ein Verständnis und eine vollständige Übernahme christlicher Glaubensinhalte und Deutungen der Lebenswelt einhergingen. Arnold Angenendt schilderte die Konversion der Stammesgesellschaften wie folgt:

[…] der Wechsel zum Christentum […] forderte […] den totalen Bruch mit der Welt der Vorfahren und den von ihnen begründeten Lebensregeln. Die alten Traditionen, die in nichtschriftlichen Gesellschaften das alleinige Lebensfundament bilden, wurden zerstört, und zugleich mußten neue Traditionen aufgebaut werden, weil nur im Rahmen und in der Form von Tradition die zum Leben notwendigen Regeln verstanden werden konnten.[1]



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Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/9275

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„Freiheit für die Forschung ist ein Schatz, der leicht zu verlieren und schwer zu erwerben ist“: Im Gespräch mit Miloš Řezník

Miloš Řezník ist seit April 2014 Direktor des DHI Warschau. Der tschechische Historiker war zuvor Professor für Europäische Regionalgeschichte an der TU Chemnitz und Prodekan der dortigen Philosophischen Fakultät. Der Schwerpunkt seiner Forschungen liegt im Bereich der Geschichte Ostmitteleuropas und dabei interessieren ihn insbesondere kollektive Identifikationsprozesse, die Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und der Elitenwandel im 18. und 19. Jahrhundert.

DHI Warschau_Im Dialog_Reznik

Miloš Řezník ist seit April 2014 Direktor des DHI Warschau.

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Quelle: http://mws.hypotheses.org/28497

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Schlusslicht Ägypten: Privatisierung und Niedergang des Bildungswesens

The English version of this article can be found here.

Von Hania Sobhy

Im „Global Competitiveness Report“ des Weltwirtschaftsforums 2013–2014 rangiert Ägypten weltweit auf dem letzten Platz in der Evaluation des Grundschulwesens. Die Maßstäbe dieser Bewertung gelten nicht ohne Vorbehalte, da subjektive Einschätzungen von Befragten, besonders derjenigen aus Wirtschaftskreisen, eine erhebliche Rolle spielten. Dennoch spiegelt das Ergebnis recht deutlich das Empfinden vieler Ägypter im Hinblick auf den Zustand des öffentlichen Bildungssystems wider.

Privatisierung, steigende Kosten, sinkende Qualität

Hania Sobhy auf der Konferenz „Inequality, Education and Social Power: Transregional Perspectives“ des Forums Transregionale Studien und der Max Weber Stiftung am 24. November 2014 in Berlin.

Hania Sobhy auf der Konferenz „Inequality, Education and Social Power: Transregional Perspectives“ des Forums Transregionale Studien und der Max Weber Stiftung am 24. November 2014 in Berlin.

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Quelle: https://mws.hypotheses.org/27543

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“Wer nicht mehr befreit werden konnte”

Ansprache von Katrin Stoll anlässlich der Eröffnung der Ausstellung “Niemandsorte” am DHI Warschau.

“Schritte –

In welchen Grotten der Echos
seid ihr bewahrt
den ihr den Ohren einst weissagtet
kommenden Tod?

[…]
Schritte –
Urzeitspiel von Henker und Opfer,
Verfolger und Verfolgten,
Jäger und Gejagt –
[…]”

Katrin Stoll, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHI Warschau.

Katrin Stoll, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DHI Warschau.

Nelly Sachs‘ Werk gehörte nicht zur Pflichtlektüre des Deutschunterrichts des Gymnasiums in Ost-Westfalen, an dem ich vor 20 Jahren mein Abitur ablegte. Damals, 50 Jahre nach Kriegsende, hielt der leitende Lehrer meines Jahrgangs auf unserer Abschlussfeier eine bewegende, emotionale Rede, in deren Mittelpunkt er die von Deutschen verübten Verbrechen in ganz Europa stellte und uns unsere politische Verantwortung vor Augen führte.

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Quelle: https://mws.hypotheses.org/27404

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Max meets Lisa: Zwischen Büchern und Bytes – Geisteswissenschaftler, wie arbeitet Ihr heute?

Brauchen die Geisteswissenschaften heute Twitter, Blogs und Research Gate? Kann es an der Art der Kommunikation liegen, wenn Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler jenseits des Feuilletons gesellschaftlich nicht mehr wirklich wahrgenommen werden? Sollten sie ihre klassischen Kommunikationsformen Buch, Fachjournal und Feuilleton überdenken? In der zweiten Ausgabe der Internetreihe „Max meets Lisa“ diskutieren die Historikerin Prof. Dr. Dr. h.c. Barbara Stollberg-Rilinger und der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Lauer u. a. über Chancen und Risiken der Digital Humanities, zivilen Ungehorsam beim Publizieren und unterschiedliche (digitale) Arbeitsweisen in den jeweiligen geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

Die Max Weber Stiftung und die Gerda Henkel Stiftung präsentieren die zweite Ausgabe der Internetreihe „Max meets Lisa“:

Max meets Lisa from maxweberstiftung on Vimeo.

Prof. Dr. Dr. h.c. Barbara Stollberg-Rilinger ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Sprecherin des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“. Sie wird 2013 mit dem renommierten „Preis des Historischen Kollegs“ geehrt. Ebenfalls 2013 erschien ihre jüngste Monografie „Rituale“.

Prof. Dr. Gerhard Lauer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen und leitet das Göttingen Centre for Digital Humanities (GCDH). 2012 veröffentlichte er gemeinsam mit Elisabeth Décultot die Monografie „Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert“.

Quelle: http://mws.hypotheses.org/3813

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Elias Khoury: The Spring and the Blood in Syria

Am Mittwoch, 26. Juni 2013, sprach der libanesische Schriftsteller und Intellektuelle Elias Khoury (Beirut/New York University) als Gast des Forschungsprogramms „Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa“ (EUME) am Forum Transregionale Studien in Berlin.

EUME Discussion: Elias Khoury “The Spring and the Blood in Syria” from maxweberstiftung on Vimeo.

Unter dem Titel “The Spring and the Blood in Syria” verband Elias Khoury seine Analyse der aktuellen Situation in Syrien mit einem weiteren Blick auf die Neubestimmung von Politik, Gesellschaft und Kultur im arabischen Nahen Osten und die Rolle der Intellektuellen. Elias Khoury ist Schriftsteller, Dramatiker, Literaturkritiker, Journalist und einer der bedeu-tendsten Intellektuellen der arabischen Welt. Als “globally distinguished professor” unterrichtet er regelmäßig an der New York University. Seine Kolumnen und Kommentare zur zeitgenössischen Politik und Kultur in der arabischen Welt werden weit rezipiert. Seit 1998 hat er an verschiedenen Initiativen und mehreren Sommerakademien von EUME oder seinem Vorgängerprojekt, dem Arbeitskreis Moderne und Islam mitgewirkt. Im akademischen Jahr 2010-11 war er Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Zuletzt hat er im September 2012 an der EUME  Sommerakademie „Aesthetics and Politics“ in Kairo und im Juni 2013 an der Marburger Konferenz „Committment and Dissent in Arabic Literature“  teilgenommen. Daneben hielt er die Keynote Adress bei der Konferenz “Inverted Worlds – Congress on Cultural Motion” des Orient-Instituts Beirut. Khoury hat mehr als zehn Romane veröffentlicht, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Auf Deutsch erschienen sind u.a.: Das Tor zur Sonne (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004), Yalo (Suhrkamp Verlag, Berlin 2011) und Als schliefe sie (Suhrkamp Verlag, Berlin 2012).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/3179

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Internationaler Forschungsförderpreis ausgeschrieben

ForschungsförderpreisHerausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Gastländern bzw. den Gastregionen der Institute der Max Weber Stiftung, die sich in vorbildlicher Weise um international ausgerichtete geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung verdient gemacht haben, auszuzeichnen -  das ist der Gedanke hinterm dem Internationalen Forschungsförderpreis. Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland und das Historische Kolleg schreiben ihn in diesem Jahr zum zweiten Mal den aus.

Der Preis ist mit 30.000 Euro dotiert. Mit dem Preis verbunden ist die freibleibende Einladung zu einem Forschungsaufenthalt und zur Durchführung eines internationalen Kolloquiums am Historischen Kolleg in München. Nominierungsberechtigt sind Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer von Forschungseinrichtungen in Deutschland. Eigenbewerbungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Gastländern der Auslandsinstitute der Max Weber Stiftung sind ebenfalls möglich. Preisträgerin des ersten Forschungsförderpreises ist die US-amerikanische Historikerin Isabel V. Hull. Sie wird im Januar und Februar 2014 am Historischen Kolleg forschen und dort vom 12.-14. Februar 2014 einen Workshop zum Thema „Das Völkerrecht im Ersten Weltkrieg“ durchführen.

Mehr Informationen gibt es unter: www.maxweberstiftung.de/foerderung/internationaler-forschungsfoerderpreis.html

Quelle: http://mws.hypotheses.org/3174

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Wie die Armut reduzieren? Eine neu begründete transregionale Forschergruppe erforscht die indische Bildungspolitik

Für das Deutsche Historische Institut London beginnt das Jahr 2013 mit einer großen Aufgabe. In den nächsten fünf Jahren wird der Direktor des Londoner Instituts, Andreas Gestrich, Leiter einer transregionalen Forschungsgruppe in Neu-Delhi. In Kooperation mit dem King’s India Institute am King’s College in London und dem Centre for Modern Indian Studies (CEMIS) der Universität Göttingen soll zur Sozial- und Bildungspolitik in Indien seit dem 19. Jahrhundert geforscht werden. Das Thema des Projekts ‘Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors’ wird dabei in sieben Forschungsbereiche aufgeteilt, die wir hier vorstellen.

waterdotorg | Flickr | CC BY-NC-SA 2.0

Wozu arbeitet die Transregionale Forschergruppe?

Trotz der Geschwindigkeit seiner wirtschaftlichen Entwicklung bleibt Indien weltweit das Land mit den meisten Armen. Die Forschergruppe wird sich auf einen Aspekt der Armutsverringerung konzentrieren und vor allem zu Erziehungs- und Schulpolitik arbeiten. Ebenso wie Ernährung, Wohnen und Gesundheitsversorgung ist Bildung ein zentraler Politikbereich im Kampf gegen Armut. Die schnellen gegenwärtigen Änderungen im indischen Bildungssystem und neue privatwirtschaftliche Akteure machen das Thema zum vielversprechenden Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Die von der Max Weber Stiftung finanzierte transregionale Forschungsgruppe versammelt weltweite Expertinnen und Experten aus Geschichtswissenschaft, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus Indien, Großbritannien und Deutschland. Sie ermutigt – bei Konzentration auf Indien – zum vergleichenden Arbeiten und wird sich mit vergleichbaren Projekten fortwährend austauschen.

1. “Nineteenth- and twentieth-century global educational reform movements and their impact on universal schooling in India”

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es neben den bekannten christlichen Missionen, sowohl von Kolonialmächten als auch von einheimischen Pädagogen und Intellektuellen, Anstrengungen zum Ausbau der Bildungsmöglichkeiten. In der Zwischenkriegszeit nahmen diese Anstrengungen, beeinflusst durch die beginnende indische Unabhängigkeitsbewegung und die europäischen und US-amerikanischen Bildungsreformbewegungen, deutlich zu. Zu dieser Entwicklung gehört auch die enge Verbindung Indiens mit dem New Education Fellowship, einem internationalen Netzwerk von Reformpädagogen. Das Netzwerk wurde 1921 gegründet und ist von Beginn an sehr mit Indien und insbesondere mit dem bengalischen Nobelpreisträger und Bildungsreformer Rabindranath Tagore verbunden. Am DHI London beschäftigt sich Valeska Huber in ihrer Habilitationsschrift ‘”The Great Plan for Mass Education”: Colonial and Postcolonial Experiments with Education in the Twentieth Century’ neben einem starken Fokus auf Afrika auch mit Indien.

Die Vielfältigkeit der indischen Kasten, Stämme und Regionen stellt eine Herausforderung für homogene Vorstellungen dessen, was ein gebildetes Kind ausmacht, dar. Der Veränderung dieser Vorstellung – betrachtet vor dem Hintergrund der historischen Verbreitung schulischer Bildung – kann hierbei eine besondere Bedeutung bei zukünftigen Forschungsarbeiten zukommen, einen wichtigen Beitrag leistet dabei die Arbeit des Forschergruppenmitglieds Sarada Balgopalan. Daneben ist zudem geplant, die Arbeit von indischen Intellektuellen und Pädagogen im 19. Jahrhundert – wie beispielsweise Romesh Chunder Dutt – zu untersuchen (Benedikt Stuchtey), aber auch die sich wandelnden Konzepte des “gebildeten Kindes” in den europäischen Schulreformen mit einzubeziehen.

2. “The quest for universal elementary/school education, the private sector and edu-business
Die Einführung einer Schulpflicht und die Ausweitung von Ausbildungsangeboten wurden in den letzten Jahren durch die UNESCO und deren Bildungsprogramm EFA (Education for all) weiter vorangetrieben. Das Ziel von EFA ist es, bis 2015 allen Kindern den kostenfreien Schulbesuch zu ermöglichen. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich allerdings kaum Fortschritte und die Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen, fällt eher, als dass sie steigt. Private Träger gewinnen im Bereich der Ausbildung der Armen an Bedeutung, zum Teil, weil viele Länder nicht in der Lage sind, die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und die Schulpflicht einzuführen. Allerdings gibt es wegen der möglichen Gewinne, die ein ‘low cost’-Schulbesuch für die Armen bietet, ein wachsendes Interesse an Bildungsmärkten. In diesem Kontext steht dabei zudem die “Liberalisierung” des Bildungsmarktes in Europa, den USA und auch in den Entwicklungsländern.

Internationale Unternehmen und lokale non state actors bauen transnationale Befürworter-Netzwerke und Organisationsstrukturen auf und verfolgen dabei eine Strategie, in Bildung zu investieren, die nicht frei von kommerziellen Interessen ist und mit anderen Sparten ihres Unternehmens in vielen Gebieten verknüpft bleibt. Diese Trends haben erhebliche Auswirkungen auf das Recht auf Bildung für alle Kinder – besonders wenn sie zu den gesellschaftlichen Randgruppen gehören – und die Rolle des Staates, wenn non state actors diese Trends realisieren. Diese Problematik hat erst vor kurzem das Interesse einer kritischen Forschung der Geschichtswissenschaft und der Bildungssoziogie geweckt. Eine Studie, die zu diesem Thema in einem geschichtlichen Kontext forschen soll, da die Verbreitung von Bildungseinrichtungen von Nicht-Regierungsorganisationen (Sozialreformer, religiöse Gruppen) auch in Indien eine lange Tradition hat, wird von der Transregionalen Forschergruppe gefördert. Dabei können die Forscherinnen und Forscher auf die Expertise von Professor Geetha B. Nambissan zurückgreifen, die bereits auf diesem Gebiet und über die Schulpolitik in Indien geforscht hat.

3. “Caste discrimination and education policy
Ein erster Versuch der “sozialen” Gesetzgebung in Britisch-Indien befasste sich mit dem Versuch Bildung für die verarmten “unteren” Kasten anzubieten. Dieses Gesetz wurde selten umgesetzt, da man sich protestierenden Eliten gegenübersah, die nicht wollten, dass ihre Kinder Kontakt mit gesellschaftlich Niederstehenden hatten. Dennoch spielte das Gesetz eine entscheidende Rolle als historische Vorlage: es wird heute als unstrittige Verantwortlichkeit der Regierung gesehen, niederen Kasten den Zugang zu staatlich finanzierter Bildung zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, welche Denkweisen dazu geführt haben, dass Entscheidungsträger Bildung als zentralen Punkt in der Führung der Armen der unteren Kasten erachten. Dieses Forschungsprojekt soll den massiven Anstieg der Popularität dieser Strategien im postkolonialen Indien untersuchen.

Abgesehen von den deutlichen Veränderungen in den Regierungsformen, haben die Strategien nicht nur Bestand, sondern auch an Bedeutung gewonnen. Können die Auswirkungen dieser Strategien in Zusammenhang mit den erfolgreichen Bestrebungen von Bewegungen der niederen Kasten, innerhalb der letzten zwei Jahrzehnten politische Macht zu erlangen, gesetzt werden? Und wie wirken sich die sozialen Folgen dieser Politik im Kontext eines zunehmend privatisierten Bildungsbereiches aus? Dieses Projekt ist eng verbunden mit dem Forschungsschwerpunkt der Sozialgeschichte der untergeordneten Kasten von Prof. Viswanath, die an der Universität Göttingen am Centre for Modern Indian Studies lehrt.

4. “Industrial restructuring, informalization, and their consequences for access to elementary education”
Die Ursprünge der Probleme Indiens, die Schulpflicht einzuführen und die berufliche Ausbildung sowie die Erwachsenenbildung weiter zu verbreiten, stehen in Zusammenhang mit strukturellen Änderungen im indischen Arbeitsmarkt. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsschutz führten zu einem tiefgreifenden Anstieg von lockeren, unsicheren und weitestgehend kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Während ältere industrielle Zweige mit entwickelten sozialen und bildungserzieherischen Einrichtungen seit den 1980ern abnahmen, bildeten sich an neuen Orten sehr beträchtliche Industriekonglomerate und Belegschaften heraus.

Die Auswirkung dieser Veränderungen in Bezug auf die Bildungseinrichtungen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, auf die familiären Finanzen, die Chancen für langfristige Planungen und Investition in die Bildung von Kindern werden im Rahmen des Arbeitskreises untersucht. Diese Untersuchung wird unterstützt durch bereits laufende Forschungen zu Arbeit und industrieller Restrukturierung in den alten Zentren der Textilindustrie Ahmedabad (Rukmini Barua), Bombay (Dr. Aditya Sarkar) und Kalkutta (Anna Sailer) am Centre for Modern Indian Studies in Göttingen.

5. “Adult education and the popularisation of practical scientific knowledge
Ein weiteres Gebiet im Bereich von Bildung und Erziehung ist die Weitergabe von Wissen an Erwachsene. In diesem Kontext erlangt die Popularisierung von Wissen und Wissenschaft eine besondere Bedeutung – nicht zuletzt in ländlichen Gebieten. Die Herausforderung (westliches) Wissen weiter zu vermitteln war bereits Thema einer Session während der Tagung ‘Knowledge Production, Pedagogy, and Institutions in Colonial India‘ des DHI London. Auf Basis der Ergebnisse dieser Session soll das Thema im Kontext des postkolonialen Zeitraums weiterverfolgt werden.

Die Weitergabe von wissenschaftlicher Erkenntnis an ländliche Gebiete im kolonialen und postkolonialen Zeitraum steht dabei im Vordergrund, so soll ein Beitrag zur Entwicklung der Infrastrukturen von Wissen geleistet werden. Bildung im Kontext von internationaler Entwicklungszusammenarbeit in Bereichen wie z.B. der Landwirtschaft könnten hier eine Rolle spielen. Das Thema hat außerdem ein hohes Potential für transnationale Vergleiche.

6. “Industrial and technical institutions and the resignification of manual labour
Es ist mittlerweile bekannt, dass Missionaren eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Elite-Bildungseinrichtungen westlicher Prägung, aus denen die Gründungsväter des postkolonialen Staates hervorgingen, zukam. Weit weniger bekannt ist, dass die Missionare in Wirklichkeit eine Hierarchie der Schulen einführten, von denen einige denjenigen zugedacht waren, die als ungeeignet für den englisch-basierten, buchzentrierten, “richtigen” Unterricht erachtet wurden. Während diese “Armen-” oder “Industrieschulen” auf Modellen beruhten, die zuerst in der Metropole erprobt wurden, waren sie in Indien dazu gedacht, die Bedeutung der Handarbeit zu verändern. Es wurde angenommen, dass dies von den traditionellen Eliten als Beeinträchtigung des indischen Wirtschaftswachstums abgewertet wurde.

Die Forschung in diesem wenig durchdrungenem Gebiet soll den Umfang dieser Art von Ausbildung – finanziell und ideologisch – sowohl unter den kolonialen als auch den postkolonialen Regierungen untersuchen. Zudem stellt sich die Frage, ob, wie und mit welchen Auswirkungen neue Werte tatsächlich mit den spezifischen Fähigkeiten der Armen verknüpft wurden. Die koloniale Verbreitung der schulischen Ausbildung war auch untrennbar mit der Resignifikation der Kasten-Unterschiede durch Beeinflussung z.B. des Curriculums, von Schulzeiten und der Pädagogik innerhalb der Schule verbunden mit dem erklärten Ziel, dass Kinder der unteren Kasten kein Leben außerhalb der Handarbeit anstreben sollten.

7. “The impact of schooling on life-histories
Die Auswirkung schulischer Bildung auf Biographien hat sich zu einem wichtigen Thema innerhalb von Autobiographien und Biographien der niederen Kasten und der Dalits entwickelt. Die Rolle, die Kasten-Verbände bei der Förderung der Bildung dieser Gemeinschaften spielen, ist innerhalb der Regierungspolitik in Bezug auf das erweiterte Feld der Bildungsgeschichte in Indien weder adäquat anerkannt, noch diskutiert worden. Bildung spielt außerdem eine wichtige Rolle beim Aufbau von Lebenswegen in europäischen Autobiographien von Menschen aus einem prekären Hintergrund.

Am DHI London untersucht derzeit ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Arts and Humanities Research Council gefördertes Projekt “pauper narratives “. Dieses Projekt wird interessante vergleichende Perspektiven der ambivalenten Schulerfahrungen armer Kinder in Europa und zudem methodologische Expertise beisteuern. Zeitgleich ist das DHI London an biographischem Schreiben und Erzählungen, die in einem kolonialen Kontext stehen, interessiert. Das Institut hat dazu bereits im Frühjahr 2012 eine Konferenz veranstaltet.

Über die Transregionale Forschergruppe “Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors: Education Policy in India since the Nineteenth Century”

Die transnationale Forschergruppe wird von der Max Weber Stiftung finanziert und vom Deutschen Historischen Institut London geleitet. Das DHI London kooperiert dabei mit  Centre for Historical Studies und dem Zakir Husain Centre for Educational Studies der Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi, dem Centre for the Study of Developing Societies, Neu-Delhi, dem Centre for Modern Indian Studies, Universität Göttingen und dem King’s India Institute, King’s College London.

Projektleiter sind Prof. Ravi Ahuja  (Moderne Indische Geschichte, Göttingen), Dr. Sarada Balagopalan (Soziologie, Neu-Delhi), Prof. Neeladri Bhattacharya  (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Andreas Gestrich (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Valeska Huber (Moderne europäische Geschichte und Geschichte des Mittleren Ostens, London), Prof. Sunil Khilnani (Politikwissenschaft, London), Prof. Janaki Nair (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Geetha B. Nambissan (Erziehungssoziologie, Neu-Delhi), Dr. Jahnavi Phalkey (Wissenschafts- und Technikgeschichte, London), Dr. Indra Sengupta (Moderne indische Geschichte, London), Dr. Silke Strickrodt (Moderne afrikanische Geschichte, London), Prof. Benedikt Stuchtey (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Louise Tillin (Politikwissenschaft und Developmental Studies, London), Prof. Rupa Viswanath (Religionswissenschaft, Göttingen).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1555

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Frische Blogs eingetroffen! Alles aus dem Orient-Institut Beirut und zum Dreißigjährigen Krieg

Noch vor Weihnachten starten zwei neue wissenschaftliche Weblogs auf Weber 2.0. Zum einen begrüßen wir das Stiftungsinstitut aus Beirut, das unter dem Titel Mish ma32ool Wissenswertes und Aktuelles aus dem Nahen Osten bloggt. Außerdem hat unser Kollege Michael Kaiser ein Forschungsjournal zum 30jährigen Krieg begonnen, das kurz und bündig dk-blog heißt. Beide Neuzugänge  – auf die wir wirklich ein wenig stolz sind – wollen wir hier kurz dem geneigten Publikum vorstellen.

Alaa Awad: The Battle Mural (formerly on Tahrir Square, Cairo). All rights reserved by the artist

Artist: Alaa Awad
Title: The Battle Mural
(former) location: Tahrir Square, Cairo.
All rights reserved by the artist

Was verbirgt sich hinter dem Titel Mish ma32ool? Es handelt sich dabei um einen geläufigen arabischen Ausdruck, geschrieben im Stil der arabischen Bloggerszene. Auf Deutsch wird er “mish ma’ul” ausgesprochen. Der Ausdruck schwankt zwischen einem ungläubigen „Gibt’s doch gar nicht!“  und „Unglaublich“ oder sogar „Unvernünftig“. Auch das Titelbild des Weblogs ist eine Besonderheit: Es zeigt eine Arbeit des ägyptischen Künstlers Alaa Awad, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu sehen war, bevor sie durch das Militär zerstört wurde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Orient Instituts Beirut, das 2010 auch ein Büro in Kairo eröffnet hat, werden unter diesem Signet auf Englisch über die wissenschaftlichen Aktivitäten, aber teils auch über die allgemeine Umbruchssituation im Nahen Osten schreiben. Bereits im Blog zu lesen sind Neuigkeiten vom großen Kongress “Inverted Worlds” und ein Workshopbericht zur Arbeiterorganisation.

dkblog - Quellen, Literatur, Interpretationen zum Dreißigjährigen Krieg

dkblog – Quellen, Literatur, Interpretationen zum Dreißigjährigen Krieg

Mit dem dk-blog betritt ein anerkannter Experte zum Dreißigjährigen Krieg publizistisches Neuland. Michael Kaiser, zuständig für die Open-Access-Plattform perspectivia.net, teilt hier sein Wissen und neue Ideen zu einem genuinen Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft. Er selber schreibt dazu:

Ich selbst beschäftige mich seit rund 20 Jahren mit Themen des Dreißigjährigen Kriegs. Das Interesse ist nie erlahmt, im Gegenteil. Doch ungeachtet der vielen und intensiven Auseinandersetzungen mit Problemen dieser Zeit bleibt vieles rätselhaft: Nicht nur das Wissen ist im Laufe der Jahre beständig gewachsen, sondern ebenso die Einsicht in die Vielschichtigkeit der hier berührten historischen Phänomene. Aber je mehr ich forsche, desto komplexer (und faszinierender!) stellt sich die Thematik dar. [...]

Warum dann aber die Öffentlichkeit eines Blogs? Sicher spielt die Selbstvergewisserung im Sinne einer Zusammenstellung von Material eine Rolle. Aber warum sollen diese ersten rohen Schnipsel nicht auch anderen Impulse geben? Und möglicherweise regen sie andere an, auf meine offenen Fragen zu reagieren und Probleme zu lösen, an denen ich mich abarbeite. Im Zentrum stehen weiterhin die Phänomene des Dreißigjährigen Kriegs, aber vielleicht ergibt sich ein Wechselspiel zwischen dem einsamen Arbeiten des Historikers und neuen Kooperationen, bis hin zu kollaborativen Ansätzen.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern ebenso wie den Schreibenden von Mish ma32ool und dk-blog viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn!

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1713

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