Applekunde

Die deutsche Fachliteratur mag suggerieren, man könne Aktenkunde nur an den Akten deutscher — besser noch preußischer — Behörden treiben. Aktenkunde ist aber auch an Akten von Unternehmen möglich. Und an Akten ausländischer Urheber. Also auch an den Akten ausländischer Unternehmen. Zum Beispiel an Akten von Apple, Inc.

 

Mit den formalen Kriterien Meisners (1935) betrieben, ist die Aktenkunde der Wirtschaft eine mission impossible. Schludi (2016) hat im Anschluss an Neuß (1954) deutlich darauf hingewiesen, dass die Nutzung von Schriftgut zur Betriebsorganisation kein von Regeln geleiteter Selbstzweck ist, sondern sich in jedem Einzelfall durch einen Beitrag zum Unternehmenserfolg rechtfertigen muss. Wozu für teuer Geld Akten weiterführen, die nach dem Ende des Projekts niemand mehr benötigt?

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/658

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Wiener Nachträge III: Assads Geschäftsgang

Das beste Beispiel ist mir natürlich zu spät untergekommen. Auf der IÖG-Jahrestagung wollte ich die gesellschaftliche Relevanz der Aktenkunde aufzeigen, die eben kein verschrobenes Glasperlenspiel nur für den Lesesaal ist. Aber erst jetzt stoße ich auf eine Reportage zur Arbeit der Commission for International Justice and Accountability (CIJA), die mit aktenkundlichen Methoden die direkte Verantwortung des syrischen Präsidenten Assad für Verbrechen der Regierungstruppen im syrischen Bürgerkrieg nachzuweisen will.

 

Die CIJA sammelt als Nichtregierungsorganisation Beweismaterial für Kriegsverbrechen und bereitet es zur Verwendung in Prozessen vor. Der US-Journalist Ben Taub schildert ihre Arbeit in einer Reportage, die auf Deutsch in der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Internationale Politik erschienen ist (Taub 2016 b; auch online). Ein teilweise identischer Test aus dem New Yorker (Taub 2016 a) steht ebenfalls online.

Bei diesen Beweisen handelt es sich um Akten, die der CIJA entweder als Beute von Rebellen übergeben oder von Whistleblowern aus Assads Machtapparat durchgestochen wurden.

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Quelle: https://aktenkunde.hypotheses.org/630

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Akten sind bunt: Farbstifte und ihr Wert für die Archivarbeit

Die Archivarbeit mit Akten ist ein trockenes Brot. Man freut sich über historische Erkenntnis und stöhnt über das triste Bild auf dem Arbeitstisch, sei es braune Eisen-Gallus-Tinte auf blassblauem Konzeptpapier, sei es ein bläulicher Matrizenabzug auf gebräuntem Holzschliffpapier. Davon 30 Aktenbände, und nicht nur der Anfänger wünscht sich ein bisschen Farbe. Die kam im 20. Jahrhundert und glücklicherweise in einer Funktion, die großen quellenkritischen Nutzen stiftete: Farbstifte, deren Gebrauch den Entscheidungsträgern vorbehalten war.

Ein typisch deutsches System?

Bei der aktenkundlichen Analyse geht es ja vor allem darum, Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten nachzuvollziehen. Da ist es gut zu wissen, dass jede Randbemerkung, jede Paraphe, sogar jeder Haken in den Akten vom Chef der Behörde stammt, wenn er grüne Farbe hat.

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Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/552

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Emser Depesche: Die Berliner Entzifferung

In der letzten Folge haben wir untersucht, was Abeken in Ems auf’s Telegrafenamt bringen ließ. Nun geht es um das Produkt, das in Berlin Bismarck serviert wurde – was ganz wörtlich gemeint ist.

“Während der Unterhaltung wurde mir gemeldet, daß ein Zifferntelegramm, wenn ich mich recht erinnere von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem Geheim-Rath Abeken unterzeichnet, in der Übersetzung begriffen sei”. (Bismarck, hg. v. Ritter/Stadelmann 1932: 308; auch bei Walder 1972: 172 und im Digitalisat der verbreiteten Ausgabe Kohls).

In Bismarcks Dienstwohnung im Auswärtigen Amt saßen er, Roon und Moltke nämlich beim Abendessen in äußerst trüber Stimmung zusammen, bis die Entzifferung, die schließlich herein gereicht wurde, die Wolken schlagartig lichtete. Die Episode gehört zu den berühmtesten in Bismarcks Memoiren.

Was wurde ihm da herein gereicht? Ein Telegramm doch wohl. Das ist unbestreitbar, hat aber kein analytisches Potential. Die einfache Frage “Was ist das?” gehört zu den schwierigsten der Aktenkunde. Man kann dieses Teilgebiet der “Systematischen Aktenkunde” auch übertreiben. Aber es sollte einleuchten, dass Benennungen vorzuziehen sind, die etwas aussagen. Das ist bei “Telegramm” nicht der Fall, denn im Grunde konnte jeder zu jedem Zweck ein Telegramm versenden.

Die Aktenkunde sortiert die Fülle der Stilformen, in denen Schriftstücke auftreten können, nach dem Verhältnis von Absender und Empfänger einerseits und der Funktion des Geschriebenen andererseits (Beck 2000: 68). Im Normalfall des Schriftverkehrs bürokratischer Apparate gibt es zwischen beiden Perspektiven keinen Widerspruch; um die Ausnahmen wurden aktenkundliche Glaubenskriege geführt, die uns hier nicht interessieren).

Hier liegt uns ein Bericht vor, verfasst von einem Beamten für seinen Vorgesetzten, um ihm einen Sachverhalt – nun ja: zu berichten (das Kriterium “Funktion” kann schrecklich banal sein). Der Telegraph ist dafür nur der Übermittlungsweg. Wäre es nicht auf Geschwindigkeit angekommen, hätte Abeken seinen Bericht auch per Kurier (“reitenden Feldjäger”) absetzen können. Man kann von einem Bericht in Form eines Telegramms sprechen (Kloosterhuis 1999: 540). Das mag umständlich anmuten, sagt aber bereits einiges über das Schriftstück aus.

Oder man entlehnt den jüngeren, prägnanten Ausdruck “Drahtbericht” (Beuth 2005: 122 f.). Wohlgemerkt ist das ein Anachronismus: Die Beamten des Auswärtigen Amts sprachen schlicht von Telegrammen (Meyer 1920: 17). Aber zeitgenössische Selbstbezeichnungen von Schriftstücken taugen selten als trennscharfe Forschungsbegriffe (Beck 2000: 69).

Mit den Besonderheiten der telegrafischen Übermittlung befassen wir uns in der nächsten Folge. Jetzt geht es um die charakteristischen Merkmale der vorliegenden Überlieferungsform, der Entzifferung, die das Gegenstück zu Abekens Konzept darstellt.

Normalerweise ist das Gegenstück zum Konzept die Ausfertigung, die man “behändigt” nennt, wenn der Empfänger darauf Vermerke angebracht hat. Bei chiffrierten Telegrammen war die Ausfertigung im herkömmlichen Sinne, also das, was beim Telegrafenamt erstellt wurde, aber ein Zahlensalat, der vom Empfänger durch Dechiffrierung erst in einen lesbaren Text verwandelt werden musste: die Entzifferung – ein Begriff der von der aktenkundlichen Literatur, von Meyer (1920) natürlich abgesehen, noch nicht aufgenommen wurde.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 209 r

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 209 r 

Wir sehen auf der Vorderseite des ersten Blattes (fol. 209r - also vor dem Konzept eingeheftet) einen Vordruck, wieder mit halbbrüchigem Grundlayout, um Platz zur Bearbeitung zu bieten, beschrieben diesmal aber in gestochener Kanzleischrift. Die vorgegebenen Elemente wurde ebenfalls mit der Hand geschrieben und dann vervielfältigt. Dazu gehören die Überschriften “Telegramm” und “Entzifferung” sowie im Protokoll “den”, “ten”, “1870″, “Uhr”, “Min.”, “Vorm[mittags]“/”Nachm[ittags]” und “Ankunft”, schließlich am linken Rand “N[umer]o”. Der Bedarf für solche Rationalisierungen weist auf die Zahl der täglich eingehenden Telegramme und die Bedeutung des Drahtberichts für den Auswärtigen Dienst an.

Unsere aktenkundliche Aufgabe ist es wieder, die Textschichten auf dem Papier heraus zu präparieren, und zwar in ihrer chronologischen Reihenfolge:

Abekens Berichtstext mit der Verfügung “Sofort” und der Berichtsnummer “27“ macht den Anfang. Er ist kombiniert mit Protokollangaben, die nicht vom Verfasser stammen. Während dieser in einem Brief das Datum selbst einsetzt, ergab sich der Datumsblock ab “Ems, den” aus den Angaben der Telegrafenämter.

Der chiffrierte Text und die offen übermittelten Protokolldaten waren die Arbeitsgrundlage des Chiffrierbüros, das die Entzifferung auf dem vorliegenden Formblatt erstellte (Meyer 1920: 89). Das “Original” wurde als verbrauchtes Zwischenmaterial vernichtet.

Nach den Regeln des Geschäftsgangs folgen als nächstes der Eingangsvermerk “pr[aesentatum] 13. Juli 1870″ und die Journalnummer “A 2301″ (links oben), mit der das Stück im Geschäftstagebuch des Zentralbüros, der Posteingangsstelle der Politischen Abteilung, verzeichnet wurde. Nach der inhaltlichen Bearbeitung wären dann die Vermerke zu den als Reaktion abgesandten Telegrammen aufgesetzt worden, die rechts oben zu finden sind. Schließlich hätte das Zentralbüro, das auch als Registratur fungierte, das Stück zu den Akten “B o 32″ (links unten, vgl. 1. Folge) gegeben.

Nur: “Presentatum” bezeichnet nichts anderes als den Zeitpunkt “der offiziellen Entgegennahme und Eintragung des Schriftstücks durch das Bureau”, also der “amtlichen Einreihgung in den Geschäftsgang des Amts” (Meyer 1920: 92 f.). In eiligen politischen Angelegenheiten konnte ein eingegangener Bericht direkt dem zuständigen Beamten vorgelegt werden, der die nötige Entscheidung traf und alles weitere veranlasste. Die bürokratische Verdauung konnte warten.

Genauso verhält es sich hier – was wir mangels datierter Bearbeitungsspuren aus den Akten aber nicht ersehen können, sondern nur in Kombination mit Bismarcks Selbstzeugnis erfahren. Die Entscheidung fiel am Essenstisch, bevor das Stück den Geheimen Hofräten des Zentralbüros überhaupt in die Hände kam. Aktenkundlich zu arbeiten bedeutet bei aller Akribie das genaue Gegenteil von Aktengläubigkeit, die unter Historikern leider verbreitet ist.

Natürlich hat Bismarck in dieser Situation nicht, wie es gut bürokratisch gewesen wäre, seine Entscheidung als Entwurfsanweisung (“Angabe”) für die nachgeordneten Beamten ordentlich am Rand notiert und mit Paraphe und Datum abgeschlossen. Je weiter man in der Hierarchie nach oben geht und je politischer der Zusammenhang ist, desto seltener werden solche ausführlichen Bearbeitungsspuren. Hier finden wir in der linken Spalte nur kleine, mit Bleistift gezeichnete Pfeile, die diejenigen Textteile markieren, die weiter verwertet werden sollten – mehr nicht.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. [209v]

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. [209v] 

Wir müssen sogar offen lassen, ob sie von Bismarck oder seinem Mitarbeiter stammen, und wer dieser Mitarbeiter eigentlich war. Das wird Gegenstand der nächsten Folge sein.

Emser Depesche - Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 210 r

Emser Depesche – Entzifferung, PA AA, R 11674, Bl. 210 r 

Dann wird es um die Schriftstücke gehen, die als eigentliche “Emser Depesche” historisch berühmt geworden sind und auf die wir durch den Kanzleivermerk oben rechts bereits hingewiesen wurden.

Literatur

Beuth, Heinrich W. 2005. Regiert Wird Schriftlich: Bericht, Weisung Und Vorlage. In: Brandt, Enrico/Buck, Christian F. 2005. Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf. 4. Aufl. Wiesbaden. S. 119–28.

Beck, Lorenz Friedrich 2000. Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historische Verwaltungsschriftgut. In: Brübach, Nils 2000. Der Zugang zu Verwaltungsinformationen – Transparenz als archivische Dienstleistung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33. Marburg. (online)

Bismarck, Otto von. Erinnerung und Gedanke. Ritter, Gerhard und Stadelmann, Rudolf Hg. 1932. Gesammelte Werke 15. Berlin.(*)

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen. (online)

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

(*) Die maßgebliche Edition in der Neuen Friedrichsruher Ausgabe habe ich urlaubsbedingt nicht zur Hand.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/214

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Emser Depesche: Abekens Konzept

Wir haben “unsere” Unterlagen im Zusammenhang der archivalischen Überlieferung verortet und können nun das erste Schriftstück untersuchen. Wir konzentrieren uns dabei auf die “genetische” Aktenkunde und untersuchen die Entstehungsstufe des Stücks.

Wir lassen die “Außenanalytik” des Blattes beiseite (Folioformat, doppelseitig beschrieben, der Länge nach geknickt) und verschieben die Bestimmung des Schriftstücktyps und die Untersuchung inneren Aufbaus auf die nächsten Folgen.

Was wir sehen, schüchtert uns vielleicht ein wenig ein, wenn wir zum ersten Mal im Archiv arbeiten. “Für das Auge ist ein Konzept [...] nicht immer ein erfreulicher Anblick” (Meyer 1920: 42). Dabei liegt uns hier ein sehr übersichtliches Exemplar preußisches Verwaltungsschriftguts vor.

Emser Depesche - Abekens Konzept (Vorderseite) PA AA, R 11674, Bl. 211 r

Emser Depesche – Abekens Konzept (Vorderseite)PA AA, R 11674, Bl. 211 r 

 

Wo anfangen? Einfach drauflos zu lesen wäre keine gute Idee und ist auch nicht nötig. Mit etwas Wissen “a priori” über historische Kanzleiprodukte können wir ein Muster erkennen, das uns beim Freilegen der Beschriftungsschichten leitet

Emser Depesche - Abekens Konzept (Rückseite) PA AA, R 11674, Bl. 211 v

Emser Depesche – Abekens Konzept (Rückseite)PA AA, R 11674, Bl. 211 v 

 

Wir sehen

  1. eine großzügige Blattaufteilung, bei der die linke Blatthälfte weitgehend frei geblieben ist (“halbbrüchige” Beschriftung),
  2. eine flüchtige Schrift und einige Streichungen und Zusätze,
  3. anstelle einer Unterschrift ein Namenskürzel (“Paraphe”) am Ende und
  4. keinen vorgedruckten Briefkopf.

Wenn diese Merkmale in Kombination vorliegen, kann es sich nur um ein Konzept handeln kann: die zentrale Entstehungsstufe amtlicher Schriftstücke zu dieser Zeit. Konzepte sind heute auch im behördlichen Aktenwesen weitestgehend von Doppeln verdrängt worden: erst von Durchschlägen, dann von Computer-Zweitausdrucken. Sie werden auf der Grundlage der zu versendenden Reinschrift hergestellt und bieten wenig mehr als deren Text. Das Konzept aber ist ein Arbeitsinstrument, der materielle Stellvertreter des Problems, an dem gearbeitet wird.

Während die Reinschrift Ausfertigung abgeschickt wird, wandert das Konzept in die Akten des Urhebers, wo es als Gedächtnisstütze fungiert (Papritz 1959: 347) – im Gegensatz zu einem Doppel (oder einem mittelalterlichen Kopialbuch) aber nicht allein hinsichtlich des Inhalts des Schreibens, sondern, anhand der Zeichnungen und Vermerke, als Dokumentation der Handlungen der Behörde.

Im Grunde ist ein Konzept eine Anweisung an die Kanzleibeamten, eine Reinschrift eines bestimmten Inhalt zu erstellen. Diese Anweisung von den höheren Hierarchieebenen der Behörde überprüft und bei Bedarf geändert; man spricht von der Revision des Entwurfs. Die Umsetzung wird dann protokolliert. Und das alles auf dem selben Blatt. Als Arbeitsinstrument macht es körperlich die Runde im Geschäftsgang durch die Dienstzimmer der Behörde.

Um den Textentwurf herum lagern sich dabei Bearbeitungsspuren an, die es erlauben, den Gang der Bearbeitung zu rekonstruieren. Darin liegt der besondere Wert eines Konzepts für Historiker. Er erhebt es gegenüber der Reinschrift, die diese Spuren nicht aufweist, zur vorzuziehenden Quelle (vgl. Meyer 1920: 40 f.).

Wir unterscheiden beim Konzept also die Textschichten

  1. “des Entwurfs für den Ausgang mit allen dazugehörigen Rahmenangaben” (wie der Adresse) und die
  2. Zeichnungen der zuständigen Verantwortlichen. “Mit den Zeichnungen ist das Konzept fertig.” (Menne-Haritz 1997: 90).

Darüber legen sich als dritte Schicht Kanzlei- und Registraturvermerke, die die Ausführung nach dem Willen des Urhebers und den Regeln des Dienstbetriebs protokollieren. Sie werden dann wichtig, wenn Unregelmäßigkeiten aufgetreten sind oder eine dichte Ereigniskette die präzise zeitliche Einordnung verlangt.

Mit diesem Konzept vom Konzept im Hinterkopf schauen wir uns noch einmal Abekens Schriftstück an. Der zusammenhängende Textblock in der rechten Spalte ist leicht als die erste Schicht, der Textentwurf, zu erkennen.  Er wird eingeleitet mit der Anweisung, ihn in ein “Telegramm in Ziffern” umzusetzen. Das folgende “Sofort” gehört zum Mitteilungstext und richtet sich an das Chiffrierbüro des Auswärtigen Amts, das sich bei der Entzifferung und Vorlage an Bismarck beeilen möge. Am Ende des Textblocks erkennen wir die Paraphe “Abeken”, verbunden mit dem Datum des Entwurfs, das in einem langwierigen Geschäftsgang deutlich vor dem Datum der Reinschrift liegen kann.

Datum und Ort sowie die Adresse “An den Bundeskanzler, Graf Bismarck, Excellenz, Berlin” am Kopf der rechten Spalte gehören ebenfalls zum Textentwurf.

Die Streichungen und Ergänzungen bilden die zweite Schicht und sind hier ein besonderer Fall. Normalerweise ließ der verantwortliche Beamte das Konzept nach seinen Vorgaben von einem Sekretär erstellen. Dann wurde es von seinen Vorgesetzten revidiert. In unserem Fall fielen aber die Arbeitsgänge bei Abeken zusammen: Als alleiniger Vertreter des Auswärtigen Amts im Hoflager (Frischbier 2008: 470) war er für seine Berichte an Bismarck selbst verantwortlich. Wenn er sich in einigen Passagen selbst revidierte, dann um dessen Forderung nach Kürze zu genügen (Abeken 1898: 375).

Und auch nach “unten” hin machte Abeken alles selbst, obwohl der Stab von Kanzleibeamten im Gefolge des Königs mit dem Ausbruch der Krise noch verstärkt worden war (Ebd.: 372). Das Konzept ist bis auf den Abgangsvermerk links unten auf der ersten Seite von seiner Hand geschrieben, wie der Vergleich mit sicher eigenhändigen Stücken ergibt (z. B. in seinen Personalakten: PA AA, P 1, Bd. 1). Die Anweisung “Telegramm in Ziffern” richtete Abeken also an sich selbst. Darauf zu verzichten, wäre beim Konzept eines telegraphischen Berichts einfach formwidrig gewesen.

Die erste und zweite Textschicht fallen hier also zusammen. Die Textkorrekturen sind stilistischer Art und resultierten nicht aus einem bürokratischen Entscheidungsprozess, den wir rekonstruieren könnten. Ignorieren kann man sie deshalb nicht: Im letzten Absatz bringt die Korrektur eine wichtige Nuance, indem sie Bismarck die Veröffentlichung “anheim stellt”. Vorher stand da: “Seine Majestät glaubt”, dass sie veröffentlicht werden “sollte”. Damit hatte Abeken seinem Chef einen weiten Spielraum eröffnet.

Interessanter ist in diesem Fall die dritte (gern übergangene) Textschicht der Kanzleivermerke, obwohl sie sich auf einen einzelnen Vermerk zum Abgang des Boten zum Telegrafenamt beschränkt: “Eodem [die] 3h 10´ [Minuten] Nachmittags zur Station Ems (Eilig!)”. Der Bote brach also am 13. Juli um 15.10 Uhr auf.

Die Chronologie der Emser Vorgänge ist in der Forschung umstritten. Grob gesagt kann man Abekens Anteil an der Entscheidung, so und nicht anders an Bismarck zu telegrafieren, als um so größer einschätzen, je mehr Zeit man ihm zur Beeinflussung Wilhelms I. einräumt (zum Forschungsstand: Frischbier 2008: 471-498). In einer minutiösen Rekonstruktion verortete Rieß (1917: 466-469) das Zeitfenster für “des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag” (Mitte Blatt 2) zwischen 13 und 14 Uhr. Auf dieser Basis fand er es “doch sehr merkwürdig, daß erst um 3 Uhr 50 Min. die Depesche abging” (ebd.: 471), und knüpft daran seine Überlegungen zu Abekens Einflussnahme.

Zu diesem Schluss kam Rieß anhand der 1892 veröffentlichten Entzifferung, die wir in der nächsten Folge betrachten werden. Dort ist als Zeit der Absendung der Abgang vom Emser Telegrafenamt vermerkt – ausschließlich. Das Konzept lag 1917 noch unzugänglich in den Akten des Zentralbüros der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts. Aus diesem haben wir eben aber ersehen, dass der gesicherte Terminus ante quem nicht mit 15.50 Uhr, sondern schon mit 15.10 Uhr zu bestimmen ist. Und da Abeken, wie wir wissen, selbst konzipiert, revidiert und verschlüsselt hat, muss er sich lange vor 15 Uhr an den Schreibtisch gesetzt haben (vgl. Frischbier 2008: 481). Das Zeitfenster stand also weniger weit offen als Rieß vermuten konnte.

Damit hat die Aktenkunde in diesem Punkt ihren Dienst als Hilfswissenschaft getan und überlässt der Geschichtswissenschaft die Interpretation der Erkenntnis.

Es verbleibt ihr noch, auf einen Umstand hinzuweisen, den viele Archivbenutzer gar nicht hinterfragen würden: dass nämlich Abekens Konzept überhaupt bei den Akten ist. Schließlich handelt es sich um die Akten der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts in Berlin. Die Ein-Mann-Behörde Abeken führte in Ems ihre eigenen Akten, in welcher Form auch immer. Solche Kommissionsakten erwuchsen “in Erledigung einer von vornherein amtlich gestellten Sonderaufgabe außerhalb der laufenden Behördentätigkeit” (Meisner 1935: 157 f.). Nach dem Ende des Auftrags gehörten sie in die Registratur der Heimatbehörde, was häufig aber nicht geschah. Dass Abekens gesammelte Konzepte in die Akten eingearbeitet wurden, ist ein Glücksfall, der nur bei Behörden mit ausgezeichneter Registraturführung vorausgesetzt werden kann.

In der nächsten Folgen sehen wir uns an, in welcher Form dieser Bericht auf Bismarcks Esstisch landete.

Literatur

Abeken, Heinrich 1898. Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit. Aus Briefen zusammengestellt [von Hedwig Abeken]. Berlin. (online)

Frischbier, Wolfgang 2008. Heinrich Abeken (1809–1872). Eine Biographie. Paderborn, Schöningh.

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Menne-Haritz, Angelika 1997. Schriftlichkeit im Entscheidungsprozeß der Verwaltung: Die Geschäftsordnung der preußischen Regierung Kassel von 1867. In: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 9. S. 83–96.

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen. (online)

Papritz, Johannes 1959. Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes. In: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant. Brüssel. S. 337–448.

Rieß, Ludwig 1917. Abekens politischer Anteil an der Emser Depesche. Historische Zeitschrift 118. S. 449-476. (online)

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/204

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