Max meets LISA spezial: New Science on the Blog?


Internationale Herausforderungen für wissenschaftliche Blogs

Wissenschaftliche Blogs haben sich zu einem Leitmedium entwickelt: Sie ermöglichen einfaches Publizieren, freien Zugang zu Forschungsdaten und innovative Formen der Darstellung. Mit der Offenheit stellen sich aber auch die Fragen nach Reputation, Qualitätssicherung und Mehrsprachigkeit. Was passiert, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst zu Medienproduzenten werden? Müssen Wissenschaftskommunikatoren heute Community Manager sein, Moderatoren eines Dialogs von Wissenschaftlern untereinander und mit der breiteren Öffentlichkeit? Wie verändert sich Wissenschaftskommunikation, wenn es keine Zielgruppen mehr gibt, sondern sich alle in dialogischen Netzwerken bewegen? Welche Bedingungen brauchen wir, um die Potenziale der Sozialen Medien effektiv zu nutzen?

Auf dem 8. Forum Wissenschaftskommunikation haben am 1. Dezember 2015 Lars Fischer (Spektrum der Wissenschaft), Mareike König (Deutsches Historisches Institut Paris), Henning Krause (Helmholtz Gemeinschaft) und Nadia von Maltzahn (Orient-Institut Beirut) mit Gesche Schifferdecker (Geschäftsstelle der Max Weber Stiftung) Fragen digitaler Wissenschaftskommunikation diskutiert.

[...]

Quelle: http://mws.hypotheses.org/31910

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Wissenschaft. Und der Rest der Welt

Naturwissenschaft – so scheint der Konsens in Deutschland zu lauten – ist gleichzusetzen mit “Wissenschaft”. Die im Englischen übliche Differenzierung von Science und Humanities scheint also vollständig in die deutsche Sprache und Wissenschaftskultur eingesickert zu sein.

In den vergangenen drei Tagen besuchte ich die Summerschool “Wissenschaft kommunizieren” im Haus der Wissenschaft in Braunschweig. Um es kurz zu machen: Als Geisteswissenschaftlerin fühlte ich mich dort völlig deplatziert — aber warum?

Im Nachhinein – man ist zu diesem Zeitpunkt gemeinhin schlauer! – bin ich ziemlich blauäugig an die ganze Sache herangegangen. Ich bin Wissenschaftlerin mit hoher Web 2.0-Affinität, ich befasse mich gerne und oft mit Sprache, Kommunikation fand ich schon immer super und ich habe in der Vergangenheit schon einige PR-Projekte erfolgreich umgesetzt. Dies waren meine Kriterien, den Claim “Wissenschaft kommunizieren” als direkt als auf meine Person maßgeschneidertes Angebot wahrzunehmen.

Braunschweiger Löwe

Brüllt einsam. Braunschweiger Löwe (Kopie der Bronze aus dem späten 12. Jh.)

Diese Annahme wurde eigentlich sofort enttäuscht und es liegt weder primär an den ReferentInnen, noch an den OrganisatorInnen und nicht einmal an den TeilnehmerInnen. Nein.  Es handelt sich, wie ich denke, um ein strukturelles Problem. Die Naturwissenschaften mit ihrem nachgeordneten unmittelbaren Nutzen für verschiedene Industriezweige, angefangen von der Pharmazie bis hin zur Weltraumtechnik, die bekanntlich auch Innovationen wie Thermos-Kannen und Klettverschlüsse ins tägliche Leben bringt:  sie alle bewegen mehr Kapital. Es fließen höhere Fördersummen, weil ein Output erwartet wird, der sich langfristig quantifizierbar im Bruttosozialprodukt niederschlägt. Die Politik hat hieran ein höheres Interesse und fördert “Wissenschaftskommunikation”, wie man an den Geldgebern und Kooperationspartnern des Veranstalters , wissenschaft-im-dialog ersehen kann. Nicht zuletzt fand die Veranstaltung an einem Technologiestandort statt.

Schon, wenn ich das schreibe, komme ich mir wie ein lebendes Fossil vor. Welche Relevanz hat das, was ich tue für die Welt? Wenig bis gar keine?

Dabei wird es komplizierter: Mit meinem Weggang von Österreich bin ich nun von der Kunstgeschichte in den Fachbereich “Kunstwissenschaften und Medientheorie” gewechselt. Kunstwissenschaft lässt sich nicht ins Englische übertragen: “Science of Art” oder “Art Science” sind undenkbare Sprachkonstrukte. Einer der Pioniere, welche die Kunstgeschichte aus der Historiographie heraus näher heran an die empirisch operierenden Fächer rücken wollten, war aber Hans Sedlmayr. Sedlmayr favorisierte einen datenbasierten ahistorischen Zugang. Er scheiterte, das Verfahren ist problematisch. Valide Daten und harte Fakten, das sind Werte, die mir beispielsweise per se Wahrheit suggerieren. Auch ich würde gerne nur mit reinen Fakten operieren, aber ich werde gleich schildern, warum das nicht geht.

Daten  sind, wie ich meine allesamt – und das schließt meines Erachtens auch die Naturwissenschaften mit ein – abhängig von den Parametern, in denen sie generiert werden sowie ihrer jeweiligen Interpretation. Die Objektivität ist oft eine vermeintliche. Es ist allerdings ein philosophisches Problem zu definieren, ab wann wahre Aussagen produziert werden, darauf möchte ich mich jetzt gar nicht einlassen, weil das auch zu weit führt.

Wissenschaftskommunikation und auch Wissenschaftsjournalismus , so mein Eindruck, betrifft in der Regel naturwissenschaftliche Inhalte. Die Geisteswissenschaften finden im Feuilleton statt. Daher auch der Eindruck meiner KollegInnen (VertreterInnen der dominanten Gruppe, nämlich aus den Naturwissenschaften stammend), nur in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur würde “gerecht”, also objektiv (!) berichtet werden, während man sich nur in der “Wissenschaft” mit dieser fiesen Ökonomie der Aufmerksamkeit herumzuschlagen habe.

Ich sage es an dieser Stelle frei heraus:

Das “Wissenschaft” in der Öffentlichkeit und in der Community so derartig einseitig definiert wird, ist nicht hinnehmbar!

Hier muss man sofort ansetzen und Lobbyarbeit seitens der Dachverbände der Disziplinen starten, um zu kommunizieren, dass es uns gibt, wer wir sind und was wir warum wie machen.

Ich habe drei Tage lang meine eigene Relevanz befragt und kann daher Einiges dazu sagen:

Ich versuche zu verstehen, wie die Kultur in der wir leben, funktioniert. Dafür habe ich mir als konkretes Untersuchungsobjekt eine Person ausgesucht, die einerseits die Kunstgeschichte als Disziplin mitgeprägt hat, andererseits aber auch die öffentliche Meinung über das was Kunst ist und sein kann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. “Verlust der Mitte” wird von der Generation der kulturinteressierten 60-Jährigen in Deutschland gekannt. Das Buch transportiert aber nicht nur die persönliche Meinung seines Autors, sondern einen Diskurs, also eine gewisse Menge an Meinungen. Als Diskurs bezeichnen wir – mit Foucault – die Art und Weise wie Wissen produziert und tradiert wird. Diese Struktur ist nicht offensichtlich, sondern sie kann durch Analysen offengelegt werden. Foucault kann deshalb als Poststrukturalist bezeichnet werden, weil er Strukturen dekonstruiert, indem er sie offenlegt, aufzeigt, transparent macht. Ich will zeigen, wann dieser modernekritische Diskurs entstanden ist, wie er sich bei Sedlmayr manifestiert und auf welche Art und Weise er bis heute existiert. Das ist ein unbequemes Thema, weil ich zeigen kann, dass Paradigmen in der Kunstgeschichte und darüber hinaus im Kunstdiskurs herumgeistern, die längst überwunden geglaubte totalitaristische Ressentiments weiter transportieren. Ich hoffe, damit einen Beitrag zur Selbstreflexion der Gesellschaft insgesamt zu leisten. Als Einzelperson muss ich mich auf einen relativ kleinen Bereich konzentrieren – aber das ist in den meisten naturwissenschaftlichen Studien auch so.

In meiner Summerschool, in der ich zunehmend eine Verweigerungshaltung entwickelte, habe ich mir überlegt, diesen Blogartikel zu verfassen. Ich habe einige Ideen, für weitere Blogartikel in petto und ich habe mir vorgenommen, Twitter wieder stärker zu nutzen. Mir ist ein großes Defizit bewusst geworden, denn es besteht in der Wissenschaft und insbesondere in den Geisteswissenschaften eine große Kommunikationsskepsis. Selbstermächtigung – eigenes, unautorisiertes, wildes Publizieren wird nicht oder selten goutiert.

Die Chance für einen Dialog zwischen den Wissenschaftskulturen wurde in Braunschweig versäumt. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, frontal unterrichtet zu werden. Dass sich außerhalb der Kaffeepause keiner der überwiegend männlichen Referenten für die zu 90% weiblich Teilnehmerschaft und ihre Motivation, ihnen zuzuhören, interessiert, bin ich im postgradualen Feld in dieser Form nicht mehr gewöhnt. In Arbeitsgruppen eingeteilt wurde ich zuletzt … ja wann eigentlich? Im Kindergarten? Dem einschränkend ist hinzuzufügen, dass ich mit dieser Meinung eine Einzelposition vertrete, die dominante Gruppe, auf die das Ganze zugeschnitten war, übte positives Feedback. Mir persönlich bleiben aber zu wenig greifbare Facts auf viel Unbehagen. Das ist nicht schlimm, es ist oft der erste Schritt in etwas Neues.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/558

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Das Schöpfungsportal des Freiburger Münsters

Gastbeitrag von Michael Schonhardt (Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.)

Einleitung

Seit dem 30. November 2013 empfängt das Augustiner-Museum Freiburg seine Besucher zur großen Baustelle Gotik. Die Sonderausstellung erfreut sich seitdem größter Beliebtheit und wurde unlängst bis Oktober 2014 verlängert. Gleich zu Beginn, am Eingang des großen Ausstellungsraumes, wird der Besucher von einem – gerade im Mittelalter – eher versteckten Schatz des Münsters begrüßt.1

Dieses kleinere Portal auf der Nordseite des spätgotischen Chores steht natürlich im Schatten der monumentalen Portalvorhalle im Westen. Durch seine besondere ikonographische Gestaltung der Genesis-Geschichte ist das Portal aber äußerst faszinierend, und das nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern gerade auch für Wissenschaftshistoriker. Es erlaubt einen Einblick in den Stand der Wissenschaften in der Stadt Freiburg und deren Verbindungen zum Oberrhein im 14. Jahrhundert. Gerade deswegen ist es äußerst erfreulich, dass dieses Portal 2006 nicht nur umfassend restauriert wurde2, sondern seit dieser Zeit von verschiedenen Seiten neue Thesen zu Funktion, Baugeschichte und ideengeschichtlichem Hintergrund des Portals vorgelegt wurden.

Der folgende Beitrag möchte sich in Anlehnung an diese Forschung vor allem den kosmologischen Modellen der Archivoltfiguren, insbesondere des vierten Schöpfungstages, widmen. Zunächst soll die Außenansicht des Portals, dann der aktuelle Forschungsstand kurz vorgestellt werden. Darauf aufbauend möchte ich einige der jüngeren Thesen zum geistigen Hintergrund der Darstellungen kritisch würdigen und aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte ergänzen.

Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Das Portal befindet sich auf der Nordseite des spätgotischen Chores und führte zur alten Andreaskapelle auf dem ehemaligen Friedhof. Ikonographisch ist das Portal (zumindest auf seiner Außenseite) ganz dem Genesisbericht verpflichtet: Während die Figuren der Archivolte die Schöpfung der Welt, aller Geschöpfe und des Menschen darstellen, behandelt das Tympanon in seinem oberen Feld, also dem Bogenscheitel, zunächst den Engelsturz.

Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Darunter werden die Ursünde und die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies sowie die tägliche Mühsal als Folge ihres Vergehens geschildert. Die Figuren der Archivolten stellen die Schöpfung in einer zunächst befremdlichen Reihenfolge dar:

Beginnend oben links zeigt die erste Figur die Erschaffung des Himmelsgewölbes (Tag 1). Daneben scheidet Gott Vater das Licht von der Dunkelheit (Tag 2). Es folgt darunter die Erschaffung der Bäume am dritten Tag. Es folgt ein Sprung auf die linke Seite, wo die Erschaffung der Gestirne (4. Tag) anhand eines Sphärenmodells des Kosmos dargestellt ist.

Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Ein erneuter Sprung führ zurück auf die rechte Seite zum fünften Tag, an dem die Fische und Vögel das Licht der Welt erblicken. Die drei übrigen Szenen der linken Seite illustrieren die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag, bis Gottvater nach getanem Werk ruht (rechte Seite, vorletzte Figur). Die letzte Figurenszene zeigt die Vermählung von Adam und Eva.

Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

In der Genesis heißt es dazu:

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. […].

Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen; sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, die über die Erde hin leuchten. So geschah es. Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hin leuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war.“3

Betrachtet man die entsprechenden Darstellungen des Freiburger Portals, vor allem der Erschaffung des Kosmos und der Gestirne, so wird deutlich, dass man sich hier nicht auf eine reine Wiedergabe des Genesistextes beschränkte. Vielmehr wurden naturwissenschaftliche Kosmos-Modelle der Zeit integriert, die in ihrem Informationsgehalt weit über den biblischen Bericht hinausgehen.  Vor allem der vierte Schöpfungstag, also die Erschaffung der Gestirne, besticht durch ein detailliertes Sphärenmodell, auf das im Folgenden mehrfach zurückzukommen sein wird (siehe Bild “Vierter Schöpfungstag”). In Freiburg verbindet sich also das biblische Wissen über die Schöpfung mit zeitgenössisch naturwissenschaftlichem Wissen über den Aufbau des Kosmos. Am Freiburger Schöpfungsportal, so stellte Karl Schaefer 1899 fest, „waltet ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“4

Forschungsstand

Mit Schaefers Aufsatz im Schau-ins-Land beginnt auch die wissenschaftliche Erforschung dieses Portals. Auch wenn dessen Arbeit sicherlich das Verdienst der ersten Würdigung des Portals zusteht, seine Thesen stellten sich freilich recht schnell als fragwürdig heraus. Die wichtigsten Meilensteine der älteren Forschung nach Schaefer sind die 1915 vorgelegte Studie des Freiburger Kunsthistorikers Wilhelm Vöge5 sowie ein Aufsatz von Adolf Weis von 19526. Daneben wurde das Chorportal natürlich auch in der Übersichtsliteratur zum Freiburger Münster rezipiert.7 Nach einer längeren Pause wurden 2005 und dann im Zuge der Restauration des Portals 2006 und 2007 gleich mehrere wissenschaftliche Publikationen zum Schöpfungsportal vorgelegt, zum einen eine Reihe baugeschichtlicher Studien,8 zum anderen aber auch neue Deutungsversuche9.

Besonders drei Fragen standen im Fokus dieser Forschungen:

  1. Die Frage nach der Einheitlichkeit des Portals und der Urheberschaft der Skulpturen (insbesondere das Verhältnis zur Parlerschule).
  2. Die stilistische Einordnung des Werks und die Frage nach etwaigen Vorbildern.
  3. Das ikonographische Programm und dessen kulturhistorischer Hintergrund.

Schaefer betonte 1899 – nicht ganz zu recht – die Einmaligkeit und Besonderheit des Zyklus, machte aber bereits auf vergleichbare Skulpturen in Worms, Ulm und vor allem Thann aufmerksam. Den „Freiburger Meister“ begrüßt er „als hochbegabten, selbstständig schaffenden, denkenden Künstler“.10 Die Entstehung der Figuren „möchte [… er] am liebsten in die Zeit vor 1400 setzen.“11 „Es macht ganz entschieden den Eindruck, als sei der ganze Bilderschmuck des Portals von einer Hand ausgeführt […].“12

Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Diesen Thesen widersprach Wilhelm Vöge entschieden in seinem Beitrag für die Freiburger Münsterblätter. Hier nimmt er dezidiert Stellung gegen Schaefers Datierung und dessen These über die Urheberschaft eines einzelnen Meisters: „[W]ir haben, irre ich nicht, aus dieser Zeit nur wenige Portale, die ein so interessantes Neben- und Nacheinander verschiedener Hände und Stile zeigen, wie dieses, an sich nicht bedeutende Freiburger Chorportal der Nordseite.“13 Nach Vöge sei das Portal nicht aus einem Guss geschaffen, sondern ein Konglomerat verschiedener Stile, die teilweise eine oberrheinische Verbindung, insbesondere nach Straßburg, nahelegen: „Der Meister aber, der den Figurenschmuck der Archivolte – die Schöpfungsgeschichte – begonnen hat, ist nach Stil und Wesen weit altertümlicher als die anderen, ist der oberrheinischen – Straßburg-Freiburger – Blüte des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts noch rätselhaft nah.“14

Anders als Paul Hartmann15 reduziert Vöge den Einfluss der berühmten Parlerschule auf das Portal und spart gerade die interessanten Schöpfungsfiguren von diesem aus. Diese Figuren habe man schon ganz zu Beginn der Chorbauten erstellt, als die Parler damit noch nichts zu tun hatten (laut Inschrift begannen die Arbeiten am Chor 1354, erst 1359 wird Johann Parler mit der Bauleitung betraut)16.

Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

Er stellt abschließend fest: „[U]nser Meister der ersten Schöpfungstage, der älteste der am Portal beteiligten Meister, hat mit Schwaben und den Parlern nicht das geringste zu tun […]. Er ist Oberrheiner, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob er mehr in Straßburg oder in Freiburg zu Hause war.“17

Vöges These einer Verbindung nach Straßburg wurde durch die nachfolgende Forschung weitgehend geteilt,18 wenngleich im Detail unterschiedlich bewertet. Während Kempf in seinem Freiburger Münster19 eine getreue Übernahme des Zyklus aus Straßburg annahm, vertrat Otto Schmitt20 die These einer Erweiterung des Skulpturenprogramms.

Ein grundlegend wissenschaftlicher Fortschritt gelang erst wieder 1952 durch Adolf Weis,21 der das ikonographische Programm der Figuren eingehend würdigte. Weis folgte Vöge darin, dass die ersten Figuren der Archivoltengruppen (die oberen zwei Szenen der linken Seite sowie die oberen drei Szenen der rechten Seite) der Straßburger Bildhauerwerkstatt um 1300 nahe stünden. Im Vergleich zu den anderen Figuren des Portals bestünde ein „tiefgreifende[r] Unterschied in Geist und Form“, der „zwingend auf den Anteil von mehreren Meistern oder zumindest Werkstätten an unserem Portal“ hinweist. Er  vermutet eine „grundlegende Planänderung“ für das Portal, die sich dadurch erklären ließe, „daß bereits im frühen 14. Jahrhundert ein Schöpfungsportal – vielleicht schon für einen neuen Chorbau – projektiert und begonnen, aber nicht vollendet wurde, von dem dann die ausgeführten Teile am heutigen Nordeingang verwendet wurden“.22

Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinskus 2009.

Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinkus 2009.

Nicht nur der Stil des Meisters der fünf oberen Archivoltenfiguren lege eine Verbindung nach Straßburg nahe, auch die Ikonographie der Figuren stamme aus der Kathedralstadt am Oberrhein: Ein Stich des 17. Jahrhunderts bezeugt für das mittlere Westportal des Straßburger Münsters entsprechende Figuren, die allerdings den Kirchenstürmen der französischen Revolution zum Opfer gefallen sind und im 19. Jahrhundert keine originalgetreue Rekonstruktion erfuhren. Der Freiburger Meister habe seiner Ansicht nach auf Musterbücher der Straßburger Werkstatt zurückgegriffen, die ihrerseits durch die zeitgenössische Bibel-Malerei und byzantinische Kunst beeinflusst waren.23

Sphärenmodell am Freiburger Münster - Foto: privat

Sphärenmodell am Freiburger Münster – Foto: privat.

Weis betonte auch als erster Forscher die Besonderheit des Sphärenmodels: „Im Straßburg-Freiburger Schöpferbild mit ‚Himmel und Erde‘ sowie vor allem in den ‚acht Sphären‘ hätten wir demnach wohl nichts anderes vor uns als die Umsetzung dieser Motive [gemeint sind Motive der zeitgenössischen Bibel-Malerei und byzantinischen Kunst] in die Monumentalplastik; der Kosmos, der in den Miniaturen gewissermaßen als Querschnitt durch die Himmelssphären aufzufassen ist, wird von den Bildhauern in Seitenansicht als wirkliches Gewölbe gegeben, unter dem die Planetenbahnen mit den aufgesetzten Gestirnen notwendigerweise als Ringe herausragen, um erkennbar zu werden.“24

Weis‘ Studie war der vorerst letzte Baustein der Forschung zum Schöpfungsportal, deren Stand sich folgendermaßen zusammenfassen lässt:

  • Die Skulpturen des Portals entstammen unterschiedlichen Händen und stilistischen Phasen.
  • Die oberen fünf Archivoltskulpturen gehen nicht auf die Parlerschule zurück, sondern sind früher und oberrheinisch geprägt.
  • Die Figuren stehen in starker Abhängigkeit von Straßburg und könnten über dortige Musterbücher von der Buchmalerei und der byzantinischen Kunst beeinflusst sein.

Erst in jüngster Zeit wurden die Forschungen zum Portal wieder aufgenommen. Seit 2006 befasste sich gleich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen mit dessen Baugeschichte und Ikonographie.

Neuere Forschung zur Baugeschichte des Portals

Den ambitioniertesten Versuch einer Neubewertung der Portalskulpturen hat der Kunsthistoriker Assaf Pinkus vorgelegt. Zunächst 2006 in seinem deutschen Aufsatz für die Münsterblätter, 2009 folgte seine umfangreichere Monographie zur Parlerschule.25  Hier schlägt Pinkus gleich in doppelter Hinsicht eine alternative Lesart des Portals vor: zum einen ikonographisch (hierzu später mehr), zum anderen baugeschichtlich. Pinkus vertritt die These, das Chorportal bilde eine programmatische Einheit und ginge in seiner Gesamtheit auf die Planungen Johann Parlers zurück: “Eine Inschrift am nördlichen Chorportal belegt, dass der Grundstein 1354 gelegt wurde, während ein Dokument von 1359 die Anstellung des Meisters Johann von Gmünd nennt, der wahrscheinlich mit Johann Parler zu identifizieren ist. Obwohl Chor und Portal bereits fünf Jahre früher begonnen wurden, war Johann – so die naheliegende Vermutung – von Anfang an für Planung und Baubeginn verantwortlich.”26 Pinkus bezieht sinnvollerweise erstmals nicht nur die Innenseite des Schöpfungsportals in seine Studie mit ein, sondern auch das südliche Chorportal. Das nördliche Portal war seiner Einschätzung nach “im 14. Jahrhundert zweifellos vollendet”.27

Neben Pinkus’ Arbeit müssen vor allem Publikationen aus dem Umfeld der Restauration des Schöpfungsportals aus baugeschichtlicher Perspektive hervorgehoben werden. Zum einen die Studie von Johanna Quatmann zur Funktion und Farbgebung des versteckten Portals am Münster,28 zum anderen die penible Rekonstruktion des Bauprozesses durch Stefan King.29

Kings Untersuchungen bestätigen im Wesentlichen die Meinung der älteren Forschung, die Figuren des Portals unterschiedlich zu datieren. Für die fünf oberen Figuren hält er „die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts [für] wahrscheinlich“,30 womit Johann Parler als Urheber oder spiritus rector der oberen Figuren ausscheiden würde (auch wenn er natürlich für die Integration dieser Figuren in das Portal verantwortlich sein könnte). Seiner Ansicht nach seien diese früheren Skulpturen für ein früheres Bauprojekt geschaffen worden, für ein „nicht ausgeführtes Chorbauprojekt“, oder „eine geplante Aufwertung der Nordportale von Quer- oder Langhaus […]“.31 „Da die Skulpturen teilweise unvollendet blieben, kann vermutet werden, dass man die Arbeit niedergelegt hat, weil das Bauprojekt nicht mehr weiterverfolgt wurde. Dass sie überhaupt bis zu diesem Grad ausgearbeitet sind, könnte dem Umstand geschuldet sein, dass sie während des Versetzens hätten eingebaut werden müssen, und es sich deshalb empfohlen hat, früh genug, vielleicht schon lange vor dem eigentlichen Baubeginn, die Bildhauerarbeit aufzunehmen. Folglich ist es nicht unwahrscheinlich, dass man mit dem eigentlichen Bauvorhaben nie begonnen hat.“32

Zum kulturhistorischen Hintergrund der oberen Archivoltfiguren

Auch wenn sich Pinkus in seiner Annahme einer Parler’schen Provenienz des gesamten Portals wohl geirrt hat, seine ikonographische Neubewertung der Figuren bleibt trotzdem interessant. Er entlockt den beiden Portalen des Chores eine gemeinsame typologische Bedeutung, die Szenen beider Testamente in eine sinnhafte Beziehung zueinander setzt. Zum einen drücke sich in den Szenen die unio mystica aus, also die Verbindung von Seele und Schöpfer bzw. Christus. Zum anderen stünde das Programm der beiden Portale unter dem Motiv von Zurückweisung und Wiederaufnahme: Die Vertreibung aus dem Paradis, die letztlich durch die Inkarnation und das Opfer Jesu in der Erlösung mündet.33  

Im Anschluss an diese interessante Deutung der komplexen Poratlikonographie vertritt der Kunsthistoriker die These, das Schöpfungsportal zeige als eine Art astronomischer Kalender ein mit dieser Deutung in Verbindung stehendes liturgisches Fest an: “Die Freiburger Chorflankenportale scheinen dieser Typologie zu folgen. Miteinander verwoben sind der Fall der Engel, die Ursünde, die Ausweisung aus dem Paradies und die Erschaffung des Lichts im Sinne eines astronomischen Kalenders. Gott zeigt mit seinem Finger den Moment an, an dem diese Ereignisse stattfanden. Obwohl Zeichen des Zodiakus [Sternbilder, die zur Berechnung der Zeit dienen] in Freiburg nicht nachgewiesen werden können und deshalb der genaue Kalender nicht zu rekonstruieren ist, scheint es möglich, dass die astronomischen Zeichen ursprünglich auf die Himmelskugel gemalt waren bzw. daß eine Bemalung geplant war. Jedenfalls verweist der Zeigefinger Gottes, der ‘didaktisch zeigt’ […] auf die Tradition des astrologischen Kalenders.”34 Auch wenn seiner typologischen Interpretation des Bildprogramms zu folgen ist, mit der Deutung des Sphärenmodells als astrologischer Kalender schießt Pinkus meiner Ansicht nach etwas über das Ziel hinaus. Zum einen wäre die naheliegendste Erklärung für den didaktischen Zeigefinger Gottes wohl eher eine didaktische Funktion des Modells, zum anderen konnte Johanna Quatmann keine mittelalterliche Bemalung der Figuren feststellen. Vor diesem Hintergrund bleibt Pinkus’ interessantes Gedankenspiel bloße Spekulation.  

Wahrscheinlicher ist allerdings seine Vermutung, die Darstellung der ersten Schöpfungstage sei nicht von der zeitgenössischen Kunst inspiriert, sondern von wissenschaftlichen Vorstellungen über den Kosmos: „The arrangement of the stars [des Sphärenmodells] […] reflects a simplified model of the cosmos, corresponding to fourteenth-century cosmology”,35 genauer auf die Kosmologie von Johannes von Sacrobosco und Albertus Magnus: “(E)rkennbar sind die Sonne in der vierten Sphäre und ein Halbmond in der zweiten Sphäre.” Am nebenstehenden Thanner Modell ist dies eindeutiger zu erkennen. Dem “Freiburger Digramm [entspricht] die Kosmologie von Albertus Magnus. Die Anregung für dieses Vorbild muss nicht notwendig außerhalb von Freiburg gesucht werden, da Albertus Magnus schon um 1235 Theologie am Predigerkloster in Freiburg lehrte.”36

Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle.

Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle. Aus Pinkus 2009.

Ähnlich argumentiert auch Wolfgang Schneider, dessen Aufsatz schon 2005 erschienen ist, von Pinkus aber nach Ausweis der Fußnoten nicht rezipiert wurde. Auch er betont die Anordnung der Planeten, die sich “ganz erheblich von früheren, bis dahin überlieferten Vorstellungen vom Kosmos” unterscheide und eine aristotelisch geprägte Deutung des Kosmos vertrete.37

“[E]in kleines Detail […] verrät, daß diesem Bild eine noch neure Vorstellung vom Kosmos zugrunde lag. Die schmalen Ränder der inneren Kugelschalen lassen nämlich jeweils einen stilisierten Stern/Planeten erkennen – außer der vierten Kugelschale, die mit einer stilisierten Sonne besonders gekennzeichnet ist. In Platons Kosmos kreist die Sonne jedoch an zweiter Stelle um die Erde. Der Entwerfer des Bildwerkes am Schöpfungsportal hat sich offenbar an dem ‘neuen’ Weltbild des Aristoteles (384-322 v. Ch.) orientiert”, “[d]essen […] philosophisches und wissenschaftliches System […] im 12. Jahrhundert durch Übersetzungen aus dem Arabischen im Abendland wiederentdeckt [wurde]“,  und sich im “13. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt” hat.38Das Portal wäre damit als dezidierte Rezeption der aristotelischen Lehre zu deuten, und das, obwohl es in Freiburg ”im 14. Jahrhundert weder eine Kathedralschule noch eine Universität gab […].”39 Als intellektueller Urheber “wäre indes der Konvent der Dominikaner zu sehen, der rund ein Jahrhundert vor der Errichtung des Schöpfungsportals den Ordensbruder Albertus Magnus mehrmals zu seinen Besuchern zählen durfte; jener herausragende Wissenschaftler, der mit Thomas von Aquin die Synthese von Aristotelismus und Christentum vollzog. Könnte die Anregung für das Bildprogramm am Schöpfungsportal von naturphilosophisch gebildeten Mönchen dieses Klosters ausgegangen sein, die in der Nachfolge des Heiligen Albert sich intensiv den Wissenschaften widmeten?”40

Träfen diese Annahmen zu, wäre dies außerordentlich schmeichelhaft für Freiburg, das sich sogar schon in voruniversitärer Zeit als intellektuelles Schwergewicht am Oberrhein positionieren könnte. Sie sind aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive aber leider nicht sehr wahrscheinlich.

Der Einfluss naturwissenschaftlicher Ideen auf das Schöpfungsportal

Zunächst beziehen sich sowohl Pinkus als auch Schneider auf eine sehr holzschnittartige Lesart der Ideengeschichte, die die mittelalterlichen Naturwissenschaft in zwei Phasen unterteilt: In eine frühe Phase, die vor allem platonisch geprägt ist, und eine spätere Phase, die auf dem neu entdeckten (und vor allem neu übersetzten) corpus aristotelicum basiert. Diese Einteilung mag als grobe Richtschnur sicher sinnvoll sein, die Ideengeschichte mittelalterlicher Kosmsosvorstellungen ist in Wirklichkeit aber weit komplexer, gerade was die Ordnung der Planeten betrifft.41  

In der antiken und mittelalterlichen Kosmologie unterschied man mit Blick auf die Planeten grob gesprochen zwischen zwei Ordnungssystemen: Der Ägyptischen Ordnung (Erde – Sonne – Mond – Merkur – Venus …) sowie der Chaldäischen Ordnung (Erde – Mond – Merkur – Venus – Sonne …). Während Plato sich für die Ägyptische Einteilung entschied, befolgte Aristoteles in Anlehnung an Archimedes das Chaldäische System. Den Gelehrten der Spätantike und des Mittelalters waren diese konkurrierenden Entwürfe wohl bekannt.

So überliefert bereits Ciceros kosmologisches Werk über den Traum des Scipio die Chaldäische Reihung mit der Sonne als dem mittleren der Planeten. Sein Kommentator Macrobius klärt den mittelalterlichen Leser auf:

“Als nächstes müssen wir einige Dinge über die Ordnung der Sphären sagen, eine Angelegenheit, in der sich Cicero von Plato unterscheidet, da er von der Sphäre der Sonne als der vierten von sieben spricht, die eine mittlere Stellung einnimmt. Dagegen sagt Plato, dass sie gleich über dem Mond steht und damit von oben gezählt den sechsten Platz der sieben Sphären [also den zweiten von der Erde aus betrachtet] einnimmt. Cicero ist in Übereinstimmung mit Archimedes und dem Chaldäischen System; Plato folgt den Ägyptern, den Urhebern aller Zweige der Philosophie, die die Sonne zwischen Mond und Merkur positioniert haben, auch wenn sie die Gründe, aus denen andere schlossen, die Sonne stünde über Merkur und Venus, herausfanden und darlegten.”42

Dieses Bewusstsein gab es auch in der Hochphase des Neuplatonismus. Wilhelm von Conches weist noch im 12. Jahrhundert auf die unterschiedlichen Thesen zur Reihung der Planeten hin, auch wenn er selbst die platonische bevorzugte: Seinem Herzog legt er im Lehrgedicht Dragmaticon in Reaktion auf die Darstellung einer platonischen Planetenreihung die Frage an seinen Lehrer in den Mund: “Wieso sagst du, dass Venus der vierte und Merkur der fünfte Planet nach Plato ist? Gab es andere Philosophen, die anderes behaupten?”, worauf dieser auch die abweichenden Lehrmeinungen zur Sprache bringt.43 Die als richtig erachtete Reihenfolge der Planeten änderte sich also nicht schlagartig während des 13. Jahrhunderts, sondern war im gesamten Mittelalter Gegenstand einer virulenten Debatte. Durch Martianus Capella kannte man darüber hinaus bereits im frühen Mittelalter neuplatonische Versuche einer synthetischen Erklärung des Gelehrtenstreits: In Wirklichkeit hätten sich die Planeten Venus und Merkur nämlich nicht um die Erde gedreht, sondern hätten die Sonne als Zentrum ihrer Bahnen. Je nach Konstellation erschienen daher zuweilen die beiden Planeten, zuweilen die Sonne näher zu Erde (und damit an zweiter bzw. vierter Stelle im Sphärensystem).

Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).

Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).

Mit Blick auf das intellektuelle Niveau des Schöpfungsportales ist besonders bezeichnend, dass die aristotelisch inspirierte Reihenfolge der Planeten gerade nicht nur in der scholastischen Literatur des höheren Universitätsniveaus gepflegt wurde, sondern auch in Texten zu finden ist, die zur absoluten Grundlagenbildung des Mittelalters gehören, vor allem Bedas De natura rerum44 und der Imago mundi des Honorius.45  Diese Texte erfreuten sich außerordentlicher Beliebtheit und wurden auch an “gewöhnlicheren” Bildungseinrichtungen, etwa einer Klosterschule, gelehrt. So schreibt Beda im 13. Kapitel seiner kosmologischen Enzyklopädie:

“Der oberste der Planeten ist der Stern des Saturn, der von Natur aus sehr kalt ist. Er vollendet seinen Kurs um die Sonne in dreißig Jahren. Dann kommt der Jupiter, temperiert, mit zwölf Jahren. Als drittes Mars, extrem heiß, der zwei Jahre benötigt. In der Mitte ist die Sonne, [die] in 365 Tagen [die Erde umrundet]. Darunter steht die Venus, die auch Lucifer und Vesper genannt wird, und 348 Tage benötigt. […] Danach kommt der Stern des Merkur, der neun Tage schneller ist. […] An letzter Stelle kommt der Mond […].”46

Auch auf der ikonographischen Ebene ist dieser Befund festzustellen. Die wissenschaftlichen Texte der Spätantike wurden ins Mittelalter weitgehend unillustriert überliefert. Erst in der Karolingerzeit wurden den komplexen Texten Diagramme als klärende und didaktische Hilfsmittel beigegeben. Interessanterweise spiegelt sich die virulente Forschungsdebatte um die Ordnung der Planeten kaum in diesen Diagrammen. Bruce Eastwood hat vielmehr darauf hingewiesen, dass die diagrammatische Tradition der Kosmosdiagramme die Chaldäische Ordnung der Ägyptischen vorzieht, auch wenn der Text selbst die platonische Reihung propagierte.47 Mittelalterliche Kosmos-Diagramme überliefern daher auch in früherer Zeit mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Reihenfolge der Planeten, die die Sonne – wie im Fall des Freiburger Schöpfungsportals – an vierter Stelle der Planeten positionieren, so ein Kosmosmodell der Arnsteinbibel aus dem frühen 13. Jahrhundert.

Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378)

Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378).

Auch wenn die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles erst im 13. Jahrhundert eine nennenswerte Verbreitung gefunden haben, war die von ihm gewählte Reihenfolge der Planeten also wohl bekannt und in mittelalterlichen Standardwerken, von denen hier nur einige wenige Beispiele gegeben wurden, in Wort und Bild allgegenwärtig. Ideengeschichtlich lässt sich das Schöpfungsportal daher keineswegs auf neuere wissenschaftliche Strömungen zurückführen. Mit Blick auf die Freiburger Bildungslandschaft und dem anzunehmenden Bildungsgrad der für den Bau Verantwortlichen ist es im Gegenteil viel wahrscheinlicher, dass die inhaltliche Vorlage in den gerade im außeruniversitären Bereich gelehrten Standardwerken von Beda oder Honorius zu sehen ist. Ein Umstand, der dann gerade nicht für eine außerordentliche Bildung des etwaigen spiritus rector sprechen würde.

Meiner Ansicht nach ist Pinkus zwar insofern zuzustimmen, dass die Vorlage des Freiburger Sphärenmodells im wissenschaftlichen Bereich zu suchen ist. Der lehrende Gestus des Schöpfers verweist dabei recht konkret auf eine wahrscheinliche Vorlage für das Sphärenmodell. Gelehrt wurde im Mittelalter nicht nur durch das Lesen bzw. Vorlesen bestimmter Texte, sondern vor allem mit Bezug auf visuelle Hilfsmittel, den Diagrammen. Das oben stehende Beispiel verdeutlicht eindrücklich die ikonographische Nähe des Freiburger Modells zu diesen didaktischen Abbildungen, die in jeder Schule und jedem Kloster in Hülle und Fülle vorhanden waren.

Das Freiburger Sphärenmodell ist als getreue Umsetzung eines gewöhnlichen und ubiquitär anzutreffenden Diagramms des Kosmos also kein Ausweis besonderer Bildung des 14. Jahrhunderts. Gleichwohl stellt es ein beeindruckendes Beispiel für das Interesse der Zeitgenossen an der Schöpfung dar, das über eine rein religiöse Deutung weit hinausreicht. Insofern, um auf Karl Schaefer zurückzukommen, waltete in Freiburg und am Oberrhein vielleicht tatsächlich „ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“48

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Michael Schonhardt promoviert bei Prof. Dr. Birgit Studt (Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II) an der Universität Freiburg und ist Mitarbeiter im Erzbischöflichen Archiv Freiburg. Er beschäftigt sich mit der Tradition und Rezeption von theoretischem Wissen über die Natur im 12. Jahrhundert und begleitet seine Dissertation mit einem Blog unter quadrivium.hypotheses.org. Seine Masterarbeit (Michael Schonhardt: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. Reihe Septem 2, Freiburg 2014.) hat er zu naturwissenschaftlichen Diagrammen des hohen Mittelalters verfasst. Im Rahmen seiner Archivtätigkeit publiziert er außerdem ein Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg.

  1. Vgl. Quatmann, Johanna: Das versteckte Portal am Münster?  In: Münsterblatt 13 (2006), S. 13-19.
  2. Vgl. Kürten, Luzius: Steinrestaurierung und -konservierung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 21-23; King, Stefan: Bauforschung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 14 (2007), S. 38.
  3. Genesis 1.1-18.
  4. Schaefer, Karl: Die Weltschöpfungsbilder am Chorportal des Freiburger Münsters. In: Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 26 (1899), S. 11-24, hier S. 16.
  5. Vöge, Wilhelm: Zum Nordportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters 11 (1915), S. 1-9.
  6. Weis, Adolf: Das Freiburger Schöpfungsportal und das Musterbuch von Strassburg. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 5 (1952), S. 181-193.
  7. Vgl etwa Hartmann, Paul: Die gotische Monumentalplastik in Schwaben. München 1910; Kempf, Friedrich: Das Freiburger Münster. Karlsruhe 1926, S. 1-9; Schmitt, Otto: Gotische Skulpturen des Freiburger Münsters. Frankfurt 1926, S. 59-60 (jeweils mit umfangreichen Bildmaterial); Lüdke, Dietmar: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 298-299; Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen. In: Die Skulpturen des Freiburger Münsters. Freiburg 3. Auflage 1999, S. 119-121.
  8. Vgl. Quatmann: das versteckte Portal; King, Stefan:
    Zum Schöpfungsportal des Freiburger Münsters: ein Bildprogramm mit “Stilbruch”
    King, Stefan. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 37 (2008), S. 69-76.
  9. Pinkus, Assaf: Das Schöpfungsportal: Kunst und Lehre im mittelalterlichen Freiburg. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 4-12; Ders.: Patrons and Narratives of the Parler School. The Marian Tympana 1350-1400. München/Berlin 2009; Schneider, Wolfgang: Ein Modell des Kosmos am Schöpfungsportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Diözesanarchiv 125 (2005), S. 241-248.
  10. Schaefer: Die Weltschöpfungsbilder, S. 19.
  11. Ebd., S. 21
  12. Ebd., S. 20.
  13. Vöge: Zum Nordportal, S. 2.
  14. Ebd., S. 2.
  15. Die gotische Monumentalplastik.
  16. Vgl. Adam, Ernst: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 293.
  17. Vöge, Zum Nordportal, S. 6.
  18. anders Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen.
  19. Vgl. Kempf: Das Freiburger Münster.
  20. Vgl. Schmitt: Gotische Skulpturen.
  21. Vgl. Weis: Das Freiburger Schöpfungsportal.
  22. Ebd., S. 183.
  23. Ebd., S. 189.
  24. Ebd., S. 186.
  25. Vgl. Pinkus:  Das Schöpfungsportal; Ders. Patrons and Narratives.
  26. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 4.
  27. Ebd.
  28. Vgl. Quatmann: Das versteckte Portal.
  29. Vgl. King: Zum Schöpfungsportal.
  30. Ebd., S. 74.
  31. Ebd., S. 76
  32. Ebd.
  33. Vgl. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9-11.
  34. Ebd., S. 11.
  35. Pinkus: Patrons and Narratives, S. 209.
  36. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9.
  37. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 242.
  38. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 243-244.
  39. Ebd., S. 247.
  40. Ebd.
  41. Vgl. zum folgenden Eastwood, Bruce: Ordering the Heavens. Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Leiden 2007, S. 31-52.
  42. Frei übersetzt Macrobius: Commentarii in Somnium Scipionis (ed. J. Willis 1970.), Buch 1. Kap. 16.
  43. Frei übersetzt nach Wilhelm von Conches: Dragmaticon Philosophiae (ed. von I. Ronca und A. Badia, 1997. In: CCCM 152.), Buch 4, Kap. 5.
  44. Beda: De natura rerum liber ed. von C. W. Jones ,1975. In: CCSL 123A.
  45. Honorius: De imago mundi ed. V. I. J. Flint, 1982. Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 49 (1982), S. 48-151.
  46. Frei übersetzte nach Beda: De natura rerum liber, Buch 13.
  47. Vgl. Eastwood: Ordering the Heavens, S. 47f.
  48. Schaefer: Weltschöpfungsbilder, S. 16.

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/549

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Das Schöpfungsportal des Freiburger Münsters

 

Gastbeitrag von Michael Schonhardt (Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.)

Einleitung

Seit dem 30. November 2013 empfängt das Augustiner-Museum Freiburg seine Besucher zur großen Baustelle Gotik. Die Sonderausstellung erfreut sich seitdem größter Beliebtheit und wurde unlängst bis Oktober 2014 verlängert. Gleich zu Beginn, am Eingang des großen Ausstellungsraumes, wird der Besucher von einem – gerade im Mittelalter – eher versteckten Schatz des Münsters begrüßt.1

Dieses kleinere Portal auf der Nordseite des spätgotischen Chores steht natürlich im Schatten der monumentalen Portalvorhalle im Westen. Durch seine besondere ikonographische Gestaltung der Genesis-Geschichte ist das Portal aber äußerst faszinierend, und das nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern gerade auch für Wissenschaftshistoriker. Es erlaubt einen Einblick in den Stand der Wissenschaften in der Stadt Freiburg und deren Verbindungen zum Oberrhein im 14. Jahrhundert. Gerade deswegen ist es äußerst erfreulich, dass dieses Portal 2006 nicht nur umfassend restauriert wurde2, sondern seit dieser Zeit von verschiedenen Seiten neue Thesen zu Funktion, Baugeschichte und ideengeschichtlichem Hintergrund des Portals vorgelegt wurden.

 

Der folgende Beitrag möchte sich in Anlehnung an diese Forschung vor allem den kosmologischen Modellen der Archivoltfiguren, insbesondere des vierten Schöpfungstages, widmen. Zunächst soll die Außenansicht des Portals, dann der aktuelle Forschungsstand kurz vorgestellt werden. Darauf aufbauend möchte ich einige der jüngeren Thesen zum geistigen Hintergrund der Darstellungen kritisch würdigen und aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte ergänzen.

Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Das Portal befindet sich auf der Nordseite des spätgotischen Chores und führte zur alten Andreaskapelle auf dem ehemaligen Friedhof. Ikonographisch ist das Portal (zumindest auf seiner Außenseite) ganz dem Genesisbericht verpflichtet: Während die Figuren der Archivolte die Schöpfung der Welt, aller Geschöpfe und des Menschen darstellen, behandelt das Tympanon in seinem oberen Feld, also dem Bogenscheitel, zunächst den Engelsturz.

Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Darunter werden die Ursünde und die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies sowie die tägliche Mühsal als Folge ihres Vergehens geschildert. Die Figuren der Archivolten stellen die Schöpfung in einer zunächst befremdlichen Reihenfolge dar:

Beginnend oben links zeigt die erste Figur die Erschaffung des Himmelsgewölbes (Tag 1). Daneben scheidet Gott Vater das Licht von der Dunkelheit (Tag 2). Es folgt darunter die Erschaffung der Bäume am dritten Tag. Es folgt ein Sprung auf die linke Seite, wo die Erschaffung der Gestirne (4. Tag) anhand eines Sphärenmodells des Kosmos dargestellt ist.

Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Ein erneuter Sprung führ zurück auf die rechte Seite zum fünften Tag, an dem die Fische und Vögel das Licht der Welt erblicken. Die drei übrigen Szenen der linken Seite illustrieren die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag, bis Gottvater nach getanem Werk ruht (rechte Seite, vorletzte Figur). Die letzte Figurenszene zeigt die Vermählung von Adam und Eva.

Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

In der Genesis heißt es dazu:

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. […].

Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen; sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, die über die Erde hin leuchten. So geschah es. Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hin leuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war.“3

Betrachtet man die entsprechenden Darstellungen des Freiburger Portals, vor allem der Erschaffung des Kosmos und der Gestirne, so wird deutlich, dass man sich hier nicht auf eine reine Wiedergabe des Genesistextes beschränkte. Vielmehr wurden naturwissenschaftliche Kosmos-Modelle der Zeit integriert, die in ihrem Informationsgehalt weit über den biblischen Bericht hinausgehen.  Vor allem der vierte Schöpfungstag, also die Erschaffung der Gestirne, besticht durch ein detailliertes Sphärenmodell, auf das im Folgenden mehrfach zurückzukommen sein wird (siehe Bild “Vierter Schöpfungstag”). In Freiburg verbindet sich also das biblische Wissen über die Schöpfung mit zeitgenössisch naturwissenschaftlichem Wissen über den Aufbau des Kosmos. Am Freiburger Schöpfungsportal, so stellte Karl Schaefer 1899 fest, „waltet ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“4

Forschungsstand

Mit Schaefers Aufsatz im Schau-ins-Land beginnt auch die wissenschaftliche Erforschung dieses Portals. Auch wenn dessen Arbeit sicherlich das Verdienst der ersten Würdigung des Portals zusteht, seine Thesen stellten sich freilich recht schnell als fragwürdig heraus. Die wichtigsten Meilensteine der älteren Forschung nach Schaefer sind die 1915 vorgelegte Studie des Freiburger Kunsthistorikers Wilhelm Vöge5 sowie ein Aufsatz von Adolf Weis von 19526. Daneben wurde das Chorportal natürlich auch in der Übersichtsliteratur zum Freiburger Münster rezipiert.7 Nach einer längeren Pause wurden 2005 und dann im Zuge der Restauration des Portals 2006 und 2007 gleich mehrere wissenschaftliche Publikationen zum Schöpfungsportal vorgelegt, zum einen eine Reihe baugeschichtlicher Studien,8 zum anderen aber auch neue Deutungsversuche9.

Besonders drei Fragen standen im Fokus dieser Forschungen:

  1. Die Frage nach der Einheitlichkeit des Portals und der Urheberschaft der Skulpturen (insbesondere das Verhältnis zur Parlerschule).
  2. Die stilistische Einordnung des Werks und die Frage nach etwaigen Vorbildern.
  3. Das ikonographische Programm und dessen kulturhistorischer Hintergrund.

Schaefer betonte 1899 – nicht ganz zu recht – die Einmaligkeit und Besonderheit des Zyklus, machte aber bereits auf vergleichbare Skulpturen in Worms, Ulm und vor allem Thann aufmerksam. Den „Freiburger Meister“ begrüßt er „als hochbegabten, selbstständig schaffenden, denkenden Künstler“.10 Die Entstehung der Figuren „möchte [… er] am liebsten in die Zeit vor 1400 setzen.“11 „Es macht ganz entschieden den Eindruck, als sei der ganze Bilderschmuck des Portals von einer Hand ausgeführt […].“12

Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Diesen Thesen widersprach Wilhelm Vöge entschieden in seinem Beitrag für die Freiburger Münsterblätter. Hier nimmt er dezidiert Stellung gegen Schaefers Datierung und dessen These über die Urheberschaft eines einzelnen Meisters: „[W]ir haben, irre ich nicht, aus dieser Zeit nur wenige Portale, die ein so interessantes Neben- und Nacheinander verschiedener Hände und Stile zeigen, wie dieses, an sich nicht bedeutende Freiburger Chorportal der Nordseite.“13 Nach Vöge sei das Portal nicht aus einem Guss geschaffen, sondern ein Konglomerat verschiedener Stile, die teilweise eine oberrheinische Verbindung, insbesondere nach Straßburg, nahelegen: „Der Meister aber, der den Figurenschmuck der Archivolte – die Schöpfungsgeschichte – begonnen hat, ist nach Stil und Wesen weit altertümlicher als die anderen, ist der oberrheinischen – Straßburg-Freiburger – Blüte des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts noch rätselhaft nah.“14

Anders als Paul Hartmann15 reduziert Vöge den Einfluss der berühmten Parlerschule auf das Portal und spart gerade die interessanten Schöpfungsfiguren von diesem aus. Diese Figuren habe man schon ganz zu Beginn der Chorbauten erstellt, als die Parler damit noch nichts zu tun hatten (laut Inschrift begannen die Arbeiten am Chor 1354, erst 1359 wird Johann Parler mit der Bauleitung betraut)16.

Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

Er stellt abschließend fest: „[U]nser Meister der ersten Schöpfungstage, der älteste der am Portal beteiligten Meister, hat mit Schwaben und den Parlern nicht das geringste zu tun […]. Er ist Oberrheiner, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob er mehr in Straßburg oder in Freiburg zu Hause war.“17

Vöges These einer Verbindung nach Straßburg wurde durch die nachfolgende Forschung weitgehend geteilt,18 wenngleich im Detail unterschiedlich bewertet. Während Kempf in seinem Freiburger Münster19 eine getreue Übernahme des Zyklus aus Straßburg annahm, vertrat Otto Schmitt20 die These einer Erweiterung des Skulpturenprogramms.

Ein grundlegend wissenschaftlicher Fortschritt gelang erst wieder 1952 durch Adolf Weis,21 der das ikonographische Programm der Figuren eingehend würdigte. Weis folgte Vöge darin, dass die ersten Figuren der Archivoltengruppen (die oberen zwei Szenen der linken Seite sowie die oberen drei Szenen der rechten Seite) der Straßburger Bildhauerwerkstatt um 1300 nahe stünden. Im Vergleich zu den anderen Figuren des Portals bestünde ein „tiefgreifende[r] Unterschied in Geist und Form“, der „zwingend auf den Anteil von mehreren Meistern oder zumindest Werkstätten an unserem Portal“ hinweist. Er  vermutet eine „grundlegende Planänderung“ für das Portal, die sich dadurch erklären ließe, „daß bereits im frühen 14. Jahrhundert ein Schöpfungsportal – vielleicht schon für einen neuen Chorbau – projektiert und begonnen, aber nicht vollendet wurde, von dem dann die ausgeführten Teile am heutigen Nordeingang verwendet wurden“.22

Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinskus 2009.Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinkus 2009.

Nicht nur der Stil des Meisters der fünf oberen Archivoltenfiguren lege eine Verbindung nach Straßburg nahe, auch die Ikonographie der Figuren stamme aus der Kathedralstadt am Oberrhein: Ein Stich des 17. Jahrhunderts bezeugt für das mittlere Westportal des Straßburger Münsters entsprechende Figuren, die allerdings den Kirchenstürmen der französischen Revolution zum Opfer gefallen sind und im 19. Jahrhundert keine originalgetreue Rekonstruktion erfuhren. Der Freiburger Meister habe seiner Ansicht nach auf Musterbücher der Straßburger Werkstatt zurückgegriffen, die ihrerseits durch die zeitgenössische Bibel-Malerei und byzantinische Kunst beeinflusst waren.23

Sphärenmodell am Freiburger Münster - Foto: privat Sphärenmodell am Freiburger Münster – Foto: privat.

Weis betonte auch als erster Forscher die Besonderheit des Sphärenmodels: „Im Straßburg-Freiburger Schöpferbild mit ‚Himmel und Erde‘ sowie vor allem in den ‚acht Sphären‘ hätten wir demnach wohl nichts anderes vor uns als die Umsetzung dieser Motive [gemeint sind Motive der zeitgenössischen Bibel-Malerei und byzantinischen Kunst] in die Monumentalplastik; der Kosmos, der in den Miniaturen gewissermaßen als Querschnitt durch die Himmelssphären aufzufassen ist, wird von den Bildhauern in Seitenansicht als wirkliches Gewölbe gegeben, unter dem die Planetenbahnen mit den aufgesetzten Gestirnen notwendigerweise als Ringe herausragen, um erkennbar zu werden.“24

Weis‘ Studie war der vorerst letzte Baustein der Forschung zum Schöpfungsportal, deren Stand sich folgendermaßen zusammenfassen lässt:

  • Die Skulpturen des Portals entstammen unterschiedlichen Händen und stilistischen Phasen.
  • Die oberen fünf Archivoltskulpturen gehen nicht auf die Parlerschule zurück, sondern sind früher und oberrheinisch geprägt.
  • Die Figuren stehen in starker Abhängigkeit von Straßburg und könnten über dortige Musterbücher von der Buchmalerei und der byzantinischen Kunst beeinflusst sein.

Erst in jüngster Zeit wurden die Forschungen zum Portal wieder aufgenommen. Seit 2006 befasste sich gleich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen mit dessen Baugeschichte und Ikonographie.

Neuere Forschung zur Baugeschichte des Portals

Den ambitioniertesten Versuch einer Neubewertung der Portalskulpturen hat der Kunsthistoriker Assaf Pinkus vorgelegt. Zunächst 2006 in seinem deutschen Aufsatz für die Münsterblätter, 2009 folgte seine umfangreichere Monographie zur Parlerschule.25  Hier schlägt Pinkus gleich in doppelter Hinsicht eine alternative Lesart des Portals vor: zum einen ikonographisch (hierzu später mehr), zum anderen baugeschichtlich. Pinkus vertritt die These, das Chorportal bilde eine programmatische Einheit und ginge in seiner Gesamtheit auf die Planungen Johann Parlers zurück: “Eine Inschrift am nördlichen Chorportal belegt, dass der Grundstein 1354 gelegt wurde, während ein Dokument von 1359 die Anstellung des Meisters Johann von Gmünd nennt, der wahrscheinlich mit Johann Parler zu identifizieren ist. Obwohl Chor und Portal bereits fünf Jahre früher begonnen wurden, war Johann – so die naheliegende Vermutung – von Anfang an für Planung und Baubeginn verantwortlich.”26 Pinkus bezieht sinnvollerweise erstmals nicht nur die Innenseite des Schöpfungsportals in seine Studie mit ein, sondern auch das südliche Chorportal. Das nördliche Portal war seiner Einschätzung nach “im 14. Jahrhundert zweifellos vollendet”.27

Neben Pinkus’ Arbeit müssen vor allem Publikationen aus dem Umfeld der Restauration des Schöpfungsportals aus baugeschichtlicher Perspektive hervorgehoben werden. Zum einen die Studie von Johanna Quatmann zur Funktion und Farbgebung des versteckten Portals am Münster,28 zum anderen die penible Rekonstruktion des Bauprozesses durch Stefan King.29

Kings Untersuchungen bestätigen im Wesentlichen die Meinung der älteren Forschung, die Figuren des Portals unterschiedlich zu datieren. Für die fünf oberen Figuren hält er „die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts [für] wahrscheinlich“,30 womit Johann Parler als Urheber oder spiritus rector der oberen Figuren ausscheiden würde (auch wenn er natürlich für die Integration dieser Figuren in das Portal verantwortlich sein könnte). Seiner Ansicht nach seien diese früheren Skulpturen für ein früheres Bauprojekt geschaffen worden, für ein „nicht ausgeführtes Chorbauprojekt“, oder „eine geplante Aufwertung der Nordportale von Quer- oder Langhaus […]“.31 „Da die Skulpturen teilweise unvollendet blieben, kann vermutet werden, dass man die Arbeit niedergelegt hat, weil das Bauprojekt nicht mehr weiterverfolgt wurde. Dass sie überhaupt bis zu diesem Grad ausgearbeitet sind, könnte dem Umstand geschuldet sein, dass sie während des Versetzens hätten eingebaut werden müssen, und es sich deshalb empfohlen hat, früh genug, vielleicht schon lange vor dem eigentlichen Baubeginn, die Bildhauerarbeit aufzunehmen. Folglich ist es nicht unwahrscheinlich, dass man mit dem eigentlichen Bauvorhaben nie begonnen hat.“32

Zum kulturhistorischen Hintergrund der oberen Archivoltfiguren

Auch wenn sich Pinkus in seiner Annahme einer Parler’schen Provenienz des gesamten Portals wohl geirrt hat, seine ikonographische Neubewertung der Figuren bleibt trotzdem interessant. Er entlockt den beiden Portalen des Chores eine gemeinsame typologische Bedeutung, die Szenen beider Testamente in eine sinnhafte Beziehung zueinander setzt. Zum einen drücke sich in den Szenen die unio mystica aus, also die Verbindung von Seele und Schöpfer bzw. Christus. Zum anderen stünde das Programm der beiden Portale unter dem Motiv von Zurückweisung und Wiederaufnahme: Die Vertreibung aus dem Paradis, die letztlich durch die Inkarnation und das Opfer Jesu in der Erlösung mündet.33  

Im Anschluss an diese interessante Deutung der komplexen Poratlikonographie vertritt der Kunsthistoriker die These, das Schöpfungsportal zeige als eine Art astronomischer Kalender ein mit dieser Deutung in Verbindung stehendes liturgisches Fest an: “Die Freiburger Chorflankenportale scheinen dieser Typologie zu folgen. Miteinander verwoben sind der Fall der Engel, die Ursünde, die Ausweisung aus dem Paradies und die Erschaffung des Lichts im Sinne eines astronomischen Kalenders. Gott zeigt mit seinem Finger den Moment an, an dem diese Ereignisse stattfanden. Obwohl Zeichen des Zodiakus [Sternbilder, die zur Berechnung der Zeit dienen] in Freiburg nicht nachgewiesen werden können und deshalb der genaue Kalender nicht zu rekonstruieren ist, scheint es möglich, dass die astronomischen Zeichen ursprünglich auf die Himmelskugel gemalt waren bzw. daß eine Bemalung geplant war. Jedenfalls verweist der Zeigefinger Gottes, der ‘didaktisch zeigt’ […] auf die Tradition des astrologischen Kalenders.”34 Auch wenn seiner typologischen Interpretation des Bildprogramms zu folgen ist, mit der Deutung des Sphärenmodells als astrologischer Kalender schießt Pinkus meiner Ansicht nach etwas über das Ziel hinaus. Zum einen wäre die naheliegendste Erklärung für den didaktischen Zeigefinger Gottes wohl eher eine didaktische Funktion des Modells, zum anderen konnte Johanna Quatmann keine mittelalterliche Bemalung der Figuren feststellen. Vor diesem Hintergrund bleibt Pinkus’ interessantes Gedankenspiel bloße Spekulation.  

Wahrscheinlicher ist allerdings seine Vermutung, die Darstellung der ersten Schöpfungstage sei nicht von der zeitgenössischen Kunst inspiriert, sondern von wissenschaftlichen Vorstellungen über den Kosmos: „The arrangement of the stars [des Sphärenmodells] […] reflects a simplified model of the cosmos, corresponding to fourteenth-century cosmology”,35 genauer auf die Kosmologie von Johannes von Sacrobosco und Albertus Magnus: “(E)rkennbar sind die Sonne in der vierten Sphäre und ein Halbmond in der zweiten Sphäre.” Am nebenstehenden Thanner Modell ist dies eindeutiger zu erkennen. Dem “Freiburger Digramm [entspricht] die Kosmologie von Albertus Magnus. Die Anregung für dieses Vorbild muss nicht notwendig außerhalb von Freiburg gesucht werden, da Albertus Magnus schon um 1235 Theologie am Predigerkloster in Freiburg lehrte.”36

Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle.Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle. Aus Pinkus 2009.

Ähnlich argumentiert auch Wolfgang Schneider, dessen Aufsatz schon 2005 erschienen ist, von Pinkus aber nach Ausweis der Fußnoten nicht rezipiert wurde. Auch er betont die Anordnung der Planeten, die sich “ganz erheblich von früheren, bis dahin überlieferten Vorstellungen vom Kosmos” unterscheide und eine aristotelisch geprägte Deutung des Kosmos vertrete.37

“[E]in kleines Detail […] verrät, daß diesem Bild eine noch neure Vorstellung vom Kosmos zugrunde lag. Die schmalen Ränder der inneren Kugelschalen lassen nämlich jeweils einen stilisierten Stern/Planeten erkennen – außer der vierten Kugelschale, die mit einer stilisierten Sonne besonders gekennzeichnet ist. In Platons Kosmos kreist die Sonne jedoch an zweiter Stelle um die Erde. Der Entwerfer des Bildwerkes am Schöpfungsportal hat sich offenbar an dem ‘neuen’ Weltbild des Aristoteles (384-322 v. Ch.) orientiert”, “[d]essen […] philosophisches und wissenschaftliches System […] im 12. Jahrhundert durch Übersetzungen aus dem Arabischen im Abendland wiederentdeckt [wurde]“,  und sich im “13. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt” hat.38Das Portal wäre damit als dezidierte Rezeption der aristotelischen Lehre zu deuten, und das, obwohl es in Freiburg ”im 14. Jahrhundert weder eine Kathedralschule noch eine Universität gab […].”39 Als intellektueller Urheber “wäre indes der Konvent der Dominikaner zu sehen, der rund ein Jahrhundert vor der Errichtung des Schöpfungsportals den Ordensbruder Albertus Magnus mehrmals zu seinen Besuchern zählen durfte; jener herausragende Wissenschaftler, der mit Thomas von Aquin die Synthese von Aristotelismus und Christentum vollzog. Könnte die Anregung für das Bildprogramm am Schöpfungsportal von naturphilosophisch gebildeten Mönchen dieses Klosters ausgegangen sein, die in der Nachfolge des Heiligen Albert sich intensiv den Wissenschaften widmeten?”40

Träfen diese Annahmen zu, wäre dies außerordentlich schmeichelhaft für Freiburg, das sich sogar schon in voruniversitärer Zeit als intellektuelles Schwergewicht am Oberrhein positionieren könnte. Sie sind aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive aber leider nicht sehr wahrscheinlich.

Der Einfluss naturwissenschaftlicher Ideen auf das Schöpfungsportal

Zunächst beziehen sich sowohl Pinkus als auch Schneider auf eine sehr holzschnittartige Lesart der Ideengeschichte, die die mittelalterlichen Naturwissenschaft in zwei Phasen unterteilt: In eine frühe Phase, die vor allem platonisch geprägt ist, und eine spätere Phase, die auf dem neu entdeckten (und vor allem neu übersetzten) corpus aristotelicum basiert. Diese Einteilung mag als grobe Richtschnur sicher sinnvoll sein, die Ideengeschichte mittelalterlicher Kosmsosvorstellungen ist in Wirklichkeit aber weit komplexer, gerade was die Ordnung der Planeten betrifft.41  

In der antiken und mittelalterlichen Kosmologie unterschied man mit Blick auf die Planeten grob gesprochen zwischen zwei Ordnungssystemen: Der Ägyptischen Ordnung (Erde – Sonne – Mond – Merkur – Venus …) sowie der Chaldäischen Ordnung (Erde – Mond – Merkur – Venus – Sonne …). Während Plato sich für die Ägyptische Einteilung entschied, befolgte Aristoteles in Anlehnung an Archimedes das Chaldäische System. Den Gelehrten der Spätantike und des Mittelalters waren diese konkurrierenden Entwürfe wohl bekannt.

So überliefert bereits Ciceros kosmologisches Werk über den Traum des Scipio die Chaldäische Reihung mit der Sonne als dem mittleren der Planeten. Sein Kommentator Macrobius klärt den mittelalterlichen Leser auf:

“Als nächstes müssen wir einige Dinge über die Ordnung der Sphären sagen, eine Angelegenheit, in der sich Cicero von Plato unterscheidet, da er von der Sphäre der Sonne als der vierten von sieben spricht, die eine mittlere Stellung einnimmt. Dagegen sagt Plato, dass sie gleich über dem Mond steht und damit von oben gezählt den sechsten Platz der sieben Sphären [also den zweiten von der Erde aus betrachtet] einnimmt. Cicero ist in Übereinstimmung mit Archimedes und dem Chaldäischen System; Plato folgt den Ägyptern, den Urhebern aller Zweige der Philosophie, die die Sonne zwischen Mond und Merkur positioniert haben, auch wenn sie die Gründe, aus denen andere schlossen, die Sonne stünde über Merkur und Venus, herausfanden und darlegten.”42

Dieses Bewusstsein gab es auch in der Hochphase des Neuplatonismus. Wilhelm von Conches weist noch im 12. Jahrhundert auf die unterschiedlichen Thesen zur Reihung der Planeten hin, auch wenn er selbst die platonische bevorzugte: Seinem Herzog legt er im Lehrgedicht Dragmaticon in Reaktion auf die Darstellung einer platonischen Planetenreihung die Frage an seinen Lehrer in den Mund: “Wieso sagst du, dass Venus der vierte und Merkur der fünfte Planet nach Plato ist? Gab es andere Philosophen, die anderes behaupten?”, worauf dieser auch die abweichenden Lehrmeinungen zur Sprache bringt.43 Die als richtig erachtete Reihenfolge der Planeten änderte sich also nicht schlagartig während des 13. Jahrhunderts, sondern war im gesamten Mittelalter Gegenstand einer virulenten Debatte. Durch Martianus Capella kannte man darüber hinaus bereits im frühen Mittelalter neuplatonische Versuche einer synthetischen Erklärung des Gelehrtenstreits: In Wirklichkeit hätten sich die Planeten Venus und Merkur nämlich nicht um die Erde gedreht, sondern hätten die Sonne als Zentrum ihrer Bahnen. Je nach Konstellation erschienen daher zuweilen die beiden Planeten, zuweilen die Sonne näher zu Erde (und damit an zweiter bzw. vierter Stelle im Sphärensystem).

Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).

Mit Blick auf das intellektuelle Niveau des Schöpfungsportales ist besonders bezeichnend, dass die aristotelisch inspirierte Reihenfolge der Planeten gerade nicht nur in der scholastischen Literatur des höheren Universitätsniveaus gepflegt wurde, sondern auch in Texten zu finden ist, die zur absoluten Grundlagenbildung des Mittelalters gehören, vor allem Bedas De natura rerum44 und der Imago mundi des Honorius.45  Diese Texte erfreuten sich außerordentlicher Beliebtheit und wurden auch an “gewöhnlicheren” Bildungseinrichtungen, etwa einer Klosterschule, gelehrt. So schreibt Beda im 13. Kapitel seiner kosmologischen Enzyklopädie:

“Der oberste der Planeten ist der Stern des Saturn, der von Natur aus sehr kalt ist. Er vollendet seinen Kurs um die Sonne in dreißig Jahren. Dann kommt der Jupiter, temperiert, mit zwölf Jahren. Als drittes Mars, extrem heiß, der zwei Jahre benötigt. In der Mitte ist die Sonne, [die] in 365 Tagen [die Erde umrundet]. Darunter steht die Venus, die auch Lucifer und Vesper genannt wird, und 348 Tage benötigt. […] Danach kommt der Stern des Merkur, der neun Tage schneller ist. […] An letzter Stelle kommt der Mond […].”46

Auch auf der ikonographischen Ebene ist dieser Befund festzustellen. Die wissenschaftlichen Texte der Spätantike wurden ins Mittelalter weitgehend unillustriert überliefert. Erst in der Karolingerzeit wurden den komplexen Texten Diagramme als klärende und didaktische Hilfsmittel beigegeben. Interessanterweise spiegelt sich die virulente Forschungsdebatte um die Ordnung der Planeten kaum in diesen Diagrammen. Bruce Eastwood hat vielmehr darauf hingewiesen, dass die diagrammatische Tradition der Kosmosdiagramme die Chaldäische Ordnung der Ägyptischen vorzieht, auch wenn der Text selbst die platonische Reihung propagierte.47 Mittelalterliche Kosmos-Diagramme überliefern daher auch in früherer Zeit mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Reihenfolge der Planeten, die die Sonne – wie im Fall des Freiburger Schöpfungsportals – an vierter Stelle der Planeten positionieren, so ein Kosmosmodell der Arnsteinbibel aus dem frühen 13. Jahrhundert.

Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378) Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378).

Auch wenn die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles erst im 13. Jahrhundert eine nennenswerte Verbreitung gefunden haben, war die von ihm gewählte Reihenfolge der Planeten also wohl bekannt und in mittelalterlichen Standardwerken, von denen hier nur einige wenige Beispiele gegeben wurden, in Wort und Bild allgegenwärtig. Ideengeschichtlich lässt sich das Schöpfungsportal daher keineswegs auf neuere wissenschaftliche Strömungen zurückführen. Mit Blick auf die Freiburger Bildungslandschaft und dem anzunehmenden Bildungsgrad der für den Bau Verantwortlichen ist es im Gegenteil viel wahrscheinlicher, dass die inhaltliche Vorlage in den gerade im außeruniversitären Bereich gelehrten Standardwerken von Beda oder Honorius zu sehen ist. Ein Umstand, der dann gerade nicht für eine außerordentliche Bildung des etwaigen spiritus rector sprechen würde.

Meiner Ansicht nach ist Pinkus zwar insofern zuzustimmen, dass die Vorlage des Freiburger Sphärenmodells im wissenschaftlichen Bereich zu suchen ist. Der lehrende Gestus des Schöpfers verweist dabei recht konkret auf eine wahrscheinliche Vorlage für das Sphärenmodell. Gelehrt wurde im Mittelalter nicht nur durch das Lesen bzw. Vorlesen bestimmter Texte, sondern vor allem mit Bezug auf visuelle Hilfsmittel, den Diagrammen. Das oben stehende Beispiel verdeutlicht eindrücklich die ikonographische Nähe des Freiburger Modells zu diesen didaktischen Abbildungen, die in jeder Schule und jedem Kloster in Hülle und Fülle vorhanden waren.

Das Freiburger Sphärenmodell ist als getreue Umsetzung eines gewöhnlichen und ubiquitär anzutreffenden Diagramms des Kosmos also kein Ausweis besonderer Bildung des 14. Jahrhunderts. Gleichwohl stellt es ein beeindruckendes Beispiel für das Interesse der Zeitgenossen an der Schöpfung dar, das über eine rein religiöse Deutung weit hinausreicht. Insofern, um auf Karl Schaefer zurückzukommen, waltete in Freiburg und am Oberrhein vielleicht tatsächlich „ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“48

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Michael Schonhardt promoviert bei Prof. Dr. Birgit Studt (Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II) an der Universität Freiburg und ist Mitarbeiter im Erzbischöflichen Archiv Freiburg. Er beschäftigt sich mit der Tradition und Rezeption von theoretischem Wissen über die Natur im 12. Jahrhundert und begleitet seine Dissertation mit einem Blog unter quadrivium.hypotheses.org. Seine Masterarbeit (Michael Schonhardt: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. Reihe Septem 2, Freiburg 2014.) hat er zu naturwissenschaftlichen Diagrammen des hohen Mittelalters verfasst. Im Rahmen seiner Archivtätigkeit publiziert er außerdem ein Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg.

  1. Vgl. Quatmann, Johanna: Das versteckte Portal am Münster?  In: Münsterblatt 13 (2006), S. 13-19.
  2. Vgl. Kürten, Luzius: Steinrestaurierung und -konservierung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 21-23; King, Stefan: Bauforschung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 14 (2007), S. 38.
  3. Genesis 1.1-18.
  4. Schaefer, Karl: Die Weltschöpfungsbilder am Chorportal des Freiburger Münsters. In: Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 26 (1899), S. 11-24, hier S. 16.
  5. Vöge, Wilhelm: Zum Nordportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters 11 (1915), S. 1-9.
  6. Weis, Adolf: Das Freiburger Schöpfungsportal und das Musterbuch von Strassburg. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 5 (1952), S. 181-193.
  7. Vgl etwa Hartmann, Paul: Die gotische Monumentalplastik in Schwaben. München 1910; Kempf, Friedrich: Das Freiburger Münster. Karlsruhe 1926, S. 1-9; Schmitt, Otto: Gotische Skulpturen des Freiburger Münsters. Frankfurt 1926, S. 59-60 (jeweils mit umfangreichen Bildmaterial); Lüdke, Dietmar: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 298-299; Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen. In: Die Skulpturen des Freiburger Münsters. Freiburg 3. Auflage 1999, S. 119-121.
  8. Vgl. Quatmann: das versteckte Portal; King, Stefan:
    Zum Schöpfungsportal des Freiburger Münsters: ein Bildprogramm mit “Stilbruch”
    King, Stefan. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 37 (2008), S. 69-76.
  9. Pinkus, Assaf: Das Schöpfungsportal: Kunst und Lehre im mittelalterlichen Freiburg. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 4-12; Ders.: Patrons and Narratives of the Parler School. The Marian Tympana 1350-1400. München/Berlin 2009; Schneider, Wolfgang: Ein Modell des Kosmos am Schöpfungsportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Diözesanarchiv 125 (2005), S. 241-248.
  10. Schaefer: Die Weltschöpfungsbilder, S. 19.
  11. Ebd., S. 21
  12. Ebd., S. 20.
  13. Vöge: Zum Nordportal, S. 2.
  14. Ebd., S. 2.
  15. Die gotische Monumentalplastik.
  16. Vgl. Adam, Ernst: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 293.
  17. Vöge, Zum Nordportal, S. 6.
  18. anders Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen.
  19. Vgl. Kempf: Das Freiburger Münster.
  20. Vgl. Schmitt: Gotische Skulpturen.
  21. Vgl. Weis: Das Freiburger Schöpfungsportal.
  22. Ebd., S. 183.
  23. Ebd., S. 189.
  24. Ebd., S. 186.
  25. Vgl. Pinkus:  Das Schöpfungsportal; Ders. Patrons and Narratives.
  26. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 4.
  27. Ebd.
  28. Vgl. Quatmann: Das versteckte Portal.
  29. Vgl. King: Zum Schöpfungsportal.
  30. Ebd., S. 74.
  31. Ebd., S. 76
  32. Ebd.
  33. Vgl. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9-11.
  34. Ebd., S. 11.
  35. Pinkus: Patrons and Narratives, S. 209.
  36. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9.
  37. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 242.
  38. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 243-244.
  39. Ebd., S. 247.
  40. Ebd.
  41. Vgl. zum folgenden Eastwood, Bruce: Ordering the Heavens. Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Leiden 2007, S. 31-52.
  42. Frei übersetzt Macrobius: Commentarii in Somnium Scipionis (ed. J. Willis 1970.), Buch 1. Kap. 16.
  43. Frei übersetzt nach Wilhelm von Conches: Dragmaticon Philosophiae (ed. von I. Ronca und A. Badia, 1997. In: CCCM 152.), Buch 4, Kap. 5.
  44. Beda: De natura rerum liber ed. von C. W. Jones ,1975. In: CCSL 123A.
  45. Honorius: De imago mundi ed. V. I. J. Flint, 1982. Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 49 (1982), S. 48-151.
  46. Frei übersetzte nach Beda: De natura rerum liber, Buch 13.
  47. Vgl. Eastwood: Ordering the Heavens, S. 47f.
  48. Schaefer: Weltschöpfungsbilder, S. 16.

 

 

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/549

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Und sie steht doch? Über das geozentrische Weltbild des Mittelalters I

“a circle of blackness shifts slightly […] and becomes a world under darkness, its stars the lights of what will charitably be called civilization. For, as the world tumbles lazily, it is revealed as the Discworld – flat, circular, and carried through space on the back of four elephants who stand on the back of Great A’tuin, […] a turtle ten thousand miles long, dusted with the frost of dead comets, meteor-pocked, albedo-eyed.”[1]

Das Leben ist ungerecht! Während Autoren unserer Zeit dafür gefeiert werden, bizarre Welten zu entwerfen, so rümpfen wir bei den Welterklärungen der Vergangenheit schon bei der kleinsten Ungenauigkeit die Nase. Gerade gegenüber dem Mittelalter fahren wir dabei zur Verurteilung als intellektuell dunkles Zeitalter schwere Geschütze auf, z.B.: das geozentrische Weltbild.

Der Kosmos nach Hartmann Schedel aus seiner Weltchronik (Druck Nürnberg 1943, Digitalisat UB Heidelberg: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00309000 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/)

Der Kosmos nach Hartmann Schedel aus seiner Weltchronik (Druck Nürnberg 1943, Digitalisat UB Heidelberg: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00309000 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/)

Diese Vorstellung, die anstatt der Sonne die Erde als Zentrum des Alls erachtet, gilt wohl als Prototyp mittelalterlicher Rückständigkeit und Vernunftfeindlichkeit. Während es heliozentristische Vorstellungen schon in der Antike gegeben hätte, hätte das dogmatische Christentum mit Feuer und Kreuz immer und immer wieder die Vernunft unterdrückt, so eine – nicht nur in den Untiefen des Internets – weit verbreitete Vorstellung.

Dabei ist diese Vorstellung nicht nur unfair[2], sie lässt auch drei entscheidende Punkte außer Acht:

  1. Das Mittelalter hat das geozentrische Weltbild gar nicht selbst „verbrochen“, das war die griechische Antike
  2. In eben dieser Antike gab es noch viel „absurdere“ Weltbilder
  3. Das geozentrische Weltbild ist mitnichten absurd, im Gegenteil es ist im höchsten Maße vernünftig

Ich glaube diese Vorurteile rühren vor allem daher, dass Vielen gar nicht bewusst, wie komplex und clever das geozentrische Weltbild aus Sicht der Zeit eigentlich ist. In der folgenden Artikelreihe will ich dieses Weltbild, das immerhin mehrere Jahrtausende das Bild der Menschen von der Welt bestimmte, daher etwas näher erläutern. Beginnen möchte ich mit ein paar grundsätzlichen Bemerkungen über den Umgang mit überkommenen Wissenschaftsvorstellungen.

Als „wissenschaftlich“ erscheint uns heute oft, was sich im Laufe der Zeit als richtig herausgestellt hat. Das geozentrische Weltbild ist daher eine irrige Annahme, ergo unwissenschaftlich. Die Geschichte der Naturwissenschaft, also auch die Geschichte der Kosmologie verstehen wir auch heute noch oftmals als eine Aufklärungsgeschichte, an deren Ende natürlich der aufgeklärte Mensch der Neuzeit steht.

Aus Camille Flammarion, L'Atmosphere: Météorologie Populaire. Paris 1888, S. 163. (Digitalisat aus den Wiki Commons)

Aus Camille Flammarion, L’Atmosphere: Météorologie Populaire. Paris 1888, S. 163. (Digitalisat aus den Wiki Commons)

 Eine solche Geschichte vom wissenschaftlichen Fortschritt kann man durchaus erzählen, aber – um mit Rodney Thomson zu sprechen – “The least that one might say of this is that it is a variant of history written from the victor’s viewpoint, with the attendant limitations of balance and perspective.[3] Genauso wenig, wie man einer mittelalterlichen Kathedrale nicht in erster Linie durch das Betonen ihrer Defizite gegenüber moderner Architektur begegnet, sollte man auch das mittelalterliche Weltbild nicht vor dem Hintergrund des aktuellen physikalischen Wissensstandes bewerten: Zum einen, weil dadurch der Sinn für die faszinierenden Eigenheiten der jeweiligen Kultur verloren geht; zum anderen aber auch, weil nicht alles, was sich als falsch herausgestellt hat, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht vernünftig gewesen sein kann.

Im Grunde gibt es drei Möglichkeiten, wie Mensch sich ein Bild von der Welt machen kann:

  1. Mythisch
  2. Spekulativ
  3. Empirisch

Der moderne Mensch würde sein eigenes Weltbild eindeutig unter der dritten Kategorie einordnen und sich klar von mythischen und spekulativen Weltbildern, unter die er wohl das geozentrische Weltbild einreihen würde, abgrenzen wollen. So einfach ist es aber nicht!

Zunächst muss man festhalten, dass das geozentrische Weltbild keineswegs eine dogmatische Erfindung des christlichen Mittelalters war. Im Gegenteil, wie auch das heliozentrische Weltbild, musste es sich im Laufe der griechischen Antike erst gegen einer Reihe durchaus bizarrer Weltentwürfe durchsetzen[4]: Hierunter archaische Welterklärungen, wie sie zuweilen bei Homer durchscheinen; aber auch heute durchaus geschätzte Philosophen wie die Pythagoräer erdachten Kosmosmodelle, die uns gelinde gesagt befremdlich vorkommen müssen: Hier sein die Wikipedia zitiert, vor allem des letzten Satzes wegen:

Das älteste Modell, das wir kennen, ist dasjenige des Philolaos aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Es nimmt ein Zentralfeuer an, das den Mittelpunkt des Universums bildet und um das die Himmelskörper einschließlich der Erde kreisen. Für uns ist es unsichtbar, da die bewohnten Gegenden der Erde auf der ihm stets abgewandten Seite liegen. Um das Zentralfeuer kreist auf der innersten Bahn die Gegenerde, die für uns ebenfalls unsichtbar ist, da sie vom Zentralfeuer verdeckt wird. Darauf folgen (von innen nach außen) die Erdbahn und die Bahnen von Mond, Sonne und fünf Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn). Umschlossen ist das Ganze von einer kugelförmigen Schale, auf der sich die Fixsterne befinden. Aristoteles kritisierte dieses System, da es nicht von den Erscheinungen, sondern von vorgefassten Ansichten ausgehe; die Gegenerde sei nur eingeführt worden, um die Zahl der bewegten Körper am Himmel auf zehn zu bringen, da diese Zahl als vollkommene galt.

Das geozentrische Weltbild ist also mitnichten mythisch, es ist auch nur in geringem Maße spekulativ, es ist eigentlich äußerst empirisch, wie Arianna Borrelli richtig betont hat:

„This image of the world appears today hopelessly outdated, and might be seen as the product of abstract philosophical speculations, having little or nothing to do with reality. As a matter of fact, though, the homocentric-spheres-model offers a faithful representation and clever explanation of the way heavenly bodies are seen to move in the sky when time passes or when humans travel.[5]

Das ist ein ganz zentraler Punkt: Das geozentrische Weltbild entspricht ziemlich genau dem All, wie man es von der Erde aus betrachtet erfährt und vermessen kann, etwa als Himmelsglobus:

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 902, fol. 81, www.e-codices.unifr.ch (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0902)

Himmelsglobus mit Sternzeichen in Ms St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 902, fol. 81, www.e-codices.unifr.ch (http://www.e-codices.unifr.ch/en/list/one/csg/0902)

Es ist als „interaction between a form of mathematical reasoning based on geometrical imagination and natural philosophy[6], also eigentlich eine Mischung zwischen der zweiten (spekulativ) und dritten (empirisch) Kategorie und unserem eigenen Ansatz damit gar nicht so unähnlich.

In das (übrigens lateinische und arabische) Mittelalter ist das geozentrische Weltbild durch spätantike Autoren tradiert worden, wo es von den Mönchen des frühen Mittelalters mit dem Segen des karolingischen Herrscherhauses gefestigt wurde[7]. Interessant ist, dass es gerade während der Spätantike durchaus auch christliche Gegenentwürfe gab, die sich aber aus naheliegenden Gründen (siehe Bild) nicht gegen das rationale geozentrische Weltbild durchsetzen konnte.

Die Welt im Tabernakel nach Cosmas Indicopleustes Topographia Christiana (6. Jahrhundert) (Digitalisat Wiki Commons)

Die Welt im Tabernakel nach Cosmas Indicopleustes Topographia Christiana (6. Jahrhundert) (Digitalisat Wiki Commons)

Das geozentrische Weltbild ist daher also mitnichten das Werk verblendeter christlicher Fundamentalisten. Es basiert nicht einfach auf mythischen oder spekulativen Gedankenmodellen, sondern bildet die scheinbaren Vorgänge am Himmel ab. Das bestimmende Weltbild der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit war daher kein intellektueller Rückschritt, sondern muss – aus der Zeit heraus bewertet – im Gegenteil als Fortschritt verstanden werden. Wie dieses Weltbild genau ausgesehen hat, das möchte ich in den nächsten Tagen und Wochen etwas näher erläutern.

 

[1] Terry Pratchett, Pyramids, London 1989, S. 7.

[2] ganz abgesehen von dem sehr wichtigen Punkt, dass das heliozentrische Weltbild mitnichten durch die Kirche unterdrückt wurde, aber das ist eine andere Geschichte, http://www.zeit.de/1980/46/galileo-galilei-war-kein-maertyrer.

[3] Rodney Thomson, Richard Southern and the twelfth-century intellectual world. In: Journal of religious history Bd. 26 (2002) S. 264-273, hier S. 271.

[4] Einführend in die griechische Astronomie: Árpád Szabó, Das geozentrische Weltbild: Astronomie, Geographie und Mathematik der Griechen. Stuttgart 1992.

[5] Arianna Borrelli, Aspects of the astrolabe. Stuttgart 2008, S. 36.

[6] Ebd.

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/136

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Konferenz zum Einsatz naturwissenschaftlicher und technischer Methoden in der Handschriftenforschung

Vom 4. bis zum 6. Dezember veranstaltet der Sonderforschungsbereich “Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa” (Centre for the Study of Manuscript Cultures) an der Universität Hamburg eine Tagung, bei der die Unterstützung handschriftenbezogener Forschung mit Methoden aus den Naturwissenschaften und der Technik thematisiert werden soll. Auf dem Programm stehen unter anderem Arbeiten zur Bild- und Materialanalyse. Eine weitere Sektion konzentriert sich auf interdiziplinär arbeitende Projekte. Eine Registrierung für die Teilnahme ist erforderlich.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=2634

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“Haec sunt in fossa Bedae venerabilis ossa” – Ein Besuch bei Beda Venerabilis

Das Datum des letzten Blogbeitrages liegt schon etwas länger zurück, trotzdem war ich in den letzten Wochen nicht untätig. Neben Arbeit, der Vorbereitung meines Exposés und vielen anderen Dingen habe ich mir auch eine Woche „Erholungsurlaub“ gegönnt. Die Reise ging unter anderem in den Nordosten Englands in die Kleinstadt Durham. Aber egal wie weit man reist, der eigenen Dissertation entkommt man nicht. Im Folgenden daher ein paar Gedanken zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion im Mittelalter, die mich auf und nach der Reise beschäftigt haben. Aber zunächst einige Worte zu Durham.

Durham ist vor allem für seine Kathedrale und sein Castle bekannt, danach für seine Universität und für Liebhaber antiquarischer Bücher und bizarrer Geschichte durch den erst jüngst aufgedeckten Diebstahl der Erstausgabe des shakespeareschen Gesamtwerkes. Feinschmecker schätzen das Städtchen übrigens als Ursprung des feinen englischen Senfes. Alles in allem ist Durham gerade für Mediävisten einen Abstecher wert, vor allem ab Juli, wenn der Lindisfarne Gospel in den Norden zurückkehrt, worauf man dort verständlicherweise äußerst stolz ist. Auch das hiesige Institut for Medieval and Renaissance Studies ist sehr renommiert, twittert und bietet ein interessantes Masterprogramm an.

Im Mittelalter war die Stadt als Sitz des Prince Bishops ein machtpolitisches Zentrum im Norden und bot aufgrund seiner natürlichen Lage eine ideale Verteidigung gegen wechselnde Bedrohungen, vor allem natürlich gegen Wikinger und Schotten. Aus diesem Grund kamen auch die wertvollen Gebeine Saint Cuthberts und der Kopf des heiligen Oswalds nach Durham, das nun auch als Kultstädte Bedeutung genoss. Aus der Fülle an Literatur sei hier lediglich auf das Buch von Christian Liddy verwiesen, dass sich zwar auf das späte Mittelalter konzentriert aber natürlich auch die frühere Geschichte anreißt.[1]

Besonders die Kathedrale ist wirklich beeindruckend. Vor allem bei untergehender Sonne und aus der richtigen Perspektive begreift man die Begeisterung, die Nathaniel Hawthorne in seinen Reiseberichten festhielt:

“We paused upon the bridge, and admired and wondered at the beauty and glory of the scene, with those vast, ancient towers rising out of the green shade, and looking as if they were based upon it. The situation of Durham Cathedral is certainly a noble one, finer even than that of Lincoln, though the latter stands even at a more lordly height above the town. But as I saw it then, it was grand, venerable, and sweet, all at once; and I never saw so lovely and magnificent a scene, nor, being content with this, do I care to see a better.” 

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Foto: Privat

Bei aller Begeisterung für das Offensichtliche, für mich liegt der wichtigste Schatz der Kathedrale etwas versteckt in der sogenannten Galilee Chapel aus dem späten 12. Jahrhundert (auf dem Foto unter den Türmen). Denn dort „sunt in fossa Bedae venerabilis ossa“, dort ruhen die Gebeine des Beda venerabilis im Grabe. Beda war wohl einer der bedeutendsten Gelehrten des frühen Mittelalters und lebte ganz in der Nähe im Kloster Jarrow im heutigen Sunderland als Mönch und Gelehrter.

 

Foto: Robin Widdison 

Bekannt ist Beda heute vor allem für die Historia ecclesiastica gentis Anglorum, also die Kirchengeschichte des englischen Volkes, sowie seinen „naturwissenschaftlichen“ Schriften zur Zeitberechnung und Kosmologie, vor allem De temporum ratione und De natura rerum bzw. De temporibus[2]. Zeitgenossen hätten sicher auch sein Werk zur Metrik, vor allem aber seine zahlreichen exegetischen Kommentare genannt.

Damit tritt uns also als ein sehr vielschichtiger Gelehrter entgegen, als Verfasser von Heiligenbiographien, Historiker, Theologe, Naturwissenschaftler und natürlich als Mönch. In dieser Vielschichtigkeit entzieht er sich einer eindeutigen Klassifikation. Gerade dem modernen Betrachter ist eine solche Klassifikation aber sehr wichtig, da er in klar ausdifferenzierten und getrennten Systemen wie Religion, Wissenschaft, Recht, Politik, Kultur etc. zu denken gewohnt ist.

Worum es mir heute geht, ist die Frage, ob eine solch strikte Klassifikation, vor allem die Abgrenzung und Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft in der Vormoderne überhaupt angemessen ist, oder ob sich durch einen solchen Ansatz nicht viel eher hermeneutische Schwierigkeit für den Historiker und Kulturwissenschaftler ergeben. Meine vorläufige These ist, dass eine solche grundsätzliche Trennung, also der Dualismus von Religion und Naturphilosophie oder Naturwissenschaft für das Mittelalter eine künstliche ist, die zuweilen die Wahrnehmung dieser Epoche und ihres Weltbildes verzerrt. Diesen Gedanken möchte ich an ein paar Beispielen verfolgen.

Bedas Grab ist mit einem Zitat aus seinem Kommentar zur Apokalypse, hier zur Offenbarung 2,28 und 22,16 überschrieben, das ich persönlich sehr beeindruckend finde:

“Christus est stella matutina, qui nocte saeculi transacta, lucem vitae sanctis promittit et pandit aeternam

„Christus ist der Morgenstern, der, wenn die Nacht des Diesseits vorüber ist, den Heiligen das ewige Licht verspricht und schenkt“

Im Bild des Morgensterns kommt tiefe Erlösungshoffnung des Autors zum Ausdruck. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es in der religiösen Welt des Mittelalters vielfach rezipiert worden ist. So zum Beispiel im 12. Jahrhundert in einem süddeutschen Offizium (Diesen Hinweis verdanke ich Eva Ferro, Freiburg), und zwar, wie ich finde in einer außerordentlich faszinierenden Weise. Zum Invitatorium der Matutin, also dem nächtlichen Gebet, das in die morgendlichen Laudes übergeht, ziehen die Mönche noch im Dunkel der Nacht singend in die Kirche:

“Stellam Christum matutinam/cum Maria prestolantes/ne sola stet foris plorans/nos cum ea vigilemus/ut per noctem quem insomnis/queritando dilexerat/hunc inventum simul una/procidentes adoremus.“[3]

Natürlich geht es hier in erster Linie um den Ausdruck einer monastischen Spiritualität. Gleichzeitig funktioniert die Stelle aber auch auf einer zweiten, realen Ebene. Denn das Bild des Morgensterns erinnert die Mönche nicht nur an die Auferstehung Jesu und die damit verbundene Erlösung, sondern es verweist darüber hinaus auch auf eine reale Beobachtung außerhalb der Liturgie und des Gebetes: Denn tatsächlich erwarten die Mönche Tag für Tag den Morgenstern, der in Wirklichkeit identisch mit der Venus ist und besonders – je nach Phase abwechselnd – in den frühen Morgen- oder Abendstunden zu sehen ist. Mehr noch, die Beobachtung der Sterne war Alltag eines Klosters, half sie doch, die Gebetszeiten und liturgischen Feste, aber auch den Beginn der Jahreszeiten und anderer fundamentaler Dinge des Lebens zu bestimmen.[4] Die Handschrift Ms 1 Aus dem Archivio Capitulare in Faenza enthält übrigens eine sehr schöne Illumination, die die singenden Mönche unter dem Sternenhimmel zeigt. Wer den Wolfenbütteler Sammelband Divinia Officia (hg. von Patrizia Carmassi 2004) zur Hand hat, kann hier auf Seite 161 nachschauen. Online habe ich die Abbildung leider nicht finden können, dafür aber die tolle Abbildung einer Sternenbeobachtung in cod. sang. 18.

 Mönche beobachtet die Sterne. Abbildung aus Cod. Sang. 18, fol. 43

 Astronomische Phänomene wie der Morgenstern, der bezeichnenderweise im Osten aufgeht und dadurch das spirituelle Bild noch verstärkt, waren damit auch Gegenstand alltäglicher „naturwissenschaftlicher“ Beobachtung und Nutzung. Wenn man so will stellt der Morgenstern hier also einen Nexus zwischen den Bereichen der religiösen Spiritualität und naturwissenschaftlicher Beobachtung dar, die sich beide befruchten, vielleicht sogar bedingen.

Man könnte weitere Beispiele anführen, etwa die vergleichsweise häufige annalistische Nennung von Sonnenfinsternissen, ein Phänomen, dass immerhin die Kreuzigung Jesu begleitete und schon durch die Evangelisten einer durch und durch religiösen Deutung unterworfen wurde. Und trotzdem bestand schon im frühen Mittelalter und bis in die höchsten Kreise des Kaiserhofes ein Interesse an einer rationalen Erklärung dieser Phänomene.[5]

Religiöse Deutung und rationale Erklärung der natürlichen Zusammenhänge schließen und schlossen sich offenbar nicht aus, im Gegenteil. Gerade die Klöster zeigen im frühen Mittelalter ein großes Interesse an der Astronomie, das vom Kaiserhof aus gefördert und gefordert wurde und vom dem noch heute viele Handschriften zeugen. Etwa die am Kaiserhof gefertigte Leidener Aratea, die gegenwärtig ausgestellt wird.

Ich glaube allerdings, dass man dieses Interesse nicht, wie es oft geschieht, primär auf eine Rolle als christliche bzw. theologische Hilfswissenschaft reduzieren darf. Natürlich diente etwa die Chronologie im Kloster vor allem zur Berechnung liturgischer Daten. Aber das hierfür notwendige Verständnis und die laufende Beobachtung der Gestirne, von Sonne und Mond, dem Wechsel von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten bedurfte doch eines breiteren naturwissenschaftlicheren Wissens.

Deshalb hat Beda zum Beispiel De temporibus, also seiner Schrift zur Chronologie das kosmologische Werk De natura rerum vorangestellt, und auch die karolingischen Enzyklopädien kommen nicht ohne grundsätzliche Aussagen über den Ablauf der natürlichen Welt aus. Hinter der praktischen Anwendung dieses Wissens verbarg sich eben immer auch ein Interesse an umfassender und theoretischer Kosmologie.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn im Grunde gibt es in der Vormoderne überhaupt keinen Lebensbereich, der ohne eine Kosmologie auskommt. Bevor man im 18. Jahrhundert die Beobachtung der physikalischen Welt ins Labor verbannte, sie mechanisierte und mathematisierte und damit von der eigenen Lebenswelt entkoppelte, war war sie unumgänglicher Bestandteil des alltäglichen Lebens in einer Agrargesellschaft, dem man sich nicht wie heute entziehen konnte. Um diese Beobachtungen der Natur für das alltägliche Leben nicht nur praktisch nutzbar zu machen, sondern sie auch mit Bezug zur eigenen Lebenswelt zu deuten, bedarf es aber zwangsläufig der Kosmologie.

Wenn Kosmologie und Naturwissenschaft also nicht, wie das heute der Fall ist, abstrakte Probleme behandeln, sondern unmittelbar die eigene Lebenswelt erklären und deuten, dann nehmen sie im Grunde eine ganz ähnliche Funktion ein, wie die Religion. Denn auch Religion dient und diente der Deutung der Welt und der eigenen Existenz. Im Christentum liegt diese vor in der Heilsgeschichte und dem besonderen Band zwischen Schöpfergott und Schöpfung begründet. Religion und kosmologische Naturbeobachtung sind damit, wenn man so will, zwei Seiten derselben Medaille, die durch das Geschaffensein der Welt zwar ihre untrennbare Verbindung finden, gleichzeitig aber auch unterschiedliche Modi der Weltdeutung darstellen. Eine Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft als eigenständige und isolierte Systeme mit unterschiedlichen Zielsetzungen kann es in der Vormoderne und ihrer Lebenswelt daher gar nicht geben. Sie sind weder getrennt voneinander zu verstehen, noch erschöpft sich die Kosmologie darin, eine religiöse Hilfswissenschaft zu sein.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass sich die Lebens- und Geisteswelt des Mittelalters nur durch Würdigung beider Aspekte und ihrer Verknüpfung rekonstruieren lässt. Vielleicht ließe sich dies sinnvoller bewerkstelligen, wenn dafür nicht die Kategorien unserer ausdifferenzierten Moderne – Wissenschaft und Religion verwendet werden –, sondern stattdessen auf den Begriff der Weltdeutung zurückgegriffen würde.

Beda erschiene unter diesem Aspekt dann weder als Naturwissenschaftler, Theologe und/oder Historiker, sondern als Weltdeuter, in dessen Werken sich verschiedene Modi dieser Weltdeutung ergänzen und überscheiden. Damit wäre er im wahrsten Sinne des Wortes ein Universalgelehrter – und hätte mit der Universitätsstadt Durham wohl eine passende letzte Ruhestädte gefunden.

 

[1] Liddy, Christian D.: The Bishopric of Durham in the late Middle Ages: lordship, community and the cult of St Cuthbert. Woodbridge 2008. Bei Googlebooks.

[2] Hier sei noch einmal auf die Übersetzungen, vor allem aber die sehr nützlichen inhaltlichen Kommentare von Wallis und Kendall hingewiesen: Kendall: Calvin/Wallis, Faith: Bede On the Nature of Things and On Times. Liverpool 2010 (Googlebooks); Wallis, Faith: Bede The Reckoning of Time. Liverpool 1999 (Googlebooks).

[3] Ferro, Eva: Suavissime universorum domine: Ein unediertes Offizium für Maria Magdalena im Kontext der Hirsauer Reform. Unveröffentlichte Masterarbeit Erlangung des akademischen Grades Master of Arts an der Universität Freiburg im Sommersemester 2011, S. 14.

[4] Wiesenbach, Joachim: Der Mönch mit dem Sehrohr : die Bedeutung der Miniatur Codex Sangallensis 18. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 44 (1994), S. 367-388.

[5] Eine gute Einführung bietet Eastwood, Bruce: Ordering the Heavens. Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Boston/Leiden 2007. Googlebooks.

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/89

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