Emser Depesche: Die Berliner Entzifferung

In der letzten Folge haben wir untersucht, was Abeken in Ems auf’s Telegrafenamt bringen ließ. Nun geht es um das Produkt, das in Berlin Bismarck serviert wurde – was ganz wörtlich gemeint ist.

“Während der Unterhaltung wurde mir gemeldet, daß ein Zifferntelegramm, wenn ich mich recht erinnere von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem Geheim-Rath Abeken unterzeichnet, in der Übersetzung begriffen sei”. (Bismarck, hg. v. Ritter/Stadelmann 1932: 308; auch bei Walder 1972: 172 und im Digitalisat der verbreiteten Ausgabe Kohls).

In Bismarcks Dienstwohnung im Auswärtigen Amt saßen er, Roon und Moltke nämlich beim Abendessen in äußerst trüber Stimmung zusammen, bis die Entzifferung, die schließlich herein gereicht wurde, die Wolken schlagartig lichtete. Die Episode gehört zu den berühmtesten in Bismarcks Memoiren.

Was wurde ihm da herein gereicht? Ein Telegramm doch wohl. Das ist unbestreitbar, hat aber kein analytisches Potential. Die einfache Frage “Was ist das?” gehört zu den schwierigsten der Aktenkunde. Man kann dieses Teilgebiet der “Systematischen Aktenkunde” auch übertreiben. Aber es sollte einleuchten, dass Benennungen vorzuziehen sind, die etwas aussagen. Das ist bei “Telegramm” nicht der Fall, denn im Grunde konnte jeder zu jedem Zweck ein Telegramm versenden.

Die Aktenkunde sortiert die Fülle der Stilformen, in denen Schriftstücke auftreten können, nach dem Verhältnis von Absender und Empfänger einerseits und der Funktion des Geschriebenen andererseits (Beck 2000: 68). Im Normalfall des Schriftverkehrs bürokratischer Apparate gibt es zwischen beiden Perspektiven keinen Widerspruch; um die Ausnahmen wurden aktenkundliche Glaubenskriege geführt, die uns hier nicht interessieren).

Hier liegt uns ein Bericht vor, verfasst von einem Beamten für seinen Vorgesetzten, um ihm einen Sachverhalt – nun ja: zu berichten (das Kriterium “Funktion” kann schrecklich banal sein). Der Telegraph ist dafür nur der Übermittlungsweg. Wäre es nicht auf Geschwindigkeit angekommen, hätte Abeken seinen Bericht auch per Kurier (“reitenden Feldjäger”) absetzen können. Man kann von einem Bericht in Form eines Telegramms sprechen (Kloosterhuis 1999: 540). Das mag umständlich anmuten, sagt aber bereits einiges über das Schriftstück aus.

Oder man entlehnt den jüngeren, prägnanten Ausdruck “Drahtbericht” (Beuth 2005: 122 f.). Wohlgemerkt ist das ein Anachronismus: Die Beamten des Auswärtigen Amts sprachen schlicht von Telegrammen (Meyer 1920: 17). Aber zeitgenössische Selbstbezeichnungen von Schriftstücken taugen selten als trennscharfe Forschungsbegriffe (Beck 2000: 69).

Mit den Besonderheiten der telegrafischen Übermittlung befassen wir uns in der nächsten Folge. Jetzt geht es um die charakteristischen Merkmale der vorliegenden Überlieferungsform, der Entzifferung, die das Gegenstück zu Abekens Konzept darstellt.

Normalerweise ist das Gegenstück zum Konzept die Ausfertigung, die man “behändigt” nennt, wenn der Empfänger darauf Vermerke angebracht hat. Bei chiffrierten Telegrammen war die Ausfertigung im herkömmlichen Sinne, also das, was beim Telegrafenamt erstellt wurde, aber ein Zahlensalat, der vom Empfänger durch Dechiffrierung erst in einen lesbaren Text verwandelt werden musste: die Entzifferung – ein Begriff der von der aktenkundlichen Literatur, von Meyer (1920) natürlich abgesehen, noch nicht aufgenommen wurde.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 209 r

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 209 r 

Wir sehen auf der Vorderseite des ersten Blattes (fol. 209r - also vor dem Konzept eingeheftet) einen Vordruck, wieder mit halbbrüchigem Grundlayout, um Platz zur Bearbeitung zu bieten, beschrieben diesmal aber in gestochener Kanzleischrift. Die vorgegebenen Elemente wurde ebenfalls mit der Hand geschrieben und dann vervielfältigt. Dazu gehören die Überschriften “Telegramm” und “Entzifferung” sowie im Protokoll “den”, “ten”, “1870″, “Uhr”, “Min.”, “Vorm[mittags]“/”Nachm[ittags]” und “Ankunft”, schließlich am linken Rand “N[umer]o”. Der Bedarf für solche Rationalisierungen weist auf die Zahl der täglich eingehenden Telegramme und die Bedeutung des Drahtberichts für den Auswärtigen Dienst an.

Unsere aktenkundliche Aufgabe ist es wieder, die Textschichten auf dem Papier heraus zu präparieren, und zwar in ihrer chronologischen Reihenfolge:

Abekens Berichtstext mit der Verfügung “Sofort” und der Berichtsnummer “27“ macht den Anfang. Er ist kombiniert mit Protokollangaben, die nicht vom Verfasser stammen. Während dieser in einem Brief das Datum selbst einsetzt, ergab sich der Datumsblock ab “Ems, den” aus den Angaben der Telegrafenämter.

Der chiffrierte Text und die offen übermittelten Protokolldaten waren die Arbeitsgrundlage des Chiffrierbüros, das die Entzifferung auf dem vorliegenden Formblatt erstellte (Meyer 1920: 89). Das “Original” wurde als verbrauchtes Zwischenmaterial vernichtet.

Nach den Regeln des Geschäftsgangs folgen als nächstes der Eingangsvermerk “pr[aesentatum] 13. Juli 1870″ und die Journalnummer “A 2301″ (links oben), mit der das Stück im Geschäftstagebuch des Zentralbüros, der Posteingangsstelle der Politischen Abteilung, verzeichnet wurde. Nach der inhaltlichen Bearbeitung wären dann die Vermerke zu den als Reaktion abgesandten Telegrammen aufgesetzt worden, die rechts oben zu finden sind. Schließlich hätte das Zentralbüro, das auch als Registratur fungierte, das Stück zu den Akten “B o 32″ (links unten, vgl. 1. Folge) gegeben.

Nur: “Presentatum” bezeichnet nichts anderes als den Zeitpunkt “der offiziellen Entgegennahme und Eintragung des Schriftstücks durch das Bureau”, also der “amtlichen Einreihgung in den Geschäftsgang des Amts” (Meyer 1920: 92 f.). In eiligen politischen Angelegenheiten konnte ein eingegangener Bericht direkt dem zuständigen Beamten vorgelegt werden, der die nötige Entscheidung traf und alles weitere veranlasste. Die bürokratische Verdauung konnte warten.

Genauso verhält es sich hier – was wir mangels datierter Bearbeitungsspuren aus den Akten aber nicht ersehen können, sondern nur in Kombination mit Bismarcks Selbstzeugnis erfahren. Die Entscheidung fiel am Essenstisch, bevor das Stück den Geheimen Hofräten des Zentralbüros überhaupt in die Hände kam. Aktenkundlich zu arbeiten bedeutet bei aller Akribie das genaue Gegenteil von Aktengläubigkeit, die unter Historikern leider verbreitet ist.

Natürlich hat Bismarck in dieser Situation nicht, wie es gut bürokratisch gewesen wäre, seine Entscheidung als Entwurfsanweisung (“Angabe”) für die nachgeordneten Beamten ordentlich am Rand notiert und mit Paraphe und Datum abgeschlossen. Je weiter man in der Hierarchie nach oben geht und je politischer der Zusammenhang ist, desto seltener werden solche ausführlichen Bearbeitungsspuren. Hier finden wir in der linken Spalte nur kleine, mit Bleistift gezeichnete Pfeile, die diejenigen Textteile markieren, die weiter verwertet werden sollten – mehr nicht.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. [209v]

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. [209v] 

Wir müssen sogar offen lassen, ob sie von Bismarck oder seinem Mitarbeiter stammen, und wer dieser Mitarbeiter eigentlich war. Das wird Gegenstand der nächsten Folge sein.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 210 r

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 210 r 

Dann wird es um die Schriftstücke gehen, die als eigentliche “Emser Depesche” historisch berühmt geworden sind und auf die wir durch den Kanzleivermerk oben rechts bereits hingewiesen wurden.

Literatur

Beuth, Heinrich W. 2005. Regiert Wird Schriftlich: Bericht, Weisung Und Vorlage. In: Brandt, Enrico/Buck, Christian F. 2005. Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf. 4. Aufl. Wiesbaden. S. 119–28.

Beck, Lorenz Friedrich 2000. Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historische Verwaltungsschriftgut. In: Brübach, Nils 2000. Der Zugang zu Verwaltungsinformationen – Transparenz als archivische Dienstleistung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33. Marburg. (online)

Bismarck, Otto von. Erinnerung und Gedanke. Ritter, Gerhard und Stadelmann, Rudolf Hg. 1932. Gesammelte Werke 15. Berlin.(*)

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen. (online)

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

(*) Die maßgebliche Edition in der Neuen Friedrichsruher Ausgabe habe ich urlaubsbedingt nicht zur Hand.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/214

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Emser Depesche: Abekens Konzept

Wir haben “unsere” Unterlagen im Zusammenhang der archivalischen Überlieferung verortet und können nun das erste Schriftstück untersuchen. Wir konzentrieren uns dabei auf die “genetische” Aktenkunde und untersuchen die Entstehungsstufe des Stücks.

Wir lassen die “Außenanalytik” des Blattes beiseite (Folioformat, doppelseitig beschrieben, der Länge nach geknickt) und verschieben die Bestimmung des Schriftstücktyps und die Untersuchung inneren Aufbaus auf die nächsten Folgen.

Was wir sehen, schüchtert uns vielleicht ein wenig ein, wenn wir zum ersten Mal im Archiv arbeiten. “Für das Auge ist ein Konzept [...] nicht immer ein erfreulicher Anblick” (Meyer 1920: 42). Dabei liegt uns hier ein sehr übersichtliches Exemplar preußisches Verwaltungsschriftguts vor.

Emser Depesche - Abekens Konzept (Vorderseite) PA AA, R 11674, Bl. 211 r

Emser Depesche – Abekens Konzept (Vorderseite)PA AA, R 11674, Bl. 211 r 

 

Wo anfangen? Einfach drauflos zu lesen wäre keine gute Idee und ist auch nicht nötig. Mit etwas Wissen “a priori” über historische Kanzleiprodukte können wir ein Muster erkennen, das uns beim Freilegen der Beschriftungsschichten leitet

Emser Depesche - Abekens Konzept (Rückseite) PA AA, R 11674, Bl. 211 v

Emser Depesche – Abekens Konzept (Rückseite)PA AA, R 11674, Bl. 211 v 

 

Wir sehen

  1. eine großzügige Blattaufteilung, bei der die linke Blatthälfte weitgehend frei geblieben ist (“halbbrüchige” Beschriftung),
  2. eine flüchtige Schrift und einige Streichungen und Zusätze,
  3. anstelle einer Unterschrift ein Namenskürzel (“Paraphe”) am Ende und
  4. keinen vorgedruckten Briefkopf.

Wenn diese Merkmale in Kombination vorliegen, kann es sich nur um ein Konzept handeln kann: die zentrale Entstehungsstufe amtlicher Schriftstücke zu dieser Zeit. Konzepte sind heute auch im behördlichen Aktenwesen weitestgehend von Doppeln verdrängt worden: erst von Durchschlägen, dann von Computer-Zweitausdrucken. Sie werden auf der Grundlage der zu versendenden Reinschrift hergestellt und bieten wenig mehr als deren Text. Das Konzept aber ist ein Arbeitsinstrument, der materielle Stellvertreter des Problems, an dem gearbeitet wird.

Während die Reinschrift Ausfertigung abgeschickt wird, wandert das Konzept in die Akten des Urhebers, wo es als Gedächtnisstütze fungiert (Papritz 1959: 347) – im Gegensatz zu einem Doppel (oder einem mittelalterlichen Kopialbuch) aber nicht allein hinsichtlich des Inhalts des Schreibens, sondern, anhand der Zeichnungen und Vermerke, als Dokumentation der Handlungen der Behörde.

Im Grunde ist ein Konzept eine Anweisung an die Kanzleibeamten, eine Reinschrift eines bestimmten Inhalt zu erstellen. Diese Anweisung von den höheren Hierarchieebenen der Behörde überprüft und bei Bedarf geändert; man spricht von der Revision des Entwurfs. Die Umsetzung wird dann protokolliert. Und das alles auf dem selben Blatt. Als Arbeitsinstrument macht es körperlich die Runde im Geschäftsgang durch die Dienstzimmer der Behörde.

Um den Textentwurf herum lagern sich dabei Bearbeitungsspuren an, die es erlauben, den Gang der Bearbeitung zu rekonstruieren. Darin liegt der besondere Wert eines Konzepts für Historiker. Er erhebt es gegenüber der Reinschrift, die diese Spuren nicht aufweist, zur vorzuziehenden Quelle (vgl. Meyer 1920: 40 f.).

Wir unterscheiden beim Konzept also die Textschichten

  1. “des Entwurfs für den Ausgang mit allen dazugehörigen Rahmenangaben” (wie der Adresse) und die
  2. Zeichnungen der zuständigen Verantwortlichen. “Mit den Zeichnungen ist das Konzept fertig.” (Menne-Haritz 1997: 90).

Darüber legen sich als dritte Schicht Kanzlei- und Registraturvermerke, die die Ausführung nach dem Willen des Urhebers und den Regeln des Dienstbetriebs protokollieren. Sie werden dann wichtig, wenn Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind oder eine dichte Ereigniskette die präzise zeitliche Einordnung verlangt.

Mit diesem Konzept vom Konzept im Hinterkopf schauen wir uns noch einmal Abekens Schriftstück an. Der zusammenhängende Textblock in der rechten Spalte ist leicht als die erste Schicht, der Textentwurf, zu erkennen.  Er wird eingeleitet mit der Anweisung, ihn in ein “Telegramm in Ziffern” umzusetzen. Das folgende “Sofort” gehört zum Mitteilungstext und richtet sich an das Chiffrierbüro des Auswärtigen Amts, das sich bei der Entzifferung und Vorlage an Bismarck beeilen möge. Am Ende des Textblocks erkennen wir die Paraphe “Abeken”, verbunden mit dem Datum des Entwurfs, das in einem langwierigen Geschäftsgang deutlich vor dem Datum der Reinschrift liegen kann.

Datum und Ort sowie die Adresse “An den Bundeskanzler, Graf Bismarck, Excellenz, Berlin” am Kopf der rechten Spalte gehören ebenfalls zum Textentwurf.

Die Streichungen und Ergänzungen bilden die zweite Schicht und sind hier ein besonderer Fall. Normalerweise ließ der verantwortliche Beamte das Konzept nach seinen Vorgaben von einem Sekretär erstellen. Dann wurde es von seinen Vorgesetzten revidiert. In unserem Fall fielen aber die Arbeitsgänge bei Abeken zusammen: Als alleiniger Vertreter des Auswärtigen Amts im Hoflager (Frischbier 2008: 470) war er für seine Berichte an Bismarck selbst verantwortlich. Wenn er sich in einigen Passagen selbst revidierte, dann um dessen Forderung nach Kürze zu genügen (Abeken 1898: 375).

Und auch nach “unten” hin machte Abeken alles selbst, obwohl der Stab von Kanzleibeamten im Gefolge des Königs mit dem Ausbruch der Krise noch verstärkt worden war (Ebd.: 372). Das Konzept ist bis auf den Abgangsvermerk links unten auf der ersten Seite von seiner Hand geschrieben, wie der Vergleich mit sicher eigenhändigen Stücken ergibt (z. B. in seinen Personalakten: PA AA, P 1, Bd. 1). Die Anweisung “Telegramm in Ziffern” richtete Abeken also an sich selbst. Darauf zu verzichten, wäre beim Konzept eines telegraphischen Berichts einfach formwidrig gewesen.

Die erste und zweite Textschicht fallen hier also zusammen. Die Textkorrekturen sind stilistischer Art und resultierten nicht aus einem bürokratischen Entscheidungsprozess, den wir rekonstruieren könnten. Ignorieren kann man sie deshalb nicht: Im letzten Absatz bringt die Korrektur eine wichtige Nuance, indem sie Bismarck die Veröffentlichung “anheim stellt”. Vorher stand da: “Seine Majestät glaubt”, dass sie veröffentlicht werden “sollte”. Damit hatte Abeken seinem Chef einen weiten Spielraum eröffnet.

Interessanter ist in diesem Fall die dritte (gern übergangene) Textschicht der Kanzleivermerke, obwohl sie sich auf einen einzelnen Vermerk zum Abgang des Boten zum Telegrafenamt beschränkt: “Eodem [die] 3h 10´ [Minuten] Nachmittags zur Station Ems (Eilig!)”. Der Bote brach also am 13. Juli um 15.10 Uhr auf.

Die Chronologie der Emser Vorgänge ist in der Forschung umstritten. Grob gesagt kann man Abekens Anteil an der Entscheidung, so und nicht anders an Bismarck zu telegrafieren, als um so größer einschätzen, je mehr Zeit man ihm zur Beeinflussung Wilhelms I. einräumt (zum Forschungsstand: Frischbier 2008: 471-498). In einer minutiösen Rekonstruktion verortete Rieß (1917: 466-469) das Zeitfenster für “des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag” (Mitte Blatt 2) zwischen 13 und 14 Uhr. Auf dieser Basis fand er es “doch sehr merkwürdig, daß erst um 3 Uhr 50 Min. die Depesche abging” (ebd.: 471), und knüpft daran seine Überlegungen zu Abekens Einflussnahme.

Zu diesem Schluss kam Rieß anhand der 1892 veröffentlichten Entzifferung, die wir in der nächsten Folge betrachten werden. Dort ist als Zeit der Absendung der Abgang vom Emser Telegrafenamt vermerkt – ausschließlich. Das Konzept lag 1917 noch unzugänglich in den Akten des Zentralbüros der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts. Aus diesem haben wir eben aber ersehen, dass der gesicherte Terminus ante quem nicht mit 15.50 Uhr, sondern schon mit 15.10 Uhr zu bestimmen ist. Und da Abeken, wie wir wissen, selbst konzipiert, revidiert und verschlüsselt hat, muss er sich lange vor 15 Uhr an den Schreibtisch gesetzt haben (vgl. Frischbier 2008: 481). Das Zeitfenster stand also weniger weit offen als Rieß vermuten konnte.

Damit hat die Aktenkunde in diesem Punkt ihren Dienst als Hilfswissenschaft getan und überlässt der Geschichtswissenschaft die Interpretation der Erkenntnis.

Es verbleibt ihr noch, auf einen Umstand hinzuweisen, den viele Archivbenutzer gar nicht hinterfragen würden: dass nämlich Abekens Konzept überhaupt bei den Akten ist. Schließlich handelt es sich um die Akten der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts in Berlin. Die Ein-Mann-Behörde Abeken führte in Ems ihre eigenen Akten, in welcher Form auch immer. Solche Kommissionsakten erwuchsen “in Erledigung einer von vornherein amtlich gestellten Sonderaufgabe außerhalb der laufenden Behördentätigkeit” (Meisner 1935: 157 f.). Nach dem Ende des Auftrags gehörten sie in die Registratur der Heimatbehörde, was häufig aber nicht geschah. Dass Abekens gesammelte Konzepte in die Akten eingearbeitet wurden, ist ein Glücksfall, der nur bei Behörden mit ausgezeichneter Registraturführung vorausgesetzt werden kann.

In der nächsten Folgen sehen wir uns an, in welcher Form dieser Bericht auf Bismarcks Esstisch landete.

Literatur

Abeken, Heinrich 1898. Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit. Aus Briefen zusammengestellt [von Hedwig Abeken]. Berlin. (online)

Frischbier, Wolfgang 2008. Heinrich Abeken (1809–1872). Eine Biographie. Paderborn, Schöningh.

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Menne-Haritz, Angelika 1997. Schriftlichkeit im Entscheidungsprozeß der Verwaltung: Die Geschäftsordnung der preußischen Regierung Kassel von 1867. In: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 9. S. 83–96.

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen. (online)

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–448.

Rieß, Ludwig 1917. Abekens politischer Anteil an der Emser Depesche. Historische Zeitschrift 118. S. 449-476. (online)

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/204

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Emser Depesche: Der Überlieferungszusammenhang

Einleitung zu dieser Serie

Angenommen, wir möchten die Originale der Schriftstücke konsultieren, die zusammen als “Emser Depesche” berühmt geworden sind. Sie werden im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts verwahrt. Was uns im Lesesaal vorgelegt wird, ist ein dicker Aktenband. Er ist fadengeheftet, d. h. die Einzelschriftstücke wurden lagenweise eingenäht, und bietet den typischen Anblick preußischer Behördenakten des 19. Jahrhunderts.

(Natürlich haben wir dem Archiv vorher plausibel dargelegt, dass wir für unsere aktenkundlichen Studien zwingend auf das Original angewiesen sind. Sonst hätten wir aus konservatorischen Gründen zunächst nur einen Mikrofiche erhalten.)

Aus der Literatur kennen wir die moderne Archivsignatur, R 11674, und auch Blattzahlen: 209-214. Also könnten wir uns sofort auf Abekens Bericht aus Ems stürzen. Viele Forscher tun das auch und verzichten darauf, “ihre” Funde im Aktenzusammenhang zu kontextualisieren. Sie tun das auf eigene Gefahr.

Zwar ist auch die Aktenkunde – ein kleiner methodologischer Exkurs – auf Einzelschriftstücke ausgerichtet, aus deren Gestalt und Abfolge sie Entscheidungsprozesse inhaltlich rekonstruiert (Henning 1999: 120). Sie kommt aber, sozusagen als Vorspiel, nicht darum herum, die Einzelschriftstücke in der gesamten Überlieferung der aktenführenden Institution zu verorten, und muss sich dazu mit den Strukturen des Archivguts auseinandersetzen, in denen es heute vorliegt.

Kretzschmar (2011) hat am Beispiel der Gerichtsakten zu dem berüchtigten Prozess gegen Joseph Süß Oppenheimer demonstriert, dass diese ohne Kontextualisierung nur unter größten Mühen sachgerecht ausgewertet werden können. Die entscheidenden Informationen fand er auf den Aktendeckeln: Zeitgenössische Registratur- und neuere Archivvermerke.

Wir schließen den Aktenband wieder – vorsichtig, mit den Baumwollhandschuhen, die uns die Aufsicht gegeben hat – und sehen uns den Aktendeckel an.

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674 

Wir bemerken, dass der Aktendeckel wegen des vorgedruckten “19″ für die Laufzeitangabe nicht original sein kann. Aktenzeichen und -titel wurden aber originalgetreu transkribiert. Mit Umlagerungen und Neueinbindungen zur Bestandserhaltung muss immer gerechnet werden. Auch die Schriftstücke im Inneren wurden in jüngster Zeit restauriert. Vielleicht hat dieses Detail aber dennoch etwas zu sagen. Wir merken es uns.

Es handelt sich um Akten des Auswärtigen Amts, “Abteilung A”. Haben wir damit die genaue Provenienzstelle innerhalb der Behörde gefunden, können also identifizieren, wo im Zuständigkeitsgefüge des Ministeriums die Akten entstanden sind? Noch nicht ganz. Im Auswärtigen Amt (des Norddeutschen Bundes, zu dieser Zeit) gab es keine Abteilung A, wie ein Blick in die Behördengeschichte (z. B. Conze 2013: 19) lehrt. Es gab eine politische Abteilung (römisch I), die ihre Akten in zwei Gruppen teilte: A-Akten zu politischen und B-Akten zu nichtpolitischen Betreffen; darunter fielen z. B. die Personalakten der Diplomaten.

Der Kopf des Deckels sagt uns in verkürzter Form, dass uns A-Akten der Abteilung I vorliegen, also ein politischer Betreff in der Zuständigkeit der Politischen Abteilung gegeben ist. Zeitgenössisch sprach man von IA-Akten. (1879 wurde dann die Politische Abteilung in die Abteilungen I A und I B gespalten; das muss uns hier aber nicht interessieren.)

Bei der “Berufung eines Prinzen von Hohenzollern auf den Spanischen Thron” als Betreff ist die politische Natur der Akten nicht zu bestreiten. Der Ort dieser Betreffakten in der Gesamtheit der IA-Akten ergibt sich aus dem Aktenzeichen: B o 32. “Aktenzeichen” ist hier noch nicht im heutigen Sinne als Teil eines umfassenden Aktenplans zu verstehen, der den Zuständigkeitsbereich einer Behörde vorausschauend aufteilt, auf die Gefahr hin, dass manche Aktenzeichen auf ewig unbelegt bleiben. In der klassischen Betreffsregistratur, wie sie auch im Auswärtigen Amt bestand, wurden neue Aktenzeichen ad hoc vergeben, wenn tatsächlich Schriftgut zu einem neuen Betreff anfiel. Innerhalb eines groben Gliederungsschemas wurden die Betreffe “chronologisch nach Anfall gereiht” (Enders 1968: 50).

Die IA-Akten des Auswärtigen Amt wurden nach Sachbetreffen in einer geografischen Gliederung geführt. Das entsprach den Bedürfnissen eines Außenministeriums. Bei den Innenbehörden war es in der Regel umgekehrt: übergeordnete Sachgliederung und geografische Betreffe an der Basis (Meisner 1935: 154). Geografisch befinden wir uns bei diesen Akten in

  • “B” = Europa und
  • “o” = Spanien,

was freundlicherweise auch noch einmal ausgeschrieben wurde. Innerhalb der IA-Europa-Spanien-Akten liegt uns der 32. Betreff vor, zu dem die Registratur Akten angelegt hat, eben die Spanische Kandidatur. Im Vergleich wird sofort deutlich, dass die Nummernfolge der Betreffe zufällig ist, so wie die Sachen gerade anfielen:

  • B o 30 “Verhältnisse der Insel Cuba”,
  • B o 31 “Innere Zustände und Verhältnisse Spaniens”,
  • B o 33 “Vereinigung Spaniens und Portugals zu einem Iberischen Reiche”.

Der Aufbau dieses Weymannschen Registraturplans wird von Philippi (1958) erläutert; man muss es mehrmals lesen und konkret anwenden, um es zu verstehen. Was bringt das nun? Zum einen durchschauen wir jetzt die älteren Angaben der Fundstelle in der Literatur, z. B. bei Walder (1972: 179), mit “IA Bo 32″. Die heutigen Archivsignaturen im Numerus Currens wurden erst 1990/91 eingeführt (Biewer 2005: 151 f.). Zum anderen ist es doch erwähnenswert, dass sich die zentrale Überlieferung zur Genese des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 bei den Spanienakten befindet – wenn auch aus der Registraturlogik heraus einfach zu erklären. Auf dieser Basis könnten wir jetzt methodisch sicher nach ergänzender Überlieferung in anderen Teilen der IA-Registratur suchen, wenn wir uns diplomatiegeschichtlich damit befassen wollten.

Nun wenden wir uns der Binnengliederung der Betreffakten B o 32 zu. Es handelt sich um eine mehrbändige Aktenserie, aus der uns der 4. Band vorliegt. Wir sehen, dass er trotz seines Umfangs Schriftgut eines einzigen Tages enthält, und bekommen so einen Eindruck von der Intensität der Diplomatie auf dem Höhepunkt der Krise. Wir wollen uns von der Vollständigkeit der Aktenserie überzeugen, prüfen den Anschluss an Band 3 – und bemerken gleich eine große Lücke. Band 3 endet mit der Blattnummer 89, Band 4 beginnt mit 116. Wir blättern jetzt den ganzen Band durch und sehen, dass auch die Blätter 134-136, 185-186 und 188-189 fehlen.

Glücklicherweise haben wir beim Aufschlagen bemerkt, dass sich auf der Rückseite des Aktendeckels ein Archivvermerk von 1958 befindet. Damals wurden die Akten aus britischen Gewahrsam zurückgegeben. Dieser Vermerk verweist uns für die fehlenden Seiten auf die parallelen Geheimakten. Dass es eine zweite Aktenserie I A B o 32 mit dem Zusatz “secr.” gibt, wussten wir natürlich schon aus unserer sorgfältigen Durchsicht des Findbuchs. Und in diesen Geheimakten (die längst nicht mehr geheim sind) finden sich, im Band 4, tatsächlich die fehlenden Seiten. Wir stellen fest, dass sich unsere Quellenbasis (Bl. 209-214 im “normalen” Band 4) dadurch nicht verändert.

Zur Überlieferungsgeschichte können wir jetzt postulieren, dass die “offenen” und die geheimen Schriftstücke zu I A B o 32 in der Registratur zunächst vermischt abgelegt wurden. Die durchgehende Blattzählung (Foliierung) ist der Beleg dafür. Später hat man beide Gruppen voneinander getrennt und in neue Aktendeckel eingebunden. “Serienspaltung durch Geheimhaltung” wäre ein Stichwort für die Archivwissenschaft, das vor allem für das 20. Jahrhundert einmal näher beleuchtet werden sollte.

Die Emser Depesche hielt man zu diesem unbestimmten Zeitpunkt offenbar nicht für geheimhaltungsbedürftig – da der Aktendeckel dieses vorgedruckte “19″ aufweist, fand die Umlagerung erst statt, nachdem Caprivi 1892 im Reichstag den unredigierten Depeschentext publik gemacht hat. Die Katze war also schon aus dem Sack.

Wir wiederholen die Prüfung nun für den Anschluss an Band 5, stoßen dort aber nur auf Wiedergaben des Depeschentexts, die wir für unser aktenkundliches Thema nicht brauchen. Soviel Aufwand für einen im Grunde negativen Befund? Ja, denn erst jetzt können wir uns sicher sein, dass wir in den Blättern 209-214 des Archivales mit der zeitgenössischen Registratursignatur I A B o 32 Bd. 4 und der archivischen Bestellnummer R 11674 aus dem Bestand R 201 (Abteilung I A, 1870-1920) des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts abschließend unsere Quellengrundlage identifiziert haben.

Wir können jetzt das vorgangsbegründende Schriftstück näher untersuchen: den Bericht Abekens über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter auf der Kurpromenade von Bad Ems.

Literatur

Biewer, Ludwig 2005. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts. Plädoyer für ein Ressortarchiv. Archivalische Zeitschrift, 87, S.137–164.

Conze, Eckart 2013. Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. München: Beck 2013.

Enders, Gerhart 1968. Archivverwaltungslehre. 3. Aufl. Berlin (Nachdruck Leipzig 2004).

Henning, Eckhart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert, in: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln usw. S. 105-127.

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher aus aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke und Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Philippi, Hans 1958. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Der Archivar, 11, Sp. 139–150.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/188

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Zur Aktenkunde der Emser Depesche

 

Einige Male wurde ich gefragt, ob das Bannerbild zu diesem Blog aus der Emser Depesche stamme. Das ist richtig. Genau gesagt: Es zeigt einen Ausschnitt des Kopfes der Entzifferung des telegrafischen Berichts Abekens aus Bad Ems.

Die Emser Depesche eignet sich gut, um den Erkenntnisgewinn einer aktenkundlichen Herangehensweise an die archivalischen Quellen zu demonstrieren. Dabei wird deutlich, wo die Unterschiede zu einer rein historisch-philologischen Textkritik liegen, die mit Texten und Textzeugen operiert, ohne die Natur von Aktenschriftstücken als Produkten von Verwaltungsprozessen zu berücksichtigen.

Walder (1972) ist die maßgebliche Edition der Depesche. Sie bietet einen zuverlässigen Text, zeugt aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit im Umgang mit Überlieferungsverhältnissen, die aus aktenkundlicher Sicht eigentlich recht übersichtlich sind. Walder betrachtete Abekens Konzept des Telegramms und die Bismarck vorgelegte Entzifferung als unterschiedliche Dokumente und konnte auch die Ausfertigungen des Runderlasses mit dem redigierten Text begrifflich nicht treffend bezeichnen.

Walder (1972: 3) wollte “von der Depesche in den verschiedenen Stadien, die sie durchlaufen hat” jeweils “den genauen Text durch wortgetreuen Abdruck der erhaltenen Originale [...] geben”. Das ging soweit, das Originallayout im Drucksatz nachzubilden, andererseits aber Abkürzungen unaufgelöst zu lassen. Imitation also statt Edition, eine drucktechnische Variante der “paläographischen Abschrift” der klassischen Diplomatik. Zur an sich in der Tat gebotenen Differenzierung stellte Walder unglücklicherweise der “Emser Depesche” eine “Depesche aus Ems” gegenüber und perfektionierte damit die Verwirrung.

Die heute maßgebliche Quellensammlung zu den Ursprüngen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, Becker (2007: Nr. 854), übernimmt Walders Text, geht in der Fokussierung auf die Textgestalt aber noch weiter, indem die “Depesche aus Ems” der “Emser Depesche” im Paralleldruck gegenübergestellt wird – als wären es Original und interpolierte Verfälschung einer mittelalterlichen Urkunde in einem Diplomata-Band der MGH.

Einen Aktenvorgang, auch wenn er nur aus wenigen Stücken besteht, kann man in dieser Weise aber nicht aufbereiten, weil jedes einzelne Aktenschriftstück eben nicht bloß ein Textzeuge ist, sondern in seiner Materialität, mit unikalen Bearbeitungsspuren, eine räumlich und zeitlich definierte Momentaufnahme eines Entscheidungsprozesses markiert.

Dies zur Einleitung. Ich habe mir vorgenommen, an dieser Stelle in den nächsten Wochen fünf aktenkundliche Aspekte des als “Emser Depesche” bekannten Vorgangs zu behandeln:

  1. Der Überlieferungszusammenhang
  2. Abekens Telegramm I: Das Konzept
  3. Abekens Telegramm II: Die Entzifferung
  4. Bismarcks drei Teilrunderlasse
  5. Aktenkundliche Perspektiven

Der letzte Teil soll ein von Schäfer (2009: 98-101, 119) angemahntes Desiderat aufgreifen: Die Aktenkunde sollte sich, wie vor ihr schon die Urkundenlehre, stärker als umfassende Diplomatik begreifen, die “die Schriftlichkeit in Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie deren Produkte” zum Gegenstand hat. Hinzuzufügen ist die Regierungstätigkeit, die trotz Bürokratisierung keine Verwaltung im engeren Sinne ist. Das Telegramm in der Diplomatie ist dafür ein dankbares Demonstrationsobjekt.

Auf den Inhalt im Einzelnen und die historische Bedeutung der Emser Depesche muss hier wohl nicht eingegangen werden. Indem Bismarck den Bericht über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter in Bad Ems in einer redigierten Fassung verbreitete, provozierte er Frankreich zur Kriegserklärung. In wie weit Bismarck dies planvoll betrieb oder die Entwicklung ihn vor sich hertrieb, ist in der Forschung bis heute umstritten (monographisch zuletzt Wetzel 2005: 176 f.). Man könnte den Eindruck haben, es würden mi dt dieser Sachfrage in der Hand auch jahrzehntealte Gelehrtenfehden um Imperialismus und den Primat der Innenpolitik fortgesetzt. Der Wikipedia-Artikel hinkt der Forschung hinterher.

Ich arbeite seit einigen Wochen an diesem Thema, an dem ich einmal das ganze Instrumentarium der Aktenkunde demonstrieren möchte. Es ist zwar für die Depesche nicht relevant, aber ein schöner Zufall, dass das Landesarchiv Baden-Württemberg jetzt eine wichtige, von Becker (2007) schon ausgewertete Parallelüberlieferung zu den Akten des Auswärtigen Amts zur spanischen Thronfolge digitalisiert und online gestellt hat (über Archivalia).

Ich bin froher Hoffnung, etwa wöchentlich bloggen zu können … Demnächst also mehr: gleiche Stelle, gleiche Welle.

Literatur

Becker, Josef 2007. Bismarcks spanische “Diversion” 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg: Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866-1932. Bd. 3: Spanische “Diversion”, “Emser Depesche” und Reichsgründungslegende bis zum Ende der Weimarer Republik: 12. Juli 1870-1. September 1932. Paderborn. (Eingeschränkte Vorschau bei Amazon. Wer sich einloggt und nach Nr. 854 sucht, kann den gesamten Editionstext der Depesche lesen.)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Wetzel, David. 2005. Duell der Giganten: Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Paderborn.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/181

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Diplomatische Dokumente lesen: Hermann Meyers Aktenkunde der Julikrise

Mit der “Kanzlerakte” hat sich dieses Blog eine ganz ungewohnte Zahl von Likes und Tweets eingefangen. War zugegebenermaßen auch plakativ. Mit dem heutigen Beitrag kehre ich zur Spezialbloggerei zurück und traktiere nach Schmid einen weiteren vergessenen Klassiker des Fachs. Mal sehen, wie viele Besucher bis zum Like-Knopf durchhalten.

Titelseite

Titelseite

Der “Meyer” ist mein Vademecum als Archivar diplomatischer Akten. Auch für deren Benutzer sollte er es sein, scheint dort aber völlig unbekannt zu sein. Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen, gibt auch das laufende “Supergedenkjahr” rund um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

“Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch” wurden 1919 auf Veranlassung des des sozialistischen Politikers Karl Kautsky aus den Akten des Auswärtigen Amts in einer vierbändigen Edition veröffentlicht und in den Zwanzigerjahren in gigantischen Auflagen bis in die Bücherschränke des Bildungsbürgertums verbreitet, als Quellengrundlage einer gesellschaftlichen Diskussion über die Kriegsursachen, die bald in den notorischen “Kampf gegen die Kriegsschuldlüge” ausartete (was den wissenschaftlichen Wert der heute auch digitalisiert vorliegenden Edition nicht mindert).

Wenn gewünscht wurde, dass weite Kreise der Bevölkerung eine wissenschaftliche Dokumentenedition zur Kenntnis nehmen sollten, dann musste dem “unbelasteten” Leser ein Lektüreschlüssel an die Hand gegeben werden. Zu diesem Zweck erschien 1920 bei Mohr/Siebeck in Tübingen “Das politische Schriftwesen im Deutschen Auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente” von Hermann Meyer.

Geboren 1883 in Soest, war Meyer nach der Promotion in den preußischen Archivdienst eingetreten. Nach Stationen am Geheimen Staatsarchiv, dem Staatsarchiv Magdeburg und der Kriegsteilnahme wurde et 1918/19 ans Auswärtige Amt abgeordnet, um Kautsky bei der Edition der “Deutschen Dokumente” zu unterstützen. In dieser Zeit erlangte er aus erster Hand, von den zuständigen Beamten, eine intime Kenntnis des Kanzlei- und Registraturwesens. 1920 wurde Meyer dann auch zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts bestellt.

Einmal im Amt, reüssierte er schnell auch im diplomatischen Dienst. Seit 1923 leitete er in Personalunion mit dem Archiv zwei Referate der politischen Abteilungen; 1929 wechselte er nach Rom an die Botschaft beim Heiligen Stuhl, und 1931-1935 amtierte er als Generalkonsul in Marseille, bevor er unter dem Nazi-Regime zwangspensioniert wurde. Hermann Meyer starb 1943 in Bonn.

Die Aufbauarbeit im Politischen Archiv und der Wechsel in die Diplomatenlaufbahn führten dazu, dass “Das politische Schriftwesen” Meyers einziger Beitrag zur Akten- und Quellenkunde blieb, abgesehen von einer kleineren Studie zur Sprachwahl in den Depeschen preußischer Diplomaten (Friedrich der Große hatte Französisch verordnet; Meyer 1926). Leider.

Das Buch zeichnet sich durch Praxisnähe und Eingängigkeit aus, die seiner Rezipierbarkeit außerhalb des Archivs eigentlich zugute kommen sollte. Meyer beschränkt sich darauf, den Ist-Zustand des Aktenwesens zu vermitteln, und verbindet geschickt Aktenkunde im engeren Sinne, also die Untersuchung von Schriftstücken anhand formaler Merkmale, mit quellenkundlichen Einsichten, die er bei der Unterstützung der Edition gewonnen hatte.

Es beginnt mustergültig mit einem Abriss der Aufbauorganisation des Auswärtigen Amts im Kaiserreich, seiner Zentrale und der Auslandsvertretungen, und mit Grundzügen des Gesandtschaftsrechts (Kap. I). Weiter geht es mit der “Allgemeine[n] Organisation des politischen Schriftwesens” (Kap. II), in der eine systematische Aktenkunde der zwischen der Zentrale und den Auslandsvertretungen gewechselten Berichte und Erlasse (Depeschen) mit einer Beschreibung der Kanzlei- und Registraturorganisation in Gestalt des legendären, 1920 aufgelösten Zentral- und Depeschenbüros der Politischen Abteilung I A des Auswärtigen Amts verbunden ist, und zwar sehr umfassend. Meyer beschreibt auch die Registraturfindmittel (Journale, Register), was zum Verständnis der Edition wenig beiträgt, aber der Benutzbarkeit des im Werden begriffenen Archivs dient.

Genetische Aktenkunde

Genetische Aktenkunde

Der Hauptteil der Genetischen Aktenkunde findet sich etwas unerwartet in Kap. III unter dem Rubrum “Grundbegriffe des politischen und diplomatischen Schriftwesens”. Es ist wohl das zentrale Kapitel, weil es am unmittelbarsten der Quellenkritik der edierten Dokumente dient.

In Kapitel IV springt Meyer zurück zur Systematischen Aktenkunde und behandelt die Stilformen des diplomatischen Schriftverkehrs, die berühmten Noten, Verbalnoten und Aide-Mémoires. Auch hier geht er über den Rahmen der Edition, in die fast nur Aide-Mémoires aufgenommen wurden, hinaus. Hinsichtlich dieses aktenkundlichen Sondergebiets beruht praktisch die gesamte seitdem erschienene Literatur auf Meyers Ausführungen. Dabei wurde der Gebrauch dieser Stilformen im Auswärtigen Amt noch im Jahr des Erscheinens, 1920, grundlegend reformiert. Eine Veröffentlichung dazu bereite ich vor.

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Mit der “Beteiligung des Staatsoberhaupts” (Kap. V) geht es noch einmal ans Eingemachte der edierten Dokumente und um die Fortsetzung der Geschäftsgangskunde aus Kapitel III. Eine Besonderheit der Edition ist die typographisch gefällig gemachte Wiedergabe der Randbemerkungen Wilhelms II. auf den vorgelegten Depeschen und Immediatberichten. Der Quellenwert dieser zwischen hellsichtig und kreuzdumm rangierenden Marginalien für die Rekonstruktion der Julikrise ist sehr hoch.

Den Abschluss bildet in Kap. VI eine quellenkritische Schatzkammer zum Kurier-, Telegrafen- und Chiffrierwesen des Auswärtigen Amts, in der man sich bediene, um zu rekonstruktion, welcher Entscheidungsträger in der Julikrise wann und wie auf welche vorliegenden Informationen reagiert hat. Wer sich dabei mit forensischer Genauigkeit versuchen und gleichzeitig vor Aktengläubigkeit schützen will, sollte lesen, was Meyer über sich kreuzende Telegramme, die Uneindeutigkeit von Abgangs- und Eingangsdatierungen und Textverlust durch Übertragungsfehler zu sagen hat. Ein ausführliches Register erschließt dieses dünne, aber gehaltvolle Buch.

Meyer also auch ein Klassiker der Aktenkunde? Woran es Meyer noch fehlte, waren die von Meisner entwickelten Konzeptionalisierungen, die helfen, vor lauter Bäumen den Wald sehen. So behandelt er in Kapitel III die Entstehung der in Schriftform ausgehenden Erlasse, in II die registraturtechnische Behandlung der eingehenden Berichte, wiederholt das Ganze in Kap. VI für Erlasse in Telegrammform uns schiebt in V die Anbindung des Kaisers an den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts nach. Das alles beschreibt Teilaspekte der Genetischen Aktenkunde, die sich mit den Bearbeitungsspuren befasst.

An Meisner geschult, würde man diese Aspekte zusammenziehen, um konzise den Geschäftsgang und seine Spuren auf den Unterlagen zu beschreiben. Ohne diese Konzeptionalisierung wird analytisches Potential vergeben. Meyer bleibt dem Praktizismus der Kanzleibeamten verhaftet; es gibt viele terminologische Unschärfen, die ebenfalls auf konzeptionelle Lücken hinweisen. So ist das Telegramm als solches kein Schriftstücktyp, sondern eine Übermittlungsform für verschiedenste Typen. Deshalb unterscheidet sich seine Entstehung im Geschäftsgang auch nicht grundsätzlich von der einer schriftlichen Depesche. Nur wurde die konventionelle Expedition per Post, Depeschenkasten oder Feldjäger eben durch den Weg über die Telegraphenämter ersetzt.

Natürlich kann man dem Wissenschaftler Hermann Meyer keinen Strick daraus trennen, dass er sich 1920 nicht an den aktenkundlichen Ariadnefäden orientiert hat, die Heinrich Otto Meisner erst 1935 gesponnen hat. Der “Meyer” ist ein Monument der aktenkundlichen Vorgeschichte, das man vielleicht mit Haß (1909) in eine Reihe stellen kann. Der Nutzen als praktische Fundgrube bleibt überragend groß.

Benutzer des Politischen Archivs, lest dieses Buch! Leider ist das Digitalisat bei Hathi-Trust mit einer deutschen IP-Adresse nicht abrufbar.

Literatur

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521-575 (online).

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.

Ders. 1926. Der Sieg Der Deutschen Sprache in den politischen Depeschen Preußens und des Reichs. In: Görres-Gesellschaft, Hg. 1926. Festschrift, Felix Porsch zum 70. Geburtstag dargebracht. Görres-Gesellschaft zur Pfeleg der Wissenschaften im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaften 40. Paderborn.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/168

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Die “Kanzlerakte”: eine offensichtliche Aktenfälschung

 

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpgQuelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpg

Im letzten Eintrag habe ich die Dokumentenbände des BND vorgestellt. Das gibt mir den Anlass, eine groteske Aktenfälschung unter die Lupe zu nehmen, die vorgibt, ein BND-Schriftstück zu sein.

Im Internet ist eine regelrechte Mythologie um eine “Kanzlerakte” entstanden: ein hypothetisches Schriftstück, dass angeblich jeder deutsche Bundeskanzler vor seinem Amtsantritt unterzeichnen musste. Es gibt einen guten Wikipedia-Artikel zu diesem Unfug.

Der “Beweis” soll ein Schreiben des BND sein, in dem der Verlust eines Exemplars jenes “geheimen Staatsvertrags” berichtet wird. Der verlinkte Wikipedia-Artikel enthält bereits einige gute Argumente, die zum Teil aktenkundlicher Art sind, zum Teil allgemein auf die Plausibilität abstellen, an der es eklatant mangelt. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Instrumentarium der Aktenkunde mit ihren Hilfswissenschaften Paläographie und Verwaltungsgeschichte. Außerdem halte ich mich an die Fehler und vermeide Hinweise, wie man es besser machen könnte :-)

1. Analyse der inneren Merkmale

Briefkopf: Wie die Wikipedia richtig ausführt, passt die maschinenschriftliche Behördenfirma nicht zu einem externen Schreiben einer Oberen Bundesbehörde (nicht: “Ministerium”!). Außerdem sind wir nicht in Frankreich, wo in der Behördenfirma von oben nach unten alle Instanzen aufgeführt werden, vom Ministerium bis zum bearbeitenden Büro. Eine “Kontroll-Abteilung” ist dem Namen und der Sache nach der deutschen Verwaltungstradition fremd.

Innenadresse: fehlt, wäre bei einem externen Schreiben aber nötig.

Geheimhaltungsvermerk: “VS-Verschlußsache Nur für den Dienstgebrauch” entspricht nicht den Formvorschriften, die zum angeblichen Datum des Dokuments bereits galten (wenn ich den Vermerk unten rechts richtig lese: 1992). Den zusätzliche Vermerk “Strengste Vertraulichkeit” gibt es nicht. Die Beschränkung eines gedachten Routineverteilers auf den “Minister” ist dagegen noch passabel.

Betreff: wird nicht mit “Vorgang” eingeleitet.

Unterschrift: Die Amtsbezeichnung “Staatsminister” ist hier fehl am Platz.

Blattaufteilung: Auch der unterwürfigste Bericht wird heute nicht mehr halbbrüchig (= breiter linker Rand) geschrieben.

2. Systematische Einordnung

Der Fälscher hatte einen externen Bericht des Bundesnachrichtendienstes an eine übergeordnete Instanz im Sinn. Dafür spricht die Nachahmung des Kopfbogens, wobei die fehlende Innenadresse ein Fehler ist. Die Höflichkeitsformeln zu Anfang und Ende würden daraus einen Bericht in der Form eines Privatdienstschreibens machen.
Aber nicht nur, dass es nie einen Staatsminister Rickermann gab, wie die Wikipedia richtig anmerkt: Dem Fälscher war nicht klar, dass es beim BND überhaupt keine Staatsminister gibt. “Staatsminister” ist die Amtsbezeichnung der Parlamentarischen Staatssekretäre bei der Bundeskanzlerin und beim Bundesminister des Auswärtigen (zu den Gründen Wischnewski 1989: 177 f.). Ein StM oder PStS ist kein Beamter mit Verwaltungsaufgaben, sondern steht in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis und ist für die Unterstützung bei politischen Aufgaben einem Mitglied der Bundesregierung beigegeben. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes ist aber natürlich ein Berufsbeamter.
Oder meint der Fälscher, der Geheimdienst selbst würde von einem Minister geleitet werden, wie einst die Stasi? Das könnte ein Hinweis auf Herkunft, Sozialisation und Vorstellungswelt sein. (Ein interner Bericht gehört aber nicht auf Kopfbogen.)

3. Genetische Einordnung

Merkmale:
- Imitat eines Kopfbogens
- Nachgemachte Unterschrift
- Aufgesetzte Vermerke und Verfügungen des vermeintlichen Empfängers
also: Fälschung einer behändigten Ausfertigung.

Nach der klassischen aktenkundlichen Lehre sind die Vermerke und Verfügungen des Empfängers ja nicht Gegenstand der Analytik, sondern der genetischen Betrachtung, weil sie nicht zum Formenapparat des ausgefertigten Schreibens gehören. Mir hat diese methodologische Differenzierung unter praktischen Gesichtspunkten nie recht eingeleuchtet. Hier haben wir aber einmal einen Fall, in dem sie Erkenntnis bringt: Der Geschäftsgangsvermerk unten rechts wurde vom Fälscher offenbar als Vordruck verstanden, den der Absender vorbereitet hat; der Empfänger hätte nur noch die Daten eingetragen. Dann wäre dieser Vermerk als inneres Merkmal des Schreibens zu verstehen.

Das widerspricht der Verwaltungspraxis: Eingangsvermerk oder zdA- und Wiedervorlage-Verfügungen (hier auch noch falsch abgekürzt) werden vom Empfänger aufgesetzt und machen wesentlich die Behändigung des eingegangenen Schreibens aus. Vorgedruckt wird so etwas nur auf Formularen, insbesondere Fragebögen für Antragsteller in der nachgeordneten Leistungsverwaltung. So ein Stück könnte dem Fälscher als Vorlage gedient haben.

Die beiden Verfügungen am Rand sollen den numinosen Charakter der Fälschung unterstreichen: Es wurde Vernichtung des allergeheimsten Skandalons angeordnet, aber irgendjemand gab es doch ins Archiv (= Registratur des Bundeskanzleramtes), und das alles in dieser lustigen alten Schrift aus Omas Poesiealbum.

Da lacht der Paläograph. Während Archiv-Neulinge deutsche Kurrent-Aktenschriften meistens falsch als Sütterlin bezeichnen, sehen wir hier das schlechte Imitat echten Sütterlins, also der von Ludwig Sütterlin entworfenen und 1915 an den preußischen Schulen eingeführten Normalschrift, deren Hauptkennzeichen der Verzicht auf die Neigung der Buchstaben in Schreibrichtung war (Beck/Beck 2007: 87 f.). Die hier gemalten Buchstaben sind zwar ungelenk und latinisiert, aber eindeutig eine Steilschrift. Selbst wenn 1992 im Bundeskanzleramt noch zwei Urgesteine deutsche Schreibschrift angewandt hätten, dann bestimmt nicht so, wie in der Grundschule im Hausaufgabenheft, sondern als Aktenschrift mit deutlicher Kursivierung.

Alle anderen Vermerke und Verfügungen einschließlich das Datums sind bewusst unleserlich gehalten, wenn nicht sogar Trugschrift.

4. Einschätzung

Das Stück ist eine grobe Fälschung. Die Liste der in der Wikipedia aufgeführten formalen Mängel lässt sich um einige Punkte verlängern, deren kumulierter Beweis erdrückend ist. Von der historischen Plausibilität ganz zu schweigen. Der Fälscher ist mit beträchtlichem Fleiß, aber geringem Wissen ans Werk gegangen, wobei manche Elemente auf eine ziemlich piefige Vorstellungswelt hinweisen.

Literatur:

Beck, Friedrich und Lorenz Friedrich Beck 2007. Die lateinische Schrift: Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln.

Wischnewski, Hans-Jürgen 1989. Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. München.

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/163

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Faksimiles zur Aktenkunde nicht nur des BND

Es gibt einige gute Tafelwerke zur Aktenkunde und Paläografie der Neuzeit. Aber es zeigt sich derselbe Befunde wie in den darstellenden Kompendien des Fachs: Je näher man der Gegenwart kommt, desto spärlicher werden die Beispiele. Jede gut greifbare und handliche Veröffentlichung beispielhafter Faksimiles aus Behördenschriftgut der letzten Jahrzehnte ist darum willkommen, und das umso mehr, wenn sie aus einem “Sondergewerbe” der öffentlichen Verwaltung stammen.

Mit dem Bundesnachrichtendienst als Urheber von Faksimile-Bänden rechnet man zunächst wohl nicht. Es ist auch nicht der eigentliche Zweck der hier anzuzeigenden “Mitteilungen der Forschungs- und Arbeitsgruppe ‘Geschichte des BND’“, die Historischen Hilfswissenschaften anzufüttern – sie erfüllen ihn aber gut. Das Projekt begleitet die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission, die die Geschichte des Dienstes bis 1968 erforschen soll. Dazu bringt eine interne Arbeitsgruppe des BND sachthematische Quellenveröffentlichungen heraus, die leicht verkleinerte Farbfaksimiles in guter Qualität bieten. Das Schöne daran: PDFs der Druckfassungen können von der Website des Dienstes heruntergeladen werden.

Die sechs bislang veröffentlichten, zum Teil voluminösen Bände sind eine faszinierende Lektüre. Man lese als Historiker nur einmal die Dokumente aus dem Doppelband zur Kubakrise 1962 chronologisch im Wechsel mit den im entsprechenden Jahrgangsband der Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland abgedruckten Unterlagen des Auswärtigen Amts. Und Aktenkundler freuen sich über reiches Anschauungsmaterial.

Publiziert werden vor allem nachrichtendienstliche Meldungen aus aller Welt an die Pullacher Zentrale. Dabei handelt es sich um Ausprägungen der aktenkundlichen Universalgattung “Bericht” mit einigen besonderen inneren Merkmalen, die teilweise auch im Schriftgut des Militärs begegnen: vor allem die Unterscheidung zwischen der Datierung des Berichts und der Datierung der berichteten Beobachtungen oder die kodierte Bewertung der Glaubwürdigkeit von Nachrichten. Die Fernschreiberausgabe ist dabei eine häufige Überlieferungsform. (Aktenkundlich scheint sich noch niemand vertieft mit dem Fernschreiber beschäftigt zu haben, dabei nahm er einige Neuerungen des E-Mail-Zeitalters vorweg.)

Charakteristisch sind eine Fülle von speziellen Abkürzungen, Fachbegriffen und Tarnnamen. Glücklicherweise hat die Arbeitsgruppe in derselben Reihe auch schon ein Glossar vorgelegt, das dem Verständnis nachhilft.

Daneben begegnen interner Schriftverkehr zwischen Inlandsdienststellen des BND (z. B. “Aquarium an 106/XX c pers”), Aktenvermerke und lange Ausarbeitungen. Man entdeckt hier viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Aktenwesen “normaler” Bundesbehörden als Trennendes. Das gilt auch für Geschäftsgangsvermerke, Verfügungen und innere Merkmale wie Tagebuchnummern und dergleichen.

In Band 7, dessen Erscheinen mir den Anlass zu diesem Beitrag gibt, findet sich in Dokument 13 sogar einmal eine mit klassischem Grünstift aufgesetzte und mit “Ge” paraphierte handschriftliche Weisung Gehlens, übrigens in einer sauberen, gut lesbaren Handschrift. Die Paläografie zeitgenössischer Aktenschriften ist ja ein weites, steiniges Feld – an Walter Hallsteins Handschrift sollen schon Qualifikationsarbeiten gescheitert sein.

Dieser Band 7 ist ohnehin bemerkenswert, weil er sich (nach einem Ausflug in die Ordenskunde in Band 5) nicht mit einem nachrichtendienstlichen Sujet im engeren Sinne befasst, sondern mit “Mr. Dynamit“, einem deutschen James-Bond-Imitat der Sechzigerjahre aus dem Dunstkreis der Jerry-Cotton- und Karl-May-Verfilmer – mit Lex Barker als BND-Superagenten und Eddi Arent als seinem “Q”! Der Produzent bemühte sich um amtliche Schützenhilfe, zu der es aber nicht kam.

Die Faksimiles stammen aus dem betreffenden BND-Vorgang, wobei die Hälfte der Dokumente Fremdstücke sind. Wie bei jedem Band der Reihe sind sie in eine grundsolide und reich annotierte historische Darstellung des Herausgebers, Bodo Hechelhammer, eingebettet. Bei aller Seriosität kann der Leser spätestens bei der doppelseitigen Reproduktion des wunderbar schundigen Filmplakats für “Mr. Dynamit” von 1967 aber ahnen, dass man beim Bundesnachrichtendienst auch über ein gerütteltes Maß an Humor verfügt.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/159

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Noch einmal: Kritik der Verwaltungssprache um 1800

Zuletzt habe ich an dieser Stelle Klaus Margreiters HZ-Aufsatz zur Kritik der Aufklärung am Kanzleistil des Ancien Régime besprochen. Bei allem Lob habe ich angemerkt, dass die dort zitierte aktenkundliche Literatur nicht voll für dieses Thema ausgewertet wurde. Dazu jetzt mehr.

Beck (1997: 425-435) hat den Fall des neumärkischen Landrats v. Mülheim nachgezeichnet, der 1787 in seinen Berichten an die Kriegs- und Domänenkammer in Küstrin stillschweigend begann, die Kurialien fortzulassen, d. h. die auf den König gemünzte Anrede “Allerdurchlauchtigster großmächtiger König [...]” zu Beginn und
die Devotionsformel “Ich ersterbe [...]” zwischen Kontext und Unterschrift. Das wollte ihm die Kammer nicht durchgehen lassen, viel hatte sie aber nicht entgegenzusetzen, insbesondere nicht v. Mülheims Argument, wenn Friedrich der Große bei tatsächlich an ihn selbst gerichteten Immediatberichten auf die Kurialien verzichtet habe, könne eine Provinzialbehörde doch nicht darauf bestehen. Aber auch diese bestechende Logik half v. Mülheim nicht, weil die Sache durch eine Weisung des Generaldirektoriums zugunsten des Kurialienzwangs entschieden wurde.

Bemerkenswert sind die tieferen Überzeugungen hinter der beamtentypischen Formalargumentation des Landrats: Die altdeutschen Kurialien rühren an sein Stilempfinden. Sie seien pompös und geschmacklos. Ein Franzose schreibe seinen König einfach mit “Sire” an. Die aufgeklärte Verwaltungssprachkritik, die Margreiter behandelt, hat also bereits einen in der Lokalverwaltung tätigen märkischen Landadeligen erfasst. Dieser Landrat war entsprechend gebildet; gegenüber seinen Oberen in Küstrin führte er Homer, Melanchthon und hinduistische Gesetze ins Feld. Man müsste seine Sozialisation näher eruieren und als typisch oder atypisch für die Schicht kontextualisieren, aus der die untere Verwaltungsebene in Preußen zum Ende des 18. Jahrhunderts rekrutiert wurde. Dann könnten sich Aufschlüsse über die Breitenwirkung der Verwaltungssprachkritik ergeben.

Granier (1902) befasst sich mit dem 1800 trotz königlichen Wohlwollens gescheiterten Versuchung, die Kurialien in Preußen abzuschaffen oder wenigstens zu reduzieren. Die schroffe Ablehnung durch die Staatsminister (außer Hardenberg) ist in dem Kontext, in dem sie von Margreiter (2013: 678 f.) zitiert wird, nämlich hinsichtlich eines Glaubwürdigkeitsverlusts gegenüber den Untertanen, die gerade zu Staatsbürgern werden wollen, doch überzogen. Sie unterstricht aber, liest man die von Margreiter nur indirekt über Haß (1909) ausgewertete Miszelle ganz, eine andere Aussage (Margreiter 2013: 685): Das Kanzleizeremoniell wirkte sozialisierend und disziplinierend auf die Beamtenanwärter, gerade in revolutionärer Zeit:

Allerdings wird den schon gebildeten, fähigen, treuen Staatsdiener die Form des Styls, wenn sie heute verändert wird, nicht umwandeln [...]. Aber die Form wirkt in die ganze Zukunft hinein und trägt das ihrige bey zur Bildung künftiger Staatsdiener aller Classen.

Und da beim Beamtennachwuchs “ein ungewöhnlich starkes Maß von Selbstgefälligkeit, Eigendünkel, Anmaßungssucht und viele Keime zur Insubordination” festzustellen sein, müsse man zum einen diesen selbst Disziplin im Namen des Königs beibringen und sie zum anderen lehren, in dessen Namen zu sprechen, um “Würde und Ernst” zu gewinnen, so die Argumentation der Staatsminister (Granier 1902: 175) .

Wobei man hier allerdings auch einen aus konservativer Sicht vernünftigen Kern entdecken kann: Das umständliche Reskribieren im Namen des Landesherrn war im 17. Jahrhundert eine Innovation gewesen, um Verwaltungsakte zu legitimieren, die ohne dessen persönliche Beteiligung erlassen wurden – die “stellvertretenden Behördenverordnungen” waren entstanden (Haß 1909: 525; Meisner 1935: 35). Durch die Verwendung des Titels wurden die Beamten auf den Souverän verpflichtet und für ihre Handlungen in die Verantwortung genommen. Nur änderten sich die zugrunde liegenden politischen Vorstellungen in unserem Untersuchungszeitraum eben entscheidend.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass erwartungsgemäß auch Hardenberg den von Margreiter heraus präparierten Diskurs der Verwaltungssprachkritik verinnerlicht hatte: Wieder begegnet der Topos der “barbarische[n] Schreibart ungebildeter Zeiten”. Die Umgangssprache habe sich weiterentwickelt, der “stilus curiae” sei stehengeblieben.

Margreiters Befunde werden also von dieser Seite her eindeutig bestätigt, wenn auch der aufklärerische Impetus gemischt ist mit dem profanen Überdruss  von Verwaltungspraktikern an umständlichen Formalitäten.

Literatur

Beck, Lorenz Friedrich 1997. Geschäftsverteilung, Bearbeitungsgänge und Aktenstilformen in der Kurmärkischen und in der Neumärkischen Kriegs- und Domänenkammer vor der Reform (1786-1806/08). In: Beck, Friedrich und Neitmann, Klaus, Hg. 1997. Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders zum 70. Geburtstag. Weimar, S. 417–438.

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Margreiter, Klaus 2013. Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack. Verwaltungssprachkritik 1749-1839. Historische Zeitschrift 297, S. 657-688.

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/151

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Zur Verwaltungssprache der frühen Neuzeit (Literaturanzeige)

Klaus Margreiter, Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack: Verwaltungssprachkritik 1749-1839, Historische Zeitschrift 297 (2013) S. 657-688. (Abstract)

Am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer gibt es ein Forschungsprojekt mit dem Titel: “Geschichte der europäischen Verwaltungssprachen und ihrer Reformen, 1750-2000“. Aus diesem weiten Feld hat die HZ jetzt ein sehr konkretes und beachtenswertes Ergebnis veröffentlicht. Dass es ein verwaltungsgeschichtlicher Aufsatz in die HZ schafft, ist bemerkenswert genug. Margreiter schreibt brillant und liefert auch der Aktenkunde viel Bedenkenswertes aus einer originellen Perspektive.

Es geht um die “Verwaltungssprache [als] Abbild der Organisationskultur der Behörden, ihrer Werte und der Einstellungen der Angehörigen” (660). Der Einsatz dieser Fachsprache als Teil des Kanzleizeremoniells war ein Element, das die Verwaltungspraxis gegen Veränderungen stabilisierte. Auch durch gewollte Unverständlichkeit war sie ein Mittel zur symbolischen Vergegenwärtigung arkaner monarchischer Macht.

Im späten 18. Jahrhundert wollte die entstehende Bürgergesellschaft das nicht mehr hinnehmen. Margreiter beschreibt die bürgerlich-aufgeklärte Kritik am Kanzleistil überzeugend als Kampf um die kulturelle Hegemonie gegen die “Beamten als kryptisch säuselnde Priester der Herrschaft” (667), die tragenden Säulen der vormodernen Herrschaftsformen. Vorgebracht wurde eine ästhetisch ausgerichtete Kritik, die von einer intellektuellen Elite ausging, in abgeschwächter Form allerdings auch von den Autoren praktischer Lehrbücher des Kanzleistils (also von Insidern) aufgenommen wurde. Sich richtete sich im Einzelnen gegen

  • das unharmonische, oft aus Formularbüchern zusammengewürfelte und mit Fachbegriffen und umgangssprachlich überholten Ausdrücken durchsetzte Sprachbild,
  • die Neigung der Beamten zu Pleonasmen und verschachtelten Perioden,
  • die üblichen, als kriecherisch empfundenen Ergebenheitsbekundungen (Kurialien) und Titelhuberei im amtlichen Schriftverkehr.

Die Sprachreformer wollten der Obrigkeit auch auf dem Papier aufrecht gegenüberstehen und im Übrigen ohne Anstrengungen verstehen können, was Ihnen das Amt da schrieb. Was nicht nur verständlich, sondern auch immer noch aktuell sein mag.

Sicher hatte die Verwaltung auch ideologische Gründe zur Reformunlust. Die Arkansphäre wollte man sich bewahren. Margreiter präpariert aber säuberlich auch die systemimmanenten, unideologischen Motive heraus: Die Verwaltungssprache muss gerichtsfest sein. Deshalb ging man ungern von bewährten Formeln ab. Abgesehen davon sparte der Gebrauch von Formularbüchern Zeit und Mühe. Die Übernahme des Sprachgebrauchs durch Verwaltungsanwärter stellte (und stellt) außerdem eine wichtige Etappe ihrer Sozialisation dar und prägt den Korpsgeist der Beamtenschaft. – Soweit Margreiter.

Mit Formelbüchern, Kurialien und Titeln sind wir mitten im Gebiet der Analytischen Aktenkunde, die sich mit den inneren Merkmalen neuzeitlicher Schreiben befasst. Die aufgeklärte Sprachkritik zählt (neben äußeren Faktoren wie der Innovationskraft der napoleonischen Verwaltung) zu den Triebkräften hinter der Bereinigung des Kanzleizeremoniells zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die Aktenkundler als Entstehung des “Neuen Stils” bekannt ist. Die Geschichte der Verwaltungssprache dient der Aktenkunde darum wie die ganze Verwaltungsgeschichte als Hilfsdisziplin.

Umgekehrt könnte sich die Aktenkunde in die Erforschung der Verwaltungssprache produktiv einbringen. Margreiter hat auch aktenkundliche Arbeiten rezipiert, aber eher punktuell. Auf S. 678 entgeht dem Leser die Pointe der gescheiterten preußischen Reform von 1800: Nicht nur, dass Hardenberg Kernargumente der Sprachreformer explizit teilte – auch Friedrich Wilhelm III. zeigte sich aufgeschlossen. Wenn aber selbst der König keinen Autoritätsverlust durch die Abschaffung alter Zöpfe fürchtete, erscheint die Ablehnung durch die Mehrzahl der obersten Beamten doch wieder als “hysterische Überreaktion”. (Margreiter zitiert in Anm. 76 nur Haß 1909, übrigens mit falschen bibliographischen Daten; der locus classicus wäre Granier 1902).

Fruchtbringend könnte es sein, Reformeifer und -unlust gesondert für einzelne Sphären der Verwaltungsschriftlichkeit zu untersuchen. Die Kritik der Sprachreformer richtete sich in erster Linie natürlich auf die Korrespondenz zwischen der Obrigkeit und den Untertanen. Man könnte sich auch fragen, ob die Obrigkeit in dem Maße auf den Kurialien bestand, wie die Untertanen dies antizipierten. Auch das ist ein epochenübergreifendes Phänomen: Ich erhielt einmal einen Archivanfrage von einem Doktoranden unserer Tage, der ohne jede Spur von Ironie mit den Worten schloss: “In der Hoffnung, mit meinem Ansinnen keine Fehlbitte zu tun, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr …” (Der Devotionsstrich fehlte, da per E-Mail suppliziert wurde.)

Man würde wohl sehen, dass Kurialien und Titel von der Verwaltung selbst und insbesondere im innerdienstlichen Schriftverkehr als Problem betrachtet wurden, da der Popanz die Aufgabenerledigung verzögerte (dazu u. a. Polley 1994, zit. in Anm. 62). Reformeifer speiste sich nicht allein aus dem Eindringen ideologischer Elemente des bürgerlichen Zeitalters in die Beamtenschaft, die in das Gewand der Sprachreform gehüllt waren, sondern auch aus pragmatischen Motiven.

Nun war dies nicht Margreiters Thema. Er behält konsequent den Blickwinkel eben dieser Sprachreformer bei und kommt damit zu einem erhellenden und anschlussfähigen Ergebnis. Auf weitere Beiträge dieser Art aus dem Speyerer Forschungsprojekt bleibt zu hoffen!

Literatur

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Polley, Rainer 1994. Standard und Reform des deutschen Kanzleistils im frühen 19. Jahrhundert: Eine Fallstudie. Archiv für Diplomatik 40, S. 335-357.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/147

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Wie Adenauer einmal nicht gestört werden wollte

Konrad Adenauer wird von Zeitgenossen als geduldiger Zuhörer geschildert, solange es konzentriert um die Sache ging. “Eins aber haßte der Kanzler, nämlich Palaver” (Richard Stücklen in Schwarz 1991: 22).

Jede gute Vorzimmerkraft hat Mittel und Wege, den Chef aus endlosen Gesprächen zu befreien. Anneliese Poppinga, seit 1958 Adenauers Sekretärin, reichte ihm Nachrichten wie die folgende herein, die vor einigen Jahren in den Autographenhandel kam. Die Frankfurter Allgemeine berichtete seinerzeit über dieses Stück.

Anneliese Poppinga an Konrad Adenauer, um 1960

Notiz für Konrad Adenauer, um 1960

Was ist das – aktenkundlich gesehen? Innerdienstlicher Schriftverkehr des Palais Schaumburg, zweifellos. Solcher Schriftverkehr begegnet in zwei Stilformen (vgl. Meisner 1969: 194; Kloosterhuis 1999: 469):

  1. Als innerdienstliche Verkehrsschriftstücke, die sich an den Formen der an externe Empfänger gerichteten Schreiben orientieren,
  2. als Aufzeichnungen, die von der Form her eigentlich immobile Aktenvermerke sind, aber von der Funktion her als Verkehrsschriftstücke dienen; der Aktenvermerk bekommt Beine.

Die persönliche Anrede im vorliegenden Stück verweist eindeutig auf ein innerdienstliches Verkehrsschriftstück. In einer Aufzeichnung würde an ihre Stelle eine entsprechende Überschrift treten, und unter dem Text würde ein Vorlagevermerk in der damals noch üblichen Art stehen:

Hiermit
Herrn Bundeskanzler
ergebenst vorgelegt.

Und da hier von der Sekretärin an den Kanzler, also von “unten” nach “oben”, über einen Sachverhalt, nämlich die verflossene Zeit, berichtet wird, müsste es sich nach der klassischen aktenkundlichen Lehre um einen innerdienstlichen Bericht mit einer (impliziten) Bitte um Weisung handeln. Die Weisung, ihn nicht zu stören, hat Adenauer dann unmittelbar aufgesetzt.

An sich wurde und wird in der Ministerialbürokratie für diesen Kommunikationsweg die alternative Form der Aufzeichnung benutzt, die heute, in gewandelter Form, als Leitungsvorlage bezeichnet wird (vgl. meinen Artikel vom 29. August 2014). Für die Kommunikation zwischen Chef und Vorzimmer wäre dieses bürokratische Vehikel aber völlig überzogen.

Dann heißt es in der FAZ aber, der Text stünde auf einem Briefbogen des Bundeskanzlers. (Es ist nicht ersichtlich, wie der Ausschnitt der Abbildung gewählt wurde, und welcher Adressblock mit “Bonn am Rhein” sich da im rechten Viertel durchdrückt.) Ein Kopfbogen würde natürlich zu keiner Form innerdienstlichen Schriftverkehrs passen, selbst wenn man die persönliche Bezeichnung “Der Bundeskanzler” zugleich als Behördenbezeichnung nimmt, wie es bei den meisten Bundesministerien ja bis in die Neunzigerjahre offiziell der Fall war.

An diesem Punkt der Untersuchung muss sich die Aktenkunde die Sinnfrage gefallen lassen. Wir befinden uns außerhalb der Zone bürokratischer Standardisierung der Schriftlichkeit, von der die Systematische Aktenkunde, die ein Schriftstück nach Form und Funktion bestimmen soll, ausgeht (Beck 2000: 68). Die klassische Lehre scheint mir doch stark von normiert arbeitender Verwaltung im engeren Sinne geprägt zu sein. Im Umfeld der politischen Entscheidungsträger spielt die Form der produzierten Schriftstücke eine weit geringere Rolle.

Die Verfasserin hätte ihre kurze Nachricht, die sie dem Bundeskanzler verdeckt in einer Laufmape gebracht haben wird, im Grunde auch auf ein Formular für “Büronotizen” schreiben können – so würden Verwaltungspraktiker das Stück ansprechen.

Aktenkundlich reflektiert ist dieser Begriff nicht. Ein zu hohes Niveau begrifflicher Abstraktion leistet der Rezeption der Aktenkunde durch im Archiv arbeitende Historiker meiner Meinung nach aber einen Bärendienst.

Ich danke Dr. Peter Wiegand, Hauptstaatsarchiv Dresden, für den Hinweis auf dieses Stück und Frau Antje Winter, Stadtarchiv Troisdorf, für Informationen zum Gebrauch in Adenauers Büro.

Literatur

Beck, Lorenz Friedrich 2000. Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut. In: Brübach, Nils, Hg. 2000. Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33. Marburg. S. 67–79.
Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45, S. 465–563 (Preprint).
Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig.
Schwarz, Hans-Peter, Hg. 1991. Konrad Adenauers Regierungsstil. Rhöndorfer Gespräche 11. Bonn.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/132

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