1916 — 2016. Verdun und die Somme. Der centenaire der Materialschlacht

Vor einhundert Jahren tobten zwei der blutigsten Schlachten der Geschichte in Verdun und an der Somme. Die „Materialschlachten“ des Jahres 1916 stellten die logische Konsequenz der Erfahrungen der Jahre 1914 und 1915 dar — ihr Zäsurcharakter sollte daher nicht übertrieben werden. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie in Intensität und Dauer neue Standards des Schreckens setzten und damit zu Recht zu zentralen Erinnerungsorten des Ersten Weltkriegs aufstiegen.

Angesichts der großen Bedeutung des Ersten Weltkriegs im französischen und britischen Symbolhaushalt überrascht es nicht, dass das Gedenken an die beiden Großschlachten des Jahres 1916 mit großem Aufwand betrieben wurde. Um die in diesem Kontext feststellbaren Akzentsetzungen soll es hier gehen. Die jüngsten Höhepunkte des offiziellen Gedenkens – die deutsch-französische Gedenkfeier vom 29. Mai in Verdun und die franko-britische Gedenkzeremonie vom 1. Juli in Thiepval – sind dabei ideale Ausgangspunkte für die Frage nach Konvergenzen und Asymmetrien des Erste-Weltkriegs-Gedenkens im europäischen Kontext.



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Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1986

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Globalisierung der Erinnerung – Ein Interview mit Joseph Zimet

Joseph Zimet ist Direktor der Mission du Centenaire (Mission 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges), die 2012 von der französischen Regierung zwecks Vorbereitung und Durchführung der Gedenkveranstaltungen zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkrieges gegründet wurde.

DHI Paris_Aus den Instituten_Logo1_Mission_Centenaire_14_18_blau_gutWie erklären Sie Ihren deutschen Gesprächspartnern die Bedeutung des centenaire, angesichts der Tatsache, dass der Erste Weltkrieg in Frankreich so einen anderen Stellenwert hat als in Deutschland?
Ich denke, das ist gar nicht wirklich nötig. Hunderte kultureller Projekte, die derzeit in den einzelnen Bundesländern vorbereitet werden, zeugen eindeutig vom Bewusstsein um die Wichtigkeit des Gedenkjahres aufseiten der Zivilgesellschaft. Das Interesse am Ersten Weltkrieg ist westlich und östlich des Rheins sicher unterschiedlich begründet. Es scheint mir jedoch, dass Deutschland den centenaire mitgestalten sollte, um nicht am Rande eines Großereignisses zu stehen, welches europäisch und global zugleich ist. Europa kann des Ersten Weltkriegs nicht ohne Deutschland gedenken. Und auch Frankreich kann den centenaire nicht ohne Deutschland, Partner einer historischen Aussöhnung und der europäischen Integration, begehen. Der Erste Weltkrieg und der centenaire betreffen ganz Europa, daher kann Deutschland sich unmöglich nicht dafür interessieren.

Entlang welcher Linien können Deutschland und Frankreich des Ersten Weltkriegs gemeinsam gedenken?
Es gibt zweifellos die gemeinsame Erfahrung einer Katastrophe, die im Mittelpunkt des gemeinsamen Gedenkens stehen kann. Der Erste Weltkrieg bedeutet für die Bevölkerung beider Nationen gleichermaßen einen tiefen Einschnitt, ja einen regelrechten Schock, mit den gleichen dramatischen Auswirkungen. Gemeinsam ist beiden Ländern auch die Überzeugung, dass die europäische Integration die einzig mögliche, legitime Reaktion auf die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts ist. Daher ist das Gedenken an den Ersten Weltkrieg für beide Nationen sehr eng mit dem Europa-Gedanken verbunden.

Die Bedeutung des centenaire geht jedoch über die deutsch-französische Dimension hinaus. Welche Länder sind am europäischen, ja, am globalen Maßstab gemessen, die aktivsten? Hat Sie das Ausmaß des globalen Interesses überrascht?
Das Interesse am Ersten Weltkrieg ist ein weltweites Phänomen, das ist ohne Zweifel der interessanteste Aspekt des Jahrestags. Die Globalisierung der Erinnerung des Ersten Weltkriegs folgt konzentrischen Kreisen und ist ausgesprochen dynamisch. Dabei spielen die Länder des Commonwealth, insbesondere Australien, Neuseeland und Kanada eine tragende Rolle. Großbritannien und Belgien sind ebenfalls stark engagiert. Ferner ist ein zunehmendes Interesse in Mittel- und Osteuropa zu erkennen, insbesondere in jenen Ländern, die im Zuge des Ersten Weltkriegs ihre Unabhängigkeit bzw. Souveränität erlangt haben. Mit dem erklärten Ziel, den in den Jahren der Sowjetunion weitgehend „vergessenen“ Ersten Weltkrieg wiederzuentdecken, arbeitet auch Russland an einem bemerkenswerten Projekt zum centenaire. Nicht zuletzt fallen die Bemühungen anderer Länder wie Österreich, Italien oder Südafrika ins Auge, denen es darum geht, ihren Platz innerhalb des globalen Weltkriegsgedenkens zu finden.

Welchen Platz nimmt die Geschichtswissenschaft im Rahmen der Gedenkveranstaltungen ein? Ist schon abzusehen, inwieweit der centenaire neue Impulse zur Erforschung der Jahre 1914–1918 gibt?
Die Historiker spielen eine große Rolle. Sie haben vor allen Dingen eine absolut notwendige Aufgabe, nämlich kritisch darauf zu achten, dass das Zusammenspiel von histoire und mémoire funktioniert und erstere nicht durch letztere deformiert wird. Eine solche „Wächter“-Rolle sagt allerdings noch nichts über die Qualität der anlässlich des 100. Jahrestagsdes Ersten Weltkriegs veröffentlichten historischen Arbeiten aus. Paradoxerweise stellen wir fest, dass die Experten, die Historiker zwar allgegenwärtig sind, sich eine fundamentale Erneuerung des Forschungsfeldes dadurch aber nicht abzeichnet. Trotz des beeindruckenden Angebotes an neuer Literatur zum Ersten Weltkrieg ist es derzeit schwierig zu sagen, ob unser Wissen über den Ersten Weltkrieg dadurch grundlegend verändert wird.

Sie sind selbst Historiker. Was werden Ihrer Ansicht nach die Historikerinnen und Historiker des Jahres 2050 aus dem centenaire lernen können?
Ganz zweifelsohne wird der centenaire für zukünftig Forschende sowohl unter politischen wie auch soziokulturellen Gesichtspunkten ein spannender Untersuchungsgegenstand sein. Die Untersuchung des centenaire ermöglicht Aufschlüsse über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft auf nationaler wie regionaler Ebene, über das Verhältnis von Nation und Armee, über die Einstellungen der Franzosen zu zentralen Themen wie nationale Verteidigung oder Pazifismus. Was die Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs anbelangt, wird man je nach politischer Orientierung verschiedene Diskurse erkennen können. Jenseits der union sacrée bezüglich der Notwendigkeit des Gedenkens erkennt man in den verschiedenen politischen Lagern deutlich divergierende Einstellungen und Interpretationen des Ersten Weltkriegs. All dies muss, wenn der Tag gekommen ist, gut erforscht, analysiert und kartographiert werden.

Das Interview führte Arndt Weinrich vom DHI Paris. Übersetzung aus dem Französischen durch Katharina Thielen.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1442

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Frankreich im centenaire 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg

 

Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs wirft seine Schatten voraus. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Frankreich. Auch in Deutschland bereitet sich eine Interessenkoalition der „üblichen Verdächtigen“, bestehend aus Museen, Medien und Wissenschaft mit Ausstellungen, Fernseh-Dokus, Tagungen, Publikationen etc. auf den großen Moment vor, dem die Logik eines runden Jahrestages in der Aufmerksamkeitsökonomie der Öffentlichkeit einen besonderen Platz verschafft.

Doch in nur wenigen Ländern sind die Jahre 1914–1918 so im kollektiven Bewusstsein verankert wie in Frankreich, wo der Erste Weltkrieg nicht einfach nur histoire, sondern viel stärker noch mémoire ist und damit eine diskursive Sinnressource darstellt, die für Gegenwart und Zukunft gleichermaßen Orientierung gibt.

Verschiedene Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich der Erste Weltkrieg in den letzten 30 Jahren geradezu zum Ursprungsmythos des modernen Frankreich entwickelt hat: Im Kontext des alle westlichen Länder betreffenden memory booms, in dessen Folge „Erinnerung“ – mit den Worten Martin Sabrows – die „Pathosformel der Gegenwart“ geworden ist, entstand vor allem, wenngleich keinesfalls nur in den dreizehn vom Krieg betroffenen départements im Nordosten des Landes, ein regelrechter „activisme 14–18“ (Nicolas Offenstadt), der sich aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus dem Erhalt der Spuren des Krieges verschrieb. Ebenfalls eine Rolle spielte das ansteigende Interesse an der Familiengeschichte (Genealogie-Forschung), die den Ersten Weltkrieg mit seinen in Frankreich signifikant höheren Opferzahlen als stärkeren Einschnitt erscheinen ließ als die Jahre 1939–1945. Parallel dazu schwächte sich durch die sich durchsetzende kritischere Sicht auf das Verhalten der Franzosen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs die Bindekraft des résistance als französische Master-Erzählung ab.

Demgegenüber zeichnet sich das Erste-Weltkriegs-Gedenken durch eine weitgehende Anschlussfähigkeit aus. Das gilt einerseits für tendenziell eher linke Diskurse, die z. B. um die fusillés pour l’exemple, d. h. die von der Militärjustiz während des Krieges hingerichteten französischen Soldaten, kreisen und auf einer allgemeinen Ebene die vollkommene Unterwerfung des Individuums unter den totalen Staat der Kriegsjahre beklagen. Ebenso lassen sich andererseits eher rechte Deutungen integrieren, welche die cohésion nationale der Kriegsjahre, also den solidarischen Zusammenhalt der Nation in den langen Jahren des Kriegs grundsätzlich positiv bewerten. Unabhängig von diesen Differenzen lässt sich aber festhalten, dass eine opferzentrierte Sicht bei weitem dominiert. Der Krieg gilt als nationale und europäische Katastrophe und nicht das Ende, d. h. der Sieg, steht im Vordergrund, sondern das Gedenken an seine Schrecken, stets verbunden mit einem emotionalen Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung und – auf der politischen Ebene – einem klaren Bekenntnis zur europäischen Integration.

Der centenaire ist also wichtig, er ist nicht einfach nur ein runder Jahrestag wie in Deutschland, er ist ein Schlüsselmoment, an dem sich lokale, regionale wie auch nationale Identitäten kristallisieren. Ein Moment der Selbstreflexion, an dem die großen Fragen gestellt (und idealerweise beantwortet) werden, was es eigentlich heißt, citoyen in Frankreich und Franzose in Europa zu sein. Der häufige Vergleich des centenaire 2014 mit dem bicentenaire der Französischen Revolution von 1989 illustriert jedenfalls eindringlich den zentralen Stellenwert des Ersten Weltkriegs in der politischen Kultur im Frankreich der Gegenwart.

Es überrascht daher nicht, dass die französischen Planungen für das kommende Jahr schon seit einiger Zeit auf Hochtouren laufen. Bereits im März 2011 gab Präsident Nicolas Sarkozy den Auftrag, mit den Programmüberlegungen zu beginnen, und ein daraufhin entstandener, nach seinem Verfasser Joseph Zimet benannter Bericht definierte im September des gleichen Jahres die großen Linien der Gedenkfeierlichkeiten. Im „Rapport Zimet“ werden die folgenden Weichenstellungen vorgenommen: Zum einen erfolgt eine grundsätzliche Einteilung der Gedenkfeierlichkeiten in verschiedene Phasen. Während im Jahr 2014 der (Zentral-)Staat die Federführung übernimmt, sollen in den ja ebenfalls mit zahlreichen centenaires gesättigten Jahren 2015–2017 collectivités territoriales (régions, départements) und Zivilgesellschaft die Initiative übernehmen, um z. B. der symbolisch wichtigen Schlachten von Verdun, der Somme und dem Chemin des Dames zu gedenken. Zum Ende des Gedenkzyklus, 2018/2019, soll dann Paris wieder das Heft in die Hand nehmen, wobei es für diese Phase noch keine konkreteren Vorstellungen gibt. Diese Arbeitsteilung ist sicher auch vor dem Hintergrund einer angespannten Kassenlage zu verstehen. In erster Linie spiegelt sie aber die Tatsache wider, dass der centenaire keinesfalls eine von oben verordnete Angelegenheit ist, sondern dass es ganz im Gegenteil auf der lokalen wie regionalen Ebene eine Vielzahl von Initiativen und Projekten gibt, die in der Summe das Engagement des Zentralstaats bei weitem überschreiten.

Zum anderen setzt der Rapport Zimet sehr stark auf die Internationalisierung des Gedenkens im Allgemeinen und auf einen deutsch-französischen Schwerpunkt im Besonderen. So wird ein „solider erinnerungskultureller deutsch-französischer Sockel“ geradezu zur Voraussetzung des Gelingens des centenaire stilisiert – ein angesichts des vollkommenen Fehlens eines öffentlichen Weltkriegs-Gedenkens in Deutschland wohl nicht unproblematisches Postulat, das gleichwohl die hohe symbolpolitische Bedeutung des Kriegsgedenkens verdeutlicht: Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise stellt der centenaire  aus französischer Sicht eine hervorragende Gelegenheit dar, die Solidität und Dynamik der deutsch-französischen Beziehungen in Szene zu setzen.

Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre- Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.Gedenkstätte auf dem Militärfriedhof Notre-Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire.

Zur operativen Umsetzung dieser Überlegungen wurde im April 2012 mit der Mission du centenaire de la Première Guerre mondiale 1914–2014 eine interministerielle Struktur ins Leben gerufen, die den Auftrag hat, die verschiedenen pädagogischen, kulturellen, wissenschaftlichen und im engeren Sinne gedenkpolitischen Aktivitäten zu koordinieren und in Abstimmung mit dem Élysée die großen Gedenkveranstaltungen des Jahres 2014 zu organisieren. Aktuell sieht das Programm, das Anfang November 2013 vom Staatspräsidenten offiziell verkündet werden wird, vier Großveranstaltungen auf französischem Boden vor: Einen 14-Juillet im Zeichen des Ersten Weltkriegs, dezentrale Gedenkfeierlichkeiten zur  Mobilmachung vom 1.–3. August, eine eher klassisch, d. h. militärisch gefasste Veranstaltung zum Gedenken an die Marne-Schlacht (12. September) und als Höhepunkt den 11-Novembre, mit der Einweihung eines großen Denkmals in Notre-Dame-de-Lorette (siehe Bild), das die Namen der im Nord-Pas-de-Calais gefallenen Soldaten aller Nationen, soweit sie bekannt sind, alphabetisch auflistet. Darüber hinaus ist die Mission du centenaire eine der treibenden Kräfte hinter dem europäischen Projekt „Sarajevo, coeur de l’Europe“, das um den Jahrestag des Attentats von Sarajevo im Juni vor Ort ein umfangreiches Kulturprogramm vorsieht.

Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Allein für 2014 haben 900 Einzelprojekte (Tagungen, Konzerte, Ausstellungen etc.) das offizielle Label der Mission, eine Art Gütesiegel, erhalten und es ist zu erwarten, dass sich diese Zahl in weiteren Labellisierungs-Runden noch deutlich erhöht. Schließlich sind so manche für 2016 bzw. 2017 geplante Projekte noch nicht in die konkrete Planungsphase eingetreten.

Für das Deutsche Historische Institut (DHI) Paris ist die hohe Intensität des centenaire eine spannende Herausforderung und eine willkommene Gelegenheit, seine Expertise als zentraler deutschfranzösischer Mittler im Bereich der Geisteswissenschaften einzubringen. Dabei ist klar, dass trotz der kultur- oder gedenkpolitischen Relevanz des Themas eine ausschließlich wissenschaftliche Agenda verfolgt wird. Seit gut zwei Jahren gibt es einen Forschungsschwerpunkt zum Ersten Weltkrieg und das Institut ist hervorragend in die französische wie internationale Forschungslandschaft integriert. Die Tatsache, dass das DHI Paris u. a. im Wissenschaftlichen Beirat der Mission du centenaire, des Mémorial de Notre-Dame-de-Lorette und im comité directeur des Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre Péronne vertreten ist, spricht eine deutliche Sprache. Im kommenden Jahr wird es neben einer Reihe von kleineren Veranstaltungen fünf große Tagungen geben, an denen sich das DHI Paris federführend oder als Partner beteiligt. Genannt seien hier lediglich eine in Zusammenarbeit mit den Universitäten Paris-Est Créteil und Marne-la-Vallée organisierte Tagung zum Thema „Les défenseurs de la paix 1898–1917“ und eine einwöchige Sommeruniversität, die gemeinsam mit dem Centre de recherche de l’Historial de la Grande Guerre, der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) und den Universitäten von Amiens und Clermont-Ferrand durchgeführt wird. Darüber hinaus arbeitet das Institut zusammen mit der Mission du centenaire an einer Sammlung besonders aussagekräftiger deutscher und französischer Quellen zum Ersten Weltkrieg, die von jeweils einem deutschen und französischen Historiker kommentiert und kontextualisiert werden und die auf der Webseite der Mission (centenaire.org) einem interessierten Publikum den Mehrwert einer deutsch-französischen histoire croisée demonstrieren.

 

 

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1437

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1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War – Projektstart an der FU Berlin

Am 20./21. Januar 2012 fand an der FU Berlin ein großer Workshop zum Projektstart der von der DFG geförderten Online-Enzyklopädie 1914-1918-online statt. Ziel des von Oliver Janz (FU Berlin) geleiteten Projektes ist es, zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs 2014 ein von international anerkannten Experten geschriebenes, englischsprachiges Referenzwerk im open-access zur Verfügung zu stellen. Das DHI Paris ist – wie auch die deutschen Auslandsinstitute in Moskau und Warschau – als strategischer Kooperationspartner eng mit dem Projekt verbunden und unterstützt das Projektteam nach Kräften. Wie schreibt man eine globale Geschichte des Ersten Weltkriegs? Diese Leitfrage stand im Mittelpunkt des zweitägigen Kick-off-Workshops, zu dem große Teile des Editorial Boards, des Editorial Advisory Boards und Vertreter der zahlreichen Kooperationspartner nach Berlin gekommen waren. In vielerlei Hinsicht gab Hew Strachan (University of Oxford) in seiner Keynote Lecture „The First World War as global war“ die Richtung der allgemeinen Diskussion vor, indem er gekonnt die angesichts der weltweiten Verschränkung der kriegführenden Mächte zwangsläufig globale Dimension des Krieges herausarbeitete und das Überkommen der nach wie vor dominanten nationalen Narrative als wichtigste Herausforderung der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg bezeichnete. In der großen Runde international profilierter Weltkriegs-Experten gab es niemanden, der ihm da widersprochen hätte… allein eine Antwort auf die Ausgangsfrage bzw. gar ein Rezept für die stringente Einlösung der gebetsmühlenartig vorgebrachten Forderung, doch endlich „richtig“ globalgeschichtlich zu arbeiten, konnte (und wollte) der Beitrag nicht liefern. Denn in der Praxis muss man sich, insbesondere wenn die Ebene von Einzelstudien zu Gunsten von Überblicksdarstellungen verlassen wird, sehr schnell mit ganz unterschiedlichen Problemen herumplagen, insbesondere auf der Ebene der sprachlichen Kompetenzen des einzelnen Forschers, die zwangsläufig sehr begrenzt sind und nur die Rezeption eines Bruchteils der relevanten Literatur und Quellen erlauben. Der einzige Ausweg – und das machte die Diskussion zu den verschiedenen Vorträgen des Workshops sehr deutlich – liegt  in der kollaborativen Arbeit, nur durch Netzwerkbildung und Kooperation können  letztlich regionale Expertise und Sprachkenntnisse in ausreichendem Maße gebündelt und übergreifende Fragestellungen erkannt bzw. angestoßen werden. Und genau hier liegt eine wesentliche Stärke von 1914-1918-online: die inhaltliche Ausrichtung und Verantwortung liegt in den Händen eines rund 50-köpfigen Editorial Boards, das sich aus HistorikerInnen  aus der ganzen Welt zusammensetzt. Die Tatsache, dass nur rund ein Viertel der Editors aus Deutschland stammt bzw. an deutschen Institutionen lehrt und forscht, belegt eindrücklich, wie ernst es dem doch immerhin mit deutschen Geldern finanzierten Projekt damit ist, seine transnationale Agenda umzusetzen. Damit stehen die Chancen sehr gut, dass es gelingt, den Stand der Forschung nicht nur abzubilden, sondern neue Themen zu definieren, Projekte anzustoßen und der Historiographie zum Ersten Weltkrieg Impulse zu geben. Einen ausführlichen Tagungsbericht gibt es hier. Zur Projekthomepage

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/280

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Forschungsseminar “La Première Guerre mondiale, guerre du XIXe, guerre du XXe siècle” am DHIP

Am 12. Dezember fand die erste Sitzung des an der EHESS unter Leitung von Stéphane Audoin-Rouzeau organisierten Forschungsseminars „La Première Guerre mondiale, guerre du XIXe, guerre du XXe siècle“ am DHI Paris statt. In der Vorlesungszeit stellen an jedem ersten Montag im Monat hochkarätige Referenten ihre aktuellen Forschungsprojekte zur (Vor-)Geschichte des Ersten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen vor. Externe Seminarteilnehmer sind jederzeit herzlich willkommen. Den Anfang machte Bruno Cabanes (Yale University) mit einem Werkstattbericht zu seinem laufenden Vorhaben „La redéfinition des droits de l’homme après la Grande Guerre“ (Redefinition der Menschenrechte nach dem Ersten Weltkrieg), in dem es dem profilierten Experten für die Geschichte des Kriegsendes 1918 u.a. darum geht, eine rechtsgeschichtliche Fragestellung kulturgeschichtlich anzureichern und damit berührungslos nebeneinander stehende Forschungstraditionen zusammen zu bringen. So erlaubt die Analyse der Kriegserfahrungen wichtiger Protagonisten der Menschenrechtsbewegung (z.B. des Kriegsversehrten René Cassin), ihr Engagement zu kontextualisieren und damit besser zu verstehen. Durch Berücksichtigung der besonderen Rolle einflussreicher NGOs avant la lettre betont Cabanes darüber hinaus die besondere Bedeutung zivilgesellschaftlicher, internationaler Organisationen und macht einen großen Schritt hin zu einer transnationalen Geschichte der Menschenrechte. In den nächsten beiden Seminarsitzungen am 2. und 16. Januar 2012 (jeweils 9-11 Uhr) führt Leonard V. Smith den Versuch, Kultur- und Rechtsgeschichte produktiv zusammen zu bringen, weiter. Seine beiden Vorträge, “Wilsonismus und Völkerrecht. Souveränität nach dem Ersten Weltkrieg” (Wilsonisme et droit international. La souverainté après la Grande Guerre) und “Frieden oder Fortsetzung des Krieges? Das Recht der Selbstbestimmung der Völker auf der Friedenskonferenz 1919″ (Paix ou continuation de la guerre? Le droit des peuples à disposer d’eux-mêmes à la conférence de la paix 1919) behandeln eine komplementäre Problemstellung, die ein Schlaglicht auf die so unendlich schwierige Demobilmachung des Rechts nach dem Ende des Krieges wirft. Leonard V. Smith ist Frederick B. Artz Professor am Oberlin College in Ohio. Von ihm sind u.a. erschienen: “The Embattled Self. French Soldiers’ Testimony of the Great War” (Cornell University Press, 2007) und “Between Mutiny and Obedience. The Case of the French Fifth Infantry Division During World War I (Princeton University Press, 1994). Zur Vorbereitung auf die beiden Seminarsitzungen wird sein neuester Aufsatz “The Wilsonian Challenge to International Law,” Journal of the History of International Law, 13 (2011)S. 179-208, ausdrücklich zur Lektüre empfohlen.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/198

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Der Centenaire 2014 und die deutsch-französischen Beziehungen

Das Grab des Unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe, Photo Michael Reeve, 29 Januar 2004

Die gedenkpolitischen Planungen zum 100. Jahrestag – dem centenaire – des Ersten Weltkriegs nehmen in Frankreich langsam Fahrt auf. Ein vom Président de la République in Auftrag gegebener Bericht, der “rapport Zimet”, schlägt für die Jahre 2014-2018 ein sehr ambitioniertes Großprogramm vor, in dessen Verlauf Zentralstaat und collectivités régionales gemeinsam des vierjährigen, totalen Krieges, der “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts, gedenken wollen.

Der “rapport Zimet” – das offizielle Programm

Auf einzelne Aspekte des mittlerweile im Netz veröffentlichten und in seinen Grundzügen von den maßgeblichen Stellen (Präsident, Premierminister) abgesegneten Plans soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die großen Linien sehen für das Jahr 2014 eine Reihe von zentralen und dezentralen Gedenkveranstaltungen vor: Eröffnung des Gedenkjahres durch ein Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am 28. 6. 2014 in Sarajevo, einen 14 juillet im Zeichen des Ersten Weltkriegs mit u.a. der Uraufführung eines Requiems und einer großen Royal-de-Luxe-Inszenierung auf den Champs-Elysées. Am 31. Juli soll die Ermordung Jean Jaurès’ 1914 Anlass zu einer zentralen Gedenkveranstaltung geben, bevor am 2. August ein dezentraler Gedenktag an die Mobilmachung zu Beginn des Krieges erinnern wird. Einige Wochen später, im September 2014, wird dann der 100. Jahrestag der Marne-Schlacht gefeiert werden. Krönender Abschluss des offiziellen Programms soll dann am Onze Novembre die “panthéonisation de Maurice Genevoix”, also die Überführung der sterblichen Überreste des wohl emblematischsten frz. Schriftstellers der “génération du feu” sein.

Der auf diese Art und Weise angefachte “élan commémoratif” wird dann in den Jahren 2015-2017 durch die collectivités régionales weitergetragen werden, bevor 2018 dann der (Zentral-)Staat wieder stärker auf den Plan tritt. Diese Arbeitsteilung gehorcht sicherlich z.T. Budgetzwängen, spiegelt aber auch ganz entscheidend die starke regionale Verankerung der Erinnerungskultur in Frankreich wider, wo es insbesondere in den 13 départements, die im Ersten Weltkrieg von Kampfhandlungen unmittelbar berührt worden sind, eine Unmenge an lokalpolitischen bzw. zivilgesellschaftlichen Gedenkinitiativen gibt. So wird z.B. das Jahr 2016 ganz im Zeichen des Gedenkens an die Verdun- und die Somme-Schlacht stehen, ohne dass Paris hier eine federführende Position einzunehmen beabsichtigt.

3 Begleitprojekte

Parallel dazu, das umfangreiche Programm flankierend, sieht der Bericht drei größere Projekte vor, die wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und politische Akteure zusammenbringen sollen:

Zum einen ist angedacht, die Kriegsstammrollen (registres de matricules) der rund 8 Millionen frz. Soldaten im Ersten Weltkrieg zu digitalisieren und im open-access zur Verfügung zu stellen. Dieses Angebot käme zu den bereits jetzt frei verfügbaren Datenbanken zum Ersten Weltkrieg auf Mémoire des Hommes (Morts pour la France, Personnel de l’aéronautique militaire, Journaux des unités) hinzu und würde das Quellenangebot zum Ersten Weltkrieg substantiell erweitern.

Zum zweiten wird für 2016 die Klassifizierung des ehemaligen belgischen und französischen Frontgebietes als Weltkulturerbe vorangetrieben. Hier sind es wieder die 13 von 1914-1918 vom Krieg unmittelbar betroffenen départements, die in enger Zusammenarbeit mit belgischen Einrichtungen die Bewerbung bei der UNESCO vorbereiten. Frankreich und Belgien würden das dossier dann gemeinsam in die verantwortlichen Gremien einbringen. Ein Erfolg würde die weltweite Sichtbarkeit der ehemaligen Frontlinien signifikant erhöhen und, das gehört zu den eher unausgesprochenen Annahmen, das Tourismus-Aufkommen in den derart ausgezeichneten Gebieten deutlich erhöhen.

Darüber hinaus ist vorgesehen, eine Kommission einzusetzen, die sich mit der in Frankreich nach wie vor brisanten und subkutan politischen Frage der „Fusillés pour l’exemple“, d.h. der wegen „Feigheit vor dem Feind“ standrechtlich erschossenen frz. Soldaten, auseinandersetzt und Empfehlungen ausspricht, wie mit ihrem quer zum tendenziell harmonisierenden, offiziellen Gedenkdiskurs liegenden Schicksal umzugehen ist.

Die Bedeutung des Ersten Weltkriegs in Frankreich

Die Dimensionen des Jubiläums-Jahres 2014 führen die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Frankreich eindrücklich vor Augen. Es ist für deutsche Beobachter nicht unbedingt leicht nachvollziehbar, aber es ist so: der Erste Weltkrieg, jene vier Jahre, in denen sich Frankreich – so jedenfalls die vorherrschende Lesart – vereint und opferbereit den Herausforderungen der Weltgeschichte stellte, hat sich in den letzten 10-20 Jahren zum Ursprungsmythos des modernen Frankreich entwickelt.  La Grande Guerre hat damit im nationalen Symbolhaushalt der V. Republik eine Bedeutung erlangt, die mit der der französischen Revolution von 1789 durchaus vergleichbar ist. Dementsprechend verbindet sich mit dem centenaire eine klare geschichtspolitische Agenda. Anders als die problematische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, ist die Erinnerung an 14-18 trotz aller Nuancen und Differenzierungen – Nicolas Offenstadt spricht zu Recht von der erstaunlichen „plasticité symbolique“, d.h. der symbolischen Viel- und Mehrdeutigkeit des Ersten Weltkriegs[1] – eine Sinnressource für die Gegenwart. Das gilt für das ganze politische Spektrum. Bei allen Unterschieden in Stil und Tonalität z.B. zwischen der Rede Nicolas Sarkozys  am Grab des Unbekannten Soldaten und der Ansprache seines sozialistischen Herausforderers Francois Hollande auf dem Soldatenfriedhof Saint-Thomas d‘Argonne am 11. November 2011, ist unverkennbar, dass beide im 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs eine herausragende Gelegenheit sehen, die nationale Einheit der Franzosen in der Kriegszeit in Szene zu setzen: „Cohésion nationale“, „rassemblement national“, „unité nationale“ sind z.B. immer wiederkehrende Schlagworte. Dass es dabei insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenlage auch darum geht, durch die Würdigung der Opferbereitschaft vergangener Generationen die Bevölkerung in die Pflicht zu nehmen, den Herausforderungen der Zukunft tapfer und mit Selbstbewusstsein zu begegnen, liegt auf der Hand.

Es ist ganz entscheidend zu verstehen, dass das französische Interesse am Ersten Weltkrieg keinesfalls auf diese politisch-pädagogische Funktion reduziert werden kann. Die gedenkpolitischen Großinitiativen sind ganz im Gegenteil nur die Spitze des Eisbergs. Charakteristisch für die aktuelle Phase der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist vielmehr eindeutig das relative Übergewicht zivilgesellschaftlicher und regionaler bzw. lokaler Akteure. Impulse gehen weniger vom Zentralstaat aus, auch wenn dieser für die offiziellen Feierlichkeiten zuständig bleibt und z.B. über die DMPA (Direction de la Mémoire du Patrimoine et des Archives) im Ministère de la Défense eine Koordinierungs- und Finanzierungsfunktion ausübt, als von den Collectivités terrioriales, also den Kommunen, Départements und Régions, insbesondere – doch keinesfalls nur – im durch den Krieg besonders betroffenen Nordosten Frankreichs (Nord-Pas-de-Calais, Picardie, Champagne-Ardenne, Alsace und Lorraine). So entstanden z.B. das Historial de la Grande Guerre 1992 und aktuell das neue große Weltkriegs-Museum in Meaux aus lokalen Initiativen, die durchaus auch mit dem Hintergedanken, den tourisme de mémoire zu entwickeln, die Spuren des Krieges als Patrimoine culturel, also als schützenswertes Kulturgut, in Szene zu setzen beabsichtigen. Kulminationspunkt dieser Tendenz ist ohne Zweifel die bereits angesprochene Initiative, die Frontlinien von 1914-1918 von der UNESCO als Weltkulturerbe schützen zu lassen.

Ein weiterer wichtiger Anker der Weltkriegserinnerung in Frankreich sind die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Vereine und Verbände wie z.B. La Cavalerie dans la Bataille de la Marne, Les Amis de Vauquois, Soissonnais 14-18, Le Poilu de la Marne, Mémoire de la GG, Bleu horizon, die mit verschiedenen Zielsetzungen seit den 1980er, 1990er Jahren von Geschichtsinteressierten ins Leben gerufen wurden. Geht es vielen dieser Associations um den Erhalt der Schlachtfelder oder auch um den Erhalt ausgewählter monuments aux morts, organisieren andere Gedenkmärsche oder organisieren das Reenactment bestimmter Schlachten.

Der veritable „activisme 14-18“, den Nicolas Offenstadt in seinem sehr lesenswerten “14-18 aujourd’hui” beschreibt, kennt weitere Spielformen. Familiengeschichtliche Privatforschung, in diesem Zusammenhang teils in jahrelanger Kleinarbeit edierte Tagebücher und Feldpost, lokalgeschichtliche Initiativen und nicht zuletzt die seit den 1990er Jahren weiter zunehmende Thematisierung des Ersten Weltkriegs in Literatur, Film, Comic, Musik, etc. sorgen dafür, dass der Erste Weltkrieg in Frankreich anders als in Deutschland nicht nur „Geschichte“, sondern Gegenstand einer veritablen „pratique sociale et culturelle“[2] ist, die grassroot-Aktivismus und Gedenkpolitik, populäre und politische Erinnerungskultur gleichermaßen  durchdringt.

Internationalisierung des Gedenkens

So sehr das frz. Weltkriegsgedenken auch lokal, regional und nicht zuletzt national verankert ist, so wenig lässt sich im Europa des 21. Jahrhunderts eines Weltkrieges national gedenken. Von vornherein sieht der “rapport Zimet” daher systematisch die Internationalisierung der Gedenkveranstaltungen vor. Dabei wird angestrebt, nicht nur die ‚üblichen Verdächtigen’ aus Europa und Übersee einzubeziehen, sondern in größerem Maße als zuvor die globale Dimension des Krieges und seiner Konsequenzen abzubilden, so sollen z.B. die frz. Botschaften überall in der Welt ein Kulturprogramm entwerfen, das der Bedeutung des Krieges für das jeweilige Gastland Rechnung trägt. Eine große Bedeutung hat daher das Gedenken an die frz. Kolonialtruppen („tirailleurs sénégalais“) und die vielen außereuropäischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten (z.B. Chinese Labour Corps). Besonders eng wird die Zusammenarbeit in diesem Kontext auch mit denjenigen (westlichen) Ländern sein, für deren Nationalgeschichte der Erste Weltkrieg eine entscheidende Zäsur darstellt (Kanada, Neuseeland, Australien) und in denen die Vorbereitungen auf das Jahr 2014 z.T. schon sehr weit fortgeschritten sind.

Ein deutsch-französischer Kern

Unbenommen dieser globalen Dimension der Feierlichkeiten gehen die französischen Planungen aber von einem starken deutsch-französischen Kern aus, und in der Tat liegt es ja angesichts der historischen Feindschaft zwischen den beiden Ländern nahe, die Erfolgsgeschichte ihrer Aussöhnung und Annäherung als Ausgangspunkt für einen aufgeklärt-kritischen Blick auf die Vergangenheit zu nehmen. Der Erste Weltkrieg als Negativfolie, vor der die deutsch-französische Zusammenarbeit und darüber hinaus die europäische Integration in umso hellerem Licht erscheinen, dieser in vielerlei Hinsicht richtige und alternativlose Ansatz lag bereits den Feierlichkeiten zum Onze novembre 2009 zugrunde, als Merkel und Sarkozy gemeinsam am Grab des unbekannten Soldaten in Paris der Toten des Ersten Weltkriegs gedachten.

Im « rapport Zimet » liest sich das so: « C’est main dans la main avec l’Allemagne, partenaire, depuis cinquante ans, d’une réconciliation historique et de l’édification d’une Europe pacifique, qu’elle devra être racontée et commémorée. » Oder an anderer Stelle : « Cette parole franco-allemande sur la mémoire de la Grande Guerre sera déterminante pour travailler entre Européens autour de l’héritage commun de la Première Guerre mondiale, (…). La création d’un socle mémoriel et culturel franco-allemand solide et confiant sera déterminant pour la réussite du Centenaire. »[3] Mit anderen Worten : der Gedenk-Kooperation mit der Bundesrepublik Deutschland wird tendenziell ein höherer Stellenwert beigemessen als dem gemeinsamen Gedenken mit dem Kriegsverbündeten Großbritannien! Gerade im Lichte der aktuellen Krise erwartet die französische Seite ein starkes Signal, das dem Willen Deutschlands, sich der europäischen Integration weiter zu verschreiben, symbolisch Ausdruck verleiht.

Der Erste Weltkrieg in Deutschland

Nun ist es mit Symbolen und ihrer politisch gewollten transnationalen Übertragung und Instrumentalisierung so eine Sache. Abgesehen davon, dass die politische Kultur der Bundesrepublik sich insgesamt – jedenfalls verglichen mit Frankreich – mit symbolischer Kommunikation schwer tut, erschwert im konkreten Fall eine fundamental andere Beziehung zum Ersten Weltkrieg nicht nur die Formulierung einer deutschen Position, sondern viel grundsätzlicher das Verständnis für die französischen Erwartungen.

Ein kurzes Beispiel stehe hier pars pro toto für die stabile Asymmetrie in der Wahrnehmung der Jahre 1914-1918: Als am 12. März 2008 Lazare Ponticelli, der letzte französische Kriegsteilnehmer starb, war das allen französischen Tageszeitungen eine Meldung auf der Titelseite wert. Fünf Tage später, am 17. März, fand im Invalidendom in Paris eine offizielle Trauerfeier statt, die live im Fernsehen (TF1, France 2) übertragen wurde. Der Président de la République hielt eine Rede, hochrangige Repräsentanten des frz. Staates erwiesen dem Toten die letzte Ehre. Landesweit wurde der Schulunterricht für eine Schweigeminute unterbrochen und die Lehrer wurden per ministeriellem Erlass dazu aufgefordert, den jungen Franzosen und Französinnen Leben und Leistung des Verstorbenen in Erinnerung zu rufen. Mit dem letzten der „derniers poilus“, wie die französische Öffentlichkeit die letzten Veteranen des Ersten Weltkriegs mit einer Mischung aus Respekt, Ehrfurcht und Zuneigung in den letzten Jahren ihres Lebens genannte hatte, nahm Frankreich ganz offensichtlich von einem wichtigen Symbol, ja einem Kristallisationspunkt der nationalen Identität Abschied. Die besondere Stellung die Ponticelli, Louis de Cazenave und Jean Grélaud, die drei letzten poilus, als Orientierungspunkte, ja als „sages“, als Weise, in den 2000er Jahren eingenommen haben, ist in diesem Zusammenhang deswegen besonders interessant, weil sie auf eine manifeste Leerstelle verweist. Der letzte deutsche Kriegsteilnehmer nämlich, sofern man den angesichts der ungleich schwierigeren Quellenlage überhaupt sicher sein kann, dass er der letzte gewesen ist, der nur wenige Wochen vor Ponticelli starb, Erich Kästner, starb von der deutschen Öffentlichkeit unbemerkt und ohne jedwede Reaktion von offizieller Seite.

Ein deutsch-französischer Vergleich soll hier nicht weitergeführt werden. Es genügt, die Reden Merkels und Sarkozys unter dem Arc de Triomphe vom November 2009 zu lesen, um zu verstehen, wie sehr deutscherseits der Holocaust und die Schrecken des Dritten Reichs als negativer Ursprungsmythos der Bundesrepublik den Ersten Weltkrieg weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt haben. Dies heißt nicht, dass von Seiten der Geschichtswissenschaft oder in der Museumslandschaft nicht ein reges Interesse am Ersten Weltkrieg bestünde. Großprojekte wie 1914-1918-online oder Europeana 1914-1918 belegen ganz im Gegenteil, dass sich in diesem Bereich sehr viel tut. Nur haben wir es hier mit einem eher akademischen, allgemein historischen Interesse an den Jahren 1914-1918 zu tun.  Für Symbolik und Selbstverständnis der Bundesrepublik und in der politischen Kultur Deutschlands insgesamt spielt der Erste Weltkrieg dagegen überhaupt keine Rolle.

Fazit

Diesen deskriptiven Befund muss man wertfrei zur Kenntnis nehmen. Die offensichtlich differente Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wirft letztlich ein Schlaglicht auf das Nicht-Vorhandensein einer mémoire collective européenne, und daran wird sich auch auf mittlere Sicht nichts ändern, was auch nicht weiter schlimm ist. Eine größere Sensibilität von deutscher Seite für die Erwartungen des Partners Frankreich kann aber gleichwohl helfen, manche Irritation zu vermeiden. Der 100. Jahrestag der „Urkatastrophe“ Europas bietet die Chance, die dauerhafte Pazifizierung Europas zu feiern und von deutscher Seite ein symbolisch starkes Bekenntnis zu den deutsch-französischen Beziehungen und zur europäischen Integration abzulegen. Dass dies vor dem Hintergrund eines in den letzten Wochen und Monaten keinesfalls nur in Frankreich massiv zunehmenden antideutschen Sentiments wünschenswert wäre, scheint jedenfalls kaum bestreitbar.

 

 

 


[1] Nicolas Offenstadt: 14-18 aujourd’hui. La Grande Guerre dans la France contemporaine, Paris 2010, S. 154.

[2] Offenstadt, S. 8.

[3] Rapport Zimet, S. 10, 24.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/143

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