Das Nummerierungsweblog eröffnet seine Pforten

Mit heutigem Datum eröffnet das Nummerierungsweblog seine Pforten, das ein beabsichtigtes Forschungsprojekt – ach, möge es bewilligt werden, ihr HerrInnen des Peer Review und Rankingfiebers, ihr Götter und Göttinen der Antragsportale und Stand alone-Projekte! – zur Kulturtechnik der Nummerierung begleiten soll und in loser, zumindest wöchentlicher Abfolge Materialien dazu bereitzustellen gedenkt.
Nummerierung wird als Kulturtechnik1 verstanden, die einem Objekt oder einem Subjekt – ganz gleich ob einem Haus, einem Stadtbezirk, einem Sitzplatz, einer Buchseite, einem Sträfling oder einer Polizistin – eine Zahl vergibt, um Objekt oder Subjekt eindeutig identifizierbar zu machen; sie produziert Differenzen, macht die einzelnen Subjekte und Objekte klar kenntlich und ermöglicht es, diese leicht und schnell voneinander unterscheidbar zu machen.
Die für die Nummerierung verwendete Zahl hat dabei dieselbe Funktion wie ein Name, weswegen Heike Wiese, eine Theoretikerin der Gebrauchsweisen von Zahlen, von der „nominalen“ Zahlenzuweisung spricht, in Unterscheidung zum „kardinalen“ und „ordinalen“ Zahlengebrauch. Nach Wiese werden die „kardinalen Zahlzuweisungen“ verwendet um die Kardinalität, also die Anzahl von Elementen innerhalb einer Menge identifizieren, also etwa eine Menge von Bleistiften – zum Beispiel: vier Bleistifte – oder eine Menge von Maßeinheiten, wie zum Beispiel: Drei Liter Wein. Bei den „ordinalen Zahlzuweisungen“ identifizieren Zahlen den Rang eines Elements innerhalb einer bestimmten Sequenz: als Beispiel könnte man hier den dritten Platz eines Marathonläufers bei einem Wettbewerb anführen, wo die Zahl drei angibt, dass er als drittschnellster im Ziel eingelaufen ist. Und zuletzt gibt es die „nominalen Zahlzuweisungen“, bei denen Zahlen Objekte innerhalb einer Menge identifizieren. Zahlen werden hier als Eigennamen gebraucht, als Beispiele für solche Verwendungsweisen könnte man Hausnummern, Nummern von Bus- und Straßenbahnlinien oder Telefonnummern anführen. Zahlen können Objekten und Subjekten demnach zu drei Zwecken zugewiesen werden: Erstens zur Bestimmung der Kardinalität von Mengen, zweitens zur Bestimmung des Rangs von Objekten in einer Sequenz und drittens zur Bestimmung der Identität von Objekten in einer Menge; es gibt kardinale, ordinale und nominale Zahlzuweisungen.2 – Bei der Nummerierung handelt es sich demnach um eine nominale Zahlzuweisung, wobei allerdings festzustellen ist, dass sich manchmal diese verschiedenen Gebrauchsweisen vermischen.
Wenn auch Zahlen bei der Nummerierung die Funktion von Namen zukommt, so gibt es doch Unterschiede zwischen Zahlen und Namen; diese bestehen u.a. darin, dass erstere im Gegensatz zum Namen eindeutiger sind – es gibt nur ein beschränktes Repertoire an miteinander verwechselbaren Namen, aber ein potenziell unendliches Reservoir an Zahlen – und dass sie seltener mit Geschichten beispielsweise über eine genealogische Herkunft verbunden werden. Wird eine Zahl zur Identifizierung eingesetzt, wird sie zur Nummer.

Wer ganz besonders neugierig ist, kann – abgesehen von meinen Arbeiten zur Hausnummerierung – schon mal einen Blick in folgende Texte hineinwerfen:

Tantner, Anton: Nummerierung. Auf den Spuren einer ambivalenten Kulturtechnik, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken, Nr. 785, 2014/10, S. 939–945.
Self-Archive: http://tantner.net/Publikationen/Tantner_NummerierungalsKulturtechnik_Merkur_2014-10.pdf

Tantner, Anton: Gemalte Zahlen – von Inventarnummern und Bildbeschreibungen. Eine anfragende Miszelle für KunsthistorikerInnen, in: Frühneuzeit-Info 25.2014, S. 232–235.
Online im Frühneuzeit-Info-Weblog: http://fnzinfo.hypotheses.org/93

Tantner, Anton: Nummern für Räume: Zwischen Verbrechensbekämpfung, Aneignung und Klassenkampf – Eine Dokumentation, in: Medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik 2012 – 2013. Hg. von Alessandro Barberi u. a. Wien: New academic press, 2014, S. 189–195.
Online: http://www.medienimpulse.at/articles/view/480

  1. Einführend zum Begriff der Kulturtechnik: Siegert, Bernhard: Kulturtechnik, in: Maye, Harun/Scholz, Leander (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft. München: UTB 3176/Fink, 2011, S. 95–118; Maye, Harun: Kulturtechnik, in: Bartz, Christina u.a. (Hg.) Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. München: Fink, 2012, S. 142–148.
  2. Wiese, Heike: Sprachvermögen und Zahlbegriff. Zur Rolle der Sprache für die Entwicklung numerischer Kognition, in: Schneider, Pablo/Wedell, Moritz (Hg.): Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl. (=visual intelligence. Kulturtechniken der Sichtbarkeit; 6). Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2004, S. 123–145, hier 127f., 132; siehe auch Dies.: Numbers, Language, and the Human Mind. Cambridge: CUP, 2009.

Quelle: http://nummer.hypotheses.org/11

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historicum-estudies.net: Leitfaden für das Studium der Mittelalterlichen Geschichte

http://www.historicum-estudies.net/etutorials/leitfaden-mittelalter Der Leitfaden für das Studium der Mittelalterlichen Geschichte richtet sich in erster Linie an die Studierenden der Universität zu Köln, die ein Einführungsseminar zur Mittelalterlichen Geschichte besuchen. Er bietet ergänzende Materialien, bei denen es vorrangig um die Vermittlung von Grundlagenwissen zu den Methoden und Techniken geschichtswissenschaftlichen Arbeitens geht. Dadurch eignet sich der Leitfaden auch […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2015/04/5792/

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Wer bloggt hier eigentlich, und wenn ja, wie viele?

Die Blogparade ist schon vorbei, aber da die |Marginalien gerade wieder aus dem „vorlesungsfreie-Zeit-Schlaf“ erwachen, sind wir dennoch so frei, dies zum Aufhänger für einen Beitrag zu nehmen, den wir sowieso schon auf der Liste hatten: einen Blick in die Landschaft der (vorerst) deutschsprachigen religionswissenschaftlichen Blogs.

Wir im Redaktionsteam haben uns natürlich auch vor dem Start von Marginalien überlegt, warum es „yet another relwiss-blog“ (unser damaliger Arbeitstitel) sein soll – und damit im Zusammenhang auch, was es bereits an Blogs gibt, und was dort im Mittelpunkt steht.

An deutschsprachigen RW-Blogs waren uns vor allem drei besonders präsent: Der Blog des religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes (REMID e. V.), der Blog „Natur des Glaubens“ von Michael Blume auf SciLogs, und Sabine Liesches „Religioholic“-Blog. Sie erschienen uns mit ihren Anliegen und Themen hinreichend unterschiedlich von unserem Vorhaben. Aber lassen wir sie doch selbst zu Wort kommen:

Michael Blumehttp://www.scilogs.de/natur-des-glaubens/about-the-blog/

Wissenschaftsblogs wirken als sich verstärkendes Netzwerk – deswegen kann es gar nicht genug davon geben! Mein Blog „Natur des Glaubens“ hat den wissenschaftlichen Schwerpunkt auf der interdisziplinären Evolutionsforschung sowie der Medienreflektion. Normativ werbe ich für die Befassung mit Wissenschaften und trete für Dialogprozesse, Menschen- und Freiheitsrechte ein. Dabei ist NdG auch ein Stück Experiment und teilnehmende Beobachtung: Seit Kurzem habe ich ihn durch einen kleinen Podcast und Videos ergänzt und nutze ihn auch zunehmend für Lehrveranstaltungen. Kurz: Ich liebe die Dynamiken der Blogosphäre, würde mir aber noch viel mehr religionswissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen dort wünschen. Wir entscheiden doch durch unser Tun oder Unterlassen mit, welche Inhalte sich im Netz finden!

Sabine Lieschehttp://religioholic.de/

Mittlerweile gibt es religioholic seit fast drei Jahren und ebenso lang bietet es Faszinierendes und Spannendes aus der Welt der Religion(en) für alle an Religion Interessierten – vom Schüler bis zum Rentner, vom Laien bis zum Wissenschaftler. Die Beiträge beschäftigen sich hauptsächlich mit aktuellen Themen, inspiriert von wöchentlichen Rückblicken auf die Nachrichten und Ereignisse der Welt. Die Artikel reichen von der Vorstellung einzelner Religionsgruppen (z. B. Jesiden, Ahmadiyya) über die Analyse aktueller Tendenzen (z. B. Islamfeindlichkeit) bis hin zu Berichten über religiöse Besonderheiten (z. B. Sexualität und Religion). Mein Schwerpunkt liegt dabei bei islamverwandten Forschungen und Artikeln, aber bald gibt es einen Beitrag über Selbstmumifizierung im Buddhismus, also seid gespannt.

Christoph Wagenseilhttp://remid.de/blog/

Als ich zu REMID kam, hatte der Verein zwar bereits eine Webseite, aber er war noch weit entfernt davon, in den neuen Medien aktiv zu sein. Zum damals neuen Blog-Projekt, das seit März 2011 am Start ist, gehörte auch der Einstieg in die sozialen Netzwerke. Neben Artikeln, Essays, Reviews und Gastbeiträgen wurden insbesondere die Interviews mit der Fachwelt oder Akteuren des religiös-weltanschaulichen Feldes zum Markenzeichen des REMID-Blogs. Thematisch liegen die Schwerpunkte wie sonst bei REMID bei europäischer Religionengeschichte, insbesondere religiöse Gegenwartskultur, neue religiöse Bewegungen, Pluralisierung & Religionsfreiheit, Religion & Migration, Hermetic Studies sowie Streiflichter aus aktueller Religionsforschung (Methoden) mit besonderem Fokus auf die deutschsprachigen Länder. REMID erreicht neben guten Anteilen der religionswissenschaftlichen Fachwelt z. B. über 600 vornehmlich Multiplikatoren aus Medien, Religionen und Öffentlichkeit über Twitter. Das Profil schwankt zwischen (populär-)wissenschaftlichen Fachartikel und wissenschaftsjournalistischen Experteninterviews. Eine wichtige Funktion des Blogs könnte darin bestehen, ein nachdenkliches Korrektiv zum religions- und weltanschauungsbezogenen Zeitgeschehen zu sein, welches religionswissenschaftliche Perspektiven in Debatten einbringt.

Alle drei Blogs haben uns inspiriert, und dennoch hatten wir den Eindruck, dass die deutschsprachige Bloglandschaft auch noch einen weiteren Blog verträgt, ohne vollkommen übersättigt zu sein – einen, der vor allem als Plattform für jedermann (und -frau, und überhaupt alle Interessierten) dienen kann, nicht nur Kommentare zu aktuellem religionsbezogenem Geschehen loswerden zu können, und damit potentiell auch ein breiteres Publikum als die fachbekannte religionswissenschaftliche Mailingliste zu erreichen, sondern auch noch nicht fertiggegorene Überlegungen oder sonstige Ideen zur Diskussion stellen zu können. Wir sind gespannt, wie tragfähig diese Idee ist.

So, aber jetzt seid ihr dran, denn unsere Liste ist ja sicherlich nur eine kleine Auswahl! Welche anderen religionswissenschaftlichen Blogs kennt (und vielleicht lest) ihr noch? Was habt ihr jenseits der deutschsprachigen Landschaft im Blick? Oder habt ihr noch ganz andere Online-Quellen abonniert – Podcasts, Homepages, Twitteraccounts? Wir würden uns freuen, noch mehr spannende Beispiele kennenzulernen (und vielleicht als nächstes ein paar Podcasts vorzustellen … oder so.)

redaktion

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/131

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Im Strudel der Politik: Diskussionen um Institute zur Vergangenheitsaufarbeitung in Tschechien und der Slowakei

Seit seiner Gründung im Jahr 2007 hat das tschechische “Institut für das Studium totalitärer Regime” (Ústav pro studium totalitních režimů, ÚSTR) fünf Mal den Direktor gewechselt. Immer wieder wird das Institut, das sich mit der Zeit der nationalsozialistischen und kommunistischen Regime in Tschechien beschäftigen soll, zu einem Spielball der sich streitenden politischen Parteien. Auch dem slowakischen Pendant, dem Institut für nationales Gedenken (Ústav pamäti národa, ÚPN), ergeht es nicht viel besser, da es keinen ständigen Sitz hat und immer wieder umziehen muss. Ursache dafür sind unter anderem grundlegende Fehler, die schon bei der Gründung dieser Institute, die aufgrund der gemeinsamen tschechoslowakischen Vergangenheit viele Verbindungen aufweisen, erfolgt sind.

Das ÚSTR sei mit einem Geburtsfehler auf die Welt gekommen. So äußerte sich vor zwei Jahren der Historiker Michal Kopeček in einem Interview mit Radio Prag1. Der Anlass des Interviews war damals die Abberufung von Daniel Herman, des vierten Institutsdirektors in fünf Jahren. Kopeček sah den Geburtsfehler darin, dass das Institut 2007 von einer rechtsgerichteten Regierung initiiert und gegen den Willen der linken Parteien – der Sozialdemokratie und der Kommunisten – durchgesetzt worden war. Außerdem sei dadurch, dass sowohl der Verwaltungsrat als auch der wissenschaftliche Beirat vom Senat gewählt werden, die Politisierung des Instituts, das die Akten der Staatssicherheit zugänglich machen und die Ära der Diktatur erforschen soll, vorprogrammiert.

Auch wenn das slowakische ÚPN 2002 von einer Regierung, an der sowohl Parteien des rechten als auch eine Partei des linken politischen Spektrums beteiligt waren, durchgesetzt wurde, war seine Gründung nicht weniger umstritten. Das entsprechende Gesetz wurde vom Präsidenten abgelehnt und ins Parlament zurückgeschickt. Dabei kritisierte der Präsident nicht konkrete Abschnitte des Gesetzes, wie es bei mehreren anderen zurückgeschickten Gesetzen der Fall war, sondern lehnte es als Ganzes ab. Das Veto des Präsidenten wurde auf der letzten Parlamentssitzung vor den Wahlen überstimmt und das Gesetz trat in Kraft, obwohl sich der Präsident weiterhin weigerte, es zu unterzeichnen. Die damals stärkste Partei im Parlament – die Bewegung für die demokratische Slowakei (HZDS) – sowie die nationalistische Slowakische Nationalpartei (SNS) lehnten das Gesetz ab.

Der Regierungswechsel von 2006 brachte eine Koalition aus SMER (Sozialdemokraten), HZDS und SNS an die Macht. 2007 wählte diese Koalition Ivan Petranský zum Institutsdirektor, nachdem mehrere umstrittene Kandidaten in der Abstimmung durchgefallen waren. 2008 schlug der Vorsitzende der SNS, Ján Slota, vor, den ÚPN aufzulösen. Dabei bestritt er, dass dieser Vorschlag mit den negativen Informationen über ihn, die das Institut kurz zuvor veröffentlicht hatte, im Zusammenhang stehe. Trotz der Unterstützung von HZDS, die aus ihrer negativen Einstellung zum Institut nie ein Hehl gemacht hatte, scheiterte dieser Versuch am Widerstand der größten Koalitionspartei – SMER. 2011 warf der Institutsdirektor Petranský der neuen Regierung der Ministerpräsidentin Iveta Radičová vor, dass sie mit einer Reform des Gesetzes über das nationale Gedenken die Unabhängigkeit des Instituts beseitigen wolle. 2012, nachdem neun Institutsmitarbeitern gekündigt worden war, wurde in den Medien behauptet, dass es sich dabei um „Säuberungen“ handle und Petranský seine Opponenten und Kritiker loswerden wolle, auch weil er wisse, dass nach dem Sturz der Regierung von Radičová nun wieder SMER an die Macht gelangen und Petranský damit Rückendeckung bekommen werde.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in Tschechien beobachten. Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Gründung des ÚSTR versuchten sozialdemokratische Abgeordnete vor dem Verfassungsgericht, die Abschaffung des Gesetzes und damit des Instituts zu erwirken, aber die Verfassungsrichter lehnten dies ab. 2010 beschuldigte der Vorsitzende der Sozialdemokraten Jiří Paroubek das Institut, sich in den Wahlkampf einzumischen und im Auftrag der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) zu agieren. Später sagte Paroubek in einem Interview, dass das Institut abgeschafft gehöre. Die eingangs erwähnte Abberufung des Direktors Herman in den Verwaltungsrat im Jahre 2013 sahen Bürgerdemokraten als Pakt der Sozialdemokraten und der Kommunisten und bezeichneten ihn als einen „linken Putsch“. Der Ministerpräsident Petr Nečas von der ODS behauptete in diesem Zusammenhang, dass die Paralysierung des Instituts eine Bedingung der Kommunisten für die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten nach den Wahlen gewesen sei. Darauf reagierte der Vorsitzende der Sozialdemokraten Bohuslav Sobotka und versicherte, dass er nicht vorhabe, den ÚSTR aufzulösen.

An diesen Auseinandersetzungen ist deutlich zu erkennen, dass beide Institute bei nahezu jedem Regierungswechsel von Streitigkeiten um ihre Rolle, von Reformen und Änderungen oder sogar von der Gefahr der Schließung betroffen sind. Warum ist es Politikern in beiden Ländern so wichtig, auf diese Institute Einfluss zu nehmen? Kopeček sieht das Problem des ÚSTR in der Definition seiner Aufgaben begründet. Diese widersprechen sich teilweise, denn das Institut soll auf der einen Seite unabhängige historische Forschung betreiben, auf der anderen Seite politische Bildung und Förderung eines bestimmten Geschichtsbildes übernehmen. Auch die Liste der Aufgaben des slowakischen ÚPN ist lang und umfasst unter anderem die „vollständige und unparteiische Bewertung der Zeit der Unfreiheit“, die auch an die Öffentlichkeit getragen werden soll, sowie die Propagierung der Ideen der Freiheit und der Verteidigung der Demokratie2. Dass es auch anders geht, zeigt Kopeček am Beispiel von Deutschland, wo solche Aufgaben zwischen drei Institutionen (Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und Bundeszentrale für politische Bildung) aufgeteilt seien.

Angesichts des Bildungsauftrags des slowakischen und des tschechischen Instituts überrascht es nicht, dass jede politische Partei Interesse daran hat, das propagierte Geschichtsbild in eine bestimmte Richtung zu lenken. Zugleich ist mit der politischen Abhängigkeit der Institute die Gefahr verbunden, dass jede Änderung oder Kündigung, egal aus welchem Grund, als politisch motivierte Säuberung beziehungsweise als ein Versuch, das Institut für sich und für die eigene Partei einzunehmen, ausgelegt werden kann. Und dies wird vom politischen Gegner gerne genutzt, wie die skizzierten Kontroversen verdeutlichen.

Erneute Konflikte bahnten sich im Spätherbst 2014 an. In Tschechien waren Mitarbeiter des ÚSTR entlassen worden, auch waren die Zuständigkeiten bei der Digitalisierung des Archivmaterials geändert worden. Einige Medien und Gewerkschaften sprachen in dem Zusammenhang von Säuberungen. Auch äußerten einige Kommentatoren den Verdacht, dass hinter den neu vergebenen Zuständigkeiten zwischen dem Institut und dem Archiv der Sicherheitsdienste die Absicht stehe, die Digitalisierung der Dokumente zu behindern und den Historikern des Instituts den Zugang dazu zu erschweren. In der Slowakei suchte das ÚPN einen neuen Sitz, nachdem der Gebäudebesitzer – das Verkehrsministerium – den Mietvertrag nicht verlängert hatte. Dadurch musste das Institut zum siebten Mal seit seiner Gründung umziehen. Mit den Räumen, die das Innenministerium dem ÚPN vorgeschlagen hatte, zeigten sich die Institutsmitarbeiter unzufrieden, da diese ihrer Ansicht nach im desolaten Zustand waren. Zudem böten die neuen Räume keine langfristige Lösung des Problems, da der Vertrag wieder nur für wenige Jahre geschlossen wird. Die Kritiker der Vorgänge in beiden Ländern wiesen dabei gerne darauf hin, dass die „Liquidierung“ der Institute pünktlich zum 25. Jahrestag der Samtenen Revolution erfolge.

Inzwischen hat sich die Lage in beiden Ländern beruhigt. Das ÚPN zieht gerade um und ab dem 1. Mai 2015 nimmt es in den neuen Räumlichkeiten, gegen die sich die Mitarbeiter erfolglos gewehrt haben, seine Arbeit wieder auf. Im ÚSTR wurden weniger Mitarbeiter entlassen als zunächst angekündigt, und die neue Satzung trat am 1. April 2015 in Kraft. Ob sich damit die Praxis der Digitalisierung tatsächlich ändert und der Zugang zu Dokumenten erschwert wird, bleibt abzuwarten. Dagegen ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass die politische Debatte um beide Institute damit nicht beendet sein wird, sondern in Zukunft wieder aufflammen wird, denn der Geburtsfehler, von dem Kopeček im Falle des tschechischen Instituts sprach und der auch für das slowakische ÚPN gilt, wurde bis jetzt weder in der Slowakei noch in Tschechien behoben. Genau genommen handelt es sich sogar um zwei Geburtsfehler –erstens die starke Abhängigkeit von der Politik und zweitens die Formulierung von Aufgaben, die sich teilweise widersprechen. Die Beschränkung des Einflusses der Politik auf die Institute sowie ihre eindeutige Zuordnung entweder zum Bereich der politischen Bildung oder zur unabhängigen Forschung wären wichtige Voraussetzungen für die Entspannung der Lage. Diese Maßnahmen könnten dem ÚPN und dem ÚSTR ein Funktionieren jenseits der Destabilisierung durch immer neue Reformen und die Gefahr der Schließung ermöglichen. Es ist aber ungewiss, ob sich in der Zukunft überhaupt jemand an diese Aufgabe macht, denn dem Vorwurf der „Politisierung des Instituts“ wird er kaum entgehen können.

[Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und überarbeitete Version des Beitrags „ÚPN und ÚSTR im Wirbel der Politik“, der auf der Webseite http://www.history-east.eu/ im November 2014 veröffentlicht wurde.]

  1. S. dazu „Politisierung war vorprogrammiert“ – Historiker Kopeček über Totalitarismus-Institut ÚSTR”, 29.04.2013 http://www.radio.cz/de/rubrik/politgesprach/politisierung-war-vorprogrammiert-historiker-kopecek-ueber-totalitarismus-institut-ustr
  2. Zákon č. 553/2002 Z. z. o sprístupnení dokumentov o činnosti bezpečnostných zložiek štátu 1939 – 1989 a o založení Ústavu pamäti národa a o doplnení niektorých zákonov (zákon o pamäti národa).

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/14

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Unterwegs verloren? NS-Gedenkstätten und ‚kritisches Geschichtsbewusstsein‘

Von Cornelia Siebeck Während unseres gemeinsamen Versuchs einer gesellschafts- und gedächtnispolitischen Standortbestimmung der bundesrepublikanischen NS-Gedenkstätten auf der Bremer Gedenkstättenkonferenz wurden nicht wenige drängende Fragen angesprochen. In meinen eigenen Beiträgen habe ich vor allem den zunehmenden Verlust des gegenwartskritischen und widerspenstigen Charakters von NS-Gedenkstätten thematisiert. Im Gegensatz zu manch anderen halte ich besagten Verlust nicht für eine quasi-natürliche Entwicklung. Was oft als Resultat des nun einmal wachsenden zeitlichen Abstandes zur ‚Anlassgeschichte‘ und damit einhergehender Generationswechsel beschrieben wird, ist meines Erachtens auch und vor allem auf … Unterwegs verloren? NS-Gedenkstätten und ‚kritisches Geschichtsbewusstsein‘ weiterlesen

Quelle: http://erinnern.hypotheses.org/194

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Alles Kunst oder?-Das stARTcamp im LWL-Landeshaus am 28. März 2015 #scms15

Zum 2. Mal schon trafen sich rund 100 Kulturschaffende am 28. März zu einen stARTcamp im LWL-Landeshaus. Ziel war es bereits wie im Jahr 2014, sich im Bereich Social Media auf den neuesten Stand zu bringen und Ideen und Projekte kennenzulernen, wie man diese Instrumente im Kulturbetrieb nutzt.
Das stARTcamp ist eine von Mitgliedern des Vereins stArtconference organisierte Tagung. Dieser Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt der Social Media für Kunst- und Kulturschaffende zu öffnen und organisiert inzwischen auch europaweit stARTcamp-Tagungen.

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Tagung kann man zu dieser Veranstaltung sagen, eine Konferenz im eigentlichen Sinne ist es nicht. Das stARTcamp wurde zum zweiten Mal als Barcamp veranstaltet. Einige sagen „Unkonferenz“ dazu (durchaus positiv gemeint). Andere sprechen vom Tagungssystem der Zukunft. Man trifft sich zu einem bestimmten Oberthema („Social Media im Kulturbetrieb“) und legt gemeinsam direkt zu Beginn die einzelnen Sessions, d.h. das Programm fest. Das kann alles sein, vom Workshop bis hin zur spontanen offenen Diskussionsrunde. Das Organisationsteam koordiniert dann zeitliche Abfolge und Raumaufteilung.


Als Archiv fühlte ich mich als ein Teil der Zielgruppe, erwartete aber – zu Recht, wie sich zeigen sollte – in der Minderheit zu sein. Von der Beschreibung der Veranstaltung erwartete ich mehr Teilnehmer aus Museen – schließlich findet sich das Wort ART schon im Titel. Museen haben schon seit längerem die Möglichkeiten des Web 2.0 für sich entdeckt. Außerdem eine neue Tagungsform, ich war gespannt.

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Bei derAnmeldung erhielten die Teilnehmer den obligatorischen Wlan-Zugang Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

 

 

 

Bei der gemeinsamen  Einrichtung der WLAN-Zugänge gleich zu Beginn stellte sich heraus, so viele Kollegen aus den Museen waren hier gar nicht. Während der Vorstellungsrunde (Vorstellung mit drei Hashtags) stellte ich fest, dass unter den Teilnehmern sehr viele Mitarbeiter von Konzerthallen und Opernhäusern waren. Scheinbar hat man auch hier vor Kurzem eine breite Initiative im Bereich der Social Media gestartet. Letztendlich ist dies auch immer die Frage der selbst gesetzten Zielgruppe. Ansonsten war das Publikum erfrischend unterschiedlich: Vom absoluten Neuling („Entschuldigung, was ist bitte ein Hashtag?“) bis hin zu jungen Kulturvolontären, die gelangweilt erklärten, dass „Facebook absolut old fashioned“ sei, war alles dabei. Es boten sich insgesamt gute Möglichkeiten der virtuellen und realen Netzwerkbildung.

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Tagungsort LWL-Plenarsaal Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Nachdem die Themen der Sessions festgelegt per Handzeichen abgestimmt waren, ging es nach einer kleinen Pause los und das in einer beeindruckenden Geschwindigkeit. Das Programm erfasste einerseits Grundlagen, wie z.B. „Wie richte ich einen Blog?“ ein und „Wie melde ich mich auf Twitter an?“, anderseits wurden auch Themen wie „Welche Hilfsmittel helfen mir, meine Social media-Werkzeuge zu strukturieren und für meine Zwecke auszuwerten?“ und „Welche virtuelle Begleitung lässt sich einem Benutzer oder Besucher bieten?“ bis hin zu „Rechtliche Fragen bei Museumsselfies“ behandelt.

 

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Die Sessions werden per Hand abgestimmt. Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Bei meinen Sessions lerne ich am Vormittag, dass man auch mit dem Smartphone durchaus gute und beeindruckende Fotos machen kann. Es ist meist eine Frage der Perspektive und kleinerer Hilfsmittel. Dies ist nicht unwichtig für die Social Media Kanäle, weil man ohne Aufwand so Bildern einstellen kann, die inzwischen obligatorisch für einen Beitrag dort sind. Danach folgt eine Einführung in „Smart events und smart Places“ durch den Kommunikations- und Web 2.0-Berater Frank Tentler. Dort erfahre ich so einiges über das grundsätzliche Verhältnis von Social Media und Kulturinstitution. Wir produzieren täglich ohne Ende Content und Content ist wichtig und wertvoll. Ein wichtiger Aspekt, denn man hört auch in Kulturinstitutionen gerne mal den Satz „Was ich mache, interessiert doch sowieso niemanden.“ Man kann also sagen: Doch! Egal, ob Museum, Konzerthalle oder Museum, es interessiert die Leute. Hier wurden erste Grundlagen eines konkreten Marktingnutzens der Social Media-Aktivitäten vermittelt. Eine gute Einführung, wenn auch im öffentlichen Dienst nur begrenzt umsetzbar. Schön, dass wir bei der vom LWL-Archivamt mitorganisierten Tagung „Offene Archive 2.0“ im Dezember in Siegen dieses Thema noch vertiefen werden.
Nach der Mittagspause kam es bei der Keynote von Dr. Christian Gries, der das nächste stARTcamp in München mitorganisiert, zu kontroversen Diskussionen im Gesamtplenum. Sein Thema „Wie das Netz die Kunst befreit“ regte Überlegungen zum Thema „Banalisiert Web 2.0 nicht die Kunst?“. An eine wichtige Frage, die auch auf die Archive übertragbar erscheint. Auch hier fragen wir uns oft, ob wie mit den Instrumenten des Social Media nicht die Quellen im Allgemeinen und unseren Kulturauftrag im Speziellen banalisiert. Noch immer haben wir vor allem einen hohen wissenschaftlichen Anspruch, genau wie Museen einen hohen künstlerischen Anspruch haben können. Diese Grundsatzdebatte zeigte aber, dass die Fragestellung inzwischen in beiden Bereichen überholt erscheint. Banalisiert wird weder das eine noch das andere. Im Archiv wie im Museum bieten die Kanäle der Social Media vielmehr einen Weg den Nutzer und Besucher mehr an die Hand zu nehmen und ihm einen Weg zu ebnen auch komplexere Inhalte zu erarbeiten und zu verstehen. Social Media ist daher nicht im Zuge einer Banalität zu sehen, vielmehr als eine Form der Neuausrichtung eines Servicegedankens, der alle Kultureinrichtungen betrifft.

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Unverzichtbar für alle: das Smartphone.Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Anschließend lernte ich bei Frank Tentler mit Michelle van der Veen, welche Möglichkeiten es gibt, seine Social Media-Tools zu verwalten und effektiv auszuwerten. Im Zuge einer ausbaufähigen Socialmedia-Strategie im LWL-Archivamt ein wichtiger Aspekt.
In der abschließenden Session habe ich mich dann zu einer virtuellen Benutzerreise aufgemacht – passenderweise durch ein Museum. Angereichert durch Beispiele aus Konzerthäusern lernte ich, was Benutzer heute erwarten und erwarten können, und das nicht nur während des Aufenthalts in der Kulturinstitution sondern davor, währenddessen und danach.
Das zweite stARTcamp in Münster war eine wichtige Veranstaltung, die durchaus als ein Erfolg verbucht werden kann. Vielen Dank noch einmal an die Organisation! Insgesamt habe ich viel gelernt und Inspirationen bekommen. Manchmal waren die Diskussionen in den einzelnen Sessions allerdings zu gering. Hier würde ich mir wünschen, dass auch unter den Teilnehmern in Zukunft mehr diskutiert wird. Die Paralleldiskussionen auf Twitter kannte ich aus anderen Veranstaltungen bereits. Diese sollten aber vor Ort nicht die einzigen sein. Insgesamt war das stARTcamp in Münster eine gelungene Sache und es bleibt zu hoffe, dass es im nächsten Jahr ein neues stARTcamp im LWL-Landeshaus geben wird.

Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

Das Organisationsteam. Foto: Steffi Koch (http://neongold.org/)

 

Antje Diener-Staeckling

 

 

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/2074

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Schmalenstroers wirklich wichtige Museen

Sehr löblich: Michael Schmalenstroer hat eine Karte wirklich wichtiger Museen in Deutschland zusammengestellt, worunter sich zwei Mausefallenmuseen genauso befinden wie das 1. Kloßpressenmuseum und das Spätzlemuseum.

Die Karte wartet nun nur noch darauf, um Einrichtungen dieser Art, die sich außerhalb Deutschlands befinden, ergänzt zu werden, ich steuere schon mal das Lebensspurenmuseum in Wels (Thema: Stempel!), das Konservenmuseum in Stavanger und das Rummuseum in Havanna bei!

[via Archivalia]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022418081/

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Ö1 zu den Deportationen in der Habsburgermonarchie

Morgen in den Ö1-Dimensionen: Eine von Martina Nußbaumer gestaltete Sendung zur Geschichte der Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit. Grundlage ist folgendes Buch:

Steiner, Stephan: Rückkehr Unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2014.
Open Access: https://e-book.fwf.ac.at/o:531

Eine Präsentation des Buchs findet am 5.5.2015, 19 Uhr, in der Hauptbücherei, Urban-Loritz-Platz 2a, 1070 Wien statt, es moderiert Martina Nußbaumer, am Podium sitzen Ilse Reiter-Zatloukal und Jan Philipp Reemtsma.

Kurzbeschreibung der Sendung:

Dass in der Frühen Neuzeit nicht nur europäische Kolonialmächte, sondern auch die Habsburgermonarchie Deportationen im großen Stil als Instrument der Bestrafung, der Machtdemonstration und der Bevölkerungspolitik einsetzte, war bisher kaum bekannt. Dabei waren allein zum Höhepunkt der staatlich verordneten und planmäßigen Zwangsverschickungen im 18. Jahrhundert tausende Menschen betroffen - religiöse Dissidenten, "Tumultanten", Prostituierte und andere Bevölkerungsgruppen, die der Obrigkeit deviant erschienen. Als Zielorte dienten den Habsburgern aus Mangel an Kolonien die Grenzregionen des Reiches; Hauptdestinationen waren das vom Osmanischen Reich zurückeroberte Siebenbürgen und das Banat, wo die Deportierten entweder in Arbeits- und Zuchthäusern weggesperrt wurden oder zwangsweise als Kolonist/innen agieren sollten. Ein Experiment, das allerdings, so Stephan Steiner, kläglich scheiterte.

Für sein Buch "Rückkehr unerwünscht" hat sich der Historiker in einer Vielzahl von europäischen Archiven auf die Suche nach den Spuren der habsburgischen Deportationspraxis und den Schicksalen der Deportierten gemacht. Entstanden ist eine umfangreiche, in den gesamteuropäischen Kontext eingebettete Studie, die sich gleichsam als Vorgeschichte der Deportationen in totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts lesen lässt.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022418078/

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Archiv-August #2: Kırmızılı Kadın – The Woman in Red

Twitter: esé Juni 2013

 

Archiv-August #2: Der zweite Beitrag unserer Reihe erschien erstmals am 13. April 2015. Viel Spaß beim Lesen!

 

Hintergründe der Gezi-Park-Proteste

Als Ende Mai 2013 die Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul und kurz darauf in vielen Städten der Türkei entflammten, hatten die Hinter- und Beweggründe bereits eine lange Geschichte, deren Einzelheiten und Verflechtungen in der Retrospektive nur schwer zu trennen und rekapitulierbar scheinen. Zur Einordnung der Bildikone The Woman in Red (auch: lady in red oder girl in red) / Kırmızılı Kadın in die Interessenkonflikte um den Gezi-Park empfehlen sich umfassende Abhandlungen der politischen Situation in der Türkei.[1] Die islamisch-konservative AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, zu Deutsch etwa: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ist seit 2002 ununterbrochen stärkste Partei des Parlaments.

[...]

Quelle: https://visual-history.de/2021/08/16/kirmizili-kadin-p-the-woman-in-red/

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Die Peregrinatio des Columban von Luxeuil. Selbstaufgabe im frühmittelalterlichen irischen Christentum

Ein Gastbeitrag von Tord Hendrik Grobe, M.A.

Um sich der heute fremden Welt des frühmittalterlichen und spätantiken Mönchtums anzunähren, ist es notwendig, das Konzept der Peregrinatio zu betrachten (Das Beitragsbild zeigt St. Gallus).1 Die Selbstidentifikation des frühmittalterlichen Christen, sei es in Irland oder Syrien, war geprägt von der Vieldeutigkeit dieses Begriffes. Im heutigen Verständnis wird dieses lateinische Wort in den meisten Fällen mit Pilgerschaft übersetzt. In der römischen Antike hatte es jedoch eine andere Bedeutung.2 Peregrinatio bedeutete in der Antike die Abwesenheit einer Person von allem Vertrauten, einen Aufenthalt in der Fremde, welcher als „Mühsal“ empfunden wurde. Seneca sah in der Peregrinatio einen Verlust der Freunde, der die Seele arm und das Leben nicht mehr lebenswert mache.3 Auch im römischen Rechtsvokabular hatte dieser Begriff eine Bedeutung. Im Rechtsgebrauch der römischen Republik und des frühen Kaiserreichs ist der Peregrinus eine Person, die kein römisches Bürgerrecht besaß, aber als freier Mann im römischen Herrschaftsraum lebte.4

Als Kaiser Caracalla im Jahre 212 n. Chr. allen Untertanen das römische Bürgerrecht verlieh, erlangte Peregrinatio im sich entwickelndem Christentum einen neuen Bedeutungsinhalt.5 In der christlichen Tradition sollte die Peregrinatio als Begriff für eine asketische Haltung, die mit Pilgerschaft verbunden war, eingehen. Zwar wurde Peregrinatio in der spätantiken christlichen Literatur auch für die Wallfahrt benutzt, dies geschah jedoch seltener und wurde mit dem Zusatz sacra versehen: Peregrinatio sacra.6 Der christliche Wortgebrauch kann als „Aufbrechen in das Unbekannte“ oder als „Verweilen in der Fremde“ wiedergegeben werden. Das Leben eines Christen auf der Erde wurde als Peregrinatio verstanden. Jean Leclercq beschrieb die Peregrinatio im Christentum so:

„Peregrinus ist der, der den Himmel ersehnt: er seufzt, er ist unbefriedigt auf Erden, er strebt zum Vaterland. Dieses ist der Fall eines jeden Christen. In engere Umgrenzung ist […] Peregrinus ein Christ der um die Sehnsucht nach dem Jenseits, ihm sich zu nähren auf alles verzichtet was ihn auf Erden sesshaft machen könnte. Er zieht in ein Land dessen Sprache er nicht kennt, wo er nicht die Rechte geniest die dem civis garantiert sind“.7

Das Mönchstum der Spätantike und des Frühmittelalters war stark von dieser Vorstellung der Pilgerschaft beeinflusst. So zogen sich die frühen Mönche Ägyptens in die Wüste zurück8 oder gingen weite Strecken wie Martin von Tours, der von Pannonien nach Gallien wanderte, um der Welt ein Fremder zu werden.9 Das Wandern wurde als Gang in die Verbannung verstanden, als asketische Läuterung, die den Mönch zur höchsten Vollkommenheit führen sollte.10 Aber nicht das Wandern, das sich Entfernen von allem Vertrauten war wichtig, sondern das Fremdsein in der Welt.11
In der Tradition der Peregrinatio nahmen als Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. 29 und Mt. 16. 24 eine besondere Stellung ein.12 Als biblische Grundlage der Peregrinatio wurde die Berufung Abrahams und sein Auszug aus der Heimat (Gen.12.1-4)  genutzt.13 Dies entfaltete schon im Frühchristentum eine starke Wirkungsmacht: so werden im Hebräerbrief 11. 13 Abraham und seine Nachkommen als Gäste auf Erden bezeichnet.14 Im 1. Petrusbrief 2. 11 wurde diese Vorstellung auf alle Christen übertragen.15 Auch der Exodus der Stämme Israels aus Ägypten galt den Kirchenvätern als Beispiel der Peregrinatio. Das Schicksal Abrahams und Moses wurden zum Symbol einer „Grundbefindlichkeit des Lebens des Christen in der Welt“.16
Der bedeutende Theologe John Cassian (360–435) forderte nach dem Vorbild Abrahams von den Mönchen einen dreifachen Auszug, um sich aus der Welt zu lösen: den Verzicht auf eine Heimat, die Aufgabe allen weltlichen Besitzes und das Verlassen der Verwandtschaft und des Elternhaus.17
Auch die Neuen Testamente wurden genutzt, um die Peregrinatio zu definieren. Die Forderung Jesus zur Aufgabe jeglichen Besitzes und das Loslösens aus dem vertrauten Umfeld wurde als Appell für das des unblutigen Martyriums des Asketen verstanden und war besonders für das Mönchtum wichtig.18 Für den heiligen Hieronymus sind die Mönche die Vollkommensten, die das Loslösen befolgen, da sie als Lohn die Fesseln der Welt abstreifen können.19 Bei Cassian wurde es als Pflicht eines Mönches betrachtet, seine Person abzutöten, indem er absolut asketisch lebte und sich völlig der Gehorsamspflicht gegenüber dem Abt hingab. Als Asket war er für die Welt gestorben und erlangte so das „Martyr vivus“.20 Der Mönch folgte Jesu durch das unblutige Martyrium nach.

Das Ziel der Peregrinatio, der Welt ein Fremder zu werden, strebte auch der iroschottische Missionar Columban der Jüngere (615) konsequent an. In seinem Sermon VIII wird dieses sehr deutlich.21 Der Rückzug von der Welt bedeutete ihm die Hinwendung zur wahren Heimat des Gläubigen, dem Himmel. So verglich Columban das Leben mit einer Straße und einem Schatten: „[…] iam enim diximus viam esse humanam vitam, et quam sit dubia et incerta, et non esse quod est“.22 Für Columban war es notwendig die Straße des Lebens schnell hinter sich zu lassen, um den Frieden der wahren Heimat zu erlangen.23 Die Welt schien ihm weniger real, als die Allmacht Gottes. Die Welt sollte, so verlangte es Columban, verachtet werden und die Gedanken immer auf das Ende des Weges gerichtet sein. ((Vgl. ebd.)) Diese Selbstaussagen Columbans sind „altbekannte Vorstellungen der asketischen Tradition“.24

Jonas von Bobbio stellte die Abwendung Columbans von der Welt in mehren Phasen dar und nutzte dazu die Berufungsworte Gen 12., Mt. 19. und Mt. 16.25 Die erste Phase war das Verlassen des Elternhauses. Direkt zitiert wird: Mt, 19. 29. Columban verließ Leinster und begab sich nach Norden, in das Königreich von Oriel26 zu dem gelehrten Sinulls.27 Dieser ist relativ sicher als Sinell, Sohn des Mianiach, Abt von Clean Inis in Lough Erne identifiziert worden. Jonas berichtete, dass Columban hier eine sehr gute Ausbildung in Theologie erhielt.28 Doch Columban setzte seine Peregrinatio fort, indem er in das vom Abt Comgall geführte Kloster Bangor eintrat.29 Wo er, wie Jonas berichtete, sich selbst verleugnete und das Kreuz auf sich nahm. Er wurde Mönch30. Unter dem Eindruck der Berufung Abrahams erwachte in ihm der Wunsch, die Peregrinatio in der Fremde fortzuführen.31 Nun begann die zweite Phase der Peregrinatio, das Verlassen der irischen Heimat. In der christlichen, irischen Tradition das größte Opfer, welches ein Asket zu bringen vermag.32 Das alte irische Recht kannte keine höhere Form der Strafe als zwei unterschiedlichen Formen der Verbannung.33 Erstens: die Verbannung aus dem eigenen Königreich. Die so Gestraften, wurden Ambue34 genannt und waren auf die Mildtätigkeit anderer angewiesenen. Zweitens: die schwerste Strafe, die das alte Irland kannte: der Übeltäter musste die Insel verlassen, die er mit seiner bloßen Anwesenheit verseuchte, er wurde zu einen Cu glas.35 In ein Boot gesetzt wurde er Wind und Wellen überlassen, und der Gnade Gottes überantwortet.36 Hier liegt der Kern des irischen Verständnisses der Peregrinatio. Asketen übernahmen die Rolle eines Verbannten, zuerst aber nur in Irland selbst.37 Dieses entspricht der ersten Phase der Peregrinatio bei Jonas.

Als im späten siebten Jahrhundert die Asketen in Irland Rechte und Schutz erhielten, die denen eines Königs oder Bischofs gleichkamen, war die Selbstentsagung in Irland nur noch eingeschränkt möglich.38 Die Identifizierung des Peregrinus mit dem Cul glas bot eine Alternative, die in Irland als die höchste Form der Peregrinatio verstanden wurde. Die Überquerung des Meeres, welches im alten Irland als ein feindlicher, fremder Ort verstanden wurde, an dem der Gläubige Gott sehr nahe war, brachte den Peregrinus ein gutes Stück näher zu Gott.39 Am Anfang dieser Entwicklung stand Columban der Jüngere, er war der erste irische Mönch, von dem wir wissen, dass er freiwillig die größere Peregrinatio auf sich nahm.40

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  2. Vgl. Leclercq, Jean: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter. In: Römische Quartalschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 55, 1950, S. 213.
  3. Vgl. ebd. S. 214.
  4. Vgl. Kötting, Bernard: Perignatio Religiosa. Wallfahrten in der antike und Pilgerwesen der alten Kirche, Münster 1950, S. 7-11.
  5. Vgl. Albert, Andreas: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters. St. Ottilien 1992, S. 10.
  6. Vgl. Kötting: Perignatio Religiosa, S. 7-11.
  7. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  8. Vgl. Lohse, Bernard: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche. Wien 1969, S. 190-197.
  9. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 215.
  10. Vgl. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und
    Hochmittelalters, S. 11.
  11. Vgl. Meinold, Ursula: Columban von Luxeuil im Frankenreich. Marburg 1981, S. 18.
  12. Vgl. Angenendt, Arnold: Monarchi peregrini. München 1972, S. 136-137.
  13. Der Herr sprach zu Abraham: ziehe weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Vaterhaus, in das Land, das ich dir zeigen werde […]. Da zog Abraham weg, wie der Herr ihm gesagt hatte […].
  14. Diese alle starben im Glauben, erlangten aber die Verheißung nicht, sondern sahen es nur von fernen und bekannten, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren.
  15. Liebe Brüder, ich ermahne euch als Fremdlinge in dieser Welt: Haltet euch frei von Eigensucht und Begierde [..].”
  16. Albert: Untersuchung zum Begriff Peregrinatio bzw. Peregrinus in der benediktinischen Tradition des Früh- und Hochmittelalters, S. 26.
  17. Vgl. ebd. S. 32.
  18. Vgl. Mt. 19. 29.: “Und jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt, um meines Namens willen, der wird hundertfach wieder empfangenen und das ewige Leben erben.“; Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133ff.
  19. Vgl. Leclercq: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, S. 214.
  20. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 133; Lohse: Askese und Mönchtum in der Antike und in der alten Kirche, S. 224-226.
  21. Einen Überblick über die Sermone bietet Sancti Columbani Opera. Scriptores Latini Hiberniae, Volume II, hgg. v. Walker, Dublin 1970, S. xxxix-xliv.
  22. Columban: Instructio VIII. Hgg. v. Walker, 2Dublin 1970, S. 94: „[…] foe we have already said that human live is a roadway, and by the likeness of a shadow we have show how doubtful it is and uncertain“.
  23. Vgl. Columban: Instructio VIII., S. 94.
  24. Angenendt, Arnold: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800. (Die Iren und Europa im frühen Mittelalter 1), Stuttgart 1982, S. 52.
  25. Vgl. Angenendt: Monarchi peregrini, S. 137.
  26. Nordirisches Königreich, liegt an der irischen See. Vgl. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 41.
  27. Vgl. Freiherr von Stein Gedächtnis Ausgabe, Bd. 4. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  28. Vgl. Bullock, Donald: The career of Columbanus. Woodbrige 1997, S. 4-6; Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 414.
  29. Vgl. Gwynn, John: The irish monastery of Bangor. In: Melanges Colombaniens. Actes du Congres international de Luxeuil, 20-23 Juillet 1950, Paris 1950, S. 47-54.
  30. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, S. 415. Auch in dem Sermon X. spricht Columban dieses Thema an , in dem er sagt, dass, wer nicht das Martyrium auf sich nehmen kann, sich den eigenen Willen abtöten und nicht mehr für sich selbst leben soll (vgl. Columban: Instructio VIII, S. 102).
  31. Vgl. Ionae Vitae Columbani liber primus, Bd. 4, S. 415.
  32. Vgl. Charles-Edwards, Thomas M.: The social Background of the irish Peregrinatio. In: Celtica 11, 1976, S. 43ff.
  33. Angenendt: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800, S. 52.
  34. Heißt übersetzt: Fremder. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46f.
  35. Heist übersetzt: Grauer Wolf. Vgl. Charles-Edwards: The social Background of the irish Peregrinatio, S. 46.
  36. Vgl. ebd., S. 49ff.
  37. Vgl. ebd., S. 57-59.
  38. Richter, Michael: Irland im Mittelalter. Münster 2003, S. 69.
  39. Siehe auch die Seefahrt des heiligen Brendan. Vgl. O Croinin, Daibhi: Early medival Irland. 400-1200, New York 1996, S. 220-221
  40. Die Peregrinatio anderer irischer Heiliger war, wenn sie Irland verließen, nicht völlig freiwillig, meist war sie eine Strafe. Dies wird besonders deutlich bei Columba von Iona. Vl. Richter: Irland im Mittelalter, S. 62.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/304

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