Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 8

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Achtes Kapitel

Über den Magister Petrus Cantor von Paris

Einer von ihnen war damals, gleich der „Lilie unter den Dornen“[1] und der Rose unter den Nesseln, gleichsam auch dem Engel von Pergamon, wo der Thron Satans steht, Weihrauchdüfte ausströmend in diesen Tagen, wie ein festes Gefäß aus Gold, das mit allen kostbaren Steinen geschmückt ist, wie die anschwellende Olive und die Zypresse, die sich in die Höhe erhebt, gleichsam die Trompete des Himmels und der Lautenschläger des Herrn, der Magister Petrus, verehrungswürdiger Cantor von Paris.[2] Er war ein Mann, mächtig in Taten und Predigt, der sein Gold und Silber zusammenschmolz und aus seinen Worten eine Waage machte, auf die er die Ehrbarkeit seiner Sitten und das Gewicht und die Bedeutung seiner Lehre legte. Er nahm es an zu handeln und zu lehren wie die „Lampe, die brennt und leuchtet“,[3] und wie die Stadt, die auf dem Berg liegt, und der goldene Kerzenhalter im Haus des Herrn.

Von der Predigt des Fulk

Aus dessen reinster Quelle wollte der besagte Priester Fulk trinken, als er mit Tafel und Schreibgriffel demütig seine Schule betrat, um gewisse moralische und gewöhnliche Worte, die er gemäß dem Fassungsvermögen seines Geistes aus dem Mund seines Lehrers aufnehmen und sammeln konnte, häufig wiederzukäuen und so dem Gedächtnis fest einzuprägen. An Festtagen jedoch kehrte er zu seiner Kirche zurück und verteilte das, was er während der ganzen Woche eifrig gesammelt hatte, gewissenhaft an seine Schäfchen. Und weil er sich über wenigen als treu erwies, setzte der Herr ihn über viele ein.

Wenn er aber vor allem von den benachbarten Priestern gerufen und eingeladen wurde, weil er versuchte, mit Furcht und Scheu den einfachen Laien auf schlichte und volkstümliche Weise das zu predigen, was er gehört hatte, dann war er wie ein Hirte, „der Maulbeerfeigen züchtet.“[4] Sein verehrungswürdiger und kluger Lehrer, der den Eifer und die Glut seines Schülers, des armen und ungebildeten Priesters, bemerkte und dessen Glauben und Hingabe an die Liebe mit Fleisch umkleiden wollte, drängte ihn, in seinem Beisein vor den vielen gebildeten Gelehrten von Paris zu predigen. Der Herr gab seinem neuen Streiter jedoch soviel Gnade und Tüchtigkeit, dass sein Lehrer und andere, die zuhörten, voller Bewunderung bestätigten, dass der Heilige Geist „in ihm und durch ihn“[5] sprach. Hierauf liefen dann auch weitere, sowohl Doktoren als auch Schüler, zu seiner ungeschliffenen und schlichten Predigt zusammen. Der eine lud den anderen ein und die Zuhörerschaft zog weitere Zuhörer an, wobei man sprach: „Kommt und hört den Priester Fulk, der wie ein zweiter Paulus ist.“ Er selbst jedoch, gestärkt durch den Herrn und angetan mit der Kraft aus der Höhe, wie Samson mit dem Kieferknochen des Esels, nahm es auf sich, gegen die Bestien von Ephesus zu kämpfen und die Ungeheuer der Sünden kraftvoll niederzuwerfen, wobei der Herr ihn stützte.

Als er eines Tages auf einem großen Platz der Stadt Paris, der  im Volksmund Champel genannt wird, den Samen der göttlichen Predigt auf den Acker des Herrn ausstreute, während sich eine große Menge von Klerikern und Volk vor ihm versammelt hatte, da öffnete sich sein Gesicht und der Herr erfüllte es, wie geschrieben steht: „Der Mensch, der austeilt, dem wird zuteil werden, und wer erquickt, wird erquickt werden.“[6] Der Herr öffnete ihm den Sinn, damit er die Schriften erkenne, und er fügte seinen Worten soviel Gnade hinzu, dass viele, die gestochen und gequält zur Buße hin drängten, mit abgelegten Kleidern und unbeschuhten Füßen, Ruten und Riemen in den Händen tragend, sich zu seinen Füßen niederwarfen. Sie bekannten ihre Sünden vor allen Leuten und übergaben aufseufzend sich selbst und das ihre seinem Willen und Befehl. Er jedoch dankte dem Herr, der die Macht hat, aus Steinen Kinder Abrahams zu errichten, und nahm alle mit dem Kuss des Friedens an. Die Soldaten verpflichtete er, niemanden zu bedrängen, sondern mit ihrem Sold zufrieden zu sein, die Wucherer und Räuber aber, alles nach ihrem Vermögen zurück zu erstatten. Die Huren rauften sich die Haare und schworen der gewohnten Schlechtigkeit ab, aber auch andere Sünder widersagten unter Tränen dem Satan und seinem Pomp und erbaten Gnade von ihm. Nicht nur entzündete er sie durch die feurige Redegewandtheit des Herrn zur Reue, sondern der Herr stellte durch ihn auch viele Elende und durch zahlreiche Erschlaffungen Niedergedrückte wieder in Gesundheit her, wie es die bestätigen, die versichern, dass sie dies mit eigenen Augen gesehen hätten.

Von den Taten und Werken des Fulk

Fulk jedoch, der die Gnade Gottes nicht einfach so annahm, sondern sich eilte, das ihm anvertraute Talent klug und fleißig zu vermehren, ertrug auch Hunger, wie ein Hund, der durch die Stadt streunt. Nachdem er sogar das ganze Königreich Frankreich und weite Teile des Reiches „im Verlangen seines Geistes“[7] durcheilt hatte, zerschmetterte er mit leidenschaftlichem Sinn die Schiffe von Tharsus. Gegenwärtig bequem, aber unbequem in der Vergangenheit, und nun von der Nachwelt vergessen, mühte er sich ab. Er bewahrte sein Schwert nicht vor Blut, sondern gürtete es über seine Hüfte und ging von Tür zu Tür und mitten durch die Städte, ohne Ansehen der Person. „Mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“[8] kämpfte er die Gefechte des Herrn. Und weil der lebende Hund besser als der tote Löwe ist, hörte er nicht auf, mit ständigem Gebell die Wölfe von den Schafen des Herrn fernzuhalten, wobei er den Ungelehrten das Wort der Lehre zur Speise gab und mit dem Wort des Trostes die Untröstlichen stärkte. Die Zweifelnden belehrte und unterrichtete er mit dem Wort des Rates, die Widerstrebenden bedachte er mit Scheltworten, die Irrenden mit Tadel, die Trägen mit Ermunterung und die sich Aufmachenden mit Ermahnung. Und weil er so ungeheuer brannte, entzündete er ganze Völker mit schlichten und einfachen Worten, und zwar nicht nur die Geringen, sondern auch Könige und Fürsten, weil keiner es wagte oder vermochte, ihm zu widerstehen. Vielmehr strömten und liefen sie herbei aus weit entfernten Landstrichen, um ihn zu hören und zu sehen, welche Wunder der Herr durch ihn bewirkte.

Viele der Kranken wurden jedoch auf Betten getragen, und man setzte sie auf den Straßen und Plätzen ab, durch die er gehen würde, damit sie, wenn er käme, den Saum seines Gewandes berühren könnten und geheilt würden von ihren Gebrechen. Wann immer er sie aber berührte, wenn er nicht durch die Menge dringen konnte, segnete er sie oder er reichte ihnen gesegnetes Wasser aus seiner Hand zu trinken. So groß war der Glaube und die Hingabe der Kranken und derer, die diese herbeibrachten, dass nicht nur durch die Verdienste des Dieners Gottes, sondern auch durch die Glut des Geistes und die Größe des nicht schwankenden Glaubens viele es sich verdienten geheilt zu werden.

Glücklich schätzten sich jedoch die, die es vermochten, von seinen Kleidern ein Stück abzureißen und für sich zu behalten. Weil seine Kleider auf diese Weise gekürzt und von der Menge des Volkes zerstückelt wurden, brauchte er innerhalb weniger Tage eine neue Kutte. Und weil die Volksmenge ihn oft unerträglich bedrängte, hielt er ungehörige Menschen mit einem Stock, den er in der Hand führte, durch festes Zuschlagen von sich fern, damit er nicht von denen, die ihn zu berühren wünschten, erstickt würde. Wenn er auch manchmal die Geschlagenen verwundete, waren diese nicht beleidigt oder murrten, sondern aus übergroßer Hingabe und Festigkeit des Glaubens küssten sie ihr Blut, gleichsam als etwas, das Gott von einem Menschen dargebracht wird. Als aber eines Tages einer auf dreiste Weise zu sehr an seiner Kutte riss, da sprach er zur Menge und sagte: „Zerreißt nicht meine Kleider, die nicht gesegnet sind. Ich werde jedoch die Kutte dieses Menschen segnen.“ Sobald er aber das Zeichen des Kreuzes gemacht hatte, zerrissen sie die Kutte jenes Mannes, um die Teile als Reliquien aufzubewahren.

Er jedoch war der Hammer der Gierigen und schlug nicht nur auf die Wucherer hernieder, sondern auch auf jene, die durch ihre Habgier viel zusammenrafften, und ganz besonders in jenen Tagen, in denen die Lebensmittelteuerung groß war. Er jedoch rief häufig aus: „Gib dem vor Hunger Umkommenden zu essen, denn wenn du nicht gezittert haben wirst, bist du gefallen.“ Als er aber an einem gewissen Tag in seiner Predigt sagte, dass die Menschen verflucht seien, die Getreide versteckten, anstatt es für einen maßvollen Preis vor der kommenden Ernte zu verkaufen, und dass die Zeit der Teuerung bald ein Ende haben würde, da stellten alle aufgrund seiner Worte, wie wenn der Herr gesprochen hätte, den Jahresertrag, den sie versteckt hatten, eiligst als Ware zu Verfügung und zeigten so [ihren] Glauben. Und seitdem gemäß seiner Worte gehandelt wurde, waren überall Lebensmittel zu einem gemäßigten Preis verfügbar.

Er jedoch wurde gegen die verstockten Sünder und diejenigen, die davon abstanden, zum Herrn bekehrt zu werden, mit solchem Zorn bewegt, da er die Abweichler sah und sich grämte, dass er diese oft verfluchte, oder vorgab, sie zu verfluchen. Weil sie sich aber entsetzten vor seinem schmähenden Donner und Blitz, pflichteten alle seinen Anordnungen bei, besonders als einige bezeugten, dass welche der von ihm Verfluchten von einem Dämon zerrissen worden waren und andere plötzlich zu Boden gefallen waren und dabei Schaum vor dem Mund hatten, so dass sie denen ähnlich wurden, die an einer tödlichen Krankheit leiden. Aber durch die Härte der Buße, weil er immer angetan war mit einem schweren Bußgewand und meistens mit einem Panzerhemd, wie man sagt, und durch die übergroße Plage ermüdet war, wurde er häufig zum Zorn bewegt. Wenn er dann stehenden Fußes die verfluchte, die ihn bedrängten, oder jene, die seine Predigten durch Gerede unterbrachen, dann entstand plötzlich eine große Stille, während alle zu Boden fielen.

Die unkeuschen Priester und ihre Konkubinen, die er Gespann des Teufels nannte, verfolgte er mit soviel Schelten und Fluchen, dass diese von einer übergroßen Ehrfurcht geschlagen wurden, während alle auf jene, die derart waren, mit dem Finger zeigten und hinter denselben herschrien. So ergab es sich auch, dass fast alle Köchinnen (Dirnen) deswegen ihre Priester verließen.

Eine edle Dame aber ermahnte in ihrer Villa häufig einen Priester, dass er seine Konkubine verlassen möge, er jedoch lehnte ab und antwortete: „Was gehen Euch die Priester an?“ Dieselbe entgegnete: „Ich vermag gegen Euch keine Gerechtigkeit zu erwirken, aber dennoch schauen in dieser Stadt die, die keine Kleriker sind, auf meinen rechtlichen Rat.“ Sie befahl, dass die Konkubine des Priesters zu ihr geführt werde, und machte ihr eine prächtige Krone, wobei sie zu ihr sagte: „Weil du den Priester nicht verlassen willst, will ich dich zur Priesterin weihen.“

Einem anderen Priester schlug sein Bischof vor, dass er entweder die Köchin (Dirne) oder die Pfarrei verlassen solle. Jener jedoch, weinend und klagend, meinte, dass er lieber die Kirche verlassen wolle als die Konkubine. Als er jedoch die Kirche aufgegeben hatte, sah die Hure, dass ihr Priester nun arm war, weil er keine Einkünfte mehr hatte. Und da er verachtet wurde, verließ sie ihn. So verlor der Elende die Kirche und ebenso die Konkubine.

Fast alle öffentlichen Huren, an welchen Ort auch immer dieser Streiter Christi kam, verließen die Bordelle und strömten zu ihm, der sie größtenteils in eine Ehe vermittelte. Andere jedoch schloss er in Klöster ein, damit sie reguliert lebten. Deshalb wurde außerhalb der Stadt Paris, nicht weit von ihr, das Kloster des heiligen Antonius vom Orden der Zisterzienser von der Weihe an eingerichtet, damit solche Frauen in ihm Aufnahme fänden.

Aber auch an anderen Orten und Städten, wo dieser heilige Mann Quellen und Brunnen segnete, während eine Menge an Kranken zusammenströmte, wurden Kapellen errichtet und Hospitäler erbaut.

Soviel Macht und Gnade verlieh aber der Herr seinen Worten, dass die Magister und Gelehrten von Paris ihrerseits, während sie Tafeln und Blätter zu seiner Predigt mitbrachten und die Worte aus seinem Mund sammelten, niederschrieben, was aber dennoch im Mund eines anderen nicht so schmeckte. Noch brachte das von anderen Gepredigte eine ähnlich reiche Frucht. Der Schall seiner Predigt aber weckte die gesamte christliche Welt auf, und das Gerücht um seine Heiligkeit wurde überall bekannt.

Seine Schüler aber, die er wie die Jünger Christi überallhin zum Predigen schickte, wurden von allen mit höchster Ehre und Achtung empfangen. Einer von ihnen jedoch, der unter ihnen hervorstach, sehr beredsam war und die meiste Frucht zu tragen schien, genannt Magister Petrus von Roissy, befleckte seinen Ruhm. Er nämlich, der den Weg der Vollkommenheit angenommen hatte und Armut predigte, wurde bei einer Predigt mit Reichtum und Gaben überschüttet und zum Kanonikus und Vorsteher der Kirche von Chartres gemacht. Und der aus Rauch Licht hervorbringen sollte, machte nun aus Licht Rauch. Durch diese Sache machte er nicht nur seine eigene Lehre verächtlich, sondern auch den anderen Schülern des Predigers Fulk wurde viel (Vertrauen) diesbezüglich entzogen.

Der heilige Mann aber, während er dem Herrn an jedem einzelnen Tag viele Seelen gewann, dabei aber zuletzt das Zeichen des Kreuzes auf seinen Schultern trug, nahm es auf sich, durch Beispiel und Wort Fürsten, Soldaten und Menschen jedweder Art zur Hilfe für das Heilige Land einzuladen, anzufeuern und zu ermahnen. Aber er nahm es auch auf sich, von den Gläubigen viel Geld an Spenden zu sammeln, das er den mit dem Kreuz bezeichneten Armen, sowohl den Soldaten als auch den anderen, zur Verwendung stellen wollte. Obgleich er diese Kollekte nicht aus Gier oder einer anderen bösartigen Absicht heraus veranstaltete, nahmen seine Autorität und sein Ruhm dennoch durch den verborgenen Ratschluss Gottes ab da großen Schaden bei den Menschen. Und während das Geld sich vermehrte, nahmen Ehrfurcht und Respekt ab.

Er selbst jedoch ging wenige Zeit später, nachdem er von einem heftigen Fieber erfasst worden war, in einem Ort namens Neuilly den Weg allen Fleisches und wurde dort in der Pfarrkirche, der er vorstand, begraben. Als dann viele aus weit entfernten und nahen Gegenden zu seinem Grab zusammenliefen, wurde sein Werk, das er begonnen hatte, mit den Spenden der zusammenströmenden Pilger ganz und gar vollendet. Er hatte nämlich zu Beginn seiner Bekehrung gegen den Willen aller Laien seinen Pfarrkindern versprochen, bevor er die Kirche abrisse,[9] würde er das gesamte Werk, obschon es sehr kostspielig war, vollenden, ohne sie zu belasten.

[1]    Hld 2,2

[2]     Petrus Cantor († 1197), Kanoniker in Notre-Dame de Paris, Magister an der dortigen Domschule, Lehrer des Fulk Neuilly, vgl. den nächsten Absatz und Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120).

[3]    Joh 5,35

[4]    Am 7,14

[5]    Röm 11,36

[6]    Spr 11,25

[7]    Dan 14,35

[8]    2 Kor 6,7

[9]     Gemeint ist vermutlich der Abriss vor dem Neubau, dem kostspieligen “Werk” Fulks, das sich erst durch die Spenden der Pilger vollenden ließ.

D O W N L O A D

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Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/4687

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Orchideenfach im Nebenamt: Hilft Bloggen der Aktenkunde aus ihrer Nische?

Hier dokumentiere ich mein Referat auf dem Workshop „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, der am 10. November 2014 in Wien stattfand. Der Workshop hat gezeigt, dass geisteswissenschaftliches Bloggen erwachsen geworden ist. Den Organisatoren, Maria Rottler und Thomas Stockinger samt ihrem Team, gilt der Dank der Community!

Mein Blog Aktenkunde ist seit Mai 2013 online. Seitdem habe ich es auf 30 Beiträge gebracht. Das ist nicht viel. Ursprünglich hatte ich einen Zwei-Wochen-Rhythmus für neue Beiträge angepeilt. Das war nicht zu halten. Zu den Gründen komme ich noch.

Aktenkunde is of Blog now!

Die Aktenkunde ist die Historische Hilfswissenschaft von den formalen Merkmalen neuzeitlicher Verwaltungsunterlagen. Sie bietet das Rüstzeug zur Quellenkritik des größten Teils der Überlieferung in den Archiven. Sie sollte ein Grundlagenfach sein. De facto ist sie aber ein Orchideenfach. Die Gründe dafür können hier nicht diskutiert werden.

Ein Grund scheint mir jedenfalls zu sein, dass es kaum einen Fachdiskurs gibt. Aktenkunde wird in der Regel von Archivaren betrieben, die in ihrer Berufspraxis große Sachkenntnis erwerben, aber nicht dazu kommen, ihr Wissen neben dem Beruf zu systematisieren und in den konventionellen Formaten des Aufsatzes oder gar der Monographie und in gedruckten Organen zu veröffentlichen. Das Problem der Forschung im “Nebenamt” wurde von meinen Vorrednern schon angesprochen.

Einer dieser Archivare bin ich. Ich habe das Glück, in einem Archiv zu arbeiten, zu dessen Aufgaben auch noch die intensive inhaltliche Beschäftigung mit den Akten zählt (anstatt dieses anhand von Kennzahlen nur noch zu verwalten). So entsteht Erfahrungswissen.

Meine persönliche Lage ist gegenüber vielen Kollegen durch dem Umstand, dass ich Fernpendler bin, aber wohl noch verschärft. Die Zeit, die ich auf meine wissenschaftlichen Interessen verwenden kann, konzentriert sich auf werktäglich gute zwei Stunden im Zug – das bedeutet nicht nur zeitlich, sondern auch physisch eine erhebliche Einschränkung. Diese Zeit muss sich die Wissenschaft auch noch mit Verpflichtungen zu anderem Schreibwerk teilen. Meine eigentliche Freizeit gehört der Familie.

Da begab es sich, dass mir vor fast zwei Jahren durch einen renommierten Wissenschaftsverlag das Projekt eines aktenkundlichen Lehrbuchs angetragen wurde. – Auch über das Buch als Anstoß zum Blog haben wir heute schon einiges gehört. Bereits rein zeitlich war dieses Projekt eine Herausforderung. Besonders schwierig fand ich die Aufgabe aber wegen des Fehlens eines wissenschaftlichen Diskurses. Der Arbeitskreis Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts des VdA, in dem ich mitarbeitete, und die engagierte Berliner “Fachgruppe Historische Hilfswissenschaften” können dieses Manko allein nicht heilen.

So reifte der Gedanke, ein Blog als persönliches SETI-Projekt aufzusetzen. Wie die “Search for Extra-Terrestrial Intelligence” – wer will, kann bei SETI@home mitmachen – wollte ich eine Frage “Ist da draußen noch jemand”, bezogen auf mein Interesse an der Aktenkunde. Luft wollte ich mir verschaffen beim Brüten über einer ständig wachsenden Materialsammlungen, Befunde und Hypothesen zur Diskussion stellen, aber auch einen Attraktor für einen aktenkundlichen Diskurs aufbauen.

Technische Berührungsängste hatte ich nicht. Ich bin mit Computern aufgewachsen. In meiner Sicht ist der Computer und sind elektronische Medien allerdings kein Selbstzweck und keine kulturelle Strömung, sondern potentielle Werkzeuge zur Lösung gegebener Sachprobleme. Mit der Kultur des Ausprobierens, die zur Erschließung des “Web 2.0″ propagiert wird, kann ich mich weniger anfreunden. “Act now, think later – nobody will die”, diesen Satz von der Speyerer Tagung 2012 halte ich für problematisch, denn etwas kann sterben: das eigene Anliegen, wenn nämlich ein schlecht konzipiertes Blog wegen mangelnder Resonanz verstaubt oder weil dem Betreiber der Stoff ausgeht. Für Einzelblogger wiegt diese Gefahr schwerer als für Institutionen, und besonders bei der Verteidigung eines Orchideenfachs, dessen akademischer Belanglosigkeit dann auch noch ein virtuelles Denkmal gesetzt wird.

Für das eben skizzierte Ziel erschien mir ein Blog aber als geeignetes Werkzeug, insbesondere seitdem mit hypotheses.org eine nachhaltige Plattform und eine “managed community” zur Verfügung stand. – Mein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an Frau König und ihr Pariser Team. Natürlich ist ein Blog wegen der Eigendynamik des Netzes nicht stringent planbar. Eine grobe Marschrichtung ist aber unverzichtbar, getreu dem Eisenhower zugeschriebenen Aphorismus: “Fertige Pläne sind unnütz, aber der Prozess des Planens ist unverzichtbar.”

Ich habe seit Mai 2013 viele Erfahrungen mit dem Blog gesammelt. Menschlich berührt hat mich die Resonanz auf meine persönlichen Erinnerungen an den verstorbenen Lorenz Beck, die ein kleines virtuelles Kondolenzbuch hervorgebracht hat. Mein Text wurde in der Vierteljahrsschrift des “Herold” nachgedruckt.

Insgesamt können meine Beiträge drei Richtungen zugeordnet werden. Ich wollte

  1. Fragmente aus der Arbeit am Buch publizieren,
  2. mit Fundstücken aus den Medien die Aktualität der Aktenkunde belegen und
  3. zur didaktischen Verbreitung aktenkundlicher Methoden beitragen.

Fragmente: Zunächst ging es dabei um Wissenschaftsgeschichte, um die – regelmäßig vergessenen – Klassiker des Fachs wie Gerhard Schmid, aber auch um Einzelprobleme wie das Vorlagewesen in der modernen Ministerialverwaltung. Im Blog angerissen, wurde daraus ein Vortrag, dem Sie morgen lauschen können, und 2015 hoffentlich ein konventionell veröffentlichter Aufsatz von etwa 20 Manuskriptseiten.

Insgesamt musste ich aber feststellen, dass sich die Rhythmen der Arbeit am Buch und am Blog schwer synchronisieren lassen.

Fundstücke: Die Resonanz in den Kommentaren lässt sich auf den Nenner “Staunen” bringen. So penibel kann man in Medienberichte zur Euro-Hawk-Beschaffung eindringen? Es ist mir damit gelungen, Interesse für mein Anliegen zu wecken – aber auch Verständnis? Der Höhepunkt war in dieser Richtung die “Kanzlerakte“, eine bizarre Aktenfälschung, die ich mit eindeutigem Ergebnis seziert habe. Sie markiert aber auch in einen Endpunkt. Das Unternehmen darf nicht zu einer Popcorn-Aktenkunde werden, die primär durch Kuriosität auffällt.

Didaktik und Verbreitung: Besser ist es, anhand historisch aussagekräftiger Dokumente, die im Gegensatz zu gängigen Lehrbeispielen auch inhaltlich interessant sind, einen vertieften Einstieg in die Methodologie zu suchen.
Mit der Emser Depesche habe ich unter diesem Gesichtspunkt zum ersten Mal eine Serie versucht. Der Aufwand entsprach dabei dem für eine konventionelle Miszelle. Gegenüber dem “Popcorn” blieb die Resonanz gleich und damit über meinen Erwartungen. Es gibt also auch ein Publikum für “Nuts and bolts”-Aktenkunde. Ich weiß auch, dass Material aus dem Blog schon für eine Seminarübung benutzt wurde – nur zu, dafür ist es da und unter CC-BY-SA lizenziert. Über Rückmeldungen zum Nutzwert würde ich mich freuen.

Das Feedback hat meine Erwartungen übertroffen. Es äußert sich in einer ordentlichen Zahl von Likes und Pingbacks von anderen Blogs. Hinweise in viel gelesenen Blogs wie Archivalia und die Aufnahme in Planet History haben zur Reichweite beigetragen – Danke dafür. Der “Outreach” über die kleine archivarische und hilfswissenschaftliche Community hinaus macht für mich den eigentlichen Wert des Blogs aus.

Für mich zählt vor allem das qualitative Feedback in den Kommentaren. Es ist interessant, wo überall aktenkundliche Interessierte sitzen. Damit verknüpft ist “Serendipity“: der unwahrscheinliche, glückliche Zufall, dessen Wahrscheinlichkeit durch weltweite Abrufbarkeit wesentlich erhöht wird. Mit anderen Medien wäre ich nie in Kontakt zu einem Registrator gekommen, der sich mit der Sammlung und methodischen Reflexion seiner Arbeitserfahrungen beschäftigt, meinem eigenen Vorhaben ähnlich – ein sehr interessanter Kontakt.

Schließlich hat es die  “Aktenkunde” als Beispiel des Werts von Blogs für die Vermittlung von Spezialthemen auch schon zur Ehre einer Erwähnung im “Archivar” 3/2014 (S. 301, Anm. 6), dem Zentralorgan des deutschen Archivwesens, gebracht.
Darf man sich als Blogger nun als kleiner, dicker, wichtiger Relefant fühlen? Gerade Blogger müssen sich vor Selbstermächtigungsphantasien hüten.
Alle Interessenten sind mir willkommen. Ich beantworte jeden ernsthaften Kommentar, und es kommen erfreulicherweise nur ernsthafte. Das bin ich meinem Fach und meinen Lesern schuldig. Aber der angestrebte Diskurs kam bis jetzt nicht wirklich zustande.

Der Unterschied zwischen dem Internet und konventionellen Medien wird gern in das Paradigma “Kathedrale und Basar” (citation needed :-) ) gefasst: In der Kathedrale zelebriert – in diesem Modell – der Priester sein Arkanwissen vor der staunenden Gemeinde. Auf dem Basar entstehen Ordnung und Wissen durch Aushandeln aus vielen dissonanten Stimmen. Das Blog “Aktenkunde” ist noch zu wenig Basar. So gern ich Dinge vermittele: Mehr Kritik, Ergänzungen, Scholien, eben mehr Fachdiskurs wären schön.

Dass der nicht zustande kommt, liegt natürlich auch am speziellen Thema. Ich bemerke jedoch, dass das Feedback aus Archivarskreisen zwar kommt, doch auf anderen Kanälen: per Mail, per Telefon, per Schulterklopfen auf dem Archivtag. Archivare haben eben hervorragende analoge Netzwerke. Bloß sind die im digitalen Medium nicht sichtbar, was der Ent-Marginalisierung archivarischer Anliegen – nicht nur der Aktenkunde! – nicht dient.

Als Attraktor für einen Fachdiskurs ist das Blog nur bedingt ein Erfolg. Aber die Wende ist vielleicht in Sicht: Mit Jürgen Finger von der LMU München hatte ich ein instruktives Kommentar-Gespräch, unter anderem über eine aktenkundlich fundierter Zitierweise neuzeitlicher Archivquellen. Dazu werde ich als Nächstes bloggen.
Und jetzt kommt es: Der Verlag hat die Reihe, in der mein Buch erscheinen sollte, eingestellt. Meine erste Reaktion kann man sich denken, die zweite war: Endlich mehr Zeit für’s Blog, das gegenüber dem Buch immer zurückstehen musste. Diesen Zustand habe ich immer mehr als unbefriedigend empfunden.

Das Blog als Medium ist meinen diskontinuierlichen Arbeitsmöglichkeiten wesentlich besser angepasst als ein Buch. Es wird für mich künftig ein Hauptkanal meiner wissenschaftlichen Tätigkeit sein, in dem ich auch für das Buch gesammeltes Material verwerten kann.

Wie könnte ein Fazit aussehen?

  1. Bloggen bedeutet für nebenberufliche Vertreter von Spezialfächern, aus der Not eine Tugend zu machen. Historiker, die aus dem akademischen Betrieb in die “Produktion” gewechselt sind, scheitern oft am großen Wurf. Das Blog akzeptiert dankbar auch die kleine Münze wissenschaftlicher Arbeit, das Fragmentarische, solange es nur anschlussfähig ist.
  2. Bloggen im Nebenamt kann als absichtsloses Handeln betrieben werden. Ich entlehne hier einen Kernbegriff aus dem Tai Chi: Ohne Anstrengung, im Rahmen des möglichen, kann der Forscher im Nebenamt eine erhebliche wissenschaftliche Kraft entfalten – während er oder sie sich nur schwer zum Kung Fu des Bücherschreibens aufraffen kann.
  3. Bloggen ist deshalb eine Graswurzel-Strategie der Wissensproduktion: Aus Einzelbausteinen kann mit der Zeit, durch Vernetzung exponentiell beschleunigt, eine veritable Forschungslandschaft entstehen. Hypotheses.org macht es vor. Verlinkt euch – ich warte auf mehr hilfswissenschaftliche Spezial-Blogs.
  4. Rein metaphorisch gesagt meine ich schließlich: Bloggen ist außeruniversitäres Fracking. Es löst aus den Köpfen der Praktiker kleinste Wissensbausteine, die im Netz der gesamten wissenschaftlichen Welt zur Verfügung stehen, um darauf aufzubauen. In konventionellen Kanälen wären diese Mikro-Partikel unsichtbar und verloren.

Ich sehe Bloggen unideologisch und betrachte mich nicht als Teil einer Revolution. Ich habe aber auch keine Probleme, Argumente zu finden, um der akademischen Reaktion, die Bloggen für wissenschaftsuntauglich hält, das Gegenteil zu beweisen. Für größere inhaltliche Zusammenhänge sind konventionelle Organe immer noch unverzichtbar. Für vieles Andere ist ein Blog das perfekte Medium.

Wissenschaftliches Bloggen führt das WWW zu seinen Ursprüngen als akademisches Hypertext-System zurück.

Gute Selbstorganisation – die Dropbox-Synchronisation am Wochenende vergisst man einmal und nie wieder – und flexible Software  – bei mir: Emacs, Zotero und Zettelkasten – vorausgesetzt, ist das Blog für mich das Mittel der Wahl, um wissenschaftliche Interessen und knappe Zeit neben dem Beruf miteinander in Einklang zu bringen.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/273

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Abraham und die Sterne am Himmel

Undank ist der Welten Lohn! Da ruft die GEO in einem Sonderheft die 100 größten Forscher aller Zeiten aus und übergeht dabei den größten, weil ersten, Forscher. Die Rede ist natürlich vom Begründer der Astronomie: von Abraham.

“Moment”, wird jetzt sicher der eine oder andere denken, “Abraham?” Als Stammvater der Israeliten kennt man ihn aus der Bibel, aber nun auch Stammvater der Astronomen, das scheint doch arg weit hergeholt.

Abraham als Vater der drei Weltreligionen. Moulins, bibliothèque municipale classée, Manuscrit 1, f. 256r. 12. Jahrhundert.

Abraham als Vater der drei Weltreligionen. Moulins, bibliothèque municipale classée, Manuscrit 1, f. 256r. 12. Jahrhundert.

Ist es auch, und zwar aus der jüdischen Antike, genauer den Antiquitates Judaicae, den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus.1 Dieser schrieb über Abraham, der zunächst in Chaldäa lebte, folgende Zeilen:

(158) Eine Erwähnung unseres Vaters Abraham findet sich bei Berosos, nicht namentlich, aber mit folgenden Worten: Nach der Sintflut, in der zehnten Generation, gab es bei den Chaldäern einen gerechten und bedeutenden Mann, erfahren auch in Himmelskunde.“ ((Flavius Josephus: Antiquitates Judaicae, 1,1-2,200. Vorveröffentlichung der Übersetzung des Institutum Judaicum Delitzschianum, 1,154-157, S. 21.))

Und weiter:

(154) Abraham […] gewann ungeheuer leicht Einsicht in alle Dinge und wirkte überzeugend auf alle, die ihm zuhörten und ging in seinen Einschätzungen nie fehl. (155) Daher begann er mehr als die anderen über Tugend nachzudenken und beschloss daraufhin, das allgemein übliche Gottesverständnis neu und anders zu fassen. So wagte er als erster, zu lehren, dass Gott Schöpfer des Alls sei, einer; und wenn von den übrigen (Mächten) eine etwas zum Lebensglück beitrage, tue dies jede nach seiner Anordnung und nicht aus eigener Kraft. (156) Er schloss das aus den wechselnden Vorgängen auf Erde und Meer und all dem, was sich mit Sonne, Mond und allen Himmelskörpern abspielt: Hätten sie (eigene) Kraft, würden sie ihre eigene Ordnung selbst regeln (so lehrte er); doch dass sie über keine solche verfügten, sei offensichtlich, und gar nichts zu unserem Nutzen beitragen könnten aus eigener Vollmacht, sondern dass sie entsprechend der Stärke des (ihnen) Befehlenden Dienst leisten müssten, dem gebührenderweise allein die Ehre und der Dank zu erweisen seien. (157) Als deswegen die Chaldäer und die übrigen Mesopotamier sich gegen ihn erhoben, hielt er es für gut umzusiedeln und bekam nach dem Willen und mit der Hilfe Gottes das kanaanäische Land; dort ansässig geworden, errichtete er einen Altar und brachte Gott ein Opfer dar.2

Abraham war nach Flavius Josephus nicht nur ein Experte in der Astronomie, mit Hilfe seiner Sternkunde erfand er nebenbei auch noch den Monotheismus (man beachte die Reihenfolge!). Daneben war Abraham exzellent in der Lehre, wovon vor allem die Ägypter profitierten.

(166) Die Ägypter hatten (damals) an anderen Sitten Gefallen (als andere) und machten die Lebensregeln anderer schlecht, wurden deswegen (sogar) unter sich feindselig; da besprach er sich mit ihrer jedem, spottete über die Begründungen, die sie für ihre eigenen (Ansichten) vorbrachten, und wies nach, dass sie gehaltslos waren und nichts Wahres an sich hatten. (167) Er wurde folglich von ihnen bewundert in diesen Zusammenkünften als überaus verständig und als ein Mann mit enormer Begabung nicht nur nachzudenken, sondern auch mit seinen Worten zu überzeugen in allem, was er zu lehren sich vornahm; so schenkte er ihnen die Arithmetik und vermittelte ihnen die gesamte Astronomie. (168) Denn vor dem Kommen Abrahams nach Ägypten waren die Ägypter in diesen Dingen unwissend; von den Chaldäern kamen sie nach Ägypten, von wo sie auch zu den Griechen gelangten.3

Das astronomische Wissen der Antike, der Ägypter und Griechen sei also weniger deren eigener Verdienst, sondern ginge in Wahrheit auf Abraham zurück. Damit ist es letztlich gar nicht heidnischen Ursprungs, sondern wurzelt im monotheistischen Judentum und dient auch als Möglichkeit der Gotteserkenntnis.

Ab dem 11. Jahrhundert tritt Abraham übrigens vermehrt als Nutzer eines astronomischen Instruments auf, von dem hier schon vermehrt die Rede war, dem Astrolab.4 Und das wohl nicht ohne Grund. Während Astronomie gerade im frühen Mittelalter vor allem auf tradiertem Buchwissen basierte (nicht nur, aber vor allem), begannen Gelehrte wie Hermann von der Reichenau und Wilhelm von Hirsau mit der Beobachtung und Messung des Sternenlaufes, unter anderem anhand des Astrolabs.5

Abraham mit Astrolab. Ausschnitt aus Paris, BNF Lat. 12117, f. 106r. 11. Jahrhundert.

Abraham mit Astrolab. Ausschnitt aus Paris, BNF Lat. 12117, f. 106r. 11. Jahrhundert.

Diese wissenschaftliche Tätigkeit stieß nicht überall auf Gegenliebe. Das lag wohl weniger an der Wissenschaftfeindlichkeit des Mittelalters, sondern an der Erwartung, dass Mönche sich eigentlich auf das Gebet konzentrieren sollten. Verdächtig war darüber hinaus auch die Herkunft des Wissens bzw. des Instrumentes, dem sich die Forscher bedienten: dem muslimischen Orient.6

Durch die Verbindung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit mit Abraham konnten monastische Wissenschaftler gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie entkräfteten zum einen den Vorwurf, einer heidnischen Tätigkeit nachzugehen; zum anderen stellten sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit dem täglichen Gebet zumindest ein bisschen gleich. Wenn schon Abraham die Sternenkunde als Weg zur Gotteserkenntnis diente, konnte sie für den einfachen Mönch so falsch nicht sein.

Auch der alte Abraham hatte dadurch – Dank der Vermittlung des Flavius Josephus – seinen Anteil an der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. Ob das einen Platz unter den wichtigsten 100 Forschern in der GEO rechtfertigt, das sei anderen überlassen.

  1. Zu den Gründen, die Flavius Josephus zu dieser Verknüpfung von Abraham und Astronomie bewogen haben vgl. Reed, Annette Yoshiko: Abraham as Chaldean scientist and father oft he Jews. Josephus ant. 1.154-168 and the Greco-Roman discourse about astronomy/astrology. In: Journal for the Study of Judaism 35,2 (2004), S. 119-158.
  2. Ebd.
  3. Ebd., S. 22.
  4. Vgl. Borrelli, Arianna: Aspects of the astrolabe: architectonia ratio in tenth- and eleventh-century Europe. 2008, S. 170 und 212f.
  5. Vgl. Wiesenbach, Joachim: Wilhelm von Hirsau: Astrolab und Astronomie im 11. Jahrhundert. In: Schreiber, Klaus (Hg.): Hirsau St. Peter und Paul 1091-1991, Bd. 2. Stuttgart 1991, S. 109-154.
  6. Vgl. ebd., 145/146.

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/355

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Gern gelesen: Das Konzept der „Moderne“ – L. Raphael

„Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. […] Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften […] hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert [sic] findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem ‚Guss‘, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken.“ (Raphael, Konzept, 2014, S. 104)

Ein weiterer Aufsatz von Lutz Raphael zur historiographischen Brauchbarkeit des Begriffs der Moderne ist vor einigen Monaten in einem Sammelband erschienen. Ich habe ihn gerne gelesen, und ich könnte noch viel mehr zu diesem Text und den darin vertretenen Argumenten sagen. Denn der Begriff der Moderne, wie Raphael (und Christof Dipper) ihn für die geschichtswissenschaftliche Analysearbeit operationalisieren, ist auch für mein Projekt sehr wichtig. Hier aber nur ein paar Gedanken zu der oben zitierten Passage.

Schon die beiden Aufsätze von Achim Landwehr, die sich kritisch mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auseinandergesetzt haben, habe ich mit großem Interesse gelesen und als sehr anregend empfunden (auch sie empfehle ich ausdrücklich zur Lektüre!). In den Texten geht es vor allem um die Vorstellungen von historischer Zeit(en), die dem Reden von Anachronismen bzw. der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde liegen, und darum, dass damit explizite und implizite Wertungen verknüpft sind, die häufig der Analyse von „Gleichzeitigkeiten“, die Landwehr ins Zentrum stellen will, eher im Wege stehen.

Raphael bezieht nun die Kritik, die auch Landwehr äußert, eher auf die Frage nach gesellschaftlicher Verfasstheit, also darauf, ob es sich um letztlich soziale/politische Pathologien handelt, wenn solche Koexistenzen vorliegen. Die Antwort ist – das kann man im obigen Textausschnitt klar erkennen – natürlich: nein, keine Pathologie, im Gegenteil. Koexistenzen unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken mit verschieden langer Geschichte sind in europäischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme. Meine Frage ist jetzt nur: Ist die Koexistenz denn tatsächlich „paradox“, wie Raphael schreibt? Oder erscheint sie nur als paradox, wenn man mit der modernisierungstheoretischen Brille auf sie blickt?

Interessant ist es also nicht so sehr sich anzusehen, wo es solche Koexistenzen gibt. Stattdessen könnte man untersuchen, wie die oben angesprochenen „Umcodierungen“ vonstattengehen. Also: Wie funktioniert diese Koexistenz? Welche Anpassungen finden statt? Wie finden sie statt? Werden sie von den ZeitgenossInnen reflektiert und bewertet? Dieser Fragenkatalog lässt sich wohl noch lange weiterführen. Für die ländlichen Übergangsgesellschaften ist der Hinweis auf die Koexistenzen wichtig und hilfreich – nicht nur, um in Gesprächssituationen wie dieser (schon häufiger vorgekommenen) klug antworten zu können:

Und, worüber forschst Du so?

Ländliche Gesellschaften um 1900.

Ach so, ja, klar: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Hach ja.

Literaturhinweise:

Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), S. 37—62.

Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1—34.

Ders.: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5—29.

Raphael, Lutz: Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: Großbölting, Thomas/Livi, Massimiliano/Spagnolo, Carlo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 97—109.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/275

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DASISH workshop on trust and certification – summary

This post is co-written with Astrid Recker, GESIS, and Claudia Engelhardt, Göttingen State and University Library. It is also published on the CESSDA Training Blog.

On 16-17 October 2014, a workshop on the topic of trusted digital repositories took place in The Hague. The workshop was organised by DASISH, a project striving to increase the overall quality of services for data management, curation and dissemination offered in the five Social Science and Humanities (SSH) Research Infrastructures that have been on the ESFRI Roadmap: CLARIN, CESSDA, DARIAH, ESS, and SHARE.

The workshop’s focus was on the tools and standards for audit and certification comprised in the European Framework for Audit and Certification of Digital Repositories: the Data Seal of Approval (DSA), DIN 31644/nestor Seal, and ISO 16363. Workshop presentations (available on the DASISH webpage) and discussions dealt with getting to know the standards, the conditions for their implementation as well as their current use in the Social Sciences and Humanities.

The European Framework for Audit and Certification was established in 2010 with the objective of better coordinating and structuring the emerging landscape of audit and certification procedures. It defines three levels of certification:

  • basic certification: equivalent to the Data Seal of Approval;
  • extended certification: granted to archives / repositories which have obtained the DSA and successfully underwent an external peer-review based on DIN 31644 or ISO 16363;
  • formal certification: granted to archives / repositories which have obtained the DSA and successfully completed a full external audit based on DIN 31644 or ISO 16363.

In the first part of the workshop, representatives of three European SSH infrastructures – Vigdis Kvalheim from CESSDA, Pavel Straňák from CLARIN and Henk Harmsen from DARIAH-EU – talked about the importance and use of certification standards in the respective infrastructures. In all of them, certification of member data archives and repositories plays a role, with the Data Seal of Approval being the instrument most commonly employed. In CLARIN, one of the requirements for becoming an infrastructure centre or a service providing centre is to undergo certification through the DSA or the MOIMS-RAC approach. CESSDA AS also works towards integrating the DSA into the set of obligations of service providers. In DARIAH-EU certification is one of five short-term goals. One concrete aim in this context is that the repositories that form the backbone of the DARIAH infrastructure have obtained the DSA by 2016.

The ensuing discussion focused on drivers behind the decision to undergo audit and certification:

  • There was consensus in the group that audit and certification are becoming increasingly important to satisfy funder requirements. This is specifically the case for publicly funded institutions, which to receive funding are expected to prove that they are capable of offering high-quality preservation / curation services in accordance with international standards. From this perspective, acquiring certification is equivalent to creating a competitive advantage.
  • However, “self-assurance” was an equally important aspect pointed out by representatives from archives that already underwent an audit / certification procedure, or are planning to do so in the near future. Thus, audits were regarded as an important instrument in determining whether the preservation / curation procedures and workflows of the archive are adequate. Accordingly, audit procedures were used to support the detection of gaps and potential risks.
  • At the same time, there seemed to be consensus that in the SSH community demands from users are currently not a considerable driving force behind the decision to undergo external audit / certification. This could change in the future, especially if the different seals or “badges” are recognized as an indicator of high-quality services by users.

The workshop continued with presentations of the DSA (Paul Trilsbeek) and the nestor Seal (Dr. Christian Keitel) audit standards as well as several case studies from the different ESFRI projects (specifically, LINDAT, DANS, and GESIS). Finally, Barbara Sierman presented the current state of ISO 16363.

The subsequent discussion dealt with the question whether every data service has to be certified, ways of lowering the threshold for entrance into audit and certification, and alternative ways of creating trust – specifically with an eye to smaller data archives or repositories with very limited resources.

  • There was consensus that not every data service needs to be certified. But the decision on whether certification should be pursued or not should not only depend on the available resources of a data service, but also on its nature. As an example, participants referred to the front office-back office model employed in the Netherlands. In this approach, the responsibility for the long-term preservation and availability of research outputs lies with the “back office” organisations (centres with a national scope such as DANS or 3TU.Datacentrum), whereas the “front office” institutions (located at higher education institutions, research institutes etc.) concentrate on communication with and support of data producers and users on a local level. In line with this division of responsibilities, certification is deemed necessary only for the “back office” organisations.
  • In terms of the effort required, the DSA was seen as a suitable “entrance point” to certification even for smaller institutions. Among the data archives that already obtained the DSA are also one person archives, which shows that the DSA audit procedure is doable even with limited human and financial resources. It was also noted that to a certain extent the necessary time and resources are a question of scale. While bigger archives have more resources, their size also makes the process of documenting procedures and of creating required policies more time-consuming.
  • The group also discussed measures for creating trust that can be undertaken independently from certification. It was deemed very important to enable users to do their own “trust checks” on object level and thereby evaluate themselves if a digital object is authentic or not. To make this possible, archives have to engage in transparent communication with their designated community. Another important point in this context is the careful consideration of the significant properties of the information objects to be preserved and their adequacy to the needs of the user community.

Overall, the discussions showed that although the preservation landscape in the SSH domain is moving towards more standardisation and greater homogeneity with regard to audit and certification, it is neither necessary nor desirable to tar all archives with the same brush. Thus tiered or multi-level approaches such as the Dutch front office-back office model or the European Framework for Audit and Certification make it possible to achieve standardisation without losing sight of scale and archive- or discipline-specific requirements.

A report about the workshop from a participant’s point of view is available on the blog “Bits & Pieces. Digital Preservation at Edinburgh University”: report of day 1, report of day 2.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4283

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La France occupée – ein neues Forschungsinstrument zur Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg

france_occupee2Wo befanden sich in Frankreich während der Besatzungszeit deutsche Dienststellen, Behörden, Firmen und Banken, wo war ihr französisches Pendant und wie gestaltete sich deren Zusammenarbeit? Unter dieser Fragestellung hat das DHIP deutsche und französische Archivbestände (Behördenverzeichnisse, Diensttelefonbücher, Bottins administratifs etc.) ausgewertet und die Angaben in einer Datenbank gesammelt. Neben Paris und Vichy wurden daher nicht nur die Adressen der deutschen Militärverwaltung (Militärbefehlshaber in Frankreich bzw. ab 1942 auch der Kommandant im Heeresgebiet Südfrankreich), sondern auch die der französischen Regierungsstellen einschließlich der Präfekturen und Regionalpräfekturen in die Onlinepräsentation mit aufgenommen. Ergänzend wurden auf deutscher Seite auch die Dienststellen des Oberbefehlshabers West in Saint-Germain-en-Laye erfasst.

Unter der Adresse www.adresses-france-occupee.fr stellt das DHIP eine interaktive Karte bereit, die die deutschen und französischen Dienststellen in Frankreich während der Zeit der Besatzung in den Jahren 1940 und 1945 zeigt. Neben der historischen und der heutigen Adresse, der aktuellen Straßenansicht und – sofern vorhanden – einem historischen Foto gibt die Seite Aufschluss über die Aufgaben, Zuständigkeiten und Unterstellungsverhältnisse.

Gesucht werden kann nach Städten, Straßennamen oder der Bezeichnung von Gebäuden sowie nach Behörden, Dienststellen, Banken und Firmen. Je nach Art und Umfang der Abfrage vermittelt die Datenbank einen Eindruck vom Alltag, der Präsenz der deutschen Besatzungsmacht sowie nicht zuletzt auch deren Zusammenarbeit mit den französischen Behörden.

Für Recherche stehen dem Benutzer neben dem Suchefeld, der Wahl des entsprechendes Jahres sowie der Unterscheidung nach Ländern auch eine Suche nach Behörden und deren hierarchischem Aufbau zur Verfügung. Über eine entsprechende Auswahl in der Hierarchie sind kombinierte Suchergebnisse möglich. Die Ergebnisse werden entweder auf der Karte oder aber als Liste angezeigt und können exportiert werden (CVS oder PDF).

Die Angaben basieren auf einer systematischen Erfassung der deutschen Diensttelefonbücher und der französischen Behördenverzeichnisse aus der Zeit des Krieges. Sie wurden ergänzt durch Recherchen in deutschen und französischen Archiven, insbesondere den Archives municipales sowie der Auswertung der einschlägigen Nachschlagewerke und der Fachliteratur.

Die Datenbank wird kontinuierlich mit neuen Angaben angereichert, die sich aus den weiteren Forschungen ergeben. Sie erlaubt sowohl die einfache Visualisierung der Suchergebnisse auf einer Karte oder als Liste, als auch kombinierte Recherchen bis hin zum Export der Angaben als PDF-Datei oder in Form eines CSV und erfüllt so alle Anforderungen an ein modernes Forschungsinstrument.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2324

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La France occupée – ein neues Forschungsinstrument zur Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg

france_occupee2Wo befanden sich in Frankreich während der Besatzungszeit deutsche Dienststellen, Behörden, Firmen und Banken, wo war ihr französisches Pendant und wie gestaltete sich deren Zusammenarbeit? Unter dieser Fragestellung hat das DHIP deutsche und französische Archivbestände (Behördenverzeichnisse, Diensttelefonbücher, Bottins administratifs etc.) ausgewertet und die Angaben in einer Datenbank gesammelt. Neben Paris und Vichy wurden daher nicht nur die Adressen der deutschen Militärverwaltung (Militärbefehlshaber in Frankreich bzw. ab 1942 auch der Kommandant im Heeresgebiet Südfrankreich), sondern auch die der französischen Regierungsstellen einschließlich der Präfekturen und Regionalpräfekturen in die Onlinepräsentation mit aufgenommen. Ergänzend wurden auf deutscher Seite auch die Dienststellen des Oberbefehlshabers West in Saint-Germain-en-Laye erfasst.

Unter der Adresse www.adresses-france-occupee.fr stellt das DHIP eine interaktive Karte bereit, die die deutschen und französischen Dienststellen in Frankreich während der Zeit der Besatzung in den Jahren 1940 und 1945 zeigt. Neben der historischen und der heutigen Adresse, der aktuellen Straßenansicht und – sofern vorhanden – einem historischen Foto gibt die Seite Aufschluss über die Aufgaben, Zuständigkeiten und Unterstellungsverhältnisse.

Gesucht werden kann nach Städten, Straßennamen oder der Bezeichnung von Gebäuden sowie nach Behörden, Dienststellen, Banken und Firmen. Je nach Art und Umfang der Abfrage vermittelt die Datenbank einen Eindruck vom Alltag, der Präsenz der deutschen Besatzungsmacht sowie nicht zuletzt auch deren Zusammenarbeit mit den französischen Behörden.

Für Recherche stehen dem Benutzer neben dem Suchefeld, der Wahl des entsprechendes Jahres sowie der Unterscheidung nach Ländern auch eine Suche nach Behörden und deren hierarchischem Aufbau zur Verfügung. Über eine entsprechende Auswahl in der Hierarchie sind kombinierte Suchergebnisse möglich. Die Ergebnisse werden entweder auf der Karte oder aber als Liste angezeigt und können exportiert werden (CVS oder PDF).

Die Angaben basieren auf einer systematischen Erfassung der deutschen Diensttelefonbücher und der französischen Behördenverzeichnisse aus der Zeit des Krieges. Sie wurden ergänzt durch Recherchen in deutschen und französischen Archiven, insbesondere den Archives municipales sowie der Auswertung der einschlägigen Nachschlagewerke und der Fachliteratur.

Die Datenbank wird kontinuierlich mit neuen Angaben angereichert, die sich aus den weiteren Forschungen ergeben. Sie erlaubt sowohl die einfache Visualisierung der Suchergebnisse auf einer Karte oder als Liste, als auch kombinierte Recherchen bis hin zum Export der Angaben als PDF-Datei oder in Form eines CSV und erfüllt so alle Anforderungen an ein modernes Forschungsinstrument.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2324

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Mobile Apps zur deutsch-jüdischen Geschichte

smartphone-rabbinerhaus-essenUnterwegs auf Informationsangebote zugreifen zu können, die in Handhabung und Darstellung für das mobile Gerät optimiert sind, vielleicht auf den aktuellen Standort Bezug nehmen, womöglich noch die eigenen Forschungsarbeit aktiv unterstützen — die Perspektiven mobiler Anwendungen sind faszinierend.

Ein living document zum Thema »Mobile Apps zur deutsch-jüdischen Geschichte« ist das Ziel unseres Blogbeitrags. Das ist zwar reichlich unscharf formuliert,1 aber die Auswahl ist ja noch überschaubar — oder etwa nicht ?

Es folgt also eine kleine Übersicht als Startpunkt (nicht sortiert und einstweilen mit den Selbstbeschreibungen seitens der Anbieter), sie soll fortlaufend aktualisiert und ergänzt werden. Kommentare, Hinweise auf weitere Apps, Erfahrungsberichte (einfach mal installieren und ausprobieren), Reviews, gern als Gastbeiträge, sind natürlich herzlich willkommen — im Grunde unverzichtbar für das Gelingen.

Das Interesse hängt auch mit Fragen der weiteren Gestaltung der Web-App Orte jüdischer Geschichte zusammen, die sich ebenfalls hier wiederfindet.

Jüdische Orte in Bayern | »Ziel des Projektes Jüdische Orte in Bayern ist ein innovatives virtuelles Jüdisches Museum Bayern. Mit Hilfe der App können vor Ort jüdische Erinnerungsstätten erarbeitet und erfahrbar gemacht werden …Dabei reicht der Blick vom Mittelalter bis in die Gegenwart und den heutigen Umgang mit jüdischen Kulturgütern.« → iOS

JüdischesWien | »Applikation, die BesucherInnen des Jüdischen Museums an Adressen Wiener jüdischer Geschichte führt. Diese Route verbindet die beiden Standorte des Museums in der Dorotheergasse und am Judenplatz.« → Android

Kölns jüdische Geschichte | »Dieser akustische Stadtspaziergang zur jüdischen Geschichte in Köln nimmt Sie anhand von fünf Etappen mit auf eine informationsreiche und bedeutsame Stadttour. Der Ausflug beginnt am historischen Rathaus in der Altstadt und endet auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd. Entlang einer akustischen Spurensuche veranschaulicht die App das Schicksal und die Regionalgeschichte der Juden in Köln.« → iOS

Erinnerungsorte für die Opfer des Nationalsozialismus | »Die App ermöglicht eine neue Form des Erinnerns an die Opfer des Nationalsozialismus. Sie finden mehr als 200 Erinnerungsorte mit Informationen über Gedenkstätten, Museen, Dokumentationszentren, Mahnmale und Initiativen, die an Menschen erinnern, die unter der NS-Gewaltherrschaft ermordet wurden. Die Orte werden mit einem Kurztext und Hinweisen zum pädagogischen Angebot vorgestellt, außerdem finden Sie Informationen zu Ansprechpartnern, Anfahrt und Öffnungszeiten.« → Android | iOS

Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt | »Berlin war ein Zentrum der Zwangsarbeit: Zwischen 1938 und 1945 musste eine halbe Million Zwangsarbeiter – Männer, Frauen und Kinder – in Berliner Fabriken, Dienststellen und Haushalten arbeiten, so viele wie in keiner anderen Stadt Europas. Aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt, lebten sie in über 3000 Lagern, direkt vor der Haustür der Berliner.« → Android | iOS

Berühmte Grabstätten auf historischen Friedhöfen in Deutschland | Die App zu »1.000 kulturhistorisch bedeutenden Grabmalen« und »37 national bedeutsamen historischen Friedhöfen in Deutschland« thematisiert auch die jüdischen Friedhöfe »Schönhauser Allee« sowie »Weißensee« (beide Berlin), »Langenfelde« und »Altona« (beide Hamburg) sowie den »Heiligen Sand« in Worms. Sie »navigiert den Nutzer zu den einzelnen Grabmalen und vor Ort können die Informationen als Audio-Datei abgespielt werden.« → Web-App

Orte jüdischen Lebens Berlin | »Diese App bietet Informationen zu Orten jüdischen Lebens in Berlin von 1933 bis 1945 … Über eine historische und eine aktuelle Karte sind Orte oder ganze Touren im Stadtgebiet zu finden. Zu jedem dieser Plätze existieren Informationen, Bilder, zum Teil auch Tonaufnahmen oder Filme. Zusätzliche Informationen können über Personenportraits, ein Glossar oder eine Zeitleiste gewonnen werden.« → Android

Visit USHMM (United States Holocaust Memorial Museum): The Museum’s Mobile App | Unter anderem: »My Visit: Create your own itinerary from exhibitions and events specific to the day of your visit. — Personal Stories: Explore the stories of individuals who experienced the Holocaust and refer to them throughout your visit. Discover more through items in our collections, including family photographs, personal artifacts, and videos of Holocaust survivors recounting their stories …« → Android | iOS

Orte jüdischer Geschichte | Die App führt zu ortsbezogenen Online-Artikeln (ca. 2.500, Wikipedia, epidat und weitere) zur deutsch-jüdischen Geschichte im Umkreis des aktuellen Standortes oder eines frei wählbaren Ausgangspunktes in Deutschland (und darüber hinaus). → Web-App

  1. Auf einen Aspekt, die Frage nach der Zielgruppe, weist der Untertitel des empfehlenswerten Beitrags Mobile History von Kristin Oswald hin: »Apps für Geschichtsinteressierte, Apps für Historiker«? Dann der Fokus: auf Inhalt oder auch methodische Hilfsmittel? Dann die Technik: nativ, hybrid, Web-App oder auch eine für mobil geeignete Webseite ? Und deutsch-jüdische Geschichte schließlich ist ohnehin ein mehr als weites Feld …

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/444

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Workshop „Bloggen …“: Bloggen in einem kirchlichen Ein-Personen-Archiv

Am 10. November 2014 fand der vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung veranstaltete Workshop „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“ statt. Im Rahmen dessen hielt auch Stiftsarchivar Maximilian Alexander Trofaier, der Autor dieser Zeilen, einen Vortrag zum Thema

Bloggen in einem kirchlichen Ein-Personen-Archiv. Ein Erfahrungsbericht

Der subjektive und einschränkende Titel war bewusst mit Blick auf die gegebenen Voraussetzungen gewählt. Als „kirchliches Archiv“, konkreter eigentlich als Klosterarchiv, ist das Archiv des Schottenstifts nichts anderes als ein Privatarchiv. Der Status des „Ein-Personen-Archivs“ birgt auch eine Aussagekraft über die geringe Größe des Archivs. Beide Elemente führen nicht zuletzt auch zu einer deutlich geringeren Öffentlichkeit und Benutzerfrequenz als es in großen Staats- oder Landesarchiven der Fall ist. Dies gilt es auch zu berücksichtigen, wenn man über das Thema Bloggen spricht. Wenn außerdem im Titel von „Bloggen“ die Rede ist, dann bedeutet das im konkreten Fall des Schottenstifts nicht nur Blog sondern auch Facebook.    

Entwicklung

Seit Frühjahr 2013 betreibt das Archiv des Schottenstifts eine Facebook-Seite, seit Sommer 2014 auch einen eigenen Blog auf der Plattform Hypotheses.org, und es kann damit (zumindest in Österreich) durchaus als Vorreiter im Bereich der kleinen Archive betrachtet werden. Da die Erfahrungswerte für Facebook aufgrund der längeren Dauer etwas umfassender sind, macht es Sinn, sich in diesen Ausführungen auf die Facebook-Seite des Archivs zu konzentrieren.

Es ist nicht uninteressant, sich einmal anzusehen, welche österreichischen Archive überhaupt auf Facebook vertreten sind.1 Zunächst sind da das Diözesanarchiv St. Pölten, das Österreichische Staatsarchiv und das Archiv der Erzdiözese Salzburg, die seit Juni bzw. August 2010 auf Facebook sind und damit auch zu den ältesten Facebook-Seiten von Archiven des deutschsprachigen Raums überhaupt gehören. 2012 gab es ca. zwei Monate eine Seite des Stadtarchivs St. Andrä im Lavanttal, außerdem eine Seite von Bibliothek und Archiv des Zisterzienserstiftes Zwettl, die aber nie mit Inhalt befüllt wurde und inzwischen auch nicht mehr existiert. Seit April 2013 ist das Grüne Archiv, das bei der Grünen Bildungswerkstatt angesiedelte Archiv der politischen Partei „Die Grünen“, auf Facebook vertreten. Dann kam bereits das Archiv des Schottenstifts im Mai 2013, also auch erst vor eineinhalb Jahren. Im Oktober 2013 legte sich das Stadtarchiv Wels eine Seite zu, die aber bisher wenig mit Inhalt befüllt wurde. Seit Jänner 2014 gibt es noch die Seite von Archiv und Bibliothek des Benediktinerstiftes Admont.

Wenn man sich jetzt jene Seiten ansieht, die tatsächlich aktiv sind, dann stellt man fest, dass neben dem Staatsarchiv und dem Archiv einer politischen Partei vier kirchliche Archive (zwei Diözesanarchive, zwei Klosterarchive) auf Facebook vertreten sind. So traurig dies aus Sicht der Archivlandschaft erscheinen mag, so sehr bedeutet dies aber gleichzeitig – zumindest theoretisch – auch, dass die einzelnen österreichischen Archive mit Facebook-Seite aufgrund der geringen Konkurrenz eine vergleichsweise starke öffentliche Wahrnehmung verzeichnen können.

Pastorale Funktion

Ist es ein Zufall, dass bei dieser Auflistung kirchliche Archive scheinbar in der Überzahl sind? Hierzu sollte eine weitere Überlegung in Betracht gezogen werden:

Die Diskussion über eine Präsenz im Web 2.0 wird ja nicht nur von den Historikern und Archivaren geführt, sondern seit einigen Jahren auch von den Kirchen, und so stellen sich einem Klosterarchiv die damit verbundenen Fragen in doppelter Weise – wobei die Motivationsgründe im übertragenen Sinn ganz ähnliche sind. Von einer kirchlichen Präsenz im Web 2.0 erwartet man sich einerseits eine stärkere und positivere öffentliche Wahrnehmung sowie andererseits neue Möglichkeiten der Pastoral, der Ansprache des Einzelnen – man könnte auch sagen der Benutzerbetreuung.

Aus dieser sowohl auf höheren kirchlichen (diözesanen) Ebenen als auch hausintern geführten Diskussion heraus erschien es dem Archiv des Schottenstifts nicht nur als Archiv sondern auch als kirchliche Institution als ein Gebot der Stunde, auf Facebook präsent zu sein, zu zeigen, in welchem Ausmaß den Klöstern auch – bzw. auch den Klöstern – Aufgaben der Kulturgüter- und Wissenschaftspflege auferlegt sind, und dass sie diese Aufgaben vielleicht nicht gar so schlecht bewältigen.

Effekte

Was sind aber nun die Effekte dieser Blogtätigkeit, die für das Archiv des Schottenstifts konkret festgemacht werden können? Natürlich freut man sich über eine gesteigerte öffentliche Wahrnehmung mit Fans aus ganz Europa und Übersee. Tatsächlich hat das Archiv auch schon die eine oder andere Forschungsanfrage aufgrund von Facebook- und Blogbeiträgen verzeichnen können. Aber der wohl wesentlichste Effekt steht im Zusammenhang mit der Positionierung des Archivs auch innerhalb des Klosters – und dies ist wiederum ein Aspekt, der nicht nur für kirchliche Archive sondern für alle kleinen Archive innerhalb einer größeren Institution wichtig erscheint. Man kann in diesem Zusammenhang von nach innen gerichteter Öffentlichkeitsarbeit sprechen.

Man neigt oft dazu, als Adressatenkreis von Öffentlichkeitsarbeit eher Personen anzusehen, die außerhalb der eigenen Institution stehen. Dabei darf aber nicht vernachlässigt werden, dass eben auch jene Personen, die zwar außerhalb des Archivs aber innerhalb der Institution stehen, potentiell Anzusprechende sind. Neben Forschenden, Studierenden, Kollegen in anderen Archiven und interessierten Laien finden sich unter den Abonnenten der Facebook-Seite des Archivs auch viele Personen aus dem erweiterten Dunstkreis des Klosters, Angestellte aus anderen Teilbereichen des Stiftes (dem Kammeramt, dem Klosterladen, dem Gästehaus) aber auch direkt einige Mitglieder des Konvents. Und von all diesen bekommt man, wenn man sie trifft, stets außerordentlich positive Rückmeldungen zu den Mitteilungen auf Facebook.

Der Blog des Archivs hat hier natürlich nochmals eine neue Dynamik gebracht, weil ja nicht jeder bei Facebook angemeldet ist (was für die Ansicht der dortigen Seite jedoch gar nicht notwendig wäre). Neben der nun möglichen Ausführlichkeit waren vor allem auch Überlegungen hinsichtlich der breiteren Zugänglichkeit ausschlaggebend für die Eröffnung des Blogs und die damit verbundene Verlagerung bzw. Erweiterung der auf Facebook begonnenen Aktivitäten.

Die Wahrnehmung des Archivs und der hier geleisteten Arbeit hat sich nicht nur in der Öffentlichkeit sondern auch innerhalb des Klosters drastisch gesteigert. Diese Positionierung des Archivs innerhalb der Institution, die Schaffung eines Bewusstseins für die Aufgaben und die Anliegen des Archivs, ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn man in einem Ein-Personen-Archiv nicht traurig vereinsamen möchte. Schon allein aus diesem Grund kann Archivarinnen und Archivaren das Bloggen im Archiv nur ans Herz gelegt werden.

  1. Vgl. hierzu die Angaben bei Uwe Heizmann: Deutschsprachige Archive bei Facebook (Stuttgart/Pottsdam 2012), in: Multimediale Geschichte, hg. von dems., online unter http://www.multimediale-geschichte.de/bilder_co/heizmann_uwe_-_dtspr_archive_b_facebook.pdf (13. November 2014); die Liste „Archive aus dem deutschsprachigen Raum auf Facebook“ von Klaus Graf auf dem Blog „Archivalia“, online unter http://archiv.twoday.net/stories/235546744 (13. November 2014); sowie die Liste „Archive im deutschsprachigen Raum“ von Maria Rottler auf Facebook, online unter http://www.facebook.com/lists/4881539393737 (13. November 2014).

Quelle: http://schotten.hypotheses.org/555

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“Wie ich als Nachkriegskind trotzdem vom Krieg geprägt bin”

Elin Goldberg1  (geb.  1959)  schreibt über Ihre Erfahrungen aus der Generation der Nachkriegskinder, also der Kinder, die mit Eltern aufgewachsen sind, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben. Sowohl der Artikel bei Brigitte.de, als auch die Kommentare sind sehr lesenswert und aufschlussreich.

http://www.brigitte.de/frauen/stimmen/nachkriegskind-1220230/

Sie berichtet über die Erfahrungen aus ihrer Kindheit:

“Immer wieder sah ich an sonntäglichen Kaffeetafeln der Überlebenden in erstarrte Gesichter, wurden Gespräche abgebrochen, wenn wir Kinder vom Spielen ins Wohnzimmer zurückrannten, wo die Stimmung derweil von Kümmel und Korn verzweifelt erhitzt war. An diesen Sonntagen verdichtete sich mein Gefühl, dass das, was mir gezeigt und gesagt wurde, nicht mit dem übereinstimmte, was ich spürte.”

Diese Gefühlswelten blieben noch lange Zeit bestehen. Zum Ende des Artikels und im Rückblick aus dem Erwachsenenalter bleibt Ihr die Frage:

“Welche Bedeutung hat dieses Thema für die Enkelgeneration, welche konkreten Folgen für die Global Players, die in Peking und London studieren, worldwide deutsches Markenbier trinken und Frisuren tragen, die meine niederländische Freundin – mittlerweile lächelnd – als Nazi-Chic bezeichnet? Was haben wir an sie weitergegeben?”

Solche Artikel sind eine Fundgrube an Ideen und Anregungen für Forschungsfragen, die eine revitalisierte Nachkriegskinderstudie auf Basis der Kindheitsdaten beantworten könnte. Bis dahin sind jedoch noch einige Hürden zu überwinden. Schön ist es zu sehen, dass die Autorin mich kontaktiert hat, damit wir noch mal besonders auf Ihren Artikel in unserem Blog hinweisen, was ich sehr gerne tue. Kommentare dürfen gerne direkt im Artikel bei Brigitte gegeben werden, dort werden sie auch von der Autorin beantwortet.

  1. *Pseudonym

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1510

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