Forschungsgeschichte der Aktenkunde II: Heinrich Otto Meisner

Meisner ist der Urvater der Aktenkunde. In der Mitte der Forschungslandschaft steht sein Werk wie ein Monolith: staunenswert, perfekt,unumgänglich, aber auch unnahbar und isoliert. Der Meister selbst ist daran gescheitert, sein ursprüngliches Werk zu erweitern.

 Heinrich Otto Meisner (1890-1976) wurde im Studium stark von Michael Tangl geprägt. Er trat 1913 in den preußischen Archivdienst ein und leitete in den 1920er-Jahren das dem Geheimen Staatsarchiv angegliederte Hausarchiv des Hauses Brandenburg in Berlin-Charlottenburg. Gleichzeitig lehrte er in der Ausbildung der preußischen Archivreferendare. Als einer von wenigen Archivaren konnte er nach dem Zweiten Weltkrieg im Archivwesen der DDR reüssieren und nahm als Professor für Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität eine zentrale Stellung in der Ausbildung der ersten ostdeutschen Archivarsgenerationen ein. “Scharfe Begriffsbildungen und die ausgeprägte Fähigkeit zu Systematisierungen bildeten wichtige Elemente seiner Lehrveranstaltungen” (Brachmann 1999: 614).

Auf Meisner (1935) folgten zwei selbständige Neubearbeitungen, die die ursprüngliche Lehre in größere Zusammenhänge einzubetten versuchten und nebeneinander benutzt werden müssen (Henning 1999: 113). Die Methodik ist am stringentesten in Meisner (1935) durchgeführt, am verständlichsten erläutert aber in Meisner (1969).

Aktenkunde (1935)

Meisners erste Aktenkunde richtete sich als Handbuch ausdrücklich an Archivbenutzer, verstand ihren Inhalt also als Hilfswissenschaft der historischen Forschung. Entstanden war sie gleichwohl aus der Archivpraxis und der Referandarsausbildung. Den Stoff bezog Meisner vor allem aus seiner Zeit am Hausarchiv. Die Darstellung konzentriert sich auf des 17./18. Jh. und schenkt der Fürstenkorrespondenz besondere Aufmerksamkeit. Und so breit die Materialbasis auch war: Sie blieb preußisch. Meisner (1935: 3) machte daraus eine Tugend:

“Das Paradigma ist Brandenburg-Preußen. Seine Kanzleipraxis eignet sich besonders für Demonstrationszwecke, weil die straffe Disziplin des Beamtentums sich auch im Kanzleiwesen nicht verleugnet und hier eine bemerkenswerte Einheitlichkeit […] erzielt hat.”

Ob die Preußen wirklich so einsam an der Spitze standen, sei dahingestellt. Preußen ist aber bis heute das Paradigma der Aktenkunde, mit dem sich auch beschäftigen muss, wer mit Überlieferung aus anderen Geschichtslandschaften arbeitet.

In seinem Alterswerk definierte Meisner (1969: 125) als den Zweck der aktenkundlichen Tätigkeit, “das einzelne Schriftstück nach Form und Zweck zu ‘bestimmen’”. Diese Tätigkeit hat er 1935 (3) nach drei Gesichtspunkten differenziert und damit die bis heute gültige Methodologie des Fachs begründet:

“Der eigentliche Gegenstand der Untersuchung, das einzelne Aktenschriftstück, wird sodann unter drei Gesichtspunkten betrachtet: systematisch in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Aktenstilform, analytisch nach seinen ‘inneren’ und ‘äußeren’ Merkmalen und schließlich genetisch in seinem Werdegang und seinen Lebensschicksalen nach den drei Zonen Kanzlei, Registratur und Archiv.”

In der Analytik konnte der Meisner sein Instrumentarium aus der Urkundenlehre beziehen und im Speziellen an Hass (1909) anschließen.

Die Genetik erweiterte er über den von Küch (1904) abgemessenen Bereich der Entstehungsstufen und Überlieferungsformen in der Kanzlei auf die Formierung der Einzelstücke zu Akten und sogar deren Archivierung. Kurioserweise wird Meisner gern vorgehalten, er habe ausgerechnet diese Aspekte vernachlässigt.

Seine Neuschöpfung war die Systematik: die Typisierung von Aktenschriftstücken nach wiederkehrenden inneren und äußeren Merkmalen anhand von drei Kriterien:

  1. Rang, d. h. Verhältnis der Korrespondenten (Über-, Unter- oder Gleichordnung),
  2. grammatischer Stil der Selbstbezeichnung des Verfassers (Ich, Wir oder unpersönlich),
  3. zeremonielle Ausgestaltung der Formeln.

Damit brachte er eine nachvollziehbare Ordnung in das Dickicht der historischen Stilformen, die allerdings bedenklich eng an den Verhältnissen des Untersuchungszeitraums klebte.

Meisners Methode war empirisch und historisch-philologisch. Neben dem Aktenmaterial zog er Kanzleihandbücher des 18. Jhs. als Quelle heran. Meisner selbst sah in der systematischen Bestimmung eine Methode zur Einordnung eines Schriftguts, kein a priori vorgegebenes Dogma. Gerade diesen Eindruck kann sein Stil aber leicht vermitteln. Er bemühte sich um äußerste Präzision in einer an die juristische Fachsprache angelehnten Diktion und sparte nicht mit unerklärten Begriffen aus den Quellen. Sätze wie “Die diplomatischen Requisitorialien erfolgen (Stilmerkmal B) in Tertia persona (Le sousigné a l’honneur…).” sind typischer Meisner (1935: 54) und haben die Rezeption seiner Gedanken nicht gefördert.

Das bemängelte schon der erste Rezensent, Ludwig Bittner (1935), der Direktor des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Die epochale Bedeutung des Werks war Bittner klar, es zeichnete sich aber auch schon das grundlegende Missverständnis in der Meisner-Rezeption durch die Archivare ab, die seine Methoden unmittelbar auf Aktenbestände in ihrer archivierten Form anwenden wollten und nicht auf das Einzelstück ab seiner Entstehung in der Kanzlei. Bezogen auf die Logik von Meisners Methodologie heißt das aber, das Pferd von hinten aufzuzäumen.

Urkunden- und Aktenlehre (1952)

Nach der “Aktenkunde” war es Meisners Hauptanliegen, die neue Hilfswissenschaft mit der etablierten Urkundenlehre zu verschmelzen. Dazu musste er die Urkunden als besonderen Stoff in der Masse der frühneuzeitlichen Schriftgutproduktion verorten. Meisner (1952: 18 f.) löste dieses Problem, indem er auf den rechtserheblichen und inhaltlich autonomen Charakter von Urkunden pochte:

“Akten sind also oft nur Mittel zum Zweck und von vorübergehender Bedeutung. Während die Urkunde den Abschluß einer Entwicklung darstellt, wird durch Akten diese selbst dynamisch mit allem Für und Wider illustriert. Akten sind als solche nichts Selbständiges, sondern ergänzungsbedürftig […]. Urkunden kann man isolieren, ohne sie dadurch aus einem Zusammenhang zu reißen […].”

Das Problem des fließenden Übergangs der Formen von Urkunden und Akten wurde damit umschifft. Der Rückgriff auf den Rechtscharakter löste freilich einige Folgeprobleme aus, die Meisner noch zu einer Spezialstudie trieben (Meisner 1953). Vor allem zwang er Meisner dazu, die Amtsbücher, die Einträge mit und ohne rechtserheblichen Charakter enthalten konnten, nicht mehr als eigenständige Archivaliengattung zu behandeln, sondern dem Einzelfall nach als besondere Ausprägung entweder von Akten oder von Urkunden.

Die Neubearbeitung musste auf die Anmerkungen von 1935 verzichten, ist didaktisch aber besser aufgebaut und erläutert die Methodik, statt nur ihre Anwendung zu demonstrieren. Den Nutzen der Aktenkunde als formaler Analyse des Aktenstils erklärte Meisner (1952; 24 f.) nun so:

“Indem die Verfasser amtlicher Schriftstücke je nach dem Empfänger an gewisse Ausdrucksformen und Ausdrücke gebunden sind […], verraten sie eine bestimmte Stellung oder den Anspruch auf eine solche, wodurch auf die Verwaltungsphysiognomie Licht fällt.”

So verschaffe die Aktenkunde “Einblicke in das herrschende Regierungssystem und mache “den Anteil einzelner Persönlichkeiten an der ‘Akte’ und damit an der administrativen, juristischen oder diplomatischen ‘Aktion’” ersichtlich (ebd.).

Trotz des umfassenderen Anspruchs bleibt die Darstellung Preußen verhaftet. Die Handvoll kleinformatiger Abbildungen trägt nicht viel zur Veranschaulichung bei. Wirklich unglücklich ist die Ausgliederung von Scholien in ein eklektizistisches Begriffslexikon im Anhang, das dauernd mit dem eigentlichen Text verglichen werden muss.

Auf die Leitrezension dieser Ausgabe durch Dülfer (1951) wird noch einzugehen sein.

Schmids Adaption

Als praktisches Lehrbuch setzte diese Ausgabe immer noch zu viel voraus. Für die Archivarsausbildung in der DDR wurde der Stoff deshalb unter der Aufsicht Meisners von Gerhard Schmid in ein Lehrbuch (1959) umgegossen, das didaktisch sehr geglückt ist und eine große Zahl hervorragend erläuterter Beispiele enthält. Der Text wurde hektografisch vervielfältigt und ist leider nur als “graue” Literatur greifbar (Berwinkel 2013).

Schmid (1959) war mehr als eine mechanische Adaption, sondern überschritt die Grenzen der Vorlage deutlich hinsichtlich des räumlichen und zeitlichen Bezugs sowie, damit verbunden, der Typen des Aktenschriftguts. Auch vereinfachte Schmid Meisners Methodologie, indem er den analytischen Zugang, der im Wesentlichen der genetischen und systematischen Bestimmung des Schriftstücks zuarbeitet, auf diese aufteilte. In der Traditionslinie des Meisnerschen Werks kann man dieses Lehrbuch deshalb durchaus als eigenständigen Beitrag werten.

Archivalienkunde (1969)

Meisners Alterswerk leidet am missglückten Versuch einer radikalen Ausdehnung des Thema. Der Aktenkunde – bezeichnet als “Besonderer Teil” (1969: 123 ff.) – stellte er einen “Allgemeinen Teil” voran, der die Archivaliengattungen, die Registraturkunde und andere von der Archivwissenschaft besetzte Themen behandelt. Beide Teile stehen nach Art einer Buchbindersynthese unverbunden nebeneinander.

Der aktenkundliche Teil verharrt auf dem Stand von Meisner (1952). Weder übernahm Meisner die Verbesserungen seines Schülers Schmid (1959), noch setzte er sich vertieft mit den alternativen Ansätzen auseinander, die zwischenzeitlich in Marburg entwickelt wurden: Dülfers Zwecke und Papritz’ Motive zog Meisner (1969: 125-128) zu einem zusätzlichen, inhaltlich bestimmten, “finalen” Kriterium der systematischen Aktenkunde zusammen, ohne darin einen Widerspruch in seinem an Formalien orientieren Lehrgebäude zu sehen.

Insgesamt ist das Alterswerk durch ein Höchstmaß an Materialfülle gekennzeichnet, aber auch durch einen erheblichen Verlust an Stringenz und durch Meisners Verharren im rigiden Gehäuse des juristischen Urkundenbegriffs und des “alten“ Aktenstils. Schmid (1970) fiel es zu, dies in der quasi amtlichen Rezension der Staatlichen Archivverwaltung der DDR festzustellen.

Wer sich gerüstet mit Meisner an frühneuzeitliche Archivbestände preußischer Provenienz macht, wird kein Manko entdecken. Die Makellosigkeit des Systembaus innerhalb des selbst gewählten Paradigmas macht Meisner so attraktiv: Man kommt damit rasch zu klaren Schlüssen. Außerhalb dieses Rahmens verliert des System bald an Kraft. Es bleibt aber Meisners Verdienst, die Methodologie der Aktenkunde erstmals definiert und dadurch nachhaltig geprägt zu haben.

Literatur

Außer den mit * gekennzeichneten werden alle Titel auch in der Basisbibliografie zur Aktenkunde nachgewiesen.

Besprochene Werke

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meisner, Heinrich Otto 1952. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig [erstmals 1950].

Meisner, Heinrich Otto 1953. Das Begriffspaar Urkunden und Akten. In: Forschungen aus mittedeutschen Archiven. Festschrift für Helmut Kretzschmar. Schriftenreihe Der Staatlichen Archivverwaltung 3. Berlin. S. 34–47.

Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig [auch Lizenzausg. Göttingen].

Schmid, Gerhard 1959. Aktenkunde des Staates. Potsdam (masch.).

Weitere Literatur

*Berwinkel, Holger 2013. Der graue Klassiker. Gerhard Schmids „Aktenkunde des Staates“ von 1959. In: Aktenkunde. Aktenlesen als Historische Hilfswissenschaft. http://aktenkunde.hypotheses.org/114. Abgerufen am 28.2.2015.

Brachmann, Botho/Klauß, Klaus 1999. „De me ipso!“ Heinrich Otto Meisner und die Ausbildung archivarischen Nachwuchses in Potsdam und Berlin. In: Beck, Friedrich u. a., Hg. 1999. Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Potsdamer Studien 9. Potsdam. S. 601–636.

*Bittner, Ludwig 1935. [Rezension zu Meisner, Aktenkunde]. In: Historische Zeitschrift 152. S. 532-535.

Dülfer, Kurt. 1951. Literaturbericht zu H. O. Meisner: Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Der Archivar 4. S. 41–44.

Henning, Eckart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln. S. 105–127.

*Schmid, Gerhard 1970. [Rezension zu Meisner, Archivalienkunde]. In: Archivmitteilungen 20. S. 159-160.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/324

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Forschungsgeschichte der Aktenkunde I: Wegbereiter im frühen 20. Jh. #wbhyp

Wer sich aktenkundliches Rüstzeug für eigene Archivstudien zulegen will, wird mit einer hochspezialisierten Forschung konfrontiert, deren Wege nicht immer geradlinig waren. Die Serie "Forschungsgeschichte der Aktenkunde" soll diese Wege abschreiten. Parallel entsteht eine aktenkundliche Basisbibliografie, die die besprochenen Werke systematisch nachweist.

Ich verstehe diese Serie auch als Exempel zur Blogparade "Wissenschaftsbloggen: zurück in die Zukunft" (#wbhyp). Hier verwerte ich Material aus einem Buchprojekt, das aufgrund der bekannten Krise des wissenschaftlichen Buchmarkts nicht zustande gekommen ist. Ganz abgesehen davon, dass die Darstellung im Blog-Format nicht mehr an physische Grenzen stößt: Umfang, Links usw. – in diesem Format

  • kann eine Wissenschaftsgeschichte einer Spezialdisziplin überhaupt erscheinen,
  • kann sie das angestrebte Publikum am besten erreichen und
  • kann sie fortgeführt und ergänzt werden.

Auf Frau Königs Aufruf, herauszufinden warum sich das Bloggen "trotzdem" lohnt, kann ich für mein Exempel nach der Umstellung von Papier auf digital nur mit eigener Überraschung entgegnen: So etwas lohnt sich eigentlich nur im Wissenschaftsblog! Wer sich seiner Sache sicher ist, kann sich auch dem Medium anvertrauen. Wo Blogs weiße Flecken füllen, die das Papier auf seinem Rückzug hinterlässt, werden sie rezipiert werden.

Nun aber zur Sache!

* * *

Die Aktenkunde ist eine praktische Wissenschaft. Aus der praktischen Beschäftigung mit Akten in Archiven ist sie auch entstanden: einerseits aus der Ordnung und Verzeichnung von Archivgut, andererseits aus kritischen Editionen von Aktenstücken. Den Anstoß gab die Bewältigung frühneuzeitlichen Materials im charakteristischen Kanzleistil des Ancien Régime, der nach den Reformen des 19. Jhs. der aktiven Generation von Historikern und Archivaren fremd geworden war und deshalb mit wissenschaftlicher Methodik durchdrungen werden musste.

Wurzeln in der Urkundenforschung

Die Methodenlehre des Fachs ist freilich nicht vom Himmel gefallen. Den Boden hat die Diplomatik bereitet, die zur selben Zeit vom Werkzeug der Quellenkritik hoch- und frühmittelalterlicher Urkunden zu einer umfassenderen Lehre von urkundlicher Schriftlichkeit auch im Spätmittelalter weiterentwickelt wurde. Methodisch rückte dabei der Entstehungszusammenhang der Schriftstücke in den Fokus.

Als Zentralorgan der neuen Diplomatik wurde 1908 das Archiv für Urkundenforschung (AUF, heute: Archiv für Diplomatik) begründet. Die neue Zeitschrift sollte auch Raum für Studien bieten, "die sich mit dem Register-, Akten- und Behördenwesen im Übergang zur Neuzeit beschäftigen" und sich neben Urkunden im engeren Sinne auch mit "Entwürfen und Konzepten, [...] Briefen, Akten und Büchern der gleichen Behörden oder Schreibstuben" befassen sollte. Für die Herausgeber, die dieses Programm in der Einleitung zum ersten Band des AUF aufstellten, war außerdem klar, dass "mit den Urkunden und Akten stets auch die Geschichte der entsprechenden Behördenorganisation erforscht [...] werden soll" (Brandi/Bresslau/Tangl 1908: 2 f.).

Michael Tangl (1861–1921), einer der Herausgeber, trug als akademischer Lehrer zur Verbreitung dieses Ansatzes bei, der (wie Henning 1999: 110 bemerkt) seine eigentliche Verwirklichung in der Aktenkunde fand, auch wenn aufseiten der Diplomatik noch hervorragende, auch aktenkundlich einschlägige Studien wie Spangenbergs Arbeit zu den Kanzleivermerken (1928) erschienen. Tangl war aus dem österreichischen Archivdienst hervorgegangen und lehrte zunächst in Marburg und dann in Berlin mittelalterliche Geschichte.

Marburg und Berlin sind die beiden Orte, mit denen die Forschungsgeschichte der Aktenkunde vielfach verknüpft ist. Maßgeblich, aber nicht ausschließlich, hängt dies mit der Ansiedlung der Ausbildungseinrichtungen für Archivare in Preußen, der DDR und der Bundesrepublik zusammen. Wichtig ist, dass diese Orte im Laufe der Zeit auch begannen, für unterschiedliche Denkschulen zu stehen.

Friedrich Küch: Aktenkunde in der Archivarbeit

Zum 400. Geburtstag Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen legte Friedrich Küch (1863–1935), Archivar am preußischen Staatsarchiv Marburg, den ersten Band von dessen "Politischen Archiv" vor. Küch hatte aus einer zersplitterten archivalischen Überlieferung den Zustand auf dem Papier  rekonstruiert, den der Aktenbestand des Landgrafen zu außenpolitischen Angelegenheiten zu seinen Lebzeiten hatte. Die Aktenstücke hatte Küch, nach Vorgängen zusammengefasst, durch ausführliche Regesten in einer heute kaum noch vorstellbaren Tiefe erschlossen. Dennoch handelt es sich beim "Politischen Archiv" noch um ein archivisches Findmittel, nicht schon um eine Edition (Kretzschmar 2013: 93).

Küch legte die zeitgenössische Behördenorganisation zugrunde. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich daraus, dass Akten zu derselben Angelegenheit sowohl in der Kasseler Zentrale als auch bei den hessischen Gesandten an anderen Höfen angefallen sein konnten – klassische Spiegelakten also: Was in Kassel als Konzept zu den Akten ging, liegt in denen des Gesandten als Ausfertigung vor, usw. Küch schreibt (1904: XXIV):

"Eine notwendige und wohltätige Folge der gewählten Anordnung war der Zwang jedes [...] Schriftstück [...] an dem Orte unterzubringen, wohin es seiner kanzleimäßigen Entstehung nach gehörte".

Somit war "die möglichst scharfe Feststellung des kanzleimäßigen Zustandes, in dem das betreffende Stück überliefert ist" (ebd. XXX) die Voraussetzung für die sachgerechte Verzeichnung des Bestands. Indem Küch über die dazu berücksichtigten Grundsätze Rechenschaft ablegte, führte er bis heute zentrale Forschungsbegriffe zu Entstehungsstufen und Überlieferungsformen von Schriftstücken ein: Schreiben in Akten können als Konzept, als Mundum (Ausfertigung) oder in Abschrift vorliegen; zentrale Bearbeitungsschritte waren die Revision des Konzepts und der Vollzug der Ausfertigung.

Auch gebührt Küch das Verdienst, als erster konsequent den neutralen Begriff Schreiben für Korrespondenzen in Akten benutzt zu haben. Seine Terminologie ist noch nicht trennscharf, seine Ausführungen sollten aber auch keine Methodologie begründen, sondern nur vor den Benutzern des Repertoriums Rechenschaft über die Arbeitspraxis ablegen (ebd. XII).

In der Summe ist genau das, eine Methodologie zu begründen, Küch unbeabsichtigt aber dennoch gelungen. Schon Haß und Meyer, den nächsten Pionieren der Aktenkunde, dienten seine Erkenntnisse zur kanzleimäßigen Entstehung von Schriftstücken als Leitfaden und Kontrastfolie für andere Epochen der Kanzleigeschichte.

Martin Haß: Aktenkunde als Editionsmethode

Um die Edition der politischen Korrespondenz eines anderen wirkungsmächtigen Herrschers, Friedrichs des Großen, zu ergänzen, wurden 1887 die Acta Borussica begründet, eine momumentale Editionsreihe von Aktenstücken zur inneren Entwicklung Preußens. Das umfasste auch die Verwaltungsgeschichte, deren Erforschung zudem die Grundlage für das Verständnis anderer Zweige der inneren Entwicklung war. Die Acta Borussica waren Grundlagenforschung, die in die Hände erfahrener Editoren gelegt war.

Einer dieser Editoren – und verantwortlich für die Editionsgrundsätze v war der Tangl-Schüler Martin Haß (1883–1911). Er veröffentlichte 1909 eine Studie "über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen", die in ihrer Verbindung von verwaltungsgeschichtlicher und hilfswissenschaftlicher Betrachtung wegweisend für die Aktenkunde war. Haß stand auf diesem Feld nicht allein: Auch Granier (1902), Klinkenborg (1915) und andere befassten sich mit dem, was zum brandenburgisch-preußischen Referenzmodell der Aktenkunde werden sollte; dieser Berliner Urgrund der Aktenkunde wird von Henning (1999) genau untersucht. Haß' Studie sticht durch ihren Umfang und den Versuch, Neuland zu kartieren, heraus:

"Die historische Aktenkunde ist ein weites, schier unübersichtliches Feld, das fast noch in seiner ganzen Ausdehnung wüst liegt und nur erst von ein paar Hauptwegen durchzogen ist."
(Haß 1909: 521 - zitiert nach der durchgehenden Seitenzählung des Bandes.)

Die Studie konzentriert sich auf die "Formalien in den Schriftsätzen" (ebd. 522), also auf innere Merkmale, und erklärt sie als Spuren der dahinter abgelaufenen Verwaltungsvorgänge. Im Grunde ging es Haß um ein Spezialproblem: Welche im Namen des Fürsten ergangenen Weisungen stammten wirklich von ihm und welche ergingen in seinem Namen von Behörden? Damit war die Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen und die Zuschreibung von Verantwortung als ein Hauptzweck der Aktenkunde formuliert worden.

"Es konnte vorkommen, daß Friedrich Wilhelm als Kammer eine Verfügung ergehen ließ, die Friedrich Wilhelm als Generaldirektorium tadelte, und daß dann Friedrich Wilhelm als König, wenn die Sache an ihn gelangte, womöglich noch eine andere Entscheidung fällte."
(Haß 1909: 541.)

In einem aktenkundlichen locus classicus wies Haß (1909: 531 f.) nach, dass der auf Schriftstücken häufig anzutreffende Vermerk "Auf Seiner Majestät allergnädigsten Specialbefehl" oder "ad mandatum speciale regis", entgegen dem Wortsinn gerade keinen speziellen Befehl des Königs, sondern eine selbständige Behördenweisung anzeigte.

Richtungsweisend verknüpfte er die verwaltungsgeschichtliche Rekonstruktion der Behördenorganisation mit der Analyse normativer Texte wie Kanzleiordnungen und dem empirischen Befunde der Schriftstücke. Sein besonderes Interesse galt dem Kanzleistil als "Staatsgrammatik" (ebd. 522).

Die Forschung kann ihm dankbar dafür sein, dass er seiner eigentlichen Argumentation Anhänge beigab, die von den 55 Seiten allein 24 einnehmen. Ohne verfrühte Systematisierung stellte Haß darin seine gesammelten Beobachtungen an Aktenstücken zur Verfügung. Herausragend ist der Exkurs "über die Entstehung eines Aktenstücks" (ebd. 554–559), der die Entstehungsstufen unter den Bedingungen des voll entwickelten kollegialen Verwaltungstyps nachvollzieht und sich dazu bereits mit Küchs Befund aus dem 16. Jahrhundert auseinandersetzt. Der Anhang "Musterbeispiele" (ebd. 568–575) bringt eine Zusammenstellung der für einzelne Schriftstücktypen charakteristischen Formularbestandteile.

Man würde Haß Unrecht tun, ihn nur als überholten Vorgänger Heinrich Otto Meißners zu sehen. Hier wurde nicht nur reiches Material für die nachfolgende Forschung ausgebreitet und vieles angedeutet, was Meißner später ausführen sollte, sondern Haß demonstrierte am Beispiel des Spezialbefehls auch, dass die Aktenkunde zu allgemeinen historischen Fragen, wie eben der Verantwortlichkeit des frühneuzeitlichen Fürsten, einen originären Beitrag leisten konnte – wozu also der ganze Aufwand gut war.

Hermann Meyer: Aktenkunde aus der Verwaltungspraxis

Hermann Meyer (1883–1943) war mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Im Auftrag der Reichsregierung wurde 1919 eine vierbändige kritische Edition der "deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" 1914 veröffentlicht. Zur archivtechnischen Unterstützung des Vorhabens wurde der Archivar Meyer von der preußischen Archivverwaltung an das Auswärtige Amt abgeordnet.

Obwohl Meyer nicht zu den Editoren zählte, hoben diese doch hervor, dass "dessen fachmännische Spuren der Leser überall wahrnehmen wird" (Montgelas/Schücking 1919: VII). In erster Linie wird man dazu die saubere Bestimmung der Entstehungsstufen, die Zuweisung von oft schwer leserlichen Randbemerkungen und die zeitliche Einordnung, wer wann wovon Kenntnis hatte, verstehen können. Auch hier ging es also um das Problem der Feststellung von Verantwortlichkeit nach Aktenlage, das Haß beschäftigt hatte - nur eben nicht am grünen Tisch, sondern im Rahmen der heißen Kriegsschulddebatte. Selten fanden Akteneditionen eine derart weite Verbreitung. Meyers schmale Monografie von 1920 über "das politische Schriftwesen" des Auswärtigen Amts wandte sich als Hilfe zur Lektüre der edierten Dokumente ebenfalls an ein breites Publikum.

Das Problem, die pragmatische Schriftlichkeit einer vergangenen Epoche zu rekonstruieren, stellte sich Meyer, der jederzeit die Registratoren und Sekretäre des Amts befragen konnte, nicht. Die Herausforderung der zeitgeschichtlichen Edition lag in der Masse und Verschiedenheit der Überlieferungsformen, an der moderne technische Verfahren mitschuldig waren. Meyer bleibt bis heute maßgeblich zu Bereichen, die der Mainstream der Aktenkunde nicht im Blick hat, insbesondere zur Übermittlung per Telegraf oder Fernschreiber und zu Chiffrierverfahren (1920: 83–97).

Aus der Praxis schreibend, gelang Meyer das vielleicht plastischste und prägnanteste Buch zur Aktenkunde überhaupt. Die Leser erhalten einen umfassenden Überblick, wie Schriftstücke im Auswärtigen Amt entstanden, versandt und bearbeitet wurden, wie der Kaiser eingebunden war, wie Staatsverträge abgeschlossen wurden und wie der ganze Betrieb organisiert war. Der Zeitdruck bei der Erstellung des im Dezember 1919 abgeschlossenen Manuskripts und die Nähe der Praxis forderten aber ihren Tribut, indem sie Meyer die systematische Durchdringung des Stoffs verboten.

Bei der Behandlung der Entstehungsstufen konnte er noch, mit Küchs Terminologie gewappnet, die wirren Begriffe der Kanzleipraxis bändigen:

"In der modernen Registratur und Kanzlei ist die Terminologie des Schriftverkehrs nicht immer unbedingt feststehend. So werden Ausdrücke wie Original, Entwurf, Konzept, Ausfertigung, Minüte und Grosse, zumal in den verschiedenen Ländern, in sehr verschiedener Bedeutung angewandt. Um so wichtiger ist es, hier klar zu sehen."
(Meyer 1920: 38.)

Bei der Beschreibung der Schriftstücktypen hatte Meyer darauf, wie er selbst beklagt (ebd. 3 f.) verzichten müssen:

"Andererseits bedeutete es eine wirkliche Entsagung, auf die Darstellung der historischen Entwicklung der […] Schriftstücke zu verzichten, also etwa von Noten oder Handschreiben zu sprechen, ohne deren Geschichte und nicht zuletzt die ihrer äußern [sic] Form zu behandeln."
(Meyer 1920: 3.)

Die dazu angekündigten Spezialstudien kamen nicht mehr zustande, nachdem er 1920 zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts berufen wurde; 1926 wechselte er in den diplomatischen Dienst. So scheiterte Meyer schon daran, die Entstehung und Behandlung der telegrafischen und schriftlichen Korrespondenz zwischen den Auslandsvertretungen an die Berliner Zentrale in ein logisches Verhältnis zu setzen, und behandelte beides an entgegengesetzten Enden der Darstellung. Vor lauter Bäumen verschwindet ein wenig der Wald.

Methodisch hat Meyer die Aktenkunde also nicht vorangebracht, aber es war sein Verdienst, die erste zeitgeschichtliche Aktenkunde geschrieben und den Ansatz Küchs auf frühe Verfahren der elektronischen Kommunikation angewandt zu haben.

Literatur

Außer den mit * gekennzeichneten werden alle Titel auch in der Basisbibliografie zur Aktenkunde nachgewiesen

Besprochene Werke

Brandi, Michael/Bresslau, Harry/Tangl, Michael 1908. Einführung. In: Archiv für Urkundenforschung 1. S. 1–4.
Online

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 15. S. 168–180.
Online

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 22. S. 521–575.
Online

Klinkenborg, Melle 1915. Die Stellung des Königlichen Kabinetts in der preußischen Behördenorganisation. In: Hohenzollern-Jahrbuch 19. S. 47–51.
Online

Küch, Friedrich 1904. Politisches Archiv des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen: Inventar der Bestände. Bd. 1. Publikationen aus den Preußischen Staatsarchive 78. Leipzig.
Online

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.
Online

Spangenberg, Heinrich 1928. Die Kanzleivermerke als Quelle verwaltungsgeschichtlicher Forschung. In: Archiv für Urkundenforschung 10. S. 469–525.

Weitere Literatur

Henning, Eckart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert. In: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln. S. 105–127.

Kretzschmar, Robert 2013. Akten- und Archivkunde im Tübinger Netzwerk Landesgeschichte: Ein Plädoyer für eine zeitgemäße Archivalienkunde. In: Bauer, Dieter R. u. a., Hg. 2013. Netzwerk Landesgeschichte. Gedenkschrift für Sönke Lorenz. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 21. Ostfildern. S. 91–109.

*Montgelas, Max Graf/Schücking, Walter, Hg. 1919. Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Bd. 1. Charlottenburg 1919.
Online

*Neugebauer, Wolfgang 1998. Martin Hass 1883–1911. Beiträge zur Biographie eines preußischen Historikers und Wegbereiters der Aktenkunde als Historischer Hilfswissenschaft. In: Herold-Jahrbuch, Neue Folge 3. S. 53–71.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/306

Weiterlesen

Aktenstücke gut zitieren

Historiker, die im Archiv forschen, sind sich oft unsicher, wie sie Aktenschriftstücke zitiert werden sollen. Jedenfalls wurde ich mehrfach darauf angesprochen, seit ich dieses Blog betreibe. Hier also Faustregeln eines Historiker-Archivars zum guten Zitieren:

  1. Nenne den Typ des Schriftstücks!
  2. Gib Entstehungsstufe und Überlieferungsform an, wenn sie von der Norm abweichen.
  3. Übergehe kanzleitechnisches Beiwerk.

Was ist darunter zu verstehen?

Das Problem

Ich schreibe bewusst "gut" statt "richtig zitieren", denn den einzig wahren Weg gibt es meiner Auffassung nach nicht. Was anzugeben ist und was nicht, sollte sich nach den Eigenheiten des zitierten Schriftstücks und dem Argumentationszusammenhang in der zitierenden Arbeit richten. Eine Zitation würde ich als gut bezeichnen, wenn ihr Informationsgehalt in diesen beiden Bezügen angemessen ist.

Normalerweise wird zu Zitaten aus Archivalien nur die Fundstelle angegeben, also eine mehr oder weniger komplizierte Sigle, die es erlaubt, den zitierten Text im Archiv exakt wiederzufinden. Dazu braucht es neben der meist dreiteiligen Archivaliensignatur (Archiv, Bestand, Bestellnummer) die Blattzahl (fol. oder Bl.). Manche Zeitschriften untersagen in ihren Manuskriptrichtlinien sogar weitergehende Beschreibungen als zur Wiederauffindung unnötig. Kostet im Druck eben Platz.

Das ist etwa so, als würde man eine Online-Veröffentlichung nur mit ihrem URN zitieren.

Und man kommt schon in Schwierigkeiten, wenn die Archivalien-Einheit, aus der zitiert wird, nicht foliiert ist. Das Schriftstück dann durch das Datum näher zu bezeichnen, wie ich das in meinem Erstling auch getan habe (Berwinkel 1999 - um mit schlechtem Beispiel voranzugehen), hilft nur bei weniger dichten Serien, bei denen dies ein eindeutiges Merkmal ist, und setzt für die nicht triviale Datierung unübersichtlicher Entwürfe selbst aktenkundliche Expertise voraus. Weit kommt man damit also nicht.

Der Schriftstücktyp

Es liegt nahe und ist verbreitet, Verfasser und Adressat plus Datum zu nennen: X an Y, 1. 1. 1900 (oder 1900 Januar 1 oder wie auch immer). Aber was tun, wenn es sich nicht um Korrespondenz mit Y handelt, sondern um Aufzeichnungen für die eigenen Akten des X? In diesem Fall führt schon rein sprachlich kein Weg daran vorbei, das Schriftstück näher zu charakterisieren.

Aus dieser praktischen Not sollte man eine methodische Tugend machen. Durch die Suche nach der treffenden Bezeichnung für ein Schriftstück vergewissert man sich des richtigen Verständnisses von dessen Form und Funktion, die als Kontext der Textinformation für die Quellenkritik entscheidend sind, und gibt seinen Lesern ein Hilfsmittel zur Falsifizierung der eigenen Schlüsse an die Hand. Gutes Zitieren zwingt zur Stellungnahme.

Bei der Benennung des Typs geht es um die Identifizierung des Zwecks einer verschriftlichten Information (Mitteilungen an Entfernte, Stütze des eigenen Gedächtnisses usw. - siehe Papritz 1959) und, bei Korrespondenzen, der aktenkundlich so genannten Schreibrichtung. Die Schreibrichtung ist ein elementares quellenkritisches Merkmal. Aktenstücke in öffentlichen Archiven stammen zumeist aus hierarchischen Institutionen, die das Verhältnis der korrespondierenden Personen bestimmten. Es wird von unten nach oben berichtet, von oben nach unten verfügt oder auf gleicher Ebene mitgeteilt.

X schreibt an Y mit einem bestimmten Inhalt - gut. Aber berichtet er seinem Vorgesetzten Y oder weist er seinen Untergebenen Y an? Die Bedeutung dieses Kontexts für die Interpretation des Texts liegt auf der Hand. Also zitiert man besser:

X an Y, Bericht, 1. 1. 1900, oder:
Behördenreskript der Kriegs- und Domänenkammer X an den Bergbaubeflissenen Y, 31. 12. 1770.

Entsprechend bei immobilem Memorienschreibwerk, wie man es aktenkundlich nennt:

X, Aktenvermerk, 30. 9. 1965, oder:
Abrechnung des Amtmanns X, 12. 12. 1701.

Ich bevorzuge die Stichwortform ohne Genitive. Man muss die Umständlichkeit der Quellensprache nicht emulieren.

Zweck und Form haben im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Typen von Schriftstücken hervorgebracht. Die Aktenkunde hat die zeitgenössischen Bezeichnungen vereinheitlicht und systematisiert. Im Ergebnis liegt ein sehr fein differenziertes Instrumentarium vor, das für die "klassische" Zeit bis 1918 bei Kloosterhuis (1999) mustergültig und handhabbar zusammengestellt ist. Dieser Begriffsapparat kann beim Erstkontakt abschreckend wirken. Am Gebrauch der aktenkundlichen Verabredungsbegriffe führt aber kein Weg vorbei, weil nur über diese eine wissenschaftliche Verständigung möglich ist. Man sollte sich nicht, wie es oft geschieht, eine private Terminologie aus zeitgenössischen Selbstbezeichnungen der Stücke und heutiger Umgangssprache stricken.

Die Bestimmung des Schriftstücktyps (Klassifizierung im Sinne der Systematischen Aktenkunde) betrachte ich als unverzichtbar, um ein Schriftstück als physischen Informationsträger angemessen zu zitieren.

Entstehungsstufe und Überlieferungsform

Bei Entstehungsstufe und Überlieferungsform halte ich es aber für ausreichend, Abweichungen von der Norm anzugeben. Dazu muss man diese beiden Kriterien aber zunächst vom Schriftstücktyp unterscheiden. Zur Illustration des Problems hier einige Beispiele aus der inhaltlich vorzüglichen Arbeit von Simone Derix (2009), die ich zufällig in den Händen hatte:

"Abschrift BM Lehr an StS BKAmt" (40 Anm. 63) - eine Abschrift wovon? Doch wohl von einem Mitteilungsschreiben unter praktisch gleich Gestellten (Bundesminister - Amtschef des Bundeskanzlers).
"Paper prepared in the Department oft State, Washington" (259 Anm. 240) - das ist ein Zitat aus dem Inhalt (Überschrift?), aber keine Charakterisierung.
"Funkübermittlung, BKA" (293 Anm. 49) - Was wird übermittelt, ein Bericht? Und in welcher Form liegt das Stück in den Akten vor? Schließlich musste die drahtlose Übermittlung verschriftlicht werden.

Korrespondenz liegt in Behördenakten in der Regel in zwei Entstehungsstufen vor:

  1. Eigene ausgehende Schreiben im Entwurf, der von allen zuständigen Instanzen genehmigt wurde und infolge dessen eine Reihe von Vermerken zum Urtext trägt.
  2. Fremde eingehende Schreiben als Ausfertigung, wie sie in der Kanzlei des Absenders als Reinschrift von dessen Entwurf hergestellt wurde.

Wenn nun in den Akten einer Behörde ein Bericht an das Ministerium als Entwurf vorliegt und dessen darauf folgender Erlass als Ausfertigung, dann ist das normal und muss beim Zitieren nicht beachtet werden.

Hoch relevant sind dagegen die Abweichungen von der Norm: Warum ist die Ausfertigung des eigenen Berichts bei den Akten? Ist er niemals abgegangen, wurde er im letzten Moment kassiert? Warum zeigt der Entwurf keine Spuren des Genehmigungsverfahrens? Im Zitat kann dies so ausgedrückt werden:

X an Y, Bericht, nicht genehmigter Entwurf, 15. 5. 1925.
Kabinettsordre Herzog Xs an den Amtmann zu Y in nicht vollzogener Ausfertigung, 1781 März 18.

Die Überlieferungsform ist etwas anderes. Ihre Kategorien sind Original - Abschrift/Kopie - Durchschlag usw. Hier findet man sich am ehesten instinktiv zurecht, dennoch drohen schwere Fehler: Ausfertigung und Original sind nicht identisch; auch von einem Entwurf gibt es ein Original (und beliebig viele Doppelstücke als Durchschläge oder Kopien). Auch "Abschrift" sagt nichts über den Typ des Schriftstücks aus.

Gleichwohl ist die Angabe der Überlieferungsform essentiell, sofern es sich nicht um das Original handelt. Es ist leicht einzusehen, dass es einen Unterschied macht, ob z. B. ein Schreiben des späten Mittelalters vom Original (der Ausfertigung oder des Entwurfs) oder von der Abschrift in einem Briefbuch zitiert wird.

Es geht um den Nachweis, die Quelle in ihrer maßgeblichen Form benutzt zu haben. Daran erweist sich auch das handwerkliche Können bei der Archivrecherche: Es war z. B. normal, einen Bericht der vorgesetzten Behörde mit einer bestimmten Zahl von Durchschlägen (der Ausfertigung) einzureichen, die an die zuständigen Stellen im Hause verteilt wurden. Das Original blieb dabei das Arbeitsexemplar, auf dem die Entscheidungsfindung (wie soll auf den Bericht reagiert werden?) durch Vermerke dokumentiert ist. Auf diese Bearbeitungsspuren richtet sich das historische Interesse manchmal mehr als auf den Urtext. Wer zufällig auf einen Durchschlag stößt und es dabei bewenden lässt, zitiert nicht die maßgebliche Überlieferung und begeht damit einen schweren methodischen Fehler.

Wenn nun das Arbeitsexemplar verloren oder nach Ausschöpfung aller Mittel nicht aufzufinden ist, muss ausgewiesen werden, dass ausnahmsweise nach einer sekundären Überlieferungsform zitiert wird:

X an Y, Bericht, Durchschlag, 23. 5. 1949.
Kopie der Ausfertigung des Erlasses des Ministerialrats X an das Finanzamt Y-Innenstadt, 3. 6. 1980.

Konzentration auf das Wesentliche

In der Archivarbeit führt Unsicherheit zum Drang nach Vollständigkeit: Ein normales Behördenschriftstück enthält eine große Menge von Bearbeitungsspuren, vom Eingangsstempel bis zum Grünstift des Chefs. Aus Furcht, etwas wichtiges zu unterschlagen, bringen viele Wissenschaftler eine methodisch unreflektierte Auswahl aus den formalen Merkmalen des Schriftstücks, die das Wesentliche eher verschleiert.

Hier ein Beispiel aus einem ausgezeichneten Aufsatz, dem wegen seiner tagespolitischen Aktualität breite Rezeption zu wünschen ist (Spohr 2010: 30 Anm. 89):

"Drahterlass, Telko Nr. 1374 an BM Delegation, D2, Dr Kastrup; Betr: Gespräch mit AM Schewardnadze (10.2.1990 im Kreml)—Fortsetzung zu Plurez 1373, 11 February 1990"

Hier sind überflüssig:

  1. der Betreff,
  2. der Bezug zum Vorgänger-Erlass,
  3. die fernmeldetechnische Kontrollnummer.

Nicht optimal ist die unverarbeitete Angabe des Adressaten in Form eines Zitat (und das auf Deutsch, mit nicht aufgelösten Abkürzungen, in einem englischen Text).

Als Zitation reicht: Auswärtiges Amt an Kastrup, Drahterlass, 11. 2. 1990.

Rein kanzlei- und registraturtechnische Vermerke, bei modernen Schriftstücken auch Angaben zum Beglaubigungsmittel und dergleichen haben nur in Ausnahmefällen eine Bedeutung. Diese Fälle sind wichtig, aber aktenkundliche Forensik lässt sich in einer Zitation aber nicht mehr unterbringen, sondern verlangt Erläuterungen im Text.

Dass sie in der Zitation übergangen werden können, bedeutet keineswegs, dass diese technischen Spuren als Bestimmungsfaktoren ignoriert werden können! Schließlich ergeben sich der Schriftstücktyp, die Entstehungsstufe und die Überlieferungsform aus ihren Kombinationen. Aber wenn das Haus gebaut ist, soll das Gerüst verschwinden.

Über Kommentare zu zitiertechnischen Spezialproblemen würde ich mich freuen.

Literatur

Berwinkel, Holger 1999. Münzpolizei in geteilter Landesherrschaft. Beobachtungen aus der Ganerbschaft Treffurt 1601-1622. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49. S. 67-86.

Derix, Simone 2009. Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 184. Göttingen.

Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. Archiv für Diplomatik 45. S.465–563. (Preprint online)

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–448.

Spohr, Kristina 2012. Precluded or Precedent-Setting?: The "NATO Enlargement Question" in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990-1991. In: Journal of Cold War Studies 14. S. 4-54.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/289

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„Hier wird regiert!“ – eine Ausstellung in Wolfenbüttel

Ausstellungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit bringen regelmäßig Aktenschriftstücke als Exponate, aber sie eröffnen keine methodischen Bezüge zur Aktenkunde. Das ist bei dieser Ausstellung in der Neuen Kanzlei in Wolfenbüttel anders.

Die Neue Kanzlei in Wolfenbüttel. Eigenes Bild, CC-BY-SA

Die Neue Kanzlei in Wolfenbüttel. Eigenes Bild, CC-BY-SA

Die Neue Kanzlei beherbergte seit ihrer Fertigstellung 1590 auch die Schreibstube und das Archiv der Verwaltung im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Fassade hat seit einem historisierenden Umbau Mitte des 19. Jahrhunderts wenig Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglichen Anblick. Das Besondere ist aber, dass sich im Erdgeschoss die markanten Teile der Innenausstattung des Archivs - nach heutigem Verständnis: der Registratur - erhalten haben, nämlich wandhohe Einbauschränke mit hölzernen Aktenladen, daneben auch Archivtruhen von beeindruckenden Ausmaßen (Bild).

Man kann sich leicht vorstellen, wenn man in diesen Gewölben steht, wie geschäftige Sekretäre und Registratoren schreiben, abstreuen und siegeln, Konzepte von Raum zu Raum bringen, Laden öffnen und schließen, Akten ausheben und reponieren.

Die Idee der Macher, ausgerechnet hier eine Ausstellung zur Herrschaft im Zeitalter des "Policey"-Staates und zu deren verschriftlichter Praxis zu inszenieren, ist deshalb brillant. Der Titel der Ausstellung ist ihr Programm: Genau hier wurde regiert. Der zeitliche Bezug ist die Regierungszeit Herzog Anton Ulrichs (Mitregent 1685, allein 1704-1714), eine wichtige Epoche der braunschweigischen Landesgeschichte. (Offizielle Ausstellungsbeschreibung)

Heute beherbergt die Neue Kanzlei die archäologische Abteilung des Braunschweigischen Landesmuseum, das für dieses Projekt mit dem Standort Wolfenbüttel des Niedersächsischen Landesarchivs kooperiert hat. Die Ausstellung läuft bis zum 3. Mai 2015.

Die Ausstellungsmacher haben sich große Mühe gegeben, durch ein ansprechendes, aber nicht krampfhaft zeitgemäßes Design die Ausstellung für ein breites Publikum interessant zu machen; das Symbol der Ausstellung ist die Silhouette eines Würdenträgers mit barocker Perücke und zur "Merkel-Raute" gelegten Händen. Die ungünstigen Öffnungszeiten (Mi. 15-19 Uhr, Fr.-So. 10-17 Uhr) werden dem Publikumserfolg trotz dieses Bemühens um Zugänglichkeit aber wohl Grenzen setzen. Die "Braunschweiger Zeitung" titelte in ihrer Ausgabe vom 19. November 2014 "Mehr Bürokratie wagen" und findet die Ausstellung ganz interessant, auch wenn es viel olles Papier zu sehen gibt. Da ist wohl etwas nicht ganz 'rübergekommen.

Außenaufgang zur Loggia des 1. Stocks (ehemaliger Audienzsaal). Eigenes Bild, CC-BY-SA

Außenaufgang zur Loggia des 1. Stocks (ehemaliger Audienzsaal). Eigenes Bild, CC-BY-SA

Es ist ein Begleitband mit Miszellen zur Herrschaft Herzog Anton Ulrichs erhältlich, der mit Abbildungen zahlreicher Exponate illustriert ist, aber keinen Ausstellungskatalog im eigentlichen Sinne darstellt (Bei der Wieden u. a. 2014). Aus aktenkundlicher Sicht sind aus dem Inhalt besonders hervorzuheben Brage Bei der Wiedens verwaltungsgeschichtlicher Abriss "Die Fürstlichen Kollegien und ihre Organisation" (S. 42-57) und Markus Friedrichs "Regierungspraxis und Archivbenutzung in Wolfenbüttel zur Zeit Anton Ulrichs (S. 136-155) - letzteres ein Zeugnis der erfreulichen Hinwendung der Geschichtswissenschaft zur Archivgeschichte und zum Archiv als Element des Machtapparats der Obrigkeit.

Die Ausstellung ist von der Menge der Exponate her klein, aber aussagekräftig. Das Landesmuseum hat eine Anzahl interessanter Realien von der Münzwage bis zum Richtschwert gestellt. Für hilfswissenschaftlich Interessierte stehen natürlich die Archivalien das Landesarchivs im Vordergrund, die mit dieser Ausstellung in den räumlichen Zusammenhang ihrer Entstehung, administrativen Wirksamkeit und jahrhundertelangen Aufbewahrung zurückkehren. (Die Neue Kanzlei diente vor ihrer Widmung zum Museum bis 1956 als Staatsarchiv.)

Der besondere Reiz dieser Ausstellung liegt in der fassbaren Inszenierung pragmatischer Schriftlichkeit der frühneuzeitlichen Obrigkeit. Diese Erfahrung nutzt auch der praktischen Anwendung der Aktenkunde. Mit einem plastischen Bild von den physischen Verhältnissen vor Augen fällt es leichter, den Geschäftsgang eines frühneuzeitlichen Schriftstücks nicht nur zu rekonstruieren, sondern auch zu verstehen.

Literatur

Bei der Wieden, Brage/Wendt-Sellin, Ulrike/Derda, Hans-Jürgen, Hg. 2014. Hier wird regiert! Die Beamten im Dienste des durchlauchtigsten Herzogs Anton Ulrich. Kleine Reihe des Braunschweigischen Landesmuseums 6. Braunschweig.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/282

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Orchideenfach im Nebenamt: Hilft Bloggen der Aktenkunde aus ihrer Nische?

Hier dokumentiere ich mein Referat auf dem Workshop „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, der am 10. November 2014 in Wien stattfand. Der Workshop hat gezeigt, dass geisteswissenschaftliches Bloggen erwachsen geworden ist. Den Organisatoren, Maria Rottler und Thomas Stockinger samt ihrem Team, gilt der Dank der Community!

Mein Blog Aktenkunde ist seit Mai 2013 online. Seitdem habe ich es auf 30 Beiträge gebracht. Das ist nicht viel. Ursprünglich hatte ich einen Zwei-Wochen-Rhythmus für neue Beiträge angepeilt. Das war nicht zu halten. Zu den Gründen komme ich noch.

Aktenkunde is of Blog now!

Die Aktenkunde ist die Historische Hilfswissenschaft von den formalen Merkmalen neuzeitlicher Verwaltungsunterlagen. Sie bietet das Rüstzeug zur Quellenkritik des größten Teils der Überlieferung in den Archiven. Sie sollte ein Grundlagenfach sein. De facto ist sie aber ein Orchideenfach. Die Gründe dafür können hier nicht diskutiert werden.

Ein Grund scheint mir jedenfalls zu sein, dass es kaum einen Fachdiskurs gibt. Aktenkunde wird in der Regel von Archivaren betrieben, die in ihrer Berufspraxis große Sachkenntnis erwerben, aber nicht dazu kommen, ihr Wissen neben dem Beruf zu systematisieren und in den konventionellen Formaten des Aufsatzes oder gar der Monographie und in gedruckten Organen zu veröffentlichen. Das Problem der Forschung im “Nebenamt” wurde von meinen Vorrednern schon angesprochen.

Einer dieser Archivare bin ich. Ich habe das Glück, in einem Archiv zu arbeiten, zu dessen Aufgaben auch noch die intensive inhaltliche Beschäftigung mit den Akten zählt (anstatt dieses anhand von Kennzahlen nur noch zu verwalten). So entsteht Erfahrungswissen.

Meine persönliche Lage ist gegenüber vielen Kollegen durch dem Umstand, dass ich Fernpendler bin, aber wohl noch verschärft. Die Zeit, die ich auf meine wissenschaftlichen Interessen verwenden kann, konzentriert sich auf werktäglich gute zwei Stunden im Zug – das bedeutet nicht nur zeitlich, sondern auch physisch eine erhebliche Einschränkung. Diese Zeit muss sich die Wissenschaft auch noch mit Verpflichtungen zu anderem Schreibwerk teilen. Meine eigentliche Freizeit gehört der Familie.

Da begab es sich, dass mir vor fast zwei Jahren durch einen renommierten Wissenschaftsverlag das Projekt eines aktenkundlichen Lehrbuchs angetragen wurde. – Auch über das Buch als Anstoß zum Blog haben wir heute schon einiges gehört. Bereits rein zeitlich war dieses Projekt eine Herausforderung. Besonders schwierig fand ich die Aufgabe aber wegen des Fehlens eines wissenschaftlichen Diskurses. Der Arbeitskreis Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts des VdA, in dem ich mitarbeitete, und die engagierte Berliner “Fachgruppe Historische Hilfswissenschaften” können dieses Manko allein nicht heilen.

So reifte der Gedanke, ein Blog als persönliches SETI-Projekt aufzusetzen. Wie die “Search for Extra-Terrestrial Intelligence” – wer will, kann bei SETI@home mitmachen – wollte ich eine Frage “Ist da draußen noch jemand”, bezogen auf mein Interesse an der Aktenkunde. Luft wollte ich mir verschaffen beim Brüten über einer ständig wachsenden Materialsammlungen, Befunde und Hypothesen zur Diskussion stellen, aber auch einen Attraktor für einen aktenkundlichen Diskurs aufbauen.

Technische Berührungsängste hatte ich nicht. Ich bin mit Computern aufgewachsen. In meiner Sicht ist der Computer und sind elektronische Medien allerdings kein Selbstzweck und keine kulturelle Strömung, sondern potentielle Werkzeuge zur Lösung gegebener Sachprobleme. Mit der Kultur des Ausprobierens, die zur Erschließung des “Web 2.0″ propagiert wird, kann ich mich weniger anfreunden. “Act now, think later – nobody will die”, diesen Satz von der Speyerer Tagung 2012 halte ich für problematisch, denn etwas kann sterben: das eigene Anliegen, wenn nämlich ein schlecht konzipiertes Blog wegen mangelnder Resonanz verstaubt oder weil dem Betreiber der Stoff ausgeht. Für Einzelblogger wiegt diese Gefahr schwerer als für Institutionen, und besonders bei der Verteidigung eines Orchideenfachs, dessen akademischer Belanglosigkeit dann auch noch ein virtuelles Denkmal gesetzt wird.

Für das eben skizzierte Ziel erschien mir ein Blog aber als geeignetes Werkzeug, insbesondere seitdem mit hypotheses.org eine nachhaltige Plattform und eine “managed community” zur Verfügung stand. – Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an Frau König und ihr Pariser Team. Natürlich ist ein Blog wegen der Eigendynamik des Netzes nicht stringent planbar. Eine grobe Marschrichtung ist aber unverzichtbar, getreu dem Eisenhower zugeschriebenen Aphorismus: “Fertige Pläne sind unnütz, aber der Prozess des Planens ist unverzichtbar.”

Ich habe seit Mai 2013 viele Erfahrungen mit dem Blog gesammelt. Menschlich berührt hat mich die Resonanz auf meine persönlichen Erinnerungen an den verstorbenen Lorenz Beck, die ein kleines virtuelles Kondolenzbuch hervorgebracht hat. Mein Text wurde in der Vierteljahrsschrift des “Herold” nachgedruckt.

Insgesamt können meine Beiträge drei Richtungen zugeordnet werden. Ich wollte

  1. Fragmente aus der Arbeit am Buch publizieren,
  2. mit Fundstücken aus den Medien die Aktualität der Aktenkunde belegen und
  3. zur didaktischen Verbreitung aktenkundlicher Methoden beitragen.

Fragmente: Zunächst ging es dabei um Wissenschaftsgeschichte, um die – regelmäßig vergessenen – Klassiker des Fachs wie Gerhard Schmid, aber auch um Einzelprobleme wie das Vorlagewesen in der modernen Ministerialverwaltung. Im Blog angerissen, wurde daraus ein Vortrag, dem Sie morgen lauschen können, und 2015 hoffentlich ein konventionell veröffentlichter Aufsatz von etwa 20 Manuskriptseiten.

Insgesamt musste ich aber feststellen, dass sich die Rhythmen der Arbeit am Buch und am Blog schwer synchronisieren lassen.

Fundstücke: Die Resonanz in den Kommentaren lässt sich auf den Nenner “Staunen” bringen. So penibel kann man in Medienberichte zur Euro-Hawk-Beschaffung eindringen? Es ist mir damit gelungen, Interesse für mein Anliegen zu wecken – aber auch Verständnis? Der Höhepunkt war in dieser Richtung die “Kanzlerakte“, eine bizarre Aktenfälschung, die ich mit eindeutigem Ergebnis seziert habe. Sie markiert aber auch in einen Endpunkt. Das Unternehmen darf nicht zu einer Popcorn-Aktenkunde werden, die primär durch Kuriosität auffällt.

Didaktik und Verbreitung: Besser ist es, anhand historisch aussagekräftiger Dokumente, die im Gegensatz zu gängigen Lehrbeispielen auch inhaltlich interessant sind, einen vertieften Einstieg in die Methodologie zu suchen.
Mit der Emser Depesche habe ich unter diesem Gesichtspunkt zum ersten Mal eine Serie versucht. Der Aufwand entsprach dabei dem für eine konventionelle Miszelle. Gegenüber dem “Popcorn” blieb die Resonanz gleich und damit über meinen Erwartungen. Es gibt also auch ein Publikum für “Nuts and bolts”-Aktenkunde. Ich weiß auch, dass Material aus dem Blog schon für eine Seminarübung benutzt wurde – nur zu, dafür ist es da und unter CC-BY-SA lizenziert. Über Rückmeldungen zum Nutzwert würde ich mich freuen.

Das Feedback hat meine Erwartungen übertroffen. Es äußert sich in einer ordentlichen Zahl von Likes und Pingbacks von anderen Blogs. Hinweise in viel gelesenen Blogs wie Archivalia und die Aufnahme in Planet History haben zur Reichweite beigetragen – Danke dafür. Der “Outreach” über die kleine archivarische und hilfswissenschaftliche Community hinaus macht für mich den eigentlichen Wert des Blogs aus.

Für mich zählt vor allem das qualitative Feedback in den Kommentaren. Es ist interessant, wo überall aktenkundliche Interessierte sitzen. Damit verknüpft ist “Serendipity“: der unwahrscheinliche, glückliche Zufall, dessen Wahrscheinlichkeit durch weltweite Abrufbarkeit wesentlich erhöht wird. Mit anderen Medien wäre ich nie in Kontakt zu einem Registrator gekommen, der sich mit der Sammlung und methodischen Reflexion seiner Arbeitserfahrungen beschäftigt, meinem eigenen Vorhaben ähnlich – ein sehr interessanter Kontakt.

Schließlich hat es die  “Aktenkunde” als Beispiel des Werts von Blogs für die Vermittlung von Spezialthemen auch schon zur Ehre einer Erwähnung im “Archivar” 3/2014 (S. 301, Anm. 6), dem Zentralorgan des deutschen Archivwesens, gebracht.
Darf man sich als Blogger nun als kleiner, dicker, wichtiger Relefant fühlen? Gerade Blogger müssen sich vor Selbstermächtigungsphantasien hüten.
Alle Interessenten sind mir willkommen. Ich beantworte jeden ernsthaften Kommentar, und es kommen erfreulicherweise nur ernsthafte. Das bin ich meinem Fach und meinen Lesern schuldig. Aber der angestrebte Diskurs kam bis jetzt nicht wirklich zustande.

Der Unterschied zwischen dem Internet und konventionellen Medien wird gern in das Paradigma “Kathedrale und Basar” (citation needed :-) ) gefasst: In der Kathedrale zelebriert – in diesem Modell – der Priester sein Arkanwissen vor der staunenden Gemeinde. Auf dem Basar entstehen Ordnung und Wissen durch Aushandeln aus vielen dissonanten Stimmen. Das Blog “Aktenkunde” ist noch zu wenig Basar. So gern ich Dinge vermittele: Mehr Kritik, Ergänzungen, Scholien, eben mehr Fachdiskurs wären schön.

Dass der nicht zustande kommt, liegt natürlich auch am speziellen Thema. Ich bemerke jedoch, dass das Feedback aus Archivarskreisen zwar kommt, doch auf anderen Kanälen: per Mail, per Telefon, per Schulterklopfen auf dem Archivtag. Archivare haben eben hervorragende analoge Netzwerke. Bloß sind die im digitalen Medium nicht sichtbar, was der Ent-Marginalisierung archivarischer Anliegen – nicht nur der Aktenkunde! – nicht dient.

Als Attraktor für einen Fachdiskurs ist das Blog nur bedingt ein Erfolg. Aber die Wende ist vielleicht in Sicht: Mit Jürgen Finger von der LMU München hatte ich ein instruktives Kommentar-Gespräch, unter anderem über eine aktenkundlich fundierter Zitierweise neuzeitlicher Archivquellen. Dazu werde ich als Nächstes bloggen.
Und jetzt kommt es: Der Verlag hat die Reihe, in der mein Buch erscheinen sollte, eingestellt. Meine erste Reaktion kann man sich denken, die zweite war: Endlich mehr Zeit für’s Blog, das gegenüber dem Buch immer zurückstehen musste. Diesen Zustand habe ich immer mehr als unbefriedigend empfunden.

Das Blog als Medium ist meinen diskontinuierlichen Arbeitsmöglichkeiten wesentlich besser angepasst als ein Buch. Es wird für mich künftig ein Hauptkanal meiner wissenschaftlichen Tätigkeit sein, in dem ich auch für das Buch gesammeltes Material verwerten kann.

Wie könnte ein Fazit aussehen?

  1. Bloggen bedeutet für nebenberufliche Vertreter von Spezialfächern, aus der Not eine Tugend zu machen. Historiker, die aus dem akademischen Betrieb in die “Produktion” gewechselt sind, scheitern oft am großen Wurf. Das Blog akzeptiert dankbar auch die kleine Münze wissenschaftlicher Arbeit, das Fragmentarische, solange es nur anschlussfähig ist.
  2. Bloggen im Nebenamt kann als absichtsloses Handeln betrieben werden. Ich entlehne hier einen Kernbegriff aus dem Tai Chi: Ohne Anstrengung, im Rahmen des möglichen, kann der Forscher im Nebenamt eine erhebliche wissenschaftliche Kraft entfalten – während er oder sie sich nur schwer zum Kung Fu des Bücherschreibens aufraffen kann.
  3. Bloggen ist deshalb eine Graswurzel-Strategie der Wissensproduktion: Aus Einzelbausteinen kann mit der Zeit, durch Vernetzung exponentiell beschleunigt, eine veritable Forschungslandschaft entstehen. Hypotheses.org macht es vor. Verlinkt euch – ich warte auf mehr hilfswissenschaftliche Spezial-Blogs.
  4. Rein metaphorisch gesagt meine ich schließlich: Bloggen ist außeruniversitäres Fracking. Es löst aus den Köpfen der Praktiker kleinste Wissensbausteine, die im Netz der gesamten wissenschaftlichen Welt zur Verfügung stehen, um darauf aufzubauen. In konventionellen Kanälen wären diese Mikro-Partikel unsichtbar und verloren.

Ich sehe Bloggen unideologisch und betrachte mich nicht als Teil einer Revolution. Ich habe aber auch keine Probleme, Argumente zu finden, um der akademischen Reaktion, die Bloggen für wissenschaftsuntauglich hält, das Gegenteil zu beweisen. Für größere inhaltliche Zusammenhänge sind konventionelle Organe immer noch unverzichtbar. Für vieles Andere ist ein Blog das perfekte Medium.

Wissenschaftliches Bloggen führt das WWW zu seinen Ursprüngen als akademisches Hypertext-System zurück.

Gute Selbstorganisation – die Dropbox-Synchronisation am Wochenende vergisst man einmal und nie wieder – und flexible Software  – bei mir: Emacs, Zotero und Zettelkasten – vorausgesetzt, ist das Blog für mich das Mittel der Wahl, um wissenschaftliche Interessen und knappe Zeit neben dem Beruf miteinander in Einklang zu bringen.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/273

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Das zeitgeschichtliche Defizit der Aktenkunde

Ich arbeite in einem Arbeitskreis des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare mit, der sich mit den Problemen der Aktenkunde der Zeitgeschichte auseinandersetzt. Vor kurzem haben Robert Kretzschmar, Karsten Uhde und ich einen Zwischenbericht veröffentlicht. Wer dieses Blog liest, hat bemerkt, dass es auch hier immer wieder um zeitgeschichtliches Material geht.

Das Defizit “der” Aktenkunde, wie sie sich in gängigen Handbüchern und Kompendien manifestiert, für das 20. Jahrhundert ist evident und hat wohl seinen Anteil an der Nichtrezeption des aktenkundlichen Methodenangebots in der Historikerzunft.

Auch die Editoren zeitgeschichtlicher Akten stellen sich “ihre” maßgeschneiderte Aktenkunde empirisch aus der Arbeitspraxis zusammen (siehe z. B. Pautsch 2008). Was sollten sie auch anderes tun? Viel anwendungsreifes Wissen würden sie in den Handbüchern nicht finden. Dass damit aber auch epochenübergreifendes Grundlagenwissen um die Zusammenhänge des Kanzlei- und Registraturwesens keine Chance auf Rezeption hat, steht auf einem anderen Blatt.

Wie ist dieses Defizit entstanden? Ich meine nicht einmal die digitale Gegenwart, sondern die Überlieferung bis zur Mitte der 1980er-Jahre, die jetzt nicht mehr der archivgesetzlichen Sperrfrist unterliegt und Gegenstand der Forschung wird.

Im Zentrum der aktenkundlichen Forschungslandschaft steht ein Monolith, ebenmäßig und unnahbar: Heinrich Otto Meisners “Handbuch für Archivbenutzer” preußischer Akten, 1935 veröffentlicht und 1952 und 1969 in erweiterter, aber nicht unbedingt verbesserter Form neu herausgebracht. Wer Meisners Ideen verstehen möchte, lese die erste Auflage, sagte mir einmal Lorenz Beck. Die Methodik, zu der auch eine an der Verfassungsgeschichte orientierte Periodisierung gehört, einmal dahingestellt, enden alle drei Werke, das letzte sogar explizit, im Stoff mit dem Jahr 1918, dem Ende der “monarchischen Zeit”.

Meisner hat das Lehrgebäude der Aktenkunde errichtet, die Fundamente wurden aber schon vor dem Ersten Weltkrieg gelegt, namentlich durch Martin Haß (1909). Man muss sich vor Augen halten, dass diese Grundlegung noch in das Kontinuum der monarchischen Zeit fiel. Wilhelm II. konnte zumindest seinen Offizieren immer noch Kabinettsordres schreiben wie Friedrich Wilhelm I. Das heute so eklatant empfundene Auseinanderdriften von Aktenkunde und Akten gab es einfach noch nicht. Auch die bis heute einzige dezidiert zeitgeschichtlich orientierte Aktenkunde von Hermann Meyer erschien just 1920 und behandelte nun einmal die eigene Zeitgeschichte – mit einem Kapitel zur Einbettung des Kaisers in den Geschäftsgang der deutschen Diplomatie (65-80)…

Meisners Werk hat bis heute keinen vergleichbaren Gegenentwurf gefunden. Kurt Dülfer präsentierte 1957 in einem Großaufsatz eine abweichende Methodologie in Teilbereichen, Jürgen Kloosterhuis 1999 im gleichen Format eine Synthese von Meisners Gegenstand und Dülfers Zugang. Der Rahmen der monarchischen Zeit wurde nicht gesprengt.

Das hat wohl auch damit zu tun, dass es eine normale Forschungslandschaft gar nicht gibt. Es gibt Handbücher und Kompendien, aber nur einen ganz schmalen Unterbau an dezidierten Spezialuntersuchungen aktenkundlicher Phänomene. Ich meine, eine recht vollständige Kopiensammlung zu besitzen. Sie passt in drei Aktenordner.

Mit solchen Einzeluntersuchungen müsste das unentdeckte Land der zeitgeschichtlichen Aktenkunde kartiert werden. Sie müssten von Archivaren geschrieben werden, die die Akten kennen. Aus verschiedenen Gründen passiert das jedoch zu selten. Ich werde am 10. November in meinem Beitrag zum Wiener Workshop “Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen” auch dazu etwas sagen.

Die einzige zusammenhängende Überschreitung der Meisnerschen Grenzen hat sein Schüler Gerhard Schmid in dem hier bereits besprochenen Lehrbuch geleistet, das indessen zum einen “graue” Literatur ist und zum anderen nur die Zeit bis zu seiner eigenen Entstehung abdecken kann: 1959. Da gründete Xerox gerade erst seine (west-)deutsche Tochterfirma, und das Übel des Massenkopierens, ein Phänomen mit massiven Auswirkungen für die Aktenkunde, nahm seinen Anfang. Wer an der Grenze der 30-Jahre-Schutzfrist forscht, kommt auch mit Schmid nur noch bedingt weiter.

Für Österreich hat Michael Hochedlinger 2009 einen österreichischen Meisner vorgelegt. Damit wurde nicht nur endlich einmal ein anderes Staatswesen als Preußen zur Referenz erhoben – Hochedlinger erweiterte auch die Phänomenologie bis in das elektronische Zeitalter. Das ist sehr wichtig, doch bleibt das sinnstiftende Lehrgebäude noch das von Meisner und Dülfer.

Hochedlingers Werk behebt indessen ein anderes, schwer wiegendes Hindernis für die breite Rezeption der Aktenkunde, denn es ist ausgesprochen verständlich geschrieben. Kann man Meisner trotz seiner nicht selten hermetischen, auf eine pseudojuristische Trennschärfe abzielenden Begriffswelten eine gewisse Stilhöhe nicht absprechen, so drückten sich mancher seiner Nachfolger schlicht unverständlich aus.

Die Waage zu halten zwischen quellennahen Beschreibungen des Kanzleiwesens und der Bildung trennscharfer Forschungsbegriffe ist vielleicht die größte Herausforderung des Aktenkunde schreibenden Archivar.

Verlangt die Aktenkunde der Gegenwart grundlegend neue erkenntnisleitende Konzepte? Das muss anhand praktischer Einzeluntersuchungen geklärt werden, die zu aller erst eine anschlussfähige Wissenschaftssprache aufweisen müssen.

Literatur

Berwinkel, Holger/Kretzschmar, Robert/Uhde, Karsten 2014. Aus der Werkstatt der Aktenkunde. Der Arbeitskreis “Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts” des VdA. Archivar 67. S. 293-295. (online)

Dülfer, Kurt 1957. Urkunden, Akten und Schreiben in Mittelalter und Neuzeit. Studien zum Formproblem. Archivalische Zeitschrift 53. S. 11–53.

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgisch-preußischen Geschichte 22. S. 521–575. (online)

Hochedlinger, Michael 2009. Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. Wien.

Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. Archiv für Diplomatik 45. S.465–563. (Preprint online)

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meisner, Heinrich Otto 1952. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig.

Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig.

Meyer, Hermann. 1920. Das Politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen. (online)

Pautsch, Ilse Dorothee 2008. Die „Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ – Ein Arbeitsbericht über die Erschließung der Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts. Archivar 60. S. 26-32. (online)

Schmid, Gerhard 1959. Aktenkunde des Staates. Potsdam.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/261

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“Daß auch in Preußen Akten manchmal verschwinden konnten” – Der preußische Kronprinzenprozess von 1740 bei Jürgen Kloosterhuis

Zum Dilemma der Aktenkunde gehört, dass es auf der einen Seite Lehrbücher gibt, auf der anderen eine Aufsatzliteratur, aber kaum vertiefende Spezialstudien im Format einer Monographie. Eine herausragende Ausnahme ist Jürgen Kloosterhuis’ Studie zum preußischen Kronprinzenprozess von 1740 und dem Todesurteil gegen Hans Hermann von Katte, den Fluchthelfer Friedrichs II. – herausragend schon deshalb, weil das historische Urteil hier direkt der aktenkundlichen Betrachtung der Quellen entspringt, wobei diese ihrerseits umfassend historisch eingebettet ist.

Die Geschichte um den gescheiterten Fluchtversuch Friedrichs des Großen, der sich als Kronprinz mit der Hilfe einiger Kameraden der Hand seines übermächtigen Vaters entziehen wollte, ist wohl bekannt. Historische Forschungen, populäre Darstellungen und künstlerische Adaptionen dieser Tragödie arbeiten sich bevorzugt an der Hinrichtung von Friedrichs Vertrauten, des Premierlieutenants beim Kürassierregiment Gens d’armes, Hans Hermann von Katte, ab. Den hatte das Kriegsgericht zu Festungshaft verurteilt, aber König Friedrich Wilhelm I. verschärfte das Urteil zur Hinrichtung, die vor den Augen des Kronprinzen vollstreckt wurde.

Die Brillanz von Kloosterhuis’ Studie liegt auch darin, dass der Aktenbefund, einmal sorgfältig präpariert und in den Kontext der preußischen Militärgeschichte gestellt, für sich spricht und die am weitesten hergeholten Interpretationen des Todesurteils, die bis in die Psychoanalyse ausgreifen, von selbst zerplatzen lässt. Kloosterhuis schärft das Auge für den Aufwand, den solide Archivarbeit wirklich erfordert. Das ist umso nötiger, wenn eine äußerlich solide wirkende Edition in bequemer Griffweite ist, die sich aber, wie in diesem Fall Hinrichs (1936), bei der Nachprüfung an den Archivalien als unzuverlässig erweist.

Der Angelpunkt der Untersuchung ist eine Feststellung, die der ungeschulte Leser banal finden mag: Das Todesurteil wechselt in der Mitte vom unpersönlichen in den Ich-Stil. Es fängt an mit

“Seine Königliche Majestät in Preußen, Unser allergnädigster Herr [...]“,

fährt fort mit

“Was aber den Lieutenant Katten [...] anbelanget, so seind Seine Königlich Majestät [...]“

und endet mit einem tröstlich gemeinten

“Wenn das Kriegesrecht dem Katten die Sentenz publiciret, so soll ihm gesagt werden, daß Seiner Königlichen Majestät es leid thäte [...]“,

dazwischen heißt es aber

“Dieser Katte ist nicht nur in Meinem Dienst Officier bei der Armée, sondern auch bei die Guarde Gens d’armes, und da bei der ganzen Armée alle Meine Officiers Mir getreu und hold sein müßen [...]“

(Kloosterhuis 2011: 97).

August Friedrich Eichel, der verantwortliche Kabinettssekretär, hatte ein Befehlsschreiben des Landesherrn an das in Köpenick tagende Kriegsgericht im “objektiven” Stil entworfen. In Anlehnung an die zeitgenössischen Bezeichnungen spricht die Aktenkunde von einem Dekretschreiben, genauer: von einem Kabinettsdekret(-schreiben), da im Kabinett des Königs entstanden.

Der auffällige und eklatant gegen die Kanzleiregeln verstoßende Stilbruch eines Sprungs in den Ich-Stil lässt sich nur so erklären, dass der König seinem Sekretär einen Zusatz als wörtlich zu übernehmenden Einschub in die Feder diktiert hat, der für sich genommen eine Kabinettsordre im Ich-Stil darstellen würde (Kloosterhuis 2011: 17).

Diese Art der Zuweisung von Aktenstücken an verschiedenen “Baupläne”, Stilformen genannt, also die Klassifizierung der Stücke, stellt den “systematischen” Zweig der Aktenkunde dar, der Einsteiger wegen der Fülle der Begriffsungetüme aus der Kanzleipraxis vergangener Tage leicht abschreckt. In der Tat kann Klassifizierungs-Bingo auch zum Selbstzweck degenerieren.

Kloosterhuis aber zeigt trefflich, wozu die “Systematik” gut ist: zum Erkennen von Stilbrüchen und formalen Widersprüchen, die in einer hinreichend reglementierten Kanzlei einen Grund haben mussten. Dieser Grund ist Teil des Aussagewerts einer historischen Quelle.

Nun möchte man nach Aktenlage wissen, was sich der König bei seinem Stibruch gedacht haben mag. So analysiert Kloosterhuis detailliert (aber lesbar – eine Kunst!) die Überlieferungslage im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dessen Direktor er ist. Was dem unvoreingenommenen Betrachter einfach als die Prozessakten erscheinen mag, erweist sich als “Pertinenzgemenge” (Kloosterhaus 2011: 18), in dem die eigentlichen Untersuchungsakten des Kabinetts mit den Handakten verschiedener beteiligter Beamter vermischt wurden.

Die gleiche Methodik hat übrigens Kretzschmar (2011) sehr instruktiv auf die ebenfalls zusammengestoppelte Überlieferung zu einem echten politischen Schauprozess des 18. Jhs., dem gegen Joseph Süß Oppenheimer, angewandt.

Nun fehlt in den Kabinettsakten zum Kronprinzenprozess ein Band (Nr. VIII), was bereits 1826 im Archiv festgestellt, aber von der Forschung (einschließlich der forschenden Archivare) übersehen wurde. Die Laufzeit dieses Bandes ist auf Oktober/November 1730 einzugrenzen. Just in diesem Band hätte man nach Unterlagen zur Entscheidungsfindung des Königs suchen können. Wie er abhanden gekommen ist, ob ihn vielleicht sogar Friedrich der Große hat verschwinden lassen, muss unklar bleiben (Kloosterhuis 2011: 28).

Im Folgenden füllt Kloosterhuis die “Küstriner Akten-Lücke” durch Kontextualisierung der rätselhaften Entscheidung im Zusammenhang der militärischen Kultur in Preußen und der diplomatischen Verwicklungen am Hof Friedrich Wilhelms. Der König habe gar nicht anders handeln können, als das Urteil zu verschärfen, so die Schlussfolgerung.

Dabei kommt noch die Abschrift eines früheren Entwurfs des Urteils ins Spiel, der ohne Stilbruch durchgängig als Kabinettsdekret verfasst worden war. Die Abschrift tauchte vor Jahrzehnten im Autografenhandel auf und verschwand wieder, das Geheime Staatsarchiv konnte sich aber eine Fotokopie sichern. Hier fehlt der vom König diktierte Einschub, der auf den Bruch des Fahneneids und damit des Treueverhältnisses zwischen Katte und dem König als Regimentschef der Gens d’armes abhebt. Das verweist auf der Suche nach den Entscheidungsgründen in das Militärstrafrecht und auf die Todesstrafe für Deserteure (Kloosterhuis 2008: 75 f.).

“So und nicht anders lagen die Fakten, so sprachen die Akten, das waren die Konsequenzen.”

Für einen Archivar und Aktenkundler ist Kloosterhuis’ (2011: 93) Schlusssatz eigentlich zu schön, um daran nur ein Jota zu verändern.

Will man es aber ganz genau nehmen, so müsste man das mittlere Satzglied aber doch ins Präsens setzen: So sprechen die Akten heute. Wie die vollständige Aktenlage zum König sprach, wissen wir ja nicht, wie Kloosterhuis gezeigt hat. Der methodologische und didaktische Wert dieser Studie liegt (nicht nur für Preußen-Historiker) in der meisterhaften Demonstration des aktenkundlichen Umgangs mit Aktenlücken.

Literatur

Hinrichs, Carl 1936. Der Kronprinzenprozeß. Friedrich und Katte. Hamburg.

Kloosterhuis, Jürgen 2011. Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer “facheusen” Geschichte. 2. Aufl. Berlin. (Vorschau)

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher und aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke/Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/256

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Telegrafie – Aktenkunde – Diplomatie (Emser Depesche, Schluss)

Manchen Lesern mag die aktenkundliche Behandlung der Emser Depesche in den letzten vier Postings erschöpfend detailliert vorgekommen sein. Dabei habe ich vieles ausgelassen oder vereinfacht. Aber es ist völlig legitim, die Sinnfrage zu stellen. Wo und wie hilft die Aktenkunde als Hilfswissenschaft? Zurecht wird die Forderung gestellt, die Aktenkunde müsse sich (wie vor ihr die Urkundenlehre) auch Fragen der pragmatischen Schriftlichkeit zuwenden (Schäfer 2009: 98-101, 119). Für die Telegrafie im Dienst der Diplomatie ist dies besonders reizvoll, und die Emser Depesche ist ein gutes Beispiel – das am Ende auch zeigt, warum das solide handwerkliche Fundament unverzichtbar bleibt.

David Nickles’ “Under the Wire” (2003) ist eine faszinierende Lektüre, noch dazu hervorragend geschrieben. Der Mitarbeiter im Historischen Dienst des Departement of State hat sich damit befasst, wie der Telegraf die Arbeitsweise und den Charakter der Diplomatie verändert hat: Erstmals konnten die Außenminister der Mächte ihre Botschafter minutiös dirigieren und in Krisenzeiten annähernd in Echtzeit handeln. Damit stieg allerdings auch der Handlungsdruck, mit vielleicht fatalen Folgen, wenn die öffentliche Meinung aufgestachelt war. Jedenfalls konnte die Außenpolitik zentralisiert und bürokratisiert werden. Für einen Politiker wie Bismarck, der seine Diplomaten als Befehlsempfänger betrachtete und Weisungen exakt ausgeführt wissen wollte, war der Telegraf wie geschaffen. So konnte er selbst von Varzin aus in das Geschehen eingreifen (Nickles 2003: 47 f., 117).

Die Emser Depesche erwähnt Nickles (2003: 7) nur en passant: “The Franco-Prussian war was the first major conflict whose origins were popularly associated with a telegram.” Aber nicht nur im kollektiven Gedächtnis ist die Emser Depesche emblematisch für die Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen: Nur mit der Geschwindigkeit dieser Technologie konnte Bismarck in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli eine verloren geglaubte diplomatische Operation mit wenigen geschäftstechnischen Handlungen um ihre eigene Achse drehen und in einen Sieg verwandeln.

Noch weiter treibt diesen Ansatz Tobias Nanz in seiner medienwissenschaftlichen Dissertation (2010). Für Historiker ist dieses Buch, in dem das System der europäischen Diplomatie anhand einer Dekonstruktion von Shakespeares “Der Sturm” beschrieben wird, vielleicht etwas ungewohnt. Auch muss man den assoziativen Sprachstil dulden, in dem Bismarck “wie ein optischer Telegraph agierte” (im Wortsinn angesichts der Statur des Fürsten Bismarck eine interessante Vorstellung) und “die komplexen Verflechtungen eines bevorstehenden Krieges in die fechttechnischen Codes Quartz [sic!] und Terz zu transformieren” imstande war (Nanz 2010: 180).

Dennoch bringt Nanz interessante Ansätze, etwa den Hinweis darauf, dass Bismarck mit Lothar Bucher einen Quereinsteiger ins Auswärtige Amt geholt hat, der als Redakteur des Wollfschen Telegrafenbüros große Erfahrung im Telegrammstil hatte, der maximalen sprachlichen Verkürzung von Nachrichten bis an den Rand der Verständlichkeit (Nanz 2010: 181-183). Was unmittelbar der Gebührenersparnis diente, kam Bismarcks Stil der Arbeit mit Drahterlassen zur Steuerung seines Apparats sehr entgegen.

Wenn Nanz (2010: 183 f.) in der Kürzung des Textes aber nur die konsequente Anwendung des Telegrammstils auf Abekens in der Tat umständlichen Bericht sehen will, geht das zu weit. Beim Telegrammstil geht es um die Verringerung der Wortzahl. Dazu werden alle irgendwie entbehrlichen Partikeln und Füllwörter gestrichen. “Ankomme Donnerstag” ist typischer Telegrammstil. Der Aktenbefund eines so redigierten Telegramms zeigt Streichungen und zwischen die Zeilen geschriebene Änderungen. Die Pfeilmarkierungen auf der Entzifferung von Abekens Telegramm zeigen aber keine redaktionelle, sondern eine inhaltliche Bearbeitung an. Bismarck wandte nicht den Telegrammstil an, denn die übernommenen Passagen zeigen unverändert Abekens Weitschweifigkeit. Vielmehr formulierte er durch Auslassung von Textblöcken eine Botschaft an die französische Führung. Letzteres sieht Nanz (2010: 186) auch selbst, löst den Widerspruch aber nicht auf.

In seinen Erinnerungen legt sich Bismarck (hg. v. Ritter/Stadelmann 1932: 310) Folgendes in den Mund: “Wenn ich diesen Text [...] sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsere Gesandtschaften mittheile, so wird er vor Mitternacht bekannt sein [...]“. Nun ist dieses Werk als Rechtfertigungsschrift bekanntlich mit großer Vorsicht zu rezipieren.

Daran fehlt es bei Nanz (2010: 188), der anhand des Aktenbefunds registriert, dass im Verteiler der “1. Expedition” zunächst auch das Wollfsche Telegraphenbüro stand, vor dem Abgang aber wieder gestrichen wurde: “Vielleicht hatte man im Auswärtigen Amt doch noch ein wenig Angst vor dem ‘gallischen Stier’. [...] Es bot sich offenbar eine weniger direkte Lösung an: Man verschickte die erste Expedition wie auch die zweite [...] im Gegensatz zur dritten um 2.30 Uhr morgens nicht in Ziffern, sondern en clair, wie man an der Korrektur am Kopf des Blattes bemerken kann. Jeder, der den Morse-Code beherrschte und Zugang zu einer Telegraphenleitung hatte, konnte den Text lesen. Damit dürfte für eine breite Öffentlichkeit gesorgt worden sein”.

Setzte Bismarck also auf ein “Ems-Leaks”? Nanz (2010: 186) weiß selbst, dass der Depeschentext schon um 21 Uhr als Extrablatt der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vertrieben wurde. Gegen 23 Uhr, also zum Zeitpunkt der Absendung der 1. und 2. Expedition, war er in der Berliner Öffentlichkeit schon allgemein bekannt (Walder 1972: 19 Anm. 2, 73). Da brauchte es keine geschwätzigen Telegraphenbeamten mehr.

Nanz übersieht hier den eigentlichen Witz im Verteiler der 3. Expedition: die Vorgabe eines Leitwegs über England für den nach Madrid bestimmten Erlass (4. Folge). Damit wurde eine Durchleitung durch Frankreich vermieden.

Im Quai d’Orsay lag der Depeschentext anhand der Zeitungsmeldungen erst am Morgen des 14. Juli vor, der Originaltext der 3. Expedition über den französischen Ministerresidenten in München erst am Mittag (Brase 1912: 147 f.). Um 12.30 Uhr berichtete schließlich auch der französische Botschafter, der in Ems ebenfalls aus der Zeitung davon erfahren hatte, nach Paris (Benedetti 1871: 386).

Was war hier passiert? Gerade in Paris wurde der Text eben nicht schon “vor Mitternacht” bekannt. Der aktenkundliche Befund zu Punkt 9 des Verteilers auf der 3. Expedition macht evident, dass genau das, nämlich ein frühzeitiges Bekanntwerden in Frankreich, verhindert werden sollte. Die französische Regierung sollte die Nachricht aus der Zeitung erfahren, um die Demütigung zu vervollständigen, und eben nicht durch ein Leck.

Bismarck rechnete mit der Kompromittierung der Madrider Chiffre und wählte deshalb den Leitweg über London. Er wollte verhindern, dass Gramont es von seinem cabinet noir erfährt, bevor er es in der Zeitung lesen muss. In dieser Feststellung liegt der historische Erkenntniswert der unscheinbaren Verteiler-Verfügung.

Wir sehen in diesem aktenkundlichen Befund eine präzise aus der Ferne gelenkte Operation, deren Timing von wenigen Stunden abhing. Die Emser Depesche bestätigt  eindrucksvoll die Schlüsse, die Nickles für die pragmatische Schriftlichkeit Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen gezogen hat. Sie baut Interpretationen historischer Quellen vor, die sich zu weit von der Basis entfernen. Und sie ermöglicht es, aus dem „Text“ des „Dokuments“ und den Bearbeitungsspuren auf dem physischen Schriftträger die vollständige Quellenbasis überhaupt erst herzustellen.

Handwerkliche Expertise ist nicht alles, aber ohne sie ist die historische Arbeit nichts.

- Fin -

Literatur

Benedetti, [Vincent] Comte 1871. Ma mission en Prusse. 2. Aufl. Paris 1871. (Online)

Bismarck, Otto von. Erinnerung und Gedanke. Ritter, Gerhard und Stadelmann, Rudolf Hg. 1932. Gesammelte Werke 15. Berlin.

Brase, Siegfried 1912. Emile Olliviers Memoiren und die Entstehung des Krieges von 1870. Historische Studien 98. Berlin.

Nanz, Tobias 2010. Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich/Berlin.
Nickles, David Paull 2003. Under the Wire. How the Telegraph Changed Diplomacy. Harvard Historical Studies 144. Cambridge, MA 2003. (Vorschau bei Google Books)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Aufl. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/235

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Emser Depesche: Bismarcks Redaktion

Die provokative Verkürzung des Originaltexts durch Bismarck macht den besonderen Charakter der Emser Depesche als Geschichtsquelle aus. Den entscheidenden Bearbeitungsschritt haben wir in der Form dünner Bleistiftmarkierungen auf der Berliner Entzifferung von Abekens Drahtbericht identifiziert. Damit sind wir aber noch nicht am Ende.

Die Frage nach der Verantwortlichkeit ist eine Triebfeder der Aktenkunde. Dass die politische Verantwortung für das Manöver, eine redigierte Version zu veröffentlichen, letztlich bei Bismarck lag, ist unbestreitbar. Aber natürlich hatte der Fürst für die Einzelheiten seine Leute. Wer hat aus den Bleistiftmarkierungen den neuen Text destilliert, also die Angabe des Fürsten zum Entwurf extendiert?

1. Expedition des redigierten Depeschentexts (PA AA, R 11674)

1. Expedition des redigierten Depeschentexts, unten Paraphe “vBu”
(PA AA, R 11674)

Der redigierte Text wurde mit drei Schreiben verbreitet, die als 1., 2. und 3. Expedition bezeichnet wurden:

  1. Expedition um 23.15 Uhr an die preußischen Gesandten an anderen deutschen Hofen, sowohl innerhalb des Norddeutschen Bundes als auch in den süddeutschen Staaten,
  2. Expedition, ebenfalls um 23.15 Uhr, an die Regierungen norddeutscher Bundesstaaten, bei denen Preußen keine Gesandtschaften unterhielt,
  3. Expedition um 2.30 Uhr, also bereits am 14. Juli, an die preußischen bzw. norddeutschen Botschafter und Gesandten bei den Regierungen der europäischen Mächte.
2. Expedition: Verteiler

2. Expedition: Verteiler

Der Empfängerkreis ist jeweils als durchnummerierte Büroverfügung oben rechts auf den Rand der halbbrüchigen Konzeptbeschriftung gesetzt.

3. Expedition: Verteiler (PA AA, R 11675)

3. Expedition: Verteiler
(PA AA, R 11675)

Systematisch betrachtet, sind die 1. und 3. Expedition Runderlasse der Zentrale des Auswärtigen Amts des Norddeutschen Bundes (des Preußischen Ministeriums des Auswärtigen) an nachgeordnete Auslandsvertretungen. Dagegen verkörpert die 2. Expedition Mitteilungsschreiben an (nominell) gleichgestellte Regierungen. Man kann das unmittelbar an dem Zusatz “Theilen Sie dies dort (unverzüglich) mit” am Ende von 1 und 3 ablesen.

Diese Unterscheidung ist keine Haarspalterei, sondern zeigt an, mit welchem Fortgang zu rechnen ist: Bei 1 und 3 wird die Nachricht im Rahmen einer mündlichen Demarche des preußischen Vertreters bei der jeweiligen Regierung überbracht, über deren Ausführung in den Akten mit einem Bericht zu rechnen ist, der dann Aufschluss über eventuelle Zusatzinformationen aus dem Gespräch geben mag. Bei 2 ist das nicht so, da die fremde Regierung der unmittelbare Empfänger ist. Solche Sachzusammenhänge sind aktenbildende Faktoren und quellenkritisch relevant.

Ernst Engelberg schreibt in seiner meisterhaften Bismarck-Biografie (1985: 724) ganz selbstverständlich: “Wieder zog er seinen Vertrauten Lothar Bucher heran; von seiner Hand liegt auch das Konzept der Bismarckschen Neu-Redaktion der Abekenschen Emser Depesche vor.” In der Tat war Lothar Bucher einer der engsten Mitarbeiter Bismarcks. Es war Bucher, der die Tage zuvor mit Bismarck in Varzin verbracht und dort den Schriftverkehr in der Spanischen Thronfolgekrise erledigt hatte (Nanz 2010: 183). Nun war Bismarck aber wieder in Berlin und hatte den ganzen Beamtenstab des Auswärtigen Amts zur Verfügung.

Walder (1972: 16-19) löst die Paraphe, die alle drei Expeditionen tragen, mit “Bu[=Otto von Bülow]” auf (vgl. die Abb. der 1. Expedition, ganz unten rechts). Beide, Bucher und v. Bülow, waren Vortragende Räte in der Politischen Abteilung und kommen damit als ausführende Hand des Kanzlers infrage.

Das “N. S. E.” vor der Paraphe bedeutet “Namens seiner Exzellenz” und entspricht einem heutigen “im Auftrag”. Die Exzellenz war natürlich Bismarck.

Heiteres Paraphenraten ist aktenkundlicher Breitensport: Bei beiden Kandidaten ist der paläographische Grundbestand “Bu” für eine Paraphe denkbar. Die Vorentscheidung fällt durch den gerundeten Haken in Schreibrichtung vor dem “B” – das sieht nach einem flüchtigen “v” aus.

Gewissheit verschafft der Blick in zeitgenössische Paraphensammlungen. Sie liegen in den “Geschäftsgangsakten” vor, mit denen das Auswärtige Amt seine eigenen Geschäftsprozesse verwaltete. In einer Sammlung von 1877 finden wir beide Kandidaten untereinander (Aktenzeichen IV GG 11 Bd. 7 – freundlicher Hinweis meines Kollegen Dr. Gerhard Keiper).

Lothar Buchers und Otto von Bülows Paraphen PA AA, R 138471

Lothar Buchers und Otto von Bülows Paraphen
(PA AA, R 138471)

Also hat Walder richtig gelesen, aber falsch transkribiert: Otto von Bülow hat die drei Expeditionen mit seinem “vBu” abgezeichnet und trägt damit die formale bürokratische Verantwortung. Das bedeutet aber noch nicht, dass die Konzepte insgesamt von seiner Hand stammen, wie es Engelberg für Bucher insinuiert. Dies war eigentlich die Aufgabe der Sekretäre, in Stoß- und Krisenzeiten konnte der Geheimrat aber durchaus auch selbst zur Feder greifen. Offenkundig ist, dass die drei Expeditionen von drei verschiedenen Händen stammen. Ohne Anspruch auf letzte Gewissheit scheinen mir die 1. und 2. Expedition von der Hand von Sekretären zu stammen, während die Nr. 3 v. Bülow selbst niedergeschrieben haben könnte; der Duktus ist flüchtig, ähnelt aber gesicherten Autographen.

Sehen wir uns an, was geschäftstechnich passiert. Bei Rundschreiben besteht zwischen dem Konzept und den anzufertigenden Reinschriften eine 1:N-Beziehung. Für jeden der listenmäßig aufgeführten Adressaten wird eine Reinschrift erstellt. Durch Randverfügungen können für jeden Empfänger außerdem Änderungen am gemeinsamen Text vorgesehen werden. Das deutlichste Beispiel bietet dafür die 9. Reinschrift der 3. Expedition.

9) An Graf Bernstorff, London. (Londoner Chiffre:) Geben Sie Nachfolgendes via Falmouth an Canitz in Madrid telegraphisch weiter. (Madrider Chiffre:) Inseratur wie oben; zuzufügen in Ziffern: Bismarck.

Was passiert hier? Graf Bernstorff, der Botschafter in London, ist bereits der Adressat der 1. Reinschrift der 3. Expedition. Für die 9. Reinschrift wird der Sekretär angewiesen,

  • anstelle “Namens seiner Exzellenz: von Bülow” explizit Bismarcks Namen zu setzen (um die Autorisierung der Mitteilung zu betonen),
  • den Text dann in der Chiffre zu verschlüsseln, die für den Telegraphenverkehr mit der Gesandtschaft in Madrid vorgesehen war,
  • die Weisung an London, diesen (dort nicht lesbaren!) Text auf einem bestimmten Weg nach Madrid weiterzuleiten, in der Chiffre der Botschaft in London zu verschlüsseln,
  • und den ganzen Salat im Klartext an Graf Bernstorff zu adressieren.

Der Chiffrieraufwand für diese neuen Reinschrift erklärt, warum die 3. Expedition erst drei Stunden nach den beiden ersten, offen bzw. en clair versandten Expeditionen abging.

Der Sinn dieser Operation war es natürlich zu verhindern, dass das französische Cabinet noir, wie man das einmal nannte, das Telegramm für Madrid auf einem Leitweg durch Frankreich abfängt. Die französische Regierung sollte nicht zu früh im Bilde sein. Darauf kommen wir in der nächsten Folge zurück.

Das Rundschreiben mit Anpassungen für einzelne Empfänger ist ein sehr effektives Werkzeug. Aus 3 Schriftstücken, die den Sachverhalt heute in den Akten der Berliner Zentrale dokumentieren, wurden in der Nacht auf den 14. Juli 1870 22 Reinschriften für das Telegrafenamt (Aufgabetelegramme) und ebenso viele Ankunftstelegramme, die dem Empfänger ausgehändigt wurden. Von den 9 chiffrieren Telegrammen mussten dann die uns als Überlieferungsform bereits bekannten Entzifferungen angefertigt werden. Das sind bereits 56 Textzeugen.

In London wurde aus Nr. 9 der 3. Expedition ein neues telegraphisches Schreiben an die Kollegen in Madrid. Angenommen, des Ankunftstelegramm habe als Entwurf gedient, so wären noch die Londoner Reinschrift, das Madrider Ankunftstelegramm und die dortige Entzifferung hinzugekommen (theoretisch – ich habe es nicht nachgeprüft). Macht 59.

Und das ist nur der Niederschlag, der als Teil von Behördenakten die Chance hat, durch Archivierung zu einer historischen Quelle zu werten. Verloren ist das Zwischenmaterial der Telegrafenstationen: die Endlosstreifen mit den Punkt-Strich-Mustern der Morse-Apparate oder schon dem Typendruck von Hughes-Fernschreibern und die Eingangsbücher, in denen der Text der Ankunftstelegramme vor der Ausfertigung für den Empfänger “zwischengespeichert” wurde. Solches Zwischenmaterial fiel auf einem längeren Leitweg auch bei jeder Zwischenstation an!

Die Zahl der ursprünglich insgesamt erstellten Textzeugen dürfte in die Hunderte gehen.

Für die geschichtswissenschaftliche Quellenkritik reduziert sich dieses Korpus auf “die Emser Depesche”, die dann womöglich noch mit Abekens Konzept und der Berliner Entzifferung nach Art philologischer Textkritik kollationiert wird. Es steht außer Frage, dass die Komplexität der materiellen Überlieferung für historische Untersuchungen auf die relevanten Aspekte und ein handhabbares Maß reduziert werden muss. Am Ende sieht man sonst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Man sollte sich aber des Ausmaßes der Abstraktion von der materiellen Überlieferung bewusst bleiben, um nicht vorschnell relevante Details über Bord zu werfen.

Im letzten Teil der Serie soll es um die Perspektiven gehen, die eine über das rein handwerkliche hinausgehende Aktenkunde für die Interpretation historischer Quellen bietet.

Literatur

Engelberg, Ernst 1985. Bismarck: Urpreuße und Reichsgründer. Berlin.

Nanz, Tobias 2010. Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich/Berlin.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/228

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Die Julikrise 1914 in ihren Telegrammen

Auf Archivalia macht Dr. Graf in dankenswerter Weise eine breite Netzöffentlichkeit auf die Digitalisate zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufmerksam, die das Politische Archiv des Auswärtigen Amts kürzlich online gestellt hat.

(Wer das Impressum dieses Blogs nicht kennt: Ich bin Mitarbeiter des Politischen Archivs.)

Die digitalisierten Unterlagen aus den Akten des Auswärtigen Amts sind mit Hintergrundmaterial verknüpft, u. a. zur Aktenkunde des Auswärtigen Dienstes um 1914. Die aktenkundliche Einführung beruht auf Meyer (1920), setzt aber in Form von bearbeiteten Scans auf die alte Weisheit, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt.

Über Einschätzungen zum didaktischen Wert und Nutzen dieser Mini-Aktenkunde würde ich mich an dieser Stelle freuen.

Wer meine laufende Serie zur Emser Depesche verfolgt, findet in den Akten zur Julikrise insbesondere zu den Telegrammen viel Vergleichsmaterial.  Es ist doch merkwürdig, dass ein Typ von Schriftstücken, der fast 150 Jahre lang das hauptsächliche Arbeitsmaterial der Diplomatie war und als solches im Guten wie im Bösen Weltgeschichte geschrieben hat, von der akademischen Aktenkunde allenfalls gestreift wird.

Mehr zu den Eigenheiten des Telegramms in der nächsten Folge der “Emser Depesche”, die ich in der kommenden Woche veröffentlichen will.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/219

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