Oh, Mist pic.twitter.com/lIPhmXM86W
— Peter Glaser (@peterglaser) 9. November 2014
Suchmaschinen, humanoid. Archivists, France, 1937. pic.twitter.
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Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick
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Am 01.12.2014 ist der Einsendeschluss für den DARIAH-DE DH-Award. Ausgeschrieben werden Preise im Gesamtwert von 1.800 Euro. Die offizielle Preisverleihung ist für den Digital Humanities Summit vom 03. bis 04. März 2015 in Berlin geplant.
Im Rahmen des Awards werden innovative Beiträge und Forschungsvorhaben von Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen der Geistes- und Kulturwissenschaften, der Informatik und den Informationswissenschaften, die mit digitalen Ressourcen und/oder digitalen Methoden arbeiten, ausgezeichnet.
Hierunter fallen z.B. wissenschaftlichen Einzel- oder Gruppen (Abschluss-) projekte, Softwareprojekte, Tools, Studien oder (Infrastruktur-)Konzepte.
Einzureichen sind: Online-Bewerbung z.Hd. Frau Dr. Heike Neuroth unter dh-award at de.dariah.eu mit
und
Wir freuen uns über spannende Wettbewerbsbeiträge. Alle weiteren Informationen finden Sie unter https://de.dariah.eu/dh-award-programm.Bei Fragen wenden Sie sich gerne an: dh-award(at)de.dariah.eu
Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4290
Unter dem Titel „Die DNA der Geschichte“ hat der Heidelberger Historiker Jörg Feuchter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 2014 einen Appell zur epistemologischen Reflexion historischer Genforschung seitens der Mediävistik lanciert.[1] Obgleich ich mich diesem Aufruf grundsätzlich anschließen möchte, will ich diese Zustimmung mit deutlich kritischeren Akzenten gerade in Richtung meiner eigenen Disziplin versehen.
„Wo waren die Mikroben vor Pasteur?”, so fragte 1999 der französische Soziologe Bruno Latour, um sogleich in apodiktischer Schärfe selbst zu antworten: „Sie existierten nicht, bevor er daherkam“.[2] Auf den ersten Blick provokant, folgt dieses Postulat letztlich einer ebenso simplen wie stringenten Forschungslogik: Für Latour und seine ANT gelten nur jene Entitäten als (historische) Akteure, die im Handeln anderer „einen Unterschied“ machen. Gewiss, Milch wurde bereits im Mittelalter sauer. Die Mikroorganismen der Milchsäuregärung aber stiegen erst zu historischen Mächten auf, nachdem sie im Mikroskop Pasteurs Gestalt angenommen hatten. Seit diesem Moment setzten sie sich in den Köpfen der Menschen fest, wurden zu begehrten Ansprech- und Verhandlungspartnern, avancierten schließlich zu Auslösern einer Hygienebewegung und Initiatoren einer Biopolitik, wie es sie allein auf der Grundlage ‚mittelalterlich’ saurer Milch kaum je gegeben hätte.
‚Wo waren die Gene vor Mendel und Avery?’, so möchte ich im Fahrwasser dieser Überlegungen fragen und meine Antwort gleicht notgedrungen jener Latours: ‚Sie existierten nicht!’ Gewiss registrierte man Unterschiede in Geschlecht, Hautfarbe und Körperbau, ignorierten die Menschen des Mittelalters keineswegs die phänotypische Fremdheit ihres Gegenübers. Auch Migrationsströme, Erbfolgen und selbst Krankheitsdispositionen entgingen ihnen nicht, die DNA blieb gleichwohl hartnäckig außerhalb ihres Denk- und Handlungshorizonts. Die ‚Gene’ – zumal jene „95 Prozent (…), die nicht kodiert sind“ – müssen dem Mediävisten daher als anachronistischer Fremdkörper ‚seiner’ Geschichtsforschung gelten. Insofern die Kategorie der ‚Kultur’ als konventionelles Produkt menschlicher Diskurse und Sinnstiftungen betrachtet wird, führt von der DNA aus kein Weg zum „Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, der „kulturelle[n] Entwicklung der letzten zwei- bis dreitausend Jahre.“ Ebensowenig sind Nukleotidsequenzen „stets unmittelbar mit Fragen der Identität verknüpft“, sofern diese nicht als faktisch stabile ‚Rassezugehörigkeit’, sondern als soziales Interaktionsprodukt betrachtet wird.
Hat die ‚genetic history’ ihren Geltungsanspruch innerhalb der Geschichtswissenschaft damit gänzlich verwirkt? Wohl kaum! Im Sinne des von Peter von Moos begrüßten ‚heuristischen Anachronismus’[3] hat sie längst eine Diskursarena etabliert, die unserer Disziplin umfangreiche neue Fragestellungen zuführt. So anachronistisch der Faktor DNA erscheinen mag, so wenig darf er ferner als ahistorisch qualifiziert werden. Die Entwicklung menschlichen Erbgutes ist integraler Bestandteil des historischen Prozesses und als solcher allemal der Erforschung wert. Allerdings liefert die Molekularbiologie kaum verlässliche Fakten. Sie produziert zunächst einmal nichts als Rohdaten, die einer sorgfältigen Deutung und Einordnung in historische Narrative bedürfen. Zu Recht mahnt Jörg Feuchter eine „epistemologische Reflexion“ über den Gebrauch dieses Datenmaterials an.
Naturwissenschaftliche Versuche beruhen ebenso wie das Gedankenexperiment des Geisteswissenschaftlers auf Prämissen und Schlussfolgerungen, die methodisch hinterfragt und ggf. revidiert werden können. Insofern verwundert es, wenn Feuchter die „erstaunlichen Resultate“ der Studie von Michael E. Weale et al.[4] hervorhebt, in der nichts weniger behauptet werde, als „dass die angelsächsische Immigration nach England im 5. bis 7. Jahrhundert mit einem fast kompletten Austausch der männlichen Bevölkerung auf der Insel“ verbunden gewesen sei. Ein Triumph der Genforschung über die Geschichtswissenschaft? Nur knapp sei darauf verwiesen, in welchem Maße sich der Diskussionsstand seit Annahme des Papers im Januar 2002 verschoben hat[5]: Ein Oxforder Forscherteam reklamierte bereits im Folgejahr einen Teil des vermeintlich ‚angelsächsischen’ Erbgutes als Relikt der dänischen Invasionsbewegung des 10. Jahrhunderts[6], während rezente Rechenmodelle den angelsächsischen Einwandereranteil auf eine Quote von 10-20% absenken. Jenseits des reinen Zahlenspiels stellt sich die Frage, ob durch die Fokussierung auf genetische Merkmale nicht die unter Archäologien verpönte Formel ‘Topf gleich Volk’ durch das neue Mantra ‘Gen gleich Volk’ ersetzt wird. Gerade Migration lässt sich nicht auf Reinraumbedingungen reduzieren oder unter die ceteris-paribus-Klausel stellen. Moderne Waliser sind keine ‚Britonen’, heutige Friesen keine Angelsachsen, der genetische Austausch zwischen Kontinent und Insel nicht auf ein singuläres Ereignis zurückzuführen. Mithin müssen sich alle Bemühungen, aus den genetischen Daten Rückschlüsse auf die Sozialstruktur der Inselbevölkerung zu ziehen, gar einen Genozid oder ein System der ‚racial apartheid’[7] zu postulieren, der Vetomacht schriftlicher und archäologischer Quellen stellen.
Vor dem Hintergrund einer fluiden Deutungsmatrix erstaunt der Anspruch des neuen MPI-Direktors Russell Gray, mit naturwissenschaftlicher Präzision nunmehr die „Mechanismen der Staats- und Religionsbildung“ rekonstruieren zu wollen. Gray erklärt die Regelhaftigkeit der Geschichte zu einer allein „empirischen Frage“, zweifellos lösbar auf ausreichender Datenbasis: „There are no wonders“[8]. Der Versuch, den Gang der Geschichte einem überzeitlich gültigen Schematismus aus Zyklen, Stadien und Entwicklungsintervallen zu unterwerfen, ist keineswegs neu, mit der Marx’schen Geschichtsmechanik sei nur sein prominentester Vertreter benannt. Prophetisches Prognosepotential besitzt sie ebensowenig wie ihre aktuellen – in diesem Punkt wesentlich bescheideneren – sozialwissenschaftlichen Pendants. Dies spricht keineswegs generell gegen eine Komplexitätsreduktion durch Modellbildung, warnt freilich vor übertriebenen Erwartungen: Von der historischen Genetik aus den Götzen objektiver Geschichtsgesetze erneut herauf zu beschwören, hieße mithin, sich von der Kontingenz und Multiperspektivität der Geschichte zu verabschieden.
Die von Jörg Feuchter vermerkte Reaffirmierung „für obsolet gehaltener Forschungsstände“ erweist sich nicht nur an diesem Punkt als riskantes Unternehmen.[9] Mit Blick auf die Trias von ‚race, class and gender’ lassen sich derzeit besorgniserregende Tendenzen beobachten, alle drei Kategorien aus dem Status kultureller Konstruiertheit (abermals) auf die Ebene objektiver historischer Wirkfaktoren zu überführen. Nein, an diesem Punkt soll den Biowissenschaften keinesfalls ein Rückfall in ein Denken rassisch-genetischer ‚Kulturträgerschaft’ unterstellt werden. Der Fehler liegt zumeist auf Seiten jener Historiker, die den methodischen Grundlagen des eigenen Faches nicht mehr vertrauen und unüberlegt der vermeintlichen Faktizität naturwissenschaftlicher Evidenzen huldigen. Wenn Feuchter – womöglich zutreffend – konstatiert, dass „DNA im heutigen Bewusstsein mehr und mehr als primärer Identitätsträger“ Anerkennung findet, so sollte dieser Befund zu einem kollektiven Aufschrei aller historischen Kulturwissenschaften führen. Der vom Verfasser des FAZ-Beitrages angemahnte „kritische Dialog“ muss mit dem Selbstbewusstsein einer empirisch arbeitenden und methodisch fundierten Fachdisziplin gesucht werden. Nicht nur gegenüber den „historisch arbeitenden Genetikern“, sondern vor allem innerhalb der Historikerzunft selbst. Die genetische Herausforderung betrifft in erster Linie das Selbstverständnis unseres eigenen Faches.
[1] Jörg Feuchter, Die DNA der Geschichte, in: FAZ Nr. 257, Mi. 5. Nov. 2014, S. N4. Dem Artikel entnommene und mit „“ gekennzeichnete Zitate sind nicht mehr separat ausgewiesen.
[2] Bruno Latour, Wo waren die Mikroben vor Pasteur?, in: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 175.
[3] Peter von Moos, Einleitung. Persönliche Identität und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung, in: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, hrsg. von Dems. (Norm und Struktur 23), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 1–42, S. 2.
[4] Michael E. Weale/Deborah A. Weiss/Rolf F. Jager/Neil Bradman/Mark G. Thomas: Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration, in: Molecular Biology and Evolution 19,7 (2002), S. 1008-1021.
[5] Siehe dazu Erik Grigg: Genetics and the Anglo-Saxon Invasion, unter: https://www.academia.edu/2607635/Genetics_and_the_Anglo-Saxon_Invasion; Heinrich Härke: Die Entstehung der Angelsachsen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 77), Berlin/Boston 2012, S. 429-458; Robert Hedges: Anglo-Saxon Migration and the molecular evidence. In: Helena Hamerow/D David A. Hinton/Sally Crawford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Anglo-Saxon Archaeology, Oxford 2011, 79-90.
[6] Cristian Capelli/Nicola Redhead/Julia K. Abernethy/Fiona Gratrix/James F. Wilson/Torolf Moen/Tor Hervig/Martin Richards/Michael P.H. Stumpf/Peter A. Underhill/Paul Bradshaw/Alom Shaha/Mark G. Thomas/Neal Bradman/David B. Goldstein: A Y chromosome census of the British Isles, in: Current Biology 13 (2003), S. 979-984.
[7] Mark G.Thomas/Michael P.M. Stumpf/Heinrich Härke: Evidence for an apartheid-like social structure in early Anglo-Saxon England, in: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 273/1601 (2006), S. 2651-2657.
[8] Virginia Morell: Feature: ‘No miracles’, in: Science 345/6203 (2014), S. 1443-1445, unter; http://www.sciencemag.org/content/345/6203/1443.full.pdf
[9] Zu Recht verweist der Autor hier warnend auf den markanten Fall des Biologen Pierre Zalloua, der die Religionsgemeinschaften des Libanon auf ideologische Weise ethisch interpretiert. Dahinter ist jedoch ein Grundsatzproblem zu erkennen: Genetische Bevölkerungsanalysen basieren auf einer überschaubarer Zahl von Axiomen und Parametern, die oftmals ‚fachfremd’ der Geschichtsforschung entnommen werden. Sie reduzieren damit historische Komplexität, ohne die epistemologischen Grundlagen ausreichend zu reflektieren und sich so gegen zirkuläre Schlussfolgerungen abzusichern. Hier wäre in der Tat die Expertise von Historikern dringend gefragt.
Barbara Pusch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Orient-Institut Istanbul und arbeitet gegenwärtig zu Transnationaler Migration am Beispiel Deutschland und Türkei. Hierzu hat sie kürzlich auch der NDR in seinem Beitrag “Deutsch-Türken: Einmal Heimat – und zurück?” befragt. Pusch hat über den den Antimodernistischen Umweltdiskurs in der Türkei promoviert und dabei muslimische Intellektuelle und Grüne verglichen.
Was hat Sie als Kind erstaunt? Was wollten Sie schon immer über die Welt wissen?
Als Kind hat mich eigentlich weniger „die“ Welt interessiert, sondern Menschen in ihren unterschiedlichen Welten. Es hat mich beeindruckt, wie unterschiedlich Menschen denken, wie sie handeln und wie sie ihr Handeln erklären bzw. rechtfertigen. Ich fand es auch immer wieder spannend, worüber sich unterschiedliche Menschen freuen und ärgern. Aus diesem Grund habe ich schon im Grundschulalter liebend gerne meiner Mutter und ihren Bekannten beim Kaffeeklatsch zugehört. Mit Begeisterung habe ich dort gelauscht und aufmerksam verfolgt, wer was zu berichten hatte und wer sich worüber echauffierte… Nach diesen Zusammenkünften habe ich meiner Mutter oft Löcher in den Bauch gefragt, weshalb unterschiedliche Menschen Dinge unterschiedlich interpretieren und wahrnehmen, woran das liegt etc… Mit Alfred Schütz könnte ich heute auch auf „Soziologendeutsch“ sagen, dass mich der „sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ und die verschiedenen menschlichen Lebenswelten fasziniert haben. Dieses Interesse habe ich nie verloren, und es spiegelt sich auch heute noch in meiner Forschungsarbeit.
Wie würden Sie Ihre aktuelle Forschung einem Fremden im Fahrstuhl erklären?
In meinem neuen Forschungsprojekt, dem ich mich seit 1. November 2014 im Rahmen eines Mercator-IPC Fellowships in Istanbul widme, geht es um doppelte Staatsbürgerschaft und unterschiedliche Formen der legalen Mitgliedschaft im transnationalen Raum Deutschland und Türkei. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was mich an diesem Thema interessiert, wirklich bei einer Aufzugfahrt erklären könnte. Meine Forschungsfragen basieren nämlich auf rechtlichen Grundlagen, die teilweise hochkompliziert sind und viel Detailwissen erfordern. Hinzukommt, dass ich natürlich erklären müsste, was ich unter transnationalen sozialen Räumen verstehe und aus welchen AkteurInnen der transnationale deutsch-türkische Raum besteht. Gewiss würde ich bei einer kurzen Erläuterung meiner Forschung aber betonen, dass ich mich nicht primär mit den rund drei Millionen Menschen in Deutschland beschäftige, die selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern einen türkeistämmigen Hintergrund haben, sondern mit den vielen verschiedenen AkteurInnen auf der türkischen Seite dieses Raums. Diese reichen, wie Sie wissen, von entsandten MitarbeiterInnen deutscher Firmen und ihren Familien, über HeiratsmigrantInnen und ihren Kindern, RentnerInnen, Life-Style-MigrantInnen und sogenannten „Bosporus-Germanen“ bis zu den vielen verschiedenen sogenannten „Re“-MigrantInnen. Ich würde betonen, dass viele dieser Menschen auf sehr verschiedenen Ebenen und in sehr unterschiedlicher Intensität im transnationalen deutsch-türkischen Raum eingebunden sind, dass ihre Möglichkeiten, ein legales Mitglied in diesem Raum zu werden, jedoch stark von der nationalen deutschen und türkischen Gesetzgebung geprägt sind. Ich würde darauf hinweisen, dass es bei diesen Gesetzen sowohl enorme Unterschiede als auch erstaunliche Gemeinsamkeiten gibt und dass sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen zurzeit in beiden „nationalen Containern“ im Wandel befinden. Darüber hinaus würde ich mein allgemeines Forschungsinteresse damit erklären, dass der Fokus bis dato viel zu einseitig auf die deutsche Seite des transnationalen deutsch-türkischen Raums gelegt wurde, und dass ich mich deshalb mit der türkischen Seite beschäftige. Außerdem würde ich darauf aufmerksam machen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen bis dato nicht ausreichend auf ihre praktischen Implikationen in den verschiedenen migrantischen Lebenswelten untersucht wurden.
Welche Stationen Ihrer akademischen Reise haben Sie besonders geprägt?
Zweifellos ist mein beruflicher Werdegang von unterschiedlichen akademischen Stationen geprägt. Mit der Länge der Werdegänge nehmen aber auch diese „prägenden Stationen“ zu. In meinem Fall war sicherlich mein erstes Auslandsstipendium in der Türkei, meine verschiedenen internationalen Forschungsprojekte mit Türkeifokus und meine wissenschaftliche Tätigkeit am Orient-Institut Istanbul sehr prägend. Wenn Sie mich jetzt aber auffordern, meinen akademischen Werdegang Revue passieren zu lassen, dann muss ich jedoch auch betonen, dass mein persönlicher Weg immer aus einer Kombination von privaten, persönlichen und beruflichen Vorlieben, Interessen und Rahmenbedingungen gekennzeichnet war und ist. Ich könnte nicht sagen, dass Station X oder Y für meinen Werdegang wegweisend war. Ich sehe meine „akademische Reise“ vielmehr als Prozess, der sehr eng mit vielen anderen Faktoren in meinem Leben verwoben ist. Diese zu betonen ist einerseits sicherlich „typisch Frau“. Andererseits ist dies gewiss auch durch mein eigenes Migrantinnen-Sein geprägt. Ich glaube aber, dass insbesondere bewegte berufliche Werdegänge immer von einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren geprägt sind. Männer und Nicht-Migranten neigen lediglich dazu ihre Wendepunkte vom Persönlichen, Zufälligen und Privaten zu abstrahieren.
Wie ist es, in der Türkei zu forschen?
Die Türkei ist einerseits ein Paradies für Sozialforscher, denn es gibt hier Themen wie Sand am Meer. Die diversen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Türkei haben dieses Land quasi zu einem Labor für Wandelprozesse gemacht. Das gilt auch für die (transnationale) Migrationsforschung mit all ihren Facetten. Schwierig ist jedoch oft die Umsetzung, weil Strukturen und Forschungsmöglichkeiten oft ungenügend sind. Hinzukommt, dass der Zugang zu Daten – und da spreche ich von Basics wie z. B. Einbürgerungsstatistiken, differenzierten Zuwanderungsstatistiken etc. – oft unmöglich ist, weil diese häufig nicht systematisch erhoben bzw. veröffentlicht werden.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für die Weiterentwicklung Ihres Fachs wünschen?
Für die Weiterentwicklung meines Faches würde ich mir vor allem etwas weniger neo-liberale Wissenschaftspolitik und mehr Forschungsmöglichkeiten /-förderung von Projekten wünschen, die nicht direkt an aktuelle politische Debatten diverser Migrationsdiskurse anschließen. Anders ausgedrückt: Ich würde mir wünschen, dass man sich als SozialwissenschaftlerIn weniger mit der „Verpackung“ seiner Projekte und Tätigkeit beschäftigen muss, sondern einfach seine Arbeit machen kann. Mit anderen Worten: Um fundierte Forschung voranzutreiben, benötigt es mehr Dauerstellen und/oder langfristige Fördermöglichkeiten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin NICHT gegen die Rückkoppelung von Gesellschaft und Wissenschaft und umgekehrt. Ich beobachte aber, dass das Verhältnis oft nicht stimmt und „die“ Migrationsforschung „dem“ politischen/gesellschaftlichen Diskurs nachlaufen muss, damit sie überhaupt weiter betrieben werden kann. Das führt oft dazu, dass man nicht in die gewünschte Tiefe gehen kann, dass „Modethemen“ überforscht werden und andere Themen unterforscht bleiben. Dies kennzeichnet nicht nur mein persönliches Dilemma, sondern auch das vieler meiner migrations- und/oder sozialwissenschaftlich ausgerichteten KollegInnen.
Quelle: http://trafo.hypotheses.org/1429
Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022370849/
Überarbeitete Version meines Inputs zum Workshop „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, Wien 10.11.2014
An der Universität Wien begannen in der Studienrichtung Geschichte Lehrveranstaltungen mit Weblogeinsatz im Sommersemester 2006, im Rahmen der von Wolfgang Schmale abgehaltenen Lehrveranstaltung Informatik und Medien in den Geschichtswissenschaften; das entsprechende Blog zur Vorlesung wurde von Martin Gasteiner auf der Weblogplattform Twoday eingerichtet und ist bis heute unter der Adresse elet.twoday.net zugänglich; von dort aus sind des weiteren Weblogs verlinkt, die einige Studierende dazu einrichteten und in denen sie sich mit den Möglichkeiten beschäftigten, die das Medium Internet für die Geschichtswissenschaften bietet. Im darauffolgenden Semester leitete Wolfgang Schmale wieder eine solche Lehrveranstaltung, begleitet durch die zwei TutorInnen Martin Gasteiner und Marion Romberg; zu den Aufgaben, die die Studierenden zu erfüllen hatten, zählte u. a. die Führung eines lehrveranstaltungsbegleitenden Weblogs.((1)) Neben dieser einschlägigen Lehrveranstaltung zum Einsatz des Internets in den Geschichtswissenschaften((2)) leitete Wolfgang Schmale im selben Semester eine weitere zur „Wissenschaftlichen Text- und Wissensproduktion“ mit dem Thema Europäische Einheit.((3)) Auch hier hatten die TeilnehmerInnen Weblogs einzurichten; deren abgeforderte Postings ermöglichten es, den Arbeits- und Denkprozess der einzelnen BlogerInnen mitzuverfolgen, ihnen gleichsam beim forschenden Schreiben über die Schultern zu blicken.
In meiner eigenen Lehrtätigkeit begann ich 2004 damit, Teile meiner Lehrveranstaltung Digitale Medien in der Geschichtswissenschaft in Form von E-Learning abzuhalten; dies war schlicht durch eine Erhöhung der TeilnehmerInnenzahl der Lehrveranstaltung bedingt, die regelmäßige Präsenztermine im EDV-Raum unmöglich machte, weswegen ich Hinweise auf Lerninhalte in Form von E-Mails verschickte und die StudentInnen ihrerseits zu erbringende Übungsaufgaben wiederum per E-Mail an mich zu senden hatten. Weblogs verwendete ich ab dem Sommersemester 2008: Zentrales Medium war ein Lehrveranstaltungsweblog – tantner.twoday.net –, in dem ich im wöchentlichen Rhythmus Hinweise auf durch die Studierenden zu konsultierende Lehreinheiten auf der E-Learningplattform „Geschichte Online“ postete, ergänzt um jeweils dazu durchzuführende Übungsaufgaben.
Diese Übungsaufgaben wurden von den Studierenden in eigens einzurichtenden persönlichen Weblogs erledigt, dazu zählten neben der bereits erwähnten Aufforderung, eine eigene Position zum Einsatz der Wikipedia zu entwickeln unter anderem die Vornahme und Protokollierung einer Recherche zu einem selbstgewählten Thema in nur auf Papier vorhandenen Referenzwerken sowie der Vergleich des Ergebnisses einer jeweils einstündigen Recherche nach Literatur zum einen mittels Google, zum anderen mittels fachspezifischer Datenbanken.
Insgesamt hielt ich zwischen 2008 und 2012 fünf Lehrveranstaltungen mit Weblogeinsatz ab, die TeilnehmerInnenzahlen schwankten zwischen 20 und 115 Studierenden, wobei mich Marian Wimmer als Tutor dabei unterstützte, indem er unter anderem die zeitaufwändige Arbeit des Einspeisens der RSS-Feeds der zuweilen doch recht große Anzahl von Blogs in einen Feedreader übernahm. Nur die wenigsten Weblogs wurden nach Ende der Lehrveranstaltungen weitergeführt, wobei es durchaus sein mag, dass manche Studierende ihre neu erworbenen Blogkenntnisse zum Anlass nahmen, ein neues Weblog einzurichten. Ohne auf genaue Untersuchungen zurückgreifen zu können, scheint es, dass in diesen Jahren eher die mobilen und höhersemestrigen StudentInnen Weblogs führten, um entweder über ihre Erasmus-Auslandsaufenthalte oder ihre Diplomarbeits-/Dissertationsthemen zu berichten; diese als erstes genannte Verwendungsweise von Weblogs als Reisetagebücher für die zu Hause gebliebenen FreundInnen wurde seither wohl vor allem durch Facebook abgelöst.
Eine digitale Zelle in der Kontrollgesellschaft?
Mit dem Instrument des Weblogs ist es möglich, die Ergebnisse von Lernprozessen nicht mit teils sinnentleerten Prüfungen festzustellen, sondern diese in regelmäßig von den Studierenden geposteten Weblog-Einträgen dokumentieren zu lassen, wobei das Spektrum von klar umrissenen und in kurzen Postings zu erfüllenden Übungsaufgaben über eigenständige Reflexionen zu Lehrveranstaltungsinhalten bis hin zu offenen, zum Beispiel Seminararbeiten begleitende Forschungstagebüchern reichen kann.
Wichtig erscheint mir jedenfalls, dass Lehre, die Weblogs einsetzt nicht von vornherein als den StudentInnen gegenüber freundlicher oder unschuldiger imaginiert werden sollte, als zum Beispiel Lehre, die sich des Instruments der Prüfung bedient; wer der von Gilles Deleuze postulierten Annahme eines spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg feststellbaren Übergangs von den Disziplinar- zu den Kontrollgesellschaften folgt,((4)) wird eine solche Verschiebung in der Beurteilung studentischer Leistung eher machttheoretisch einordnen: Die Prüfung – analysiert in Foucaults Überwachen und Strafen((5)) – ist demnach charakteristisch für die Disziplinargesellschaften, während in den Kontrollgesellschaften die kontinuierliche Begleitung und Beurteilung der Leistungen auf der Agenda steht; der Einsatz von Weblogs ist ein Beispiel für eine den Kontrollgesellschaften adäquate Machttechnik und bringt seinerseits wieder Problemlagen und auch Widerstände mit sich.
So war meiner Erfahrung nach das für die Studierenden wichtigste Problem, das bei Lehrveranstaltungs-Weblogs auftauchte, das nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Ich hatte es von vornherein den Studierenden überlassen, ob sie ihr Weblog anonym – so dass nur ich ihren Namen wusste – oder unter Angabe ihres eigenen Namens führen wollten, und es zeigte sich dabei, dass vor allem die politisch wacheren TeilnehmerInnen der Lehrveranstaltung es bevorzugten, anonym zu posten. Aus den verschiedenen Weblogs stach dabei insbesondere eines wie ein monologischer Block hervor: Unter panopticontra.blogspot.co.at verglich der/die anonyme UserIn seine/ihre Position im Weblog mit der Position eines Zelleninsassen/einer Zelleninsassin des Foucaultschen Panoptikums und kam immer wieder zu überraschenden Einsichten, wie folgende Ausschnitte aus den ersten zwei Postings dieses Blogs zeigen:
Das Internet ist das Gefängnis, die Menagerie unserer virtuellen Subjektivitäten. Die Weblogs sind unsere Zellen und Gehege, in denen wir uns ausstellen und wir beobachtet werden, in denen wir uns in Entsprechung und Besserung üben und um Gunst und (An)Erkennung buhlen. In diesen unseren Räumen und Providerparzellen begegnen wir uns als Aufseher und Gefangene, als Beobachter und Beobachtete.
Ich schreibe in das Dunkel der Anonymität des Internet, werde geblendet vom Licht des Aufsichtsturms, weiß nur, dass ich ständig beobachtet werden kann. Das Internet gibt Milliarden Aufsehern die Möglichkeit dazu. So werde ich hier immer wieder jene Notiz verfassen, die du von mir nimmst. Für die Interessierten werde ich versuchen, interessant zu sein, für die Aufseher brav und diszipliniert.((6))
Dieser Blog ist ein Experiment.
Der Autor, der hierfür mit seinem Namen beim Provider seinen Kopf hinhält, aber hier aus gutem Grund nicht mit seinem Namen auftritt, unterscheidet sich innerhalb R:/ nur in seiner Funktion von mir. Ich gestalte diesen Blog, denke mir seine noch sporadischen Inhalte aus und bewohne diese Zelle.
Der Autor, meine traurige physische Entsprechung, ist hier nur in soweit involviert, als dass er und seine praktischen Beweggründe Ausgangspunkt der Ingangsetzung unseres bloggenden Handelns ist. Er hat über dieses Medium das ein oder andere mal Rechenschaft über seine erbrachten Leistungen abzulegen; er hat den Blog angelegt. Ich bin lediglich das Wie, eine Modalität; ich bin der Geist, der hier Leben (?) hereinzaubern soll, und ich habe eine Idee, um nicht zu sagen, ich bin eine Idee. Ich bin Text, der sich formiert, um zu sehen, ob er funktionieren kann, und ich teile diesen Raum aus pragmatischen Gründen.((7))
Derlei Positionen sollten unbedingt für eine Diskussion über den Einsatz von „Social Software“ in der Lehre herangezogen werden; zu bedenken wären dabei unter anderem folgende Fragen: Wann ist der richtige Zeitpunkt für eine/n Studierende/n, die Anonymität zu verlassen und mit einem Fachweblog an die Öffentlichkeit zu gehen? Soll ein die Diplomarbeit begleitendes Weblog anonym geführt werden, wie dies längere Zeit Cathleen Sarti mit ihrem Weblog Zwergenblick((8)) betrieb, bevor sie ihren Namen preisgab? Oder soll das Bloggen unter dem eigenen Namen möglichst früh erfolgen, und zwar am besten im Rahmen eines Gruppenweblogs, wie es Peter Haber vorschlug?((9))
Mittlerweile ist der Einsatz von Weblogs in der Lehre zwar nicht überholt, kann aber durch die Möglichkeiten der verschiedenen immer mehr Verbreitung findenden E-Learning-Plattformen zumindest ergänzt, wenn nicht sogar ersetzt werden: Derlei E-Learning-Plattformen bieten einen etwas geschützteren Raum, da die mitlesende „Öffentlichkeit“ zum Beispiel auf die jeweiligen LehrveranstaltungsteilnehmerInnen beschränkt werden kann. So ließ ich in einigen meiner Lehrveranstaltungen, die ich im Sommersemester 2014 an der Universität Wien im Rahmen einer Gastprofessur abhielt, Studierende ihre Postings in der E-Learningsplattform Moodle verfertigen: Da keine Weblogsoftware zur Verfügung stand – diese zunächst vorhanden gewesene Möglichkeit war eingestellt worden – dienten als Ersatz Foren, die nur für die TeilnehmerInnen der Lehrveranstaltung zugänglich waren. Vielleicht wird dies ein in Zukunft häufiger beschrittener Weg sein, zunächst studentische Texte im Verborgenen bzw. geschützt zu posten, bevor dann in einem weiteren Schritt diese Texte einer potentiell größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zu bedenken ist auf jeden Fall, dass das öffentliche Posten von Texten unter eigenem Namen nicht als etwas Selbstverständliches angesehen werden sollte, sondern eine Praxis, die viele Studierende erst erlernen und einüben müssen.
Eine Forderung
Abschließend soll eine bereits an anderer Stelle erhobene dringliche Forderung((10)) wiederholt werden, die sich insbesondere an für das Prüfungswesen und Promotionsordnungen Verantwortliche richtet: Studierende, die an einer Masterarbeit oder an einer Dissertation arbeiten, sind oft sehr verunsichert, was die Vorab-Veröffentlichung von Teilen ihrer Arbeit in einem Weblog anbelangt, aus der zuweilen berechtigten Furcht, dass eine solche Vorgangsweise bei der Plagiatsprüfung der eingereichten Abschlussarbeit inkriminiert wird. Hier ist es nötig, Klarheit zu schaffen und solche Publikationsformen explizit zu erlauben, wäre der ideale Ablauf in einem wissenschaftlichen Produktionszyklus unter derzeitigen Bedingungen doch der, dass Studierende von ihnen verfasste Textfragmente zuerst in einem Weblog zur Diskussion stellen, worauf etwaige Kommentare und Reaktionen in einer endgültigen Version berücksichtigt werden können. Bei einer solchen Vorgangsweise wird es oft vorkommen, dass in einem solchen – zum Beispiel dissertationsbegleitendem – Weblog veröffentlichte Texte unverändert in die Abschlussarbeit übernommen werden, was als selbstverständlicher Bestandteil des Entstehungsprozesses einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit betrachtet werden sollte. Der Handlungsbedarf ist hier umso dringender, als spätestens in der Master- oder Dissertationsphase Studierende nicht davon abgehalten, sondern ermuntert wenn nicht sogar aufgefordert werden sollten, Weblogs zu führen, da dies den Einstieg in den Schreibprozess fördert und sich nur positiv auf die Qualität der Abschlussarbeit auswirken kann.
In den nächsten Monaten werden hier in regelmäßiger Folge Interviews veröffentlicht, in denen die Mitglieder des GRK1678 Einblicke in ihr wissenschaftliches Schaffen geben. Den Auftakt bildet das Interview mit der Sprecherin des Graduiertenkollegs und Professorin für Kunstgeschichte an der HHU Düsseldorf, Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch, die über die Geschichte des GRK 1678, ihren eigenen wissenschaftliche Zugang zu Materialität und Produktion sowie die länderübergreifende anthropologie historique berichtet.
Frau Professorin von Hülsen-Esch, Sie sind Sprecherin des Graduiertenkollegs und gehören zu den AntragstellerInnen der ersten Stunde. Können Sie uns von der Vorgeschichte des GRK 1678 erzählen? Wie entstand die Idee eines Graduiertenkollegs zu Materialität und Produktion?
Ein Großteil der Antragsteller arbeitet seit langen Jahren im Forschungsverbund FiMuR (Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance) zusammen, dessen jährliche Ringvorlesungen immer wieder im Vorfeld zu Diskussionen über relevante Themen geführt haben. Aus diesem “Kern”, der bereits einige Antragsteller in einem vorhergehenden Graduiertenkolleg (“Europäische Geschichtsdarstellungen”) vereint hatte, ist auch die Diskussion über “Materialität und Produktion” hervorgegangen, zwei Begriffe, denen sich einige von uns immer wieder durch eigene Forschungen von verschiedenen Seiten angenähert haben. Vorlesungen und Kolloquien zu diesem Themenfeld, aber auch die sehr positive Erfahrung der intensiven Zusammenarbeit mit Promovierenden aus dem ersten Graduiertenkolleg haben dann dazu geführt, ein Graduiertenkolleg zum Themenfeld “Materialität und Produktion” zu konzipieren.
Mit “Materialität” und “Produktion” beschäftigen sich im GRK 1678 verschiedene kultur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen, die jeweils unterschiedliche Zugänge zum Thema haben. Können Sie die Relevanz der Leitkonzepte für Ihre eigene Forschung, die sich oft zwischen Kunstgeschichte und Geschichte ansiedelt, in einigen Sätzen schildern?
Mein sehr persönlicher Zugang zu diesem Themenfeld setzt bereits einige Zeit vor meiner Berufung an die Heinrich-Heine-Universität an. Während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen in den 1990er Jahren hat einer meiner Kollegen, Bernhard Jussen, eine Diskussionsreihe mit Künstlern initiiert, die er “Von der künstlerischen Produktion der Geschichte” nannte und mit der er den Umgang mit Geschichte – die Konstruktion und damit auch die Produktion – thematisierte. Künstler wie Anne und Patrick Poirier, Hanne Darboven, Jochen Gerz etc. reflektierten mit und in ihrer Kunst auf eine Weise den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte, bei der viele unserer kollegrelevanten Leitbegriffe und Forschungsthemen bereits aufscheinen: ästhetische Forschung, Konstruktion eines kollektiven, zeitspezifischen Gedächtnisses, Materialisierung von Erinnerung, aber auch das Verschwinden, Vergessen, Verschweigen von Ereignissen, womit die Prozesshaftigkeit des Entstehens ebenso benannt ist wie diejenige des De-Materialisierens, aber auch die Eigendynamik des Ereignisses. Mit meinen ersten Seminaren an der Universität habe ich zunächst diesen Gedanken aufgegriffen und weiter verfolgt, bin dann aber durch die Lehre und die Konzentration auf genuin kunsthistorische Themen in den ersten Jahren an der Universität vermehrt auf die Beschäftigung mit dem Material und die ihm eigene oder zugeschriebene Materialität gekommen. Zugleich stieß ich über meine Beschäftigung mit dem frühen Bühnenbild auf das anscheinende Paradox des immateriellen Raumes, der durch architektonische Versatzstücke im Betrachter zu einem bespielbaren Raum wird und auch in der Dynamik des Stückes weitergedacht wird.
Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das mittelalterliche Kunstwerk. “Materialität” und “Produktion” sind aber zwei neuzeitliche Begriffe. Mit welchen Begriffen wurde über das Material und die Herstellungsprozesse von Objekten und Bildern im Mittelalter reflektiert? Existierten diese Konzepte überhaupt zu jener Zeit?
Die gerade beschriebenen Beobachtungen zum frühen Bühnenbild sind bereits in der spätmittelalterlichen Malerei zu finden, ohne dass wir in zeitgenössischen Texten Begriffen wie “Materialität” oder “Produktion” begegnen würden. Konzepte sind Deutungsschemata, mit denen ich grundlegenden Phänomenen auch im Mittelalter näher kommen möchte: Fragen der Materie, des Materials und der Materialität werden beispielsweise in den frühen Etymologien reflektiert, wenn einem Material aufgrund seiner vermeintlichen etymologischen Genese eine bestimmte Wertigkeit zugeschrieben wird, oder wenn in der Liturgie bestimmte Materialien für bestimmte liturgische Geräte vorgeschrieben werden. Zugleich werden immaterielle Prozesse, ein Weg zur Transzendenz beim Betrachten von Kunstwerken ausgelöst, wie Bernhard von Angers oder Suger von Saint-Denis es anschaulich beschreiben. Die chronologisch unterschiedliche Beliebtheit von Materialien, das Phänomen der Imitation von Materialien in anderen Kunstwerken (z.B. von Elfenbein durch Marmorskulpturen und in der Malerei) und der Materialkombinationen lässt mich auch die Frage nach der Produktion von Werten und den dafür verantwortlichen Faktoren stellen, und schließlich gibt es bereits im Mittelalter arbeitsteilige Produktion und Massenproduktion, auch wenn es damals nicht mit diesen griffigen Ausdrücken bezeichnet wurde. Mit “Materialität” und “Produktion” als Leitbegriffen lassen sich sowohl die Erforschung des Verhältnisses von Handwerker und Künstler (im Sinne des Schöpfers von Kunstwerken) wie auch der ästhetischen und materiellen Wertigkeit von Kunstwerken aus einer Perspektive betrachten, die Beschreibung, Kontextualisierung und Historisierung gleichermaßen erlaubt.
Das GRK 1678 ist auf thematischer, personeller sowie institutioneller Ebene international. Was macht “Materialität” und “Produktion” zum länder-, ja kulturübergreifenden Forschungsfeld?
Manche Forschungsthemen scheinen zwar “in der Luft” zu liegen, doch muss es bei Geisteswissenschaftlern auch nicht verwundern, dass Themen, die aktuell diskutiert werden, sich auch länderübergreifend schnell verbreiten. Hier sind ganz sicherlich die akademischen Verbindungen mit entscheidend dafür, dass bestimmte Ansätze sich über Workshops, gemeinsame Forschungsprojekte und große Tagungen verbreiten und in je anderen Ländern bzw. anderen Disziplinen mit der ihnen eigenen Methodik weiterentwickeln. Unsere französischen Partner etwa haben mit der anthropologie historique stets kulturübergreifende Phänomene im Blick; zugleich ist, wenn man etwa an die Materialität von Schrift denkt, ein Grundphänomen einer jeden Gesellschaft, die eine Schriftkultur besitzt, aufgerufen, so dass man gar nicht an Länder (und Disziplin-)grenzen haltmachen kann. Auch der Produktionsbegriff lässt sich auf alle Gesellschaften beziehen, nicht nur, wenn man eine dinghafte Produktion betrachtet, sondern insbesondere, wenn man die spezifischen Bedingungen einer Produktion von Werten erforscht. Insbesondere im kulturellen Vergleich sind die Dynamiken des Entstehens, die Emergenz, interessante Forschungsfelder, aber auch Fragen der Materialgerechtigkeit oder der Materialpräferenz – wobei bereits innerhalb Europas große kulturelle Unterschiede bestehen können.
Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, 28. März bis 29. Juni 2014
Von Sarah Babin (Trier) und Thomas Dorfner (Aachen/Münster)
[D]er schreibtisch vnd maӱrhof […] sein wol .2. solche werk, der gleichen kain Künig vnd kain Fürst Im Reich diser Zeit hat, vnd wer die kunst versteht und liebt, ihe mehr erß ansihet, ihe mehr er admiration daran finden würdt.1
Die eingangs zitierten Worte entstammen einem Brief Philipp Hainhofers an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg aus dem März 1618. Der Augsburger (Kunst-)Agent berichtet darin von einem „schreibtisch“, der sich seit wenigen Monaten in der Kunstkammer Herzog Philipps II. von Pommern befinde. Gemäß Hainhofer genüge dieser selbst königlichen Ansprüchen und suche im gesamten Reich seinesgleichen. Kunstliebhaber würden diesen „schreibtisch“ bewundern – und zwar umso mehr, je eingehender sie ihn betrachteten. Es dürfte an dieser Stelle bereits deutlich geworden sein, dass es sich nicht um einen Schreibtisch im modernen Sinne, sondern um einen Kunstschrank des frühen 17. Jahrhunderts handelt – genauer gesagt um den berühmten Pommerschen Kunstschrank.2 Dieser wurde in den Jahren 1610 bis 1617 in der Reichsstadt Augsburg von zahlreichen namhaften Künstlern gefertigt. Die Federführung oblag dabei Philipp Hainhofer, der den Kunstschrank nach der Fertigstellung im August 1617 persönlich nach Stettin brachte und dort an Herzog Philipp übergab.
Das Maximilianmuseum Augsburg widmete dem Pommerschen Kunstschrank von 28. März bis 29. Juni 2014 die überaus sehenswerte Ausstellung Wunderwelt. Begleitend zur Ausstellung erschien ein stattlicher, 560 Seiten umfassender Katalog, der u. a. zwölf Aufsätze enthält.3 Im folgenden Beitrag werden sowohl die Ausstellung als auch der Katalog besprochen. Abschließend soll knapp auf Desiderate in der Forschung zum Pommerschen Kunstschrank bzw. den (Kunst-)Agenten hingewiesen werden.
Die Ausstellung
Der Kurator, Dr. Christoph Emmendörffer, war mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, in der Ausstellung ein Objekt, das nicht mehr existiert, in aller Fülle wiederzubeleben, zu interpretieren und dabei die BesucherInnen zu faszinieren. Diese Herausforderung – so viel vorweg – meisterte die Augsburger Ausstellung Wunderwelt vorzüglich.
Der erste Ausstellungsraum bot die Möglichkeit, den 1934 gedrehten, 18-minütigen Dokumentarfilm Eine Welt im Schrank anzusehen. Auf diese Weise wurde den BesucherInnen gleich zu Beginn die einstige Pracht des Pommerschen Kunstschranks eindrucksvoll vor Augen geführt. Zugleich erleichterte die Dokumentation wesentlich das Verständnis der folgenden Präsentation des Inhalts. Es empfahl sich daher, den Rundgang mit dem Dokumentarfilm zu beginnen und erst anschließend in den ersten Raum mit Exponaten zu gehen. Der Dokumentarfilm war faktisch der Schlüssel zum Verständnis der Ausstellung.
Die Ausstellung selbst gliederte sich in drei Themenbereiche: Im ersten Bereich wurden die Vita Philipp Hainhofers und seine Tätigkeit als (Kunst-)Agent für diverse europäische Höfe beleuchtet. Neben zahlreichen kunsthandwerklichen Schöpfungen Augsburger Künstler sind hier vor allem die prachtvollen Stammbücher Hainhofers herauszustellen, die in der Ausstellung präsentiert wurden und sein soziales Netzwerk eindrucksvoll aufzeigten. So enthält das so genannte Kleine Pommersche Reisebüchlein (Kat. Nr. 16) zahlreiche Eintragungen hochrangiger Mitglieder der Fürstengesellschaft des Alten Reichs. Das so genannte Große Stammbuch (Kat. Nr. 25) hingegen beeindruckt besonders durch die Miniaturen namhafter Künstler wie beispielsweise Johann Matthias Kager.
Die folgenden drei Räume waren dem Pommerschen Kunstschrank und damit dem zweiten Themenbereich gewidmet. Die Ausstellung demonstrierte auf ebenso anschauliche wie imposante Weise, wie viele Objekte der Kunstschrank einst beherbergte. Hervorzuheben ist besonders die große Vitrine im Felicitassaal, die u. a. ein vielteiliges Reisegeschirr, kostbare Leuchter sowie einige astronomische Gerätschaften enthielt (Kat. Nr. 46.6 u. 46.7). Als hilfreich erwies sich die nochmalige Vorführung des Dokumentarfilms in den Ausstellungsräumen, wodurch den BesucherInnen immer wieder der Zusammenhang von Objekten und verlorenem Schrank vor Augen geführt und der Gebrauch der ausgestellten Gegenstände demonstriert wurde. In denselben Räumen fanden sich außerdem weitere Wunderwerke der Augsburger Künstler wie ein Hausaltar-Kabinettschrank mit Goldschmiedearbeiten von Matthias Walbaum und Malereien von Anton Mozart (Kat. Nr. 82). Durch diesen dritten Themenbereich gewannen die BesucherInnen ein eindrucksvolles Bild von Glanz und Vielfältigkeit der Augsburger Kunstschränke. Kritik lässt sich einzig an der Beschriftung der Exponate in manchen Vitrinen äußern, da sich die Stücke nicht immer auf Anhieb den ausgewiesenen Beschreibungen zuordnen ließen. Dieser kleine Wermutstropfen ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es sich bei Wunderwelt um eine ausnehmend gelungene Ausstellung handelte.
Der Katalog
Im zweiten Teil dieses Beitrags soll der Ausstellungskatalog ausführlich rezensiert werden, wobei das Hauptaugenmerk auf die Aufsätze gerichtet wird.
Paul von Stettens (1731–1808) Lebensbeschreibung des Philipp Hainhofer eröffnet den Aufsatzteil. Die Beschreibung ist zwar unkommentiert, wurde aber mit einzelnen Katalognummern versehen und weist so bereits auf die Bandbreite der Ausstellung bzw. die schillernde Persönlichkeit des Augsburger (Kunst-) Agenten hin.
Barbara Mundt gibt mit ihrem Aufsatz, wie sie selbst betont, eine Zusammenfassung ihrer 2009 erschienenen, ausführlichen Monographie zum Pommerschen Kunstschrank.4 Mundt führt den LeserInnen kurz und prägnant die Entstehungsgeschichte des Kunstschranks vor Augen. Ebenso verfährt sie bei der Beschreibung des Bildes, das die (fiktive) Übergabe des Schranks an den Herzog dokumentiert und alle beteiligten Künstler zeigt. Dies nimmt sie zum Anlass, kurz über die Künstler selbst zu referieren. Im Weiteren widmet sie sich der Systematik des Schrankinhalts. Nach ihrer Ansicht war dieser auf die Bedürfnisse des Herzogs ausgerichtet und sollte seine Gelehrsamkeit hervorheben. Dabei vergleicht Mundt knapp und fundiert den Schrank mit späteren Kunstschränken Hainhofers. Bei aller Klarheit der Ausführungen wäre es jedoch wünschenswert gewesen, wenn der Aufsatz über die bereits in der Monographie veröffentlichten Erkenntnisse hinausgegangen wäre.
Den ohne Zweifel wichtigsten Beitrag liefert Christoph Emmendörffer, dem es gelungen ist, den so genannten „Hainhofer Code“ zu entschlüsseln. Diese Bezeichnung führt Emmendörffer für das umfassende, universell ausgerichtete Programm der Ausstattung ein. Weist Barbara Mundt noch darauf hin, dass der Inhalt „weder auf enzyklopädische Vollständigkeit noch auf eine Kunstkammer im Kleinen“5 zielte, sondern lediglich auf die Interessen des Käufers zugeschnitten gewesen sei, kann Emmendörffer schlüssig nachweisen, dass es sowohl ein Bildprogramm innerhalb der Ausstattung gibt, als auch dass der Schrankinhalt einer Systematik folgt, deren Grundgedanke der universelle göttliche Plan ist. Zudem schließt Mundt noch eine Beteiligung Hainhofers an der Entwicklung des Konzepts aus. Emmendörffer dagegen sieht eindeutig eine Beteiligung von Philipp Hainhofer neben dem Stadtpfleger Markus Welser und dem Maler Matthias Kager. Offen bleibt allerdings die Frage, wie maßgeblich seine Beteiligung war. Die enge Beziehung zu Welser und Kager sowie seine Verbindungen zum Münchner Hof boten Hainhofer jedenfalls eine Vielzahl von Inspirationsquellen. „Der Schlüssel zum Inhalt des Pommerschen Kunstschrankes“ ist Orlando di Lassos Bußpsalmwerk, das als Hauptquelle für Bildprogramm und Konzeption des Schrankinhalts gelten kann.6 So hat das Übergabebildnis des Kunstschranks sein Vorbild in Hans Mielichs Darstellung der bayerischen Hofkapelle im St. Georgssaal im Bußpsalmwerk. Eine weitere Quelle findet sich in dem Grundlagenwerk Samuel von Quicchebergs zur Ordnung einer Kunstkammer, den Inscriptiones. Darin wird ein komplexes Ordnungssystem aufgebaut, das – vereinfacht gesagt – eine Kunstkammer in zehn Klassen mit jeweils mehreren Unterordnungen unterteilt. Der Schrank „umfasste die gesamte vierte Klasse […] also ausschließlich Artificialia und Scientifica“.7 Erschien bisher die Zusammenstellung der Gegenstände im Schrank willkürlich, so erweist sich nun, dass sie einem konsequenten Schema folgte und sich sinnvoll aufeinander bezog. So entstammt die indianische Seidenbinde aus China der 10. Unterabteilung der Quiccheberg’schen Systematik Vestitus peregrini et Indiani.
Bildprogramm und Schrankinhalt bilden nach Emmendörffer zwei in sich geschlossene Systeme. Ein Element verbindet sie jedoch, das Schreibpult. Auch dieses ist entsprechend Quicchebergs Ausführungen ikonographisch gestaltet. Es versinnbildlicht die vier Temperamente, „deren Ausübung dem Menschen die im Schrank vereinigten instrumenta […] ermöglichten.“8 Emmendörffer schließt so eine bedeutende Forschungslücke. Sein Aufsatz gibt zudem Anlass zur Untersuchung, ob auch weitere Kunstschränke ein derart umfassendes System und Programm aufweisen.
Guido Hinterkeuser widmet seinen umfangreichen und gut recherchierten Beitrag dem wechselvollen Weg des Pommerschen Kunstschranks vom Hofe Philipps II. von Pommern nach Berlin in die Sammlung des Kunstgewerbemuseums. Der Tisch wechselte in den ersten 67 Jahren nach seiner Herstellung mehrfach den Besitzer bzw. die Besitzerin. Nachdem das Geschlecht des Herzogs ausgestorben war, gelangte der Schrank über die weiblichen Nachkommen und mehrere Umwege schließlich in die Sammlung der Kurfürstin Dorothea von Holstein-Glücksburg, der zweiten Gemahlin des Großen Kurfürsten Wilhelm von Brandenburg. Das Kurfürstenpaar integrierte den Schrank in seine Kunstkammer im Berliner Schloss. Hinterkeuser versucht, die Geschichte der Kunstkammer des Berliner Schlosses im Laufe der folgenden Jahrzehnte und den Platz des Kunstschranks zu rekonstruieren. Weiter berichtet er lückenlos von den folgenden Stationen des Schranks nach der Auflösung der Kunstkammer. Die letzte Station bildete seit 1920 wieder das Berliner Schloss, wo er als wichtigstes Exponat des Kunstgewerbemuseums seinen Platz fand. Hinterkeuser schließt mit dem traurigen Bericht der Zerstörung des Pommerschen Kunstschranks im Zweiten Weltkrieg.
Der kürzeste der zwölf Aufsätze ist dem bereits erwähnten Dokumentarfilm Eine Welt im Schrank aus dem Jahr 1934 gewidmet. Bénédicte Savoy gibt darin einen knappen Einblick in ihre Forschungen zur Filmpropaganda für die Berliner Museen im Dritten Reich.
Sandra-Kristin Diefenthaler bietet anschließend in ihrem Literaturbericht einen konzisen Überblick über die kunsthistorische Forschung zum Pommerschen Kunstschrank. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Veröffentlichungen Friedrich Nicolais (1733–1811), der darin die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Pommerscher Kunstschrank prägte. Der Literaturbericht arbeitet außerdem den allmählichen Wandel der Zuschreibungen an den Kunstschrank heraus, nämlich „von einer merkwürdigen Sehenswürdigkeit hin zu einer universellen Kunstkammer im Kleinen“.9
Lorenz Seelig analysiert kenntnisreich Hainhofers Kontakte zum Münchner Hof. Im Juli 1603 besichtigte Hainhofer erstmals eingehend die 1200 Quadratmeter große herzogliche Kunstkammer im Marstallgebäude. 1606 würdigte Wilhelm V. Hainhofers „Khunst-stüblin“ mit einem Besuch.10 Der Herzog blieb daraufhin – ungeachtet des Konfessionsunterschieds – bis 1623 mit Hainhofer in engem Kontakt. Seelig legt anschaulich dar, wie bedeutsam die Kontakte zum Münchner Hof für Hainhofers Aufstieg zum (Kunst-)Agenten waren: Durch die Besichtigungen der Münchner Kunstkammer und die Korrespondenz mit Wilhelm V. konnte er einerseits seine Kenntnisse auf dem Gebiet des Sammelwesens entscheidend vertiefen. Andererseits waren es die Protektion und Fürsprache Herzog Wilhelms, die Hainhofer in Kontakt mit anderen Fürsten brachte.
Annette Schommers wendet sich in ihrem Aufsatz einem weiteren Kunstschrank aus Augsburger Werkstätten zu, nämlich dem Kunstschrank, den Maximilian I. jesuitischen Missionaren überantwortete, damit diese ihn dem chinesischen Kaiser Wanli zum Geschenk machten. Im Kontext der indirekten Missionsmethoden der Jesuiten kam derartigen Geschenken zentrale Bedeutung zu: Jesuitische Missionare versuchten mit Hilfe von Kunstgegenständen sowie wissenschaftlichen Geräten die Eliten im chinesischen Reich für sich und so letztlich für den katholischen Glauben zu gewinnen.11 Aussehen und Inhalt des Schranks, dieses heute ebenfalls nicht mehr erhaltenen Möbelstücks, lassen sich anhand einer lateinischen Beschreibung rekonstruieren, die am Ende des Beitrags erstmalig vollständig veröffentlicht wird.
Immer wieder zeigt Schommers die Ähnlichkeiten des Schranks zu anderen Augsburger Kabinettschränken auf, wie auch dem Pommerschen Kunstschrank. So kann der Inhalt beider Schränke den Kunstkammerkategorien der Artificialia und Scientifica zugeordnet werden. Auch wurden die meisten der Ausstattungsobjekte in Augsburg gefertigt und es scheint, dass das Möbelstück selbst ebenfalls einer Augsburger Werkstatt entstammt, wie eine Rechnung an den Augsburger Juwelier und Händler Bartholomäus von Stassen andeutet, der „3200 fl. für einen schreibtisch mit allerley Silber geziert“ erhielt.12 Somit liegt die Vermutung nahe, Hainhofer könnte auch an der Konzeption dieses Schranks beteiligt gewesen sein. Zumindest stand er in engem Kontakt mit Maximilian I. Aber es fehlt an Quellen, die die Beteiligung Hainhofers belegen, wie Schommers betont. Auch wenn der Schrank somit leider keinen eindeutigen Beitrag zur Hainhofer-Forschung liefert, kann Schommers zumindest deutliche Verbindungen zwischen den beiden Kunstschränken aufzeigen.
Christine Cornet befasst sich in ihrem Beitrag mit der Spielesammlung, die der Augsburger Kistler Ulrich Baumgartner in den Jahren 1614 bis 1616 für Herzog August von Braunschweig-Lüneburg fertigte. Das Prunkstück der Sammlung bildet ein aufwendig gefertigtes Schachspiel samt filigran gearbeiteten Spielfiguren aus Elfenbein. Darüber hinaus umfasst die Sammlung ein Karten-, ein so genanntes Gänse- sowie ein Damespiel, wobei letzteres aus Ebenholz, Perlmutt und graviertem Silber gefertigt wurde. Cornets Beitrag ist vor allem aus zwei Gründen lesenswert: Erstens analysiert sie mit Hilfe der Augsburger Handwerkerakten präzise das sozialgeschichtliche Umfeld Baumgartners. Sowohl die von ihm bekleideten Ämter als auch die Zahl seiner Lehrjungen bzw. Gesellen lassen dabei den Schluss zu, dass Baumgartner eine herausgehobene Position in der Kistlerzunft einnahm. Zweitens kann Cornet anhand der Entstehung der Spielesammlung Aspekte der Agententätigkeit Hainhofers beleuchten: 1614 übersandte er Herzog August zunächst zwei „Probefiguren“ aus Elfenbein sowie Vorschläge für die Gestaltung der Spielesammlung. Nachdem der Herzog den Auftrag zur Anfertigung erteilt hatte, fungierte Hainhofer kontinuierlich als Vermittler zwischen diesem und Ulrich Baumgartner bzw. den übrigen beteiligten Handwerkern. Ein direkter Austausch fand hingegen offenbar nicht statt – eine Tatsache, die Cornet leider nicht als erklärungsbedürftig erachtet. Am Ende des gelungenen Beitrags bleibt somit eine Frage unbeantwortet: Handelt es sich hierbei – was zu vermuten ist – um die im 17. Jahrhundert übliche Praxis, nämlich bei Aufträgen, an denen mehrere Künstler beteiligt waren, einem Mittler die Korrespondenz sowie die Koordination zu übertragen?13 Oder ist das Fehlen einer direkten Korrespondenz doch auf andere Ursachen zurückzuführen, beispielsweise eine zu große soziale Distanz zwischen Herzog August und Ulrich Baumgartner?14
Auch Ludwig Kallweit stellt, wie zuvor Annette Schommers, einen weiteren bedeutenden Augsburger Kunstschrank in den Fokus der Forschung, das so genannte Hainhofer’sche Werkzeugkabinett. Er referiert dabei aus den laufenden Forschungen des Dresdner Kunstgewerbemuseums. Das Möbelstück galt lange Zeit aufgrund der beigefügten Tischplatte als Werkzeugtisch. Es handelt sich jedoch um einen Kabinettschrank, zu dessen Inhalt u. a. Jagdutensilien und verschiedene Werkzeuge gehören. Die dazugehörige Platte konnte neuesten Forschungen zufolge in ihre Einzelteile zerlegt im heute verlorenen Deckel des Schranks untergebracht werden. Bis heute ist unbekannt, wer der Käufer dieses Möbels war und wie es in die Kunstkammer des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. (reg. 1611– 1656) in Dresden gelangte. Die Dresdner Kunstkammer war eine wissenschaftlich-technisch orientierte Sammlung, sodass ein Kabinettstück wie dieses sich dort gut einfügte. Kallweit weist überzeugend nach, dass der Schrank trotz der „kompakte[n] Bauart“ kein Reisemöbel war, wovon ältere Forschungen noch ausgingen.15 Sein Hauptargument hierfür ist der Inhalt des Kabinetts, der vor allem Sammlungscharakter besitzt. Im Folgenden legt er ausführlich und klar formuliert dar, warum der Schrank Philipp Hainhofer zugesprochen werden sollte. Zudem zeigt er mit seinem Beitrag, wie Hainhofer die jeweiligen Vorlieben der fürstlichen Auftraggeber zum Anlass nahm, die Kunstschränke unterschiedlich zu gestalten. Das Dresdner Werkzeugkabinett fügte es sich gut in das Ziel der Kammer ein, die hauptsächlich der Repräsentation der Dynastie und des Territoriums diente und zudem als technisch-wissenschaftliche Institution eingerichtet worden war. So war es vielleicht wirklich von vorneherein für die Dresdner Kunstkammer konzipiert. Letztlich jedoch fehlen auch hier schriftliche Quellen.
Die vier Stammbücher Hainhofers mit ihren insgesamt rund 600 Einträgen stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Gerhard Seibold. Hainhofer sammelte über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten (1593–1646) Einträge für seine Stammbücher. Das Spektrum der InskribentInnen ist ausnehmend breit und erstreckt sich von hochrangigen Mitgliedern der europäischen „societé des princes“ bis zu Angehörigen der Hainhofer’schen Familie.16 Die Einträge selbst bestehen aus Unterschriften, Widmungen oder Sinnsprüchen. Drei der vier Stammbücher enthalten Wappen oder Zeichnungen, die teilweise von namhaften Künstlern wie Jeremias Günther, Hans von Aachen oder Georg Beham gefertigt wurden. Insgesamt hält sich der Erkenntnisgewinn des Aufsatzes leider in Grenzen: Zu monieren ist zunächst die ungenügende Kontextualisierung. Hainhofers Stammbücher werden weitgehend isoliert betrachtet, ohne die um 1600 stark ausgeprägte Stammbuchpraxis des Adels oder akademischer Kreise einzubeziehen. Damit korrespondiert, dass Seibold die einschlägigen neueren Forschungen zu Stammbüchern nicht rezipiert.17 Zuletzt muss auch hinter einige Detailergebnisse ein Fragezeichen gesetzt werden: So erörtert Seibold auf den Seiten 149 und 150 ausführlich, mit welchen Personen Hainhofer möglicherweise über die künstlerische Gestaltung seiner Stammbücher gesprochen haben könnte. Da entsprechende Quellen allerdings fehlen, handelt es sich hierbei – genau besehen – um Mutmaßungen.
Michael Wenzel analysiert in seinem sehr lesenswerten Aufsatz die Beziehung zwischen August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel und Hainhofer. Es handelt sich dabei um erste Ergebnisse des DFG-Projekts „Philipp Hainhofer – Kunstunternehmer und diplomatischer Akteur der Frühen Neuzeit“, dessen Bearbeiter Wenzel seit 2011 ist.18 Herzog August ernannte Hainhofer 1613 zu seinem Agenten und gewährte ihm mit 600 Reichstalern ein ausnehmend hohes Jahresgehalt. Beide unterhielten von 1613 bis zu Hainhofers Tod im Juli 1647 eine intensive Korrespondenz. Die Stärke des Beitrags liegt darin, dass Wenzel anhand der Beziehung zwischen Herzog und Agent zu allgemeineren Erkenntnissen – vor allem über die Fürstengesellschaft des frühen 17. Jahrhunderts – gelangt: Herzog August verfügte als nachgeborener Sohn zunächst nur über eine unstandesgemäße Residenz sowie ein Kleinstterritorium. Entsprechend intensiv bemühte er sich um die Akzeptanz seiner fürstlichen Standesgenossen und wurde hierbei maßgeblich von seinem Agenten unterstützt: Hainhofer versorgte Herzog August mit zahlreichen (Luxus-)Gütern, die für eine standesgemäße Lebensführung unerlässlich waren. Zweitens erwarb er Bücher und Schriften für die Wissenschaftsprojekte des Herzogs. Diese Projekte – allen voran Augusts Schachbuch – sollten ebenfalls in erster Linie die soziale Schätzung der fürstlichen Standesgenossen sichern. Drittens übernahm Hainhofer diplomatische Aufgaben bzw. Reisen für den im „kaiserfernen“ Norden residierenden Herzog. In Anbetracht des konzisen Beitrags von Michael Wenzel darf man auf die im Rahmen des DFG-Projekts geplante Monographie zu Philipp Hainhofer zweifelsohne gespannt sein.
Auf den Aufsatzteil folgt der 300-seitige Katalogteil, in dem die über 100 Exponate der Ausstellung erläutert werden. Auffällig am Katalogteil ist vor allem die unterschiedliche Länge der Texte: Während AutorInnen wie Gode Krämer oder Virginie Spenlé die einzelnen Exponate ausführlich beschreiben, hält Barbara Mundt ihre Ausführungen zum Inhalt des Pommerschen Kunstschranks bedauerlicherweise recht knapp. In ihrer 2009 erschienen Monographie hatte sie diese einzelnen Gegenstände dagegen gründlich beleuchtet.19 Zum besseren Verständnis der von ihr beschriebenen Exponate müsste man also ihre Monographie hinzuziehen.
Abgerundet wird der Katalog durch die 75 Seiten umfassende Edition von Philipp Hainhofers Diarium der schwedischen Besatzung Augsburgs. Die Aufzeichnungen setzen im April 1632 ein, als sich der schwedische König Gustav Adolf mit seinem Heer der Reichsstadt näherte, und enden im April 1635. Die Edition des Diariums ist überaus verdienstvoll – vor allem, weil Hainhofer darin die Geschichte eines weiteren Kunstschranks schildert, der unter seiner Federführung entstand: Im April 1632 erwarben die evangelischen Ratsherren Augsburgs von Hainhofer einen Kunstschrank aus Ebenholz, der „mit rarissimis naturalibus, und artificialibus verwunderlich“ eingerichtet sei.20 Er diente als Verehrung für König Gustav Adolf und wurde im Rahmen einer festlichen Tafel überreicht. Dieser Kunstschrank ist – anders als der Pommersche Kunstschrank – bis heute erhalten geblieben und kann im Museum der Universität Uppsala besichtigt werden.
Insgesamt überzeugt der Katalog durch seine wissenschaftliche Präzision, seine Informationsfülle sowie durch die hohe Qualität der zahlreichen Abbildungen. Ausstellung und Katalog schließen so wesentliche Forschungslücken und erweitern den Blick auf das hohe Niveau der Augsburger Künstler.
Forschungsdesiderate
Trotz der Fülle an neuen Erkenntnissen, die der Katalog liefert, sind noch keinesfalls alle Fragen beantwortet. So obliegt es zukünftigen Forschungen, „die Organisation der beteiligten Gewerbe“ zu analysieren und vor allem die zahlreichen am Kunstschrank beteiligten Künstler sowie ihre Werke zu erforschen und damit eine weitere Lücke in der Augsburger Kunstgeschichtsforschung zu schließen.21 Zu nennen wäre etwa das noch immer unbearbeitete OEuvre der Malers Johann König,22 aber auch der zahlreichen Kunsthandwerker der Stadt.23 Eben diese beiden Forschungsdesiderate sieht auch Sandra-Kristin Diefenthaler in ihrem Literaturbericht zum Pommerschen Kunstschrank. Aus kunsthistorischer Sicht bleibt dem nur zuzustimmen.
Und noch ein weiteres, ebenso lohnenswertes wie kaum bearbeitetes Forschungsfeld wird durch die Ausstellung bzw. den Katalog in den Fokus gerückt: die heterogene Gruppe der Agenten, die an frühneuzeitlichen Höfen, in Stadtrepubliken wie Genua oder Venedig sowie in Reichsstädten tätig waren. Es muss an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden, dass Philipp Hainhofer lediglich ein Agent unter vielen war – wenn auch ein ausnehmend erfolgreicher. Die bedeutendsten Erkenntnisse erbrachte bisher das Forschungsprojekt „Double Agents: Cultural and Political Brokerage in Early Modern Europe“, das von 2002 bis 2007 an der Universität Leiden angesiedelt war. Die beteiligten ForscherInnen richteten ihr Erkenntnisinteresse dabei besonders auf zwei Agenten-Typen: Einerseits Diplomaten, die für ihren Prinzipal zugleich Kunstgegenstände und Exotica erwarben bzw. Künstler und Musiker rekrutierten; andererseits Künstler, die im Auftrag ihres Prinzipals auch an Verhandlungen teilnahmen oder als Nachrichtenkolporteure tätig waren. Charakteristisch für beide Agenten-Typen – so Marika Keblusek – sei besonders „[the] flexibility in role-switching“ sowie die Nutzung ein und desselben Netzwerks für unterschiedliche Zwecke.24 Die Forschungsergebnisse des Leidener Agenten-Projekts liegen in Gestalt von zwei Sammelbänden vor.25 Bei aufmerksamer Lektüre wird jedoch rasch offenbar, dass die Forschungen zu frühneuzeitlichen Agenten de facto noch am Anfang stehen: Erstens behandeln die Fallstudien ausschließlich Agenten aus Italien, Spanien sowie dem west- und nordeuropäischen Raum, d. h. den Niederlanden, Frankreich und Skandinavien. Mit anderen Worten: Die im frühneuzeitlichen Reich tätigen Agenten wurden nicht in den Blick genommen. Zweitens ist der Untersuchungszeitraum faktisch auf die Jahre von 1550 bis 1650 beschränkt. Wer sich hingegen über die (Kunst-)Agenten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts informieren möchte, ist vor allem auf die luziden Publikationen von Robert Felfe angewiesen.26
Es bleibt somit zu hoffen, dass die überaus sehenswerte Ausstellung sowie der gelungene Katalog auch dazu beitragen, die (kunst-)historische Forschung auf die zahlreichen Agenten aufmerksam zu machen, die im Schatten Philipp Hainhofers noch auf ihre Erforschung harren.
Printversion: Frühneuzeit-Info 25, 2014, S. 297–303.
[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]
Achtes Kapitel
Über den Magister Petrus Cantor von Paris
Einer von ihnen war damals, gleich der „Lilie unter den Dornen“[1] und der Rose unter den Nesseln, gleichsam auch dem Engel von Pergamon, wo der Thron Satans steht, Weihrauchdüfte ausströmend in diesen Tagen, wie ein festes Gefäß aus Gold, das mit allen kostbaren Steinen geschmückt ist, wie die anschwellende Olive und die Zypresse, die sich in die Höhe erhebt, gleichsam die Trompete des Himmels und der Lautenschläger des Herrn, der Magister Petrus, verehrungswürdiger Cantor von Paris.[2] Er war ein Mann, mächtig in Taten und Predigt, der sein Gold und Silber zusammenschmolz und aus seinen Worten eine Waage machte, auf die er die Ehrbarkeit seiner Sitten und das Gewicht und die Bedeutung seiner Lehre legte. Er nahm es an zu handeln und zu lehren wie die „Lampe, die brennt und leuchtet“,[3] und wie die Stadt, die auf dem Berg liegt, und der goldene Kerzenhalter im Haus des Herrn.
Von der Predigt des Fulk
Aus dessen reinster Quelle wollte der besagte Priester Fulk trinken, als er mit Tafel und Schreibgriffel demütig seine Schule betrat, um gewisse moralische und gewöhnliche Worte, die er gemäß dem Fassungsvermögen seines Geistes aus dem Mund seines Lehrers aufnehmen und sammeln konnte, häufig wiederzukäuen und so dem Gedächtnis fest einzuprägen. An Festtagen jedoch kehrte er zu seiner Kirche zurück und verteilte das, was er während der ganzen Woche eifrig gesammelt hatte, gewissenhaft an seine Schäfchen. Und weil er sich über wenigen als treu erwies, setzte der Herr ihn über viele ein.
Wenn er aber vor allem von den benachbarten Priestern gerufen und eingeladen wurde, weil er versuchte, mit Furcht und Scheu den einfachen Laien auf schlichte und volkstümliche Weise das zu predigen, was er gehört hatte, dann war er wie ein Hirte, „der Maulbeerfeigen züchtet.“[4] Sein verehrungswürdiger und kluger Lehrer, der den Eifer und die Glut seines Schülers, des armen und ungebildeten Priesters, bemerkte und dessen Glauben und Hingabe an die Liebe mit Fleisch umkleiden wollte, drängte ihn, in seinem Beisein vor den vielen gebildeten Gelehrten von Paris zu predigen. Der Herr gab seinem neuen Streiter jedoch soviel Gnade und Tüchtigkeit, dass sein Lehrer und andere, die zuhörten, voller Bewunderung bestätigten, dass der Heilige Geist „in ihm und durch ihn“[5] sprach. Hierauf liefen dann auch weitere, sowohl Doktoren als auch Schüler, zu seiner ungeschliffenen und schlichten Predigt zusammen. Der eine lud den anderen ein und die Zuhörerschaft zog weitere Zuhörer an, wobei man sprach: „Kommt und hört den Priester Fulk, der wie ein zweiter Paulus ist.“ Er selbst jedoch, gestärkt durch den Herrn und angetan mit der Kraft aus der Höhe, wie Samson mit dem Kieferknochen des Esels, nahm es auf sich, gegen die Bestien von Ephesus zu kämpfen und die Ungeheuer der Sünden kraftvoll niederzuwerfen, wobei der Herr ihn stützte.
Als er eines Tages auf einem großen Platz der Stadt Paris, der im Volksmund Champel genannt wird, den Samen der göttlichen Predigt auf den Acker des Herrn ausstreute, während sich eine große Menge von Klerikern und Volk vor ihm versammelt hatte, da öffnete sich sein Gesicht und der Herr erfüllte es, wie geschrieben steht: „Der Mensch, der austeilt, dem wird zuteil werden, und wer erquickt, wird erquickt werden.“[6] Der Herr öffnete ihm den Sinn, damit er die Schriften erkenne, und er fügte seinen Worten soviel Gnade hinzu, dass viele, die gestochen und gequält zur Buße hin drängten, mit abgelegten Kleidern und unbeschuhten Füßen, Ruten und Riemen in den Händen tragend, sich zu seinen Füßen niederwarfen. Sie bekannten ihre Sünden vor allen Leuten und übergaben aufseufzend sich selbst und das ihre seinem Willen und Befehl. Er jedoch dankte dem Herr, der die Macht hat, aus Steinen Kinder Abrahams zu errichten, und nahm alle mit dem Kuss des Friedens an. Die Soldaten verpflichtete er, niemanden zu bedrängen, sondern mit ihrem Sold zufrieden zu sein, die Wucherer und Räuber aber, alles nach ihrem Vermögen zurück zu erstatten. Die Huren rauften sich die Haare und schworen der gewohnten Schlechtigkeit ab, aber auch andere Sünder widersagten unter Tränen dem Satan und seinem Pomp und erbaten Gnade von ihm. Nicht nur entzündete er sie durch die feurige Redegewandtheit des Herrn zur Reue, sondern der Herr stellte durch ihn auch viele Elende und durch zahlreiche Erschlaffungen Niedergedrückte wieder in Gesundheit her, wie es die bestätigen, die versichern, dass sie dies mit eigenen Augen gesehen hätten.
Von den Taten und Werken des Fulk
Fulk jedoch, der die Gnade Gottes nicht einfach so annahm, sondern sich eilte, das ihm anvertraute Talent klug und fleißig zu vermehren, ertrug auch Hunger, wie ein Hund, der durch die Stadt streunt. Nachdem er sogar das ganze Königreich Frankreich und weite Teile des Reiches „im Verlangen seines Geistes“[7] durcheilt hatte, zerschmetterte er mit leidenschaftlichem Sinn die Schiffe von Tharsus. Gegenwärtig bequem, aber unbequem in der Vergangenheit, und nun von der Nachwelt vergessen, mühte er sich ab. Er bewahrte sein Schwert nicht vor Blut, sondern gürtete es über seine Hüfte und ging von Tür zu Tür und mitten durch die Städte, ohne Ansehen der Person. „Mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“[8] kämpfte er die Gefechte des Herrn. Und weil der lebende Hund besser als der tote Löwe ist, hörte er nicht auf, mit ständigem Gebell die Wölfe von den Schafen des Herrn fernzuhalten, wobei er den Ungelehrten das Wort der Lehre zur Speise gab und mit dem Wort des Trostes die Untröstlichen stärkte. Die Zweifelnden belehrte und unterrichtete er mit dem Wort des Rates, die Widerstrebenden bedachte er mit Scheltworten, die Irrenden mit Tadel, die Trägen mit Ermunterung und die sich Aufmachenden mit Ermahnung. Und weil er so ungeheuer brannte, entzündete er ganze Völker mit schlichten und einfachen Worten, und zwar nicht nur die Geringen, sondern auch Könige und Fürsten, weil keiner es wagte oder vermochte, ihm zu widerstehen. Vielmehr strömten und liefen sie herbei aus weit entfernten Landstrichen, um ihn zu hören und zu sehen, welche Wunder der Herr durch ihn bewirkte.
Viele der Kranken wurden jedoch auf Betten getragen, und man setzte sie auf den Straßen und Plätzen ab, durch die er gehen würde, damit sie, wenn er käme, den Saum seines Gewandes berühren könnten und geheilt würden von ihren Gebrechen. Wann immer er sie aber berührte, wenn er nicht durch die Menge dringen konnte, segnete er sie oder er reichte ihnen gesegnetes Wasser aus seiner Hand zu trinken. So groß war der Glaube und die Hingabe der Kranken und derer, die diese herbeibrachten, dass nicht nur durch die Verdienste des Dieners Gottes, sondern auch durch die Glut des Geistes und die Größe des nicht schwankenden Glaubens viele es sich verdienten geheilt zu werden.
Glücklich schätzten sich jedoch die, die es vermochten, von seinen Kleidern ein Stück abzureißen und für sich zu behalten. Weil seine Kleider auf diese Weise gekürzt und von der Menge des Volkes zerstückelt wurden, brauchte er innerhalb weniger Tage eine neue Kutte. Und weil die Volksmenge ihn oft unerträglich bedrängte, hielt er ungehörige Menschen mit einem Stock, den er in der Hand führte, durch festes Zuschlagen von sich fern, damit er nicht von denen, die ihn zu berühren wünschten, erstickt würde. Wenn er auch manchmal die Geschlagenen verwundete, waren diese nicht beleidigt oder murrten, sondern aus übergroßer Hingabe und Festigkeit des Glaubens küssten sie ihr Blut, gleichsam als etwas, das Gott von einem Menschen dargebracht wird. Als aber eines Tages einer auf dreiste Weise zu sehr an seiner Kutte riss, da sprach er zur Menge und sagte: „Zerreißt nicht meine Kleider, die nicht gesegnet sind. Ich werde jedoch die Kutte dieses Menschen segnen.“ Sobald er aber das Zeichen des Kreuzes gemacht hatte, zerrissen sie die Kutte jenes Mannes, um die Teile als Reliquien aufzubewahren.
Er jedoch war der Hammer der Gierigen und schlug nicht nur auf die Wucherer hernieder, sondern auch auf jene, die durch ihre Habgier viel zusammenrafften, und ganz besonders in jenen Tagen, in denen die Lebensmittelteuerung groß war. Er jedoch rief häufig aus: „Gib dem vor Hunger Umkommenden zu essen, denn wenn du nicht gezittert haben wirst, bist du gefallen.“ Als er aber an einem gewissen Tag in seiner Predigt sagte, dass die Menschen verflucht seien, die Getreide versteckten, anstatt es für einen maßvollen Preis vor der kommenden Ernte zu verkaufen, und dass die Zeit der Teuerung bald ein Ende haben würde, da stellten alle aufgrund seiner Worte, wie wenn der Herr gesprochen hätte, den Jahresertrag, den sie versteckt hatten, eiligst als Ware zu Verfügung und zeigten so [ihren] Glauben. Und seitdem gemäß seiner Worte gehandelt wurde, waren überall Lebensmittel zu einem gemäßigten Preis verfügbar.
Er jedoch wurde gegen die verstockten Sünder und diejenigen, die davon abstanden, zum Herrn bekehrt zu werden, mit solchem Zorn bewegt, da er die Abweichler sah und sich grämte, dass er diese oft verfluchte, oder vorgab, sie zu verfluchen. Weil sie sich aber entsetzten vor seinem schmähenden Donner und Blitz, pflichteten alle seinen Anordnungen bei, besonders als einige bezeugten, dass welche der von ihm Verfluchten von einem Dämon zerrissen worden waren und andere plötzlich zu Boden gefallen waren und dabei Schaum vor dem Mund hatten, so dass sie denen ähnlich wurden, die an einer tödlichen Krankheit leiden. Aber durch die Härte der Buße, weil er immer angetan war mit einem schweren Bußgewand und meistens mit einem Panzerhemd, wie man sagt, und durch die übergroße Plage ermüdet war, wurde er häufig zum Zorn bewegt. Wenn er dann stehenden Fußes die verfluchte, die ihn bedrängten, oder jene, die seine Predigten durch Gerede unterbrachen, dann entstand plötzlich eine große Stille, während alle zu Boden fielen.
Die unkeuschen Priester und ihre Konkubinen, die er Gespann des Teufels nannte, verfolgte er mit soviel Schelten und Fluchen, dass diese von einer übergroßen Ehrfurcht geschlagen wurden, während alle auf jene, die derart waren, mit dem Finger zeigten und hinter denselben herschrien. So ergab es sich auch, dass fast alle Köchinnen (Dirnen) deswegen ihre Priester verließen.
Eine edle Dame aber ermahnte in ihrer Villa häufig einen Priester, dass er seine Konkubine verlassen möge, er jedoch lehnte ab und antwortete: „Was gehen Euch die Priester an?“ Dieselbe entgegnete: „Ich vermag gegen Euch keine Gerechtigkeit zu erwirken, aber dennoch schauen in dieser Stadt die, die keine Kleriker sind, auf meinen rechtlichen Rat.“ Sie befahl, dass die Konkubine des Priesters zu ihr geführt werde, und machte ihr eine prächtige Krone, wobei sie zu ihr sagte: „Weil du den Priester nicht verlassen willst, will ich dich zur Priesterin weihen.“
Einem anderen Priester schlug sein Bischof vor, dass er entweder die Köchin (Dirne) oder die Pfarrei verlassen solle. Jener jedoch, weinend und klagend, meinte, dass er lieber die Kirche verlassen wolle als die Konkubine. Als er jedoch die Kirche aufgegeben hatte, sah die Hure, dass ihr Priester nun arm war, weil er keine Einkünfte mehr hatte. Und da er verachtet wurde, verließ sie ihn. So verlor der Elende die Kirche und ebenso die Konkubine.
Fast alle öffentlichen Huren, an welchen Ort auch immer dieser Streiter Christi kam, verließen die Bordelle und strömten zu ihm, der sie größtenteils in eine Ehe vermittelte. Andere jedoch schloss er in Klöster ein, damit sie reguliert lebten. Deshalb wurde außerhalb der Stadt Paris, nicht weit von ihr, das Kloster des heiligen Antonius vom Orden der Zisterzienser von der Weihe an eingerichtet, damit solche Frauen in ihm Aufnahme fänden.
Aber auch an anderen Orten und Städten, wo dieser heilige Mann Quellen und Brunnen segnete, während eine Menge an Kranken zusammenströmte, wurden Kapellen errichtet und Hospitäler erbaut.
Soviel Macht und Gnade verlieh aber der Herr seinen Worten, dass die Magister und Gelehrten von Paris ihrerseits, während sie Tafeln und Blätter zu seiner Predigt mitbrachten und die Worte aus seinem Mund sammelten, niederschrieben, was aber dennoch im Mund eines anderen nicht so schmeckte. Noch brachte das von anderen Gepredigte eine ähnlich reiche Frucht. Der Schall seiner Predigt aber weckte die gesamte christliche Welt auf, und das Gerücht um seine Heiligkeit wurde überall bekannt.
Seine Schüler aber, die er wie die Jünger Christi überallhin zum Predigen schickte, wurden von allen mit höchster Ehre und Achtung empfangen. Einer von ihnen jedoch, der unter ihnen hervorstach, sehr beredsam war und die meiste Frucht zu tragen schien, genannt Magister Petrus von Roissy, befleckte seinen Ruhm. Er nämlich, der den Weg der Vollkommenheit angenommen hatte und Armut predigte, wurde bei einer Predigt mit Reichtum und Gaben überschüttet und zum Kanonikus und Vorsteher der Kirche von Chartres gemacht. Und der aus Rauch Licht hervorbringen sollte, machte nun aus Licht Rauch. Durch diese Sache machte er nicht nur seine eigene Lehre verächtlich, sondern auch den anderen Schülern des Predigers Fulk wurde viel (Vertrauen) diesbezüglich entzogen.
Der heilige Mann aber, während er dem Herrn an jedem einzelnen Tag viele Seelen gewann, dabei aber zuletzt das Zeichen des Kreuzes auf seinen Schultern trug, nahm es auf sich, durch Beispiel und Wort Fürsten, Soldaten und Menschen jedweder Art zur Hilfe für das Heilige Land einzuladen, anzufeuern und zu ermahnen. Aber er nahm es auch auf sich, von den Gläubigen viel Geld an Spenden zu sammeln, das er den mit dem Kreuz bezeichneten Armen, sowohl den Soldaten als auch den anderen, zur Verwendung stellen wollte. Obgleich er diese Kollekte nicht aus Gier oder einer anderen bösartigen Absicht heraus veranstaltete, nahmen seine Autorität und sein Ruhm dennoch durch den verborgenen Ratschluss Gottes ab da großen Schaden bei den Menschen. Und während das Geld sich vermehrte, nahmen Ehrfurcht und Respekt ab.
Er selbst jedoch ging wenige Zeit später, nachdem er von einem heftigen Fieber erfasst worden war, in einem Ort namens Neuilly den Weg allen Fleisches und wurde dort in der Pfarrkirche, der er vorstand, begraben. Als dann viele aus weit entfernten und nahen Gegenden zu seinem Grab zusammenliefen, wurde sein Werk, das er begonnen hatte, mit den Spenden der zusammenströmenden Pilger ganz und gar vollendet. Er hatte nämlich zu Beginn seiner Bekehrung gegen den Willen aller Laien seinen Pfarrkindern versprochen, bevor er die Kirche abrisse,[9] würde er das gesamte Werk, obschon es sehr kostspielig war, vollenden, ohne sie zu belasten.
[1] Hld 2,2
[2] Petrus Cantor († 1197), Kanoniker in Notre-Dame de Paris, Magister an der dortigen Domschule, Lehrer des Fulk Neuilly, vgl. den nächsten Absatz und Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120).
[3] Joh 5,35
[4] Am 7,14
[5] Röm 11,36
[6] Spr 11,25
[7] Dan 14,35
[8] 2 Kor 6,7
[9] Gemeint ist vermutlich der Abriss vor dem Neubau, dem kostspieligen “Werk” Fulks, das sich erst durch die Spenden der Pilger vollenden ließ.
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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).