Zur Rolle des Subjekts in den sozialen Praktiken – Von Benjamin Köhler

Zugespitzt und umfassend wurde der sog. „Practice Turn“ (2001) durch Theordore Schatzki, Karin Knorr-Cetina und Eike von Savigny ausgerufen, der später durch Reckwitz für den deutschsprachigen Raum als Sozialtheorie systematisiert wurde (vgl. Reckwitz 2003). Inhaltlich treten die sozialen Praktiken (altgriechisch: prâxis; … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4513

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Kulturgeschichtliches zu den Himmelsrichtungen (IV): der Westen

Die Himmelsrichtungen hatten in der Kulturgeschichte Chinas ihren festen Platz in den – in ihren einzelnen Zuschreibungen zum Teil höchst unterschiedlichen – kosmologischen Systemen. (vgl. auch (I) der Norden, (II) der Osten und (III) der Süden)

Das Schriftzeichen xi 西 (Westen) zeigt einen Vogel, der sich am Abend – wenn die Sonne im Westen steht – in seinem Nest niedergelassen hat. Nach traditionellen Vorstellungen korrespondiert der Westen mit dem Planeten Venus, mit der Farbe Weiß, mit dem Herbst, mit der Lunge und mit der Wandlungsphase Metall. [1]

Nicht nur der Osten sondern auch – und im noch stärkeren Maße – der Westen galten seit dem Altertum als die “klassischen Himmelsrichtungen für das Paradies” [2].

Im Westen vermutete man den Sitz der Xiwangmu 西王母, der “Königlichen Mutter des Westens”. Der Begriff leitete sich ursprünglich von einem Ortsnamen ab und erhielt schließlich – nicht zuletzt durch das für die Transkription verwendete Zeichen  mu 母 (Mutter) die später geläufige Bedeutung. Wie Fracasso einleitend schreibt, haben wenige Figuren des chinesischen Pantheon so viel Aufmerksamkeit erhalten wie Xiwangmu [3]. Als Sitz der “Königlichen Mutter des Westens” galt das Kunlun 崑崙-Gebirge. Wurde die Göttin zunächst in den düstersten Farben geschildert, so wandelte sich ihr Äußeres in späteren Texten und in der Ikonographie grundlegend. Nach Ferdinand Lessing zeigen bildliche Darstellungen “eine vornehme chinesische Dame [...] deren Erscheinung die Mitte hält zwischen mädchenhafter Zartheit und der Fülle der Matrone.” [4] Anläßlich ihres Geburtstages, den sie – so die Vorstellungen – am 3. Tag des 3. Monats des chinesischen Mondkalenders feiert, lädt sie Götter und Unsterbliche ein, um diesen die nur alle paar tausend Jahre reif werdenden “Pfirsiche der Unsterblichkeit” (pantao 蟠桃) aufwarten zu lassen. [5]

Die mit dem Westen verknüpften Paradiesvorstellungen wurden mit der Verbreitung des Buddhismus in China weiter verstärkt. Die Jingtu 淨土-Schule (“Schule des Reinen Landes”) des Buddhismus verehrte besonders den Buddha Amitābha, der das “Reine Land”, das im Westen gelegene Paradies, regiert. Einige weitere Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Buddhismus geprägt worden waren, enthielten das Schriftzeichen xi 西 (Westen): Indien wurde mit Xiguo 西國 (Land im Westen) und Sanskrit mit Xiyu 西語 (Sprache des Westens) wiedergegeben. [6]

Ab dem 10. Jahrhundert wurden die Meere Südostasiens mit dem Begriff Xiyang 西洋(“Westlicher Ozean”) bezeichnet. Für die bedeutenden maritimen Expeditionen des Zheng He 鄭和 in den Indischen Ozean wurde ebenfalls der Ausdruck xia Xiyang 下西洋, “den westlichen Ozean befahren”) gebraucht. Schon kurz nach ihrem Erscheinen an den Küsten Chinas zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden schließlich die Europäer unter anderem auch als Xiyang ren 西洋人 (“Menschen vom westlichen Ozean”) bezeichnet. Im frühen 17. Jahrhundert prägten die Jesuitenmissionare und deren chinesische Mitarbeiter den Ausdruck Da Xiyang 大西洋 (“Großer Westlicher Ozean”), der fortan für den Atlantik stand. [7]

 

[1] Grand Dictionnaire Ricci de la langue chinoise Bd. 2, S. 940 (Nr. 4080). [nach oben]

[2] Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück, 142. [nach oben]

[3] Ricardo Fracasso: “Holy Mothers of Ancient China. A New Approach to the Hsi-wang-mu Problem.” In: T’oung Pao 74 (1988) 1-46. – Vgl. auch Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 203 f. (“Xi Wangmu”). [nach oben]

[4] Zitiert nach Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl. 1996) 136-138 (“Hsi-wang-mu”). [nach oben]

[5] Welch: Art, 204. [nach oben]

[6] Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and enlarged (Cambridge, Mass., 2000) 729. [nach oben]

[7] Wilkinson: Chinese History, 729 f. [nach oben]

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/184

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Wie lautet die korrekte Anrede Wallensteins?

Im Jahr 1625 trat der Dreißigjährige Krieg in eine neue Phase, als der Konflikt mit König Christian IV. eskalierte. In dieser Situation beschloß der Kaiser, eine neue Armee aufzustellen; der Auftrag dafür ging an Wallenstein, der schon zu dem Zeitpunkt der größte Kriegsgewinnler und Aufsteiger par excellence war. Bekanntermaßen überraschte der neue Feldherr des Kaisers vor allem mit der Größe des Heeres. Entsprechend groß gestalteten sich auch die Probleme, die Truppen einzuquartieren – und ebenso die Klagen über die Quartierlasten. Im Herbst suchten Wallensteinische Regimenter unter anderem im Erzstift Magdeburg Winterquartiere. Um sich davor zu schützen, baten betroffene Städte und landsässige Adlige in zahlreichen Bittschreiben um Verschonung. Noch besser war es, wenn man einen prominenten Reichsstand gewinnen konnte, Fürsprache einzulegen. Genau dies tat Johann Georg, Kurfürst von Sachsen, als er Wallenstein am 5. November 1625 darum bat, die im Magdeburgischen gelegenen Güter Ludwigs von der Asseburg d.Ä. zu Wallhausen nicht mit Soldaten zu belegen.

Ein Vorgang, der so üblich war, daß man kein weiteres Wort darüber zu verlieren bräuchte. In dem Fall fällt jedoch auf, daß der Brief eben nicht in der Registratur des kaiserlichen Heeres auftaucht, sondern in der kurbrandenburgischen Überlieferung – und dies auch nicht in Abschrift, sondern in der Ausfertigung, die aus Dresden an Wallenstein geschickt wurde. Die Erklärung für diese kuriose Provenienz findet sich in einer Notiz am oberen Rand des Schreibens. Derzufolge reichte Wallenstein diesen Brief an den Kurfürsten von Brandenburg weiter, damit dieser den „gleichen stylum wie der Churfurst zue Sachßen an Jhme [=Wallenstein] fuhren möchte.“ Der frisch gebackene Feldherr schickte also beispielhafte Schreiben, damit andere Reichsfürsten entsprechende Muster für korrekte Anschreiben an ihn hatten. Der kursächsische Brief an Wallenstein begann mit der Anrede: „Vnser freundlich dienst zuuor, Hochgeborner, insonders lieber Herr vnd Freund“. Und die Adresse lautete: „Dem Hochgebornen, vnserm insonders lieben herrn vnd freund, herrn Albrechten, Regirern des Hauses Wallstein, Herzogen zu Fridland, Röm:Key:Maith: KrigsRath, Cämmerern, Obersten zu Prag, vnd Generaln über dero Armée.“ (GStA PK I. HA GR, Rep. 41 Nr. 735)

Das alles hat Wallenstein gefallen, ja er fand diese Version der Anrede offenbar nachahmenswert. Ob die kurbrandenburgische Kanzlei einer solchen Form der Nachhilfe bedurfte, weil sie womöglich Wallenstein gegenüber bereits eine andere, weniger ehrenvolle Adresse verwendet hatte, wissen wir nicht. Deutlich wird aber daran, wie sehr Wallenstein auch schon zu diesem frühen Zeitpunkt in Fragen der Titulatur unnachgiebig auf die Wahrung des ihm gebührenden Rangs und aller ihm zustehenden Ehrenbezeugungen Wert legte. Sein Stern sollte bekanntermaßen noch weiter aufsteigen und ihn zum Herzog von Mecklenburg und damit zum Reichsfürsten machen – was dann bei einigen Reichsständen erst recht für Unmut sorgte. Der Zank um die korrekte Titulatur sollte also noch größer werden. Nun war die Streitlust in diesem Punkt sicher auch das Gebaren eines Aufsteigers. Doch deutlich wird schon an dieser Episode das unerbittliche Rangsystem der ständischen Gesellschaft, in der man den sozialen Aufstieg eben auch dadurch manifestierte, daß einem die neu zustehende Ehrbezeugung tatsächlich zuteil wurde.

Und was geschah mit den Gütern Ludwigs von der Asseburg? Wir erfahren in diesem Zusammenhang nicht, ob die kursächsische Interzession die Einquartierung dort hat verhindern können. Aber nach dem, was wir über das Gebaren der Wallensteinschen Regimenter auch schon in ihrem ersten Kriegsjahr wissen, dürften die Chancen nur gering gewesen sein, der Belegung mit Soldaten zu entkommen. So viel bewirkte die korrekte Anrede des Herzogs von Friedland dann auch nicht.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/87

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Frühe Fotokunst an der Elisabethkirche

Die Geschichte der Fotografie ist ungeheuer faszinierend. Fotos aus dem 19. Jahrhundert sind für uns heute ein Fenster in die Vergangenheit, das eindrücklicher und berührender kaum sein könnte. Spannend ist insbesondere, dass die meisten der technischen, dokumentarischen und künstlerischen Möglichkeiten, welche der Fotografie innewohnen, bereits früh entdeckt und erprobt wurden.

Der deutsche Albrecht Meydenbauer erkannte in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Potential, welche die Fotografie für die Geodäsie haben könnte. Er erdachte ein Verfahren, wie man mit Hilfe von Fotos, beispielsweise einer Fassade, und mehreren ermittelten Punkten, ein Messbild erstellen kann, ohne ein Gerüst an das Gebäude bauen zu müssen.

Das Verfahren nannte Meydenbauer Fotogrammetrie und wird bis heute in unterschiedlichen Bereichen, von Fernerkundung bis Archäologie eingesetzt. Mehr dazu hier.

Albrecht Meydenbauers Einsatzfeld war aber die Architektur-Fotogrammetrie. Als junger Bauingenieur wurde die Entwicklung zunächst nicht wahrgenommen, aber seine Zeit sollte kommen. Von 1979 bis 1985 war er als Bauinspektor in Marburg tätig und sein wohlwollender Vorgesetzter schlug ihm vor, das Verfahren an der Elisabethkirche auszuprobieren. Der Versuch gelang und Meydenbauer legte eine der ersten vollständigen, den heutigen Maßstäben entsprechenden Messbildauswertungen überhaupt vor. Der Erfolg war durchschlagend und nun konnte er seinen Traum erfüllen. Er gründete die „Messbild-Anstalt für Denkmal-Aufnahmen“ in Berlin, ein Foto-Archiv für die Denkmäler im preußischen Gebiet. Er führte die Messbildanstalt bis 1909. Die Bestände sind heute Bestandteil des Messbildarchivs des Brandenburgischen Denkmalamtes.

Die Auswertung der Fotogrammetrie der Westfassade der Elisabethkirche:

 

Auswertung der Fotogrammetrie der Westfassade Elisabethkirche Marburg an der Lahn von Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: Marburg. Eine illustrierte Stadtgeschichte (Marburg 1985) S. 47

Meydenbauer hatte aber nicht nur einen Sinn für technische und dokumentierende Fotos. Zwei Bilder aus dem Innenraum der Elisabethkirche bezeugen den Sinn fürs Spektakuläre bei ihm. Die Bilder sind durch Öffnungen des Gewölbes der Vierung und der Südkonche gemacht worden und stammen aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Bilder haben meines Erachtens nicht nur einen dokumentarischen, sondern auch einen hohen künstlerischen Wert.

Foto: Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006) 48 / Original befindet sich im Meßbildarchivs des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege

 

Foto: Albrecht Meydenbauer/ Scan aus: R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006) 48 / Original befindet sich im Meßbildarchivs des Brandenburgischen Landesamts für Denkmalpflege

Literatur:

R. Meyer, Albrecht Meydenbauer, Baukunst in historischen Fotografien (Leipzig 1985)1

R. Bentmann/ J.N. Viebrock (Hrsg.) Hessische Baukunst in alten Fotografien. Dokumentaraufnahmen der preußischen Messbildanstalt zu Berlin von Albrecht Meydenbauer. Arbeitshefte des Landesamts für Denkmalpflege Hessen 9 (Stuttgart 2006)

Marburg. Eine illustrierte Stadtgeschichte (Marburg 1985)

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/407

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Interaktive Netztagung | #gld13 | Geschichte Lernen digital | Freitag, 8. März | Samstag, 9. März | im Livestream auf L.I.S.A.

Die Tagung #gld13 | Geschichte Lernen digital steht unmittelbar bevor. Sie können den Livestream zwischen Freitag 12:00 und Samstag 12:00 Uhr auf der Seite L.I.S.A (Gerda-Henkel-Stiftung) verfolgen und sich über twitter beteiligen: #gld13 | @ge_lern_dig. Das Programm mit den Vorträgen und Uhrzeiten können Sie dem Tagungsflyer entnehmen und das aktuelle Geschehen auch auf der twitterwall #gld13 verfolgen.

Die Tagung wird von Prof. Marko Demantowsky (Pädagogische Hochschule Nordwestschweiz) und Dr. Christoph Pallaske (Universität zu Köln) in Kooperation mit der Körber-Stiftung (Hamburg), der Gerda-Henkel-Stiftung (Düsseldorf), der Bayerischen Staatsbibliothek (München) und der kgd (Konferenz für Geschichtsdidaktik) veranstaltet.

Falls Sie in München und Umgebung wohnen: Am Freitag um 20 Uhr findet im Historischen Kolleg ein öffentlicher Vortrag von Thomas Krüger (Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung) statt: Geklicktes Wissen. Was macht uns wirklich klug?

Quelle: http://dgl.hypotheses.org/800

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Der wissenschaftliche Wert mittelalterarchäologischer Dissertationen

Die Bearbeitung einer Dissertation unterliegt den methodischen Gepflogenheiten der jeweiligen Disziplin und diese unterscheiden sich von Fachgebiet zu Fachgebiet, so weit so selbstverständlich. Die archäologischen Disziplinen beschäftigen sich mit den materiellen Hinterlassenschaften der Menschheit unterschiedlicher Epochen. Da sich diese Hinterlassenschaften in ihrem Erhaltungsgrad der Befunde und den dazugehörenden Fundkomplexen von beispielsweise der Altsteinzeit, der Bronzezeit, der Zeit der Antike und dem Mittelalter stark voneinander unterscheiden, unterscheiden sich auch die methodischen Gepflogenheiten innerhalb der Archäologien. 

Anders als in anderen historischen Fächern haben bereits Magister bzw. Masterarbeiten eine gewisse wissenschaftliche Relevanz. Die Examenskandidaten werten meist einen kleineren Fundkomplex oder eine kleinere archäologische Ausgrabung aus, die innerhalb eines Viertel Jahres zu bearbeiten ist. Vermittelt werden solche Themen in der Regel von Denkmalpflegebehörden oder archäologischen Museen. Archäologie-Studenten vornehmlich der Vor- und Frühgeschichte und der Mittelalterarchäologie haben in diesem Stadium der Ausbildung in der Regel bereits einige Zeit auf Ausgrabungen verbracht. Nicht wenige verdienen sich als Grabungshelfer während der Semesterferien einen Teil ihres Lebensunterhaltes. So kennen sie im besten Fall die Umstände, wie eine Ausgrabung durchgeführt wird, wie eine Dokumentation entsteht, wie Funde geborgen werden und wo die Fallstricke liegen. Dieses Wissen ist für eine Auswertung von elementarer Bedeutung und gehört zur Ausbildung dazu.

Mittelalterarchäologische Dissertationen sind methodisch nicht unbedingt gleichartig. Es besteht die Möglichkeit entweder eine große oder mehrere Ausgrabungen und die dazugehörenden Funde auszuwerten z.B. die Untersuchungen im Umfeld der Elisabethkirche in Marburg (also mein Thema) bzw. hochmittelalterliche Besiedlung der Region Irgendwo am Beispiel von Wüstung Hintertupfhausen, oder einen umfangreichen Fundzusammenhang auszuwerten, z.B. die hochmittelalterliche  Keramik in Regierungsbezirk XY bzw. die Beigaben des frühmittelalterlichen Gräberfeldes So-und-so-heim, oder die Bearbeitung einer archäologischen Fragestellung anhand der bereits publizierten Literatur, wobei da meist die veröffentlichten Kataloge durchforstet werden.

Worin liegt jetzt der wissenschaftliche Wert einer mittelalterarchäologischen Dissertation? Wie in jeder Disziplin besteht der Wert in der Beantwortung einer konkreten Fragestellung.

Als Beispiel nehmen wir mein eigenes Dissertations-Thema: Die Arbeit besteht aus mehreren Teilen, eine Befundvorlage, einem Befund-Fund-Katalog, einer Fundvorlage und dem Textband.

Die Befundvorlage besteht aus allen Planums- und Profilzeichnungen dieser archäologischen Untersuchungen. Die Vorlage hat einen dokumentarischen und beweisenden Wert, weil damit die Grundlage meiner Analysen für die Fachöffentlichkeit nachvollziehbar werden.

Befund-Fundkatalog ist eine Auflistung der durchnummerierten Befunde mit der Beschreibung, die während der Ausgrabung angefertigt wurde, den dazugehörenden Funden, den Anmerkungen der Bearbeiterin und weniger untergeordneter Angaben. Befund-Fund-Kataloge haben ebenso einen dokumentarischen Charakter und sind auch Grundlage der Analyse.

Die Fundvorlage ist bereits ein Teil der Analyse. Der größte Fundbestand ist in der Regel die Keramik. Anders als in der Vorgeschichte werden Geschirre im Hohen und Späten Mittelalter nicht mehr im Hauswerk hergestellt, sondern von spezialisierten Kleinbetrieben produziert. Damit können die Scherben in Kategorien eingeteilt werden: in Warenarten und je nach Bruchstück in Randtyp bzw. Bodentyp eingeteilt. Ganze Gefäße werden ebenfalls Typen zugeordnet. Diese Typologisierung und die Kategorisierung ist bereits Teil der Analyse und stellt an sich einen wissenschaftlichen Wert da. Sie ist dann Referenz für andere Keramikfunde in der nächsten Umgebung und kann wiederum Gegenstand einer großräumigeren Analyse sein.

Die Analyse innerhalb des Textbandes besteht aus einer Zusammenfassung des Forschungsstandes: Wo befindet sich die Forschung in diesem Bereich und wo ist die eigene Arbeit darin verortet? In meiner Arbeit folgt darauf ein Überblick zu den Schriftquellen und deren Aussage zum Untersuchungsbereich.

In archäologischen Arbeiten werden die Befunde in ihrem stratigrafischen Zusammenhang und den dazugehörenden Funden beschrieben. Bei den meisten Untersuchungen im städtischen Zusammenhang stammen die Fundamente, Gruben, Pfostenlöcher etc. aus unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhängen, diese werden analysiert und einander zugeordnet. Der Bearbeiter bildet Phasen mit anderen Worten Kartierungen der materiellen Hinterlassenschaften einer jeweiligen Nutzungsperiode. Daraus können dann Erkenntnisse zu Aussehen und Funktion eines Ortes gewonnen werden.

Diese müssen dann wiederum in den historischen Zusammenhang gebracht werden, das passiert in der Archäologie in der Regel durch die Heranziehung von Parallelen. Dieses Parallelen stammen aus anderen archäologischen Befundzusammenhängen, aus Bild- und Schriftquellen oder sie sind noch obertägig erhalten. Zu guter Letzt werden die Ergebnisse zusammengefasst, bewertet, die zu Beginn gestellte Fragestellung beantwortet.

Wir sehen, der geringste wissenschaftliche Wert, den eine mittelalterarchäologische Arbeit haben kann, ist der, als Referenz zu dienen. Die Mittelalterarchäologie erhebt den Anspruch, eine geschichtsschreibende Wissenschaft zu sein. Ausgegrabene Befunde und Funde stellen Quellen dar, die methodisch richtig analysiert, in einem zweiten Schritt in Beziehung zu der schriftlichen Überlieferung, zu obertägig erhaltenem Baubestand, der geografischen Lage usw. gesetzt werden. Die Ergebnisse werden in den historischen Kontext eingeordnet und bekommen damit einen Platz in der Geschichte. Aber damit hört es nicht auf. Es können, je nach Untersuchungsbereich, Aussagen zu so gut wie allen Bereichen menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Wirklichkeit getroffen werden. Materielle Kultur ist ein Abbild der Menschheit und spiegelt gesellschaftlichen Rang, politische Beziehungen, religiöse Werte, menschlichen Alltag in allen Facetten, die wirtschaftlichen Verhältnisse und deren Wechselwirkung zu Mensch, Tier und Umwelt, die Grausamkeiten eines Krieges, die Lust am Luxus und noch viel mehr wider.

Mittelalterarchäologie schreibt die Geschichte und mittelalterarchäologische Dissertationen leisten ihren Teil dazu bei.

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/403

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Rezension: Digitalisierung und Internet (Jahrbuch für Kulturpolitik 2011)

Rezension in: Archivar, Heft 2, 2013 S. 81 (http://www.archive.nrw.de/archivar)  

JAHRBUCH FÜR KULTURPOLITIK 2011 (http://www.kupoge.de/publikationen/aktion_jahrbuch2011.htm)

Band 11. Thema: Digitalisierung und Internet. Hrsg. für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. von Bernd Wagner. Klartext Verlag, Essen 2011. 498 S., Abb., geb. 19,90€. ISBN 978-3-8375-0615-0

Die digitale Revolution der letzten Jahre hat zu einem erheblichen Umbruch in fast allen Lebensbereichen geführt. Das Internet ist der deutlichste Ausdruck dieses Veränderungsprozesses. Die neuen digitalen Techniken stellen auch die Kultureinrichtungen (samt Kulturpolitik/er) vor grundlegend neue Herausforderungen. Der hier zu besprechende voluminöse Sammelband zum Thema „Digitalisierung und Internet“ dürfte insofern auch für Archivarinnen und Archivare eine durchaus anregende Lektüre bilden, auch und gerade weil die zumeist kurzen Einzelbeiträge über die archivische Fachdiskussion des Themas deutlich hinausgehen. Dabei kommen (neben eher „politischen“ Statements) vor allem Kunst und Kulturvermittlung/Kulturmarketing zu Wort, genauso aber auch Vertreter von Museen oder z.B. Theatern und der „Bildung 2.0“. Auf Bereiche wie Crowdfunding und digitale Spielkulturen sowie die Diskussion urheberrechtlicher Fragen im Rahmen des Bandes sei ergänzend hingewiesen: Während die Relevanz der archivischen Beschäftigung mit dem Urheberrecht außer Frage steht und jeder auf Drittmittel angewiesene Kollege zumindest vom Crowdfunding ansatzweise gehört haben sollte, sei hinsichtlich des „Gamings“ darauf verwiesen, dass die digitale Spielkultur zur heutigen Lebenswirklichkeit zählt. „Storytelling“ und „Gaming“ können und sollten auch von Interesse sein für Bibliotheken und Archive – etwa unter der Fragestellung, wie komplexe kulturelle Inhalte einer breiten Bevölkerungsschicht zu vermitteln sind (z.B. Beitrag von Andreas Lange, „Homo Ludens Digitalis. Die Bedeutung von Computerspielen in unserer Mediengesellschaft“).

Fest steht jedenfalls: Die Positionierung der Archive im Internet stellt neben der Langzeitarchivierung elektronischer Daten die zentrale Herausforderung für die Zukunft dar. Wir befinden uns mit unseren Einrichtungen in einem Transformationsprozess, dessen Ergebnis noch offen ist. Aufgaben und Funktionsweisen der Archive des 21. Jahrhunderts werden mit jenen, wie sie uns bisher vertraut gewesen sind, nur mehr wenig zu tun haben.

Den Kern des vorliegenden Jahrbuches bilden die Beiträge des 6. Kulturpolitischen Bundeskongresses „netz.macht.kultur. – Kulturpolitik in der digitalen Gesellschaft“, den die Kulturpolitische Gesellschaft und die Bundeszentrale für Politische Bildung am 9./10. Juni 2011 in Berlin durchgeführt haben.

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, alle knapp 50 Texte paraphrasieren zu wollen. Es seien daher nur einige wenige Beiträge herausgehoben, die „Appetit“ auf den Gesamtband machen dürften. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, fordert im Sinne des kollaborativen Web 2.0 eine erhebliche Öffnung kultureller Einrichtungen, ja nachgerade „kollaborierende Behörde(n)“: „Reflektierter Kontrollverlust ist das Gebot der Stunde: Wir müssen von der Information zur Interaktion kommen, uns vom Solitär zum Netzwerk entwickeln, aus Kunden sollen Mitwirkende werden“ („Öffentliche Kultur in der digitalen Gesellschaft“). Die digitale Vermittlung des kulturellen Erbes in Museen steht unter anderem bei Regina Franken-Wendelstorf („Digitale Medien im Museum“) sowie im Beitrag von Sibylle Lichtensteiger („Das Stapferhaus und seine digitale Kulturvermittlung“) im Zentrum, während Christian Gries das Museumsportal München vorstellt – das übrigens auch als für mobile Endgeräte optimierte Webseite verfügbar ist. Wie ein Gegenentwurf zu einigen teils überzogen wirkenden kulturpessimistischen Äußerungen des Bandes liest sich der Beitrag des Berliner Social media-Beraters Christoph Deeg („Slow Media – oder warum wir keine Manifeste sondern digital-aktive Kulturinstitutionen brauchen“), der bei allem Netz-„Trash“ die positive Seite der digitalen Welt unterstreicht bzw. die Notwendigkeit für Kulturinstitutionen, sich im Netz zu präsentieren und zu bewegen. Dass mittels einer „einfachen“ Internetseite das Netzpublikum nur teilweise „abgeholt“ werden kann – dies ist mittlerweile fast schon eine Binsenweisheit. Daniela Bamberger zeigt sehr schön für das Städel Museum, wie über eine Analyse und Zielgruppendefinition der Bekanntheitsgrad einer Einrichtung erhöht und neues Publikum erreicht werden kann: Die „Sozialen Medien“ (und beileibe nicht nur Facebook) sind der Schlüssel dazu. Crowdfunding als eventueller „Ersatz“ für schwindende öffentliche Gelder: dies wird von Christian Henner-Fehr und anderen Autoren beschrieben.

An die Beiträge des Bandes schließt sich eine Materialsammlung zur Thematik an. Diese umfasst ein durchaus nützliches Glossar des „digitalen“ Sprachgebrauchs; ebenfalls beigefügt sind eine Auswahlbibliografie „Digitalisierung und Kultur“ sowie eine knappe Linksammlung. Der Band schließt mit einer Chronik kulturpolitisch-kultureller Ereignisse des Jahres 2010 und einer Bibliografie kulturpolitischer Neuerscheinungen (2010).

 

Joachim Kemper, Speyer

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/562

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Schlachtfeldarchäologie des Dreißigjährigen Kriegs

Die Schlachtfeldarchäologie ist eine sehr junge Disziplin, und der Begriff ist sicher gut geeignet, bestenfalls vage Vorstellungen, wenn nicht Irritationen auszulösen. Ohnehin assoziiert man die Archäologie eher mit antiken Themen, sieht eine große Nähe zur Vor- und Frühgeschichte und vielleicht noch zum Mittelalter. In der neuzeitlichen Geschichte erkennt man auf den ersten Blick kaum einen Arbeitsplatz für Archäologen, und wenn es um Schlachtfelder geht, ist die Befangenheit erst recht groß. Militärgeschichte war lange Zeit und aus verständlichen Gründen vernachlässigt worden, doch seit gut zwanzig Jahren sind militärhistorische Themen, zumal unter kulturalistischer Perspektive, verstärkt in den Fokus historischer Forschung getreten. In diesem Zusammenhang wird man auch die Schlachtfeldarchäologie ansiedeln können, die seit einiger Zeit mit durchaus aufsehenerregenden Projekten auf sich aufmerksam macht – zuerst denkt man natürlich an Kalkriese als den Ort, an dem mit großer Wahrscheinlichkeit die Legionen des Varus untergegangen sind. Doch hier geht es um Schlachten im Dreißigjährigen Krieg.

Aktuell ist derzeit die Schlacht von Wittstock im Jahr 1636. Zum 375. Jubiläum im Jahr 2011 gab es eine große Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum in Brandenburg; seit dem Herbst 2012 ist sie in München und dort in der Archäologischen Staatssammlung aufgrund des großen Zuspruchs bis zum 14. April 2013 zu sehen. Um was geht es hierbei eigentlich? Gefunden wurde ein Massengrab mit 125 Soldaten, die in dieser Schlacht gefallen waren, und in seinem Umkreis wurden auf dem Schlachtfeld weitere Funde gemacht – natürlich gibt es hier nicht die Schätze zu bestaunen, die aus ägyptischen und mesopotamischen Gräbern ans Tageslicht kommen. Vielmehr sind es neben Waffen und Rüstungsteilen vor allem Alltagsgegenstände, die das Leben im Militär des 17. Jahrhunderts veranschaulichen, vor allem die Lebensumstände der einfachen Söldner.

Es geht bei der Schlachtfeldarchäologie aber nicht nur um das Leben, sondern auch das Sterben der Soldaten. Anhand der Toten und ihrer Verletzungen lassen sich Vorgänge im Kampf rekonstruieren, die ein deutlicheres und eindringlicheres Bild des Schlachtgeschehens vermitteln, als es gemeinhin aus zeitgenössischen Berichten und Kupferstichen gewonnen werden kann. Spätestens hier wird deutlich, daß es sich um Arbeiten handelt, die ein „normaler“ Historiker nicht bewältigen kann – viele andere Fachdisziplinen, wie es in der Archäologie üblich ist, tragen dazu bei, die Funde zum Sprechen zu bringen. Wer es in die Ausstellung nicht schafft (sie kommt nach München noch nach Dresden in das Militärhistorische Museum der Bundeswehr), kann sich aber auch einen Eindruck in dem Katalog verschaffen, der mir außerordentlich gut gefallen hat.

Wittstock ist beileibe nicht der erste und einzige Ort, an dem Kämpfe aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs archäologisch untersucht wurden. Vor zehn Jahren wurden im Umkreis des Projekts „Der Winterkönig“ auch Ergebnisse von Ausgrabungen in und bei Heidelberg gezeigt, das 1622 von Tilly belagert und eingenommen worden war. Gegraben wird derzeit auf dem Schlachtfeld von Lützen; auch hier werden demnächst entsprechende Funde präsentiert werden können. (Aufschlußreich sind auch die Interviews mit Mitgliedern der Lützener Projektgruppe zum Arbeitsgebiet derSchlachtfeldarchäologie allgemein.)

Es ist nur zu begrüßen, daß die Schlachtfeldarchäologie einen gewissen Aufwind erfährt. Über derartige Projekte lassen sich tatsächlich neue Erkenntnisse gewinnen und bislang gewonnene Befunde bestätigen oder korrigieren, die bislang nur archivalisch faßbar waren. Vor allem aber handelt es sich um eine Disziplin, der anders als manchen Reenactment-Veranstaltungen sicher nichts Folkloristisches anhaftet. Gleichwohl bieten sich hier Möglichkeiten, Geschichte an eine interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln – gegenständlich, anschaulich, vielleicht auch ein bißchen gruselig, aber in jedem Fall wissenschaftlich.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/120

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Der mittelalterliche Bibliothekskatalog als Quelle

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Nachdem an dieser Stelle bereits auf die von mir genutzten Hilfsmittel im Bereich der mittelalterlichen Bibliothekskataloge hingewiesen wurde, möchte ich mich heute mit der ein wenig mit der Quelle selbst beschäftigen: Welche Fragen lassen sich mit ihrer Hilfe beantworten, welche spezifischen Gefahren muss man umschiffen und mit welchen Ergebnissen kann man rechnen? Abschließende Antworten auf diese Fragen habe ich (noch) nicht, dieser Artikel dreht sich daher eher um die Probleme, die ich bislang ausgemacht habe. Wie immer giere ich nach Kritik und Hinweisen.  

Es geht heute also um mittelalterliche Bibliothekskataloge aus dem deutschsprachigen Raum vor 1300. Diese Einschränkung ist sicherlich wichtig. Gerade  im späten Mittelalter setzen sich einige Entwicklungen in Gang, die, würde man sie weiterverfolgen, langsam aber sicher auf den modernen Bibliothekskatalog zusteuern, wie wir ihn heute kennen. Dieser Prozess führt langsam aber sicher zu Katalogen, die zunehmend

  • systematischer
  • standardisierter
  • umfassender im Sinne der Bestandserfassung
  • umfassender im Sinne der Beschreibung
  • besser zu durchsuchen

sind und in der Regel von professionellen Institutionen verwaltet werden. Im (frühen und hohen) Mittelalter, also vor diesen Entwicklungen, haben wir es aber mit Katalogen zu tun, die ganz anderen Bedürfnissen und einer ganz anderen Buch- und Bibliothekskultur verpflichtet waren. Einen tollen Einblick in diese Kultur bietet  dieses Video von Richard Gameson von der Universität Durham auf youtube. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, dass man mittelalterlichen Katalogen mit einem gewissen Sinn für ihre Andersartigkeit begegnen muss.

Um diese Andersartigkeit etwas näher zu bringen, möchte ich kurz (okay, das ist wohl gelogen) den hochmittelalterlichen Bibliothekskatalog des Prämonstratenserstifts Arnstein an der Lahn vorstellen. Zur Geschichte des Stifts, der Bibliothek und den überlieferten Handschriften hat Bruno Krings eine sehr umfangreiche Studie vorgelegt, die unten aufgeführten Literatur zu entnehmen ist.

Wie in allen mittelalterlichen Klöstern gab es in Arnstein im Prinzip drei getrennte Buchbestände, für die unterschiedliche Personen zuständig waren. Daher wurden auch meistens getrennte Listen geführt. Es gab die

  • liturgischen Bücher in der Sakristei unter dem Cantor,
  • die Schulbücher in der schule unter dem Schulmeister,
  • die Bücher für die lectio der Mönche in der eigentlichen Bibliothek unter dem Bibliothekar

Der Arnsteiner Katalog deckt lediglich die beiden letzten Bereiche ab, also die Gesamtbibliothek sowie den Schulbuchbestand. Drei Listen sind es, die zwischen 1200 und 1220 in eine Handschrift eingetragen wurden. Leider wurde gerade dieser Abschnitt nicht durch die British Library digitalisiert, da (anscheinend) langweilig (Was die Digitalisierung der BL betrifft, da kann man manchmal eh nur noch den Kopf schütteln). Zum Glück liegt eine ganz gute Edition durch Gottlieb vor, in die man jetzt zwei Minuten reinschauen könnte (nicht schummeln, auch in die Einleitung!).

Zunächst ein paar Gedanken zum großen Gesamtkatalog der Bibliothek: Der Katalog wurde durch Gottlieb zwar als Liste ediert, seiner Einleitung kann man aber entnehmen, dass dies nicht dem tatsächlichen Layout entspricht. Eigentlich ist der Katalog durch sechs Arkaden gegliedert, die einer bestimmten, typisch mittelalterlichen Systematik folgen. Nicht nach Sachgruppen, dem Alphabet, der Größe oder sonstigen Kriterien, sondern hierarchisch in die biblischen Schriften und besonders wichtiger Autoren oder vielleicht besser Autoritäten.

In der jeweiligen Arkade werden dann die vorlegenden Werke dieses Autors genannt – zumindest in der Theorie. Tatsächlich konnte dieses Prinzip in Arnstein nicht mal im Ansatz durchgezogen werden, da es schlicht nicht dem realen Bestand der Bibliothek entsprach. In die freien Räume wurden recht wahllos andere Titel eingetragen. Einen Rückschluss auf die tatsächliche Anordnung der Bibliothek lässt dieser Katalog oder vielleicht besser: dieses Inventar also nicht zu.

Dem modernen Betrachter mag außerdem seltsam erscheinen, dass der Katalog trotz einer Reihe von Korrekturen und Nachträgen nicht systematisch fortgeführt und aktualisiert worden ist. Spätestens ab Mitte des Jahrhunderts verzeichnete man keine Neuzugänge mehr. Der Katalog bleibt, wie andere zeitgenössische Kataloge auch, eine Momentaufnahme. Für eine vergleichende Untersuchung stellt das ein großes Problem dar: Die Wissensbestände eines Kataloges von 1120, der die Neuzugänge einer Bibliothek nicht kontinuierlich verzeichnet, kann man nicht wirklich mit den Beständen eines Kataloges von 1180 vergleichen. Einen Lösungsansatz für dieses Problem suche ich noch.

Zu den Schulbuchlisten: Für mich sind natürlich besonders die Schulbücher des Stifts interessant und hier scheint der Arnsteiner Katalog auf den ersten Blick mit zwei vollständigen Listen durchaus ergiebig zu sein. Aber auch hier ist aber Vorsicht geboten und der Teufel steckt im Detail! Aus den Überschriften der Listen geht nämlich hervor, dass diese eben kein Gesamtkatalog der Schule darstellen. Stattdessen stellen diese Listen eine Art Schenkungsnotiz dar. Hier wurden „lediglich“ Büchern verzeichnet, die durch die Gelehrten Richolf und Eberhard bei ihrem Eintritt in das Stift mitgebracht worden sind. Die Listen geben streng genommen also gerade nicht Auskunft über die monastische Bildungskultur im frühen 13. Jahrhundert, sondern lediglich über das spezifische Bildungsinteresse zweier Gelehrter dieser Zeit.

Zusammenfassend lässt sich also sagen:

  • Kataloge bilden nicht zwangsläufig die reale Bibliotheksordnung ab
  • Kataloge bilden fast nie den gesamten Buchbestand ab
  • Kataloge stellen häufig nur eine Momentaufnahme dieses Bestandes dar

So viel zur allgemeinen Aussagekraft hochmittelalterlicher Kataloge. Auch auf der Ebene der einzelnen Einträge lauern einige Schwierigkeiten. Weder gab es im hohen Mittelalter einheitliche Standards zwischen den verschiedenen Katalogen, auch innerhalb einer einzigen Liste wurde das gewählte System nicht immer einheitlich angewandt. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen:

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Die Gliederung der einzelnen Einträge erfolgt hier vor allem über die Interpunktion und die et-Ligatur. Nach „hic est liber qui dicitur obstrusa grammatica“ wird der Eintrag mit einem Punkt geschlossen und ein neues Werk durch die et-Ligatur eingeleitet. Gleich ein paar Einträge später sieht das ganz anders aus: der Eintrag „Epistola alexandri. Ad aristotilem. De monstris indie“ bezieht sich mit Sicherheit auf einen zusammengehörenden Titel. Dieser verwirrende Gebrauch der Gliederungszeichen erschwert zuweilen die Identifikation einzelner Titel, wie im folgenden Fall: „liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Zwei Lesarten sind hier zumindest theoretisch möglich: Man kann, wie das etwa Bruno Krings getan hat, den Punkt ignorieren oder als Doppelpunkt verstehen und im et die entscheidende Zäsur sehen. Dann hätte man drei Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo
  2. liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne)
  3. dicta antiquorum philosophorum

Wird allerdings die Trennfunktion des Punktes betont, dann kommt man auf zwei ganz andere Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore.
  2. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Meiner Ansicht nach wurde hier zum einen das Didascalicon von Hugo von St. Victor, zum anderen das Moralium dogma philosophorum eines ungeklärten Autors verzeichnet. Allein durch die Katalogsystematik lässt sich diese Frage nicht lösen.

Ein weiteres Problem liegt in der häufig ungenauen Beschreibung eines Titels. Mal nennt der Katalog lediglich den Autor, mal den Titel, mal wird nur ein incipit gegeben oder sogar lediglich der Inhalt grob beschrieben (z.B.: “libri de phisica“). Eine genaue Identifikation der Wissensbestände ist daher häufig nicht möglich.

Das liegt nicht an der Blödheit der Zeitgenossen, sondern an den Besonderheiten einer handschriftenbasierten Textkultur. Viele Texte nannten ihre Autoren oder ihren Titel schlicht nicht oder waren nur in Ausschnitten vorhanden. In solchen Fällen blieb dem Bibliothekar nichts anderes übrig, als etwa von “libri de phisica” zu sprechen oder einen Titel als “valde utilem ad docendum” zu bezeichnen. Vermutlich war das für den Bibliotheksalltag auch völlig ausreichend.

Aber selbst wenn sich ein Eintrag genau identifizieren lässt, bleibt eine Restunsicherheit erhalten, wie man am Eintrag „Liber isidori ethimologiarum“ feststellen kann. Gottlieb hat ihn zu recht als den Verweis auf eine Handschrift der British Library identifiziert (Die Handschrift aus einer Frauengemeinschaft ist übrigens an sich sehr sehr spannend, vor allem ihre Glossen! Diesmal ist auch an der Digitalisierung nichts auszusetzen). Sie enthält aber nicht, wie der Katalog suggeriert, lediglich Isidors Etymologien, sondern  auch weitere texte, wie sein Werk De natura rerum, das gerade für meine Fragestellung aufschlussreich ist. Mittelalterliche Kataloge benennen in der Regel nicht alle Texte einer Bibliothek, sondern die konkreten Handschriften. Diese können durchaus mehrere Texte enthalten, die nicht alle im Katalog genannt sein müssen.

Nach diesen Überlegungen muss man doch etwas ernüchtert feststellen: Mittelalterliche Kataloge geben nur bedingt verlässliche Auskunft über Art und Umfang eines mittelalterlichen Buchbestandes und auch die Vergleichbarkeit ist nicht ohne Weiteres gegeben. Lohnt sich ihre Untersuchung dann überhaupt? Aber sicher, denn „[t]rotz ihrer Inventar- und Verwaltungsfunktion, trotz der Tatsache, daß nicht alle mittelalterlichen Bibliotheken ausreichend viele Bücher und entsprechende Kataloge besaßen, trotz ihrer nicht immer befriedigenden Überlieferung, Erfassung und Veröffentlichung sind diese Bücherverzeichnisse eine sehr aussagefähige und daher nicht hoch genug einzuschätzende Quellengattung für das kulturelle Leben vom Beginn des 9. Bis zum beginn des 16. Jahrhunderts.“ (Milde 1995, S. 478).

Die Kataloge können unser Wissen um die Bestände ganz wesentlich ergänzen. Gerade in Arnstein, wo sich keine einzige Schulhandschrift erhalten hat, stellen die Listen den einzigen Nachweis dar, den wir über die Schule haben. Wir wissen nun zum Beispiel, dass es in Arnstein um 1220 eine Kopie der Quaestiones naturales gab oder dass der Stiftsbruder Eberhard ein gesteigertes Interesse am Quadrivium besaß und dieses Wissen vermutlich aus Frankreich ins Stift gebracht hat – ein spanender Beweis des Austausches zwischen Kloster und den hohen Schulen. Sicherlich muss man sich davor hüten, die Kataloge als Quelle nicht über Gebühr zu belasten. Gerade im Verbund mit überlieferten Handschriften besitzen sie aber doch eine wertvolle Aussagekraft und bleiben, bei aller gebotenen Vorsicht, eine Schlüsselquelle für die Geistes- und Kulturgeschichte des Hohen Mittelalters.

Verwendete Literatur:

  • Krings, Bruno: Das Prämonstratenserstift Arnstein a. d. Lahn im Mittelalter (1139-1527). Wiesbaden 1990.
  • Milde, Wolfgang: Mittelalterliche Bibliothekskataloge als Quellen der Bildungsgeschichte: das Beispiel Hamersleben im 12./13. Jahrhundert. In: Luckhardt, Jochen/Niehoff, Franz/Biegel, Gerd (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. München 1995, TB. 2, S. 478-483.
  • Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890.

Bild im Titel: Der heilige Hieronymus im Gehäuse von Antonella da Messina (um 1450). (The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.)

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/76

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