Über 800 Jahre alte Bischofsurkunde zugunsten des Stifts Clarholz findet ihren Weg zurück ins Fürstliche Archiv Rheda

Als die alliierten Truppen Anfang April 1945 in Rheda einmarschierten, ließen sie sich vom damaligen Fürsten zu Bentheim-Tecklenburg die Schlüssel zum Archiv aushändigen. Dort waren zu dem Zeitpunkt neben dem Archivgut auch Unterlagen der sich zurück ziehenden Wehrmacht eingelagert worden, die für die Alliierten von großer Bedeutung waren. Als die amerikanischen Truppen Ende April – wenige Tage vor der deutschen Kapitulation – abzogen, hinterließen sie das Archiv in großer Unordnung. Bei  den anschließenden Aufräumarbeiten wurde festgestellt, dass „einzelne Kaiserurkunden und andere mit gut erhaltenen Siegeln versehene Stücke“ fehlten, die in der Folgezeit trotz entsprechender Eingaben bei der Militärverwaltung und militärpolizeilicher Untersuchung nicht aufgefunden werden konnten.

Seit 2008 sind die noch fehlenden Urkunden bei Lost Art gemeldet, einer Einrichtung des Bundes und der Länder der Bundesrepublik Deutschland für Kulturgutdokumentation und Kulturgutverluste. Auktionshäuser und Galerien sind gehalten, vor Verkäufen und Versteigerungen zu prüfen, ob die angebotenen Stücke hier verzeichnet sind und diese gegebenenfalls  den Eigentümern zurück zu erstatten. Im Mai diesen Jahres wurde Dr. Peter Worm vom  LWL-Archivamt für Westfalen, der das Fürstliche Archiv betreut und die Benutzung der wertvollen Bestände ermöglicht, von der Londoner Galerie Sam Fogg, die sich unter anderem auf mittelalterliche Kunstobjekte spezialisiert hat, erfreulicher Weise in einem solchen Fall angeschrieben. Das Stück selbst wurde dann wohl verpackt und versichert aus London übersandt, in der Werkstatt des LWL-Archivamts aufbereitet und archivgerecht verpackt.

Fürstliches Archiv Rheda, Bestand: Stift Clarholz, Urkunden Rha.C.Uk 5

Fürstliches Archiv Rheda,
Bestand: Stift Clarholz, Urkunden
Rha.C.Uk 5

Inhaltlich lässt sich die Urkunde in eine Reihe von Rechtsgeschäften einordnen, mit denen das junge Stift seinen Grundbesitz und  damit seine Einkünfte erweitert und abrundet: Bischof Hermann II. von Münster beurkundet den Verkauf eines Anwesens in Sandrup – heute eine Bauerschaft nördlich von Münster – durch seinen Lehnsmann Otto an den Propst Friedrich und den Konvent von Clarholz für die beträchtliche Summe von 90 Mark. Dass hierfür jeweils der Münstersche Bischof Hermann II. als Beurkundender gewonnen werden konnte, betont den hohen Stellenwert, der dem Clarholzer Stift zu dieser Zeit zukam. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der genannte Bischof in der Nachbarschaft das Zisterzienser-Kloster Marienfeld mit begründet und ausgestattet hat, das durchaus mit den Prämonstratensern in Clarholz um fromme Stiftungen konkurrierte.

Die schön geschriebene und mit einem hellen Wachssiegel versehende Urkunde steht nun der historischen Forschung wieder zur Verfügung (Fürstliches Archiv Rheda, Bestand: Stift Clarholz, Urkunden, Nr. 5 = WUB I, Nr. 578 = OUB I, Nr. 440). Die Benutzung findet über das LWL-Archivamt für Westfalen (www.lwl-archivamt.de) statt.

Der Aussteller:

Fürstliches Archiv Rheda, Bestand: Stift Clarholz, Urkunden, Rha.C.Uk 5 (Siegel)Hermann II. von Katzenelnbogen (* 1130 oder 1140; † 9. Juni 1203) war von 1174 bis 1203 der 24. Bischof von Münster. Kaiser Friedrich I. Barbarossa bestimmte Hermann II. zum Nachfolger des verstorbenen Bischofs Ludwig I von Wippra. Er stammt aus dem in Hessen ansässigen Adelsgeschlecht der Grafen von Katzenelnbogen.

Zur Vorbereitung des Dritten Kreuzzuges sandte Kaiser Friedrich I. Barbarossa eine Gesandtschaft unter der Führung Hermann II. zum Kaiser Isaak II. Angelos in Konstantinopel. 1189 bis 1192 nahm Hermann II. dann selbst am Kreuzzug teil und gehörte zum engeren Beraterkreis des Kaisers. Der Edelherr Widukind von Rheda, wie der Bischof selbst einer der Gründer Marienfelds, nahm auch an diesem Kreuzzug teil und fiel bei der Erstürmung von Akkon. Es ist nicht auszuschließen, dass es der Bischof Hermann II. war, der die sterblichen Überreste des Edelherrn nach Deutschland zurückbringen ließ.

Hermann der II. gab um die Jahrhundertwende seine vielfältigen Ämter und Tätigkeiten in Münster auf und zog sich nach Marienfeld zurück. 1203 starb er als einfacher Mönch und ließ sich in Marienfeld bestatten. Für den Konvent war dies eine große Geste und so liegt sein Leichnam im Chorraum, den Blick zum Hochaltar gewandt. Später wurde ein Grabmal hinzugefügt, das sich aber nicht mehr an dieser Stelle befindet.

Von Bischof Hermann II. gehen einige Stadtgründungen aus (etwa Coesfeld, Nienborg, Warendorf, Beckum, Ahlen und Dülmen). An seinem Bischofssitz Münster gründet er die Pfarreien St. Ludgeri, St. Martini, St. Aegidii und St. Servatii. Die Pfarreinteilung in Münster und der Bau der dortigen Befestigungsmauern gehen auf ihn zurück. An den Dom lässt er das westliche Querschiff anbauen.

 

Die Empfänger

Bei den Prämonstratensern handelt es sich um regulierter Chorherren, die nach der Augustinusregel leben. Das heisst, dass diese nicht Mönche im engeren Sinn des Worts sind, aber so wie diese die Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit ablegen und in einer klosterähnlichen Gemeinschaft leben. Ein weiterer Unterschied zu den an der Benediktsregel orientierten Mönchsorden ist, dass die Prämonstratenser das kontemplative monastische Leben mit der nach außen gerichteten Seelsorge verbinden. Der Orden ist ein Zusammenschluss selbständiger Stifter (Kanonien) und wurde im Jahr 1120 von Norbert von Xanten mit dreizehn Gefährten in Prémontré bei Laon gegründet. Sie  werden nach ihrem Gründer „Norbertiner“ genannt. Der weibliche Zweig sind die Prämonstratenserinnen.

Eine Besonderheit – in dieser Zeit allerdings nicht einzigartig – der ersten prämonstratensischen Gemeinschaften war, dass es sich bei ihnen um Doppelklöster handelte, in denen also Frauen und Männer, wenn auch in zwei voneinander organisatorisch getrennten Konventen, lebten. So auch hier in Clarholz, wo das zugehörige Frauenkonvent im benachbarten Lette seinen Sitz hatte, jedoch sich nur bis ins 15. Jh. nachweisen lässt. Neben den Kanonikern (canonici) lebten in den Niederlassungen der Norbertiner auch Laienbrüder (conversi). Ähnlich wie auch die Zisterzienser trugen die Prämonstratenser in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Entstehung zur Verbesserung der Landwirtschaft bei.

 

Der Gegenstand

Zum ersten Mal erwähnt wurde der 45 km von Clarholz entfernte Haupthof Sandrup schon im 11. Jahrhundert in einer abschriftlich überlieferten Urkunde aus dem Cappenberger Archiv. Damals legte der Münstersche Bischof Siegfried von Walbeck (1022–1032) fest, dass für die neugeweihte Kirche von Coerde unter anderem die Bauerschaft Sandondorp zur Zahlung eines Zehnten als wirtschaftliche Grundlage für die Kirche und ihre Geistlichen verpflichtet wurde. Der Bischof hatte kurz vor seinem Tode noch sieben neue Landkirchen geweiht, unter denen sich auch die Kirche von Coerde befand. Ihr Pfarrsprengel sollte aus Teilen der alten Dompfarrrei so zusammengestellt werden, dass sie mit dem zu zahlenden Zehnten die wirtschaftliche Grundlage für die Kirche und ihre Geistlichen bilden konnte. Doch die Pfarrei Coerde kam nie zustande. Die ursprünglich Coerde zugedachte Bauerschaft Sandrup fiel an die von Bischof Hermann I. (1032 – 1042) ab dem Jahre 1040 gebaute Liebfrauen-Überwasserkirche im nahen Münster, ist aber zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung als Lehen an  einen bischöflichen Ministerialen, namens Otto, vergeben.

Inhaltlich lässt sich die Urkunde in eine Reihe von Rechtsgeschäften einordnen, mit denen das junge Stift seinen Grundbesitz und  damit seine Einkünfte erweitert und abrundet: Bischof Hermann II. von Münster beurkundet den Verkauf eines Haupthofs in Sandrup – heute eine Bauerschaft nördlich von Münster – durch seinen Lehnsmann Otto an den Propst Friedrich und den Konvent von Clarholz für 90 Silbermark. Dieser Otto habe sich, wie es in der vorliegenden Urkunde heisst, spontan im Beisein von Klerikern und Laien zum Verkauf des Haupthofs Sandrup entschlossen. Aus der Zeugenliste der Urkunde erfahren wir, wer diese Personen sind: Es handelt sich um die Pröpste also geistlichen Vorstände der Münsterschen Dom- und Pfarrkirchen und viele Vertreter des örtlichen Adels. Wir können also von einem feierlichen Rahmen ausgehen!  Gegen einen allzu spontanen Entschluss spricht auch, dass die vom Verkauf mittelbar betroffenen Erben des Otto diesem Rechtsgeschäft zugestimmt haben.

Zu den 90 Mark: Hierbei handelt es sich um eine Rechengröße und nicht um geprägtes Geld, wobei eine Mark gut 233 gr. Silber entsprichen. 90 Mark sind also gut 20 kg Silber, im 14. Jh. entspricht das einem Gegenwert von 360 Schweinen. Jochen Ossenbrink hat in seiner Wirtschaftsgeschichte des Klosters ausgerechnet, dass Propst Friedrich in seiner Amtszeit insgesamt Güter für 462 Mark (fast 110 kg Silber) angekauft hat – Geld das als Stiftung vom landsässigen Adel oder als Eintrittsgeld von den Novizen in die Kasse gekommen sein muss.

Bemerkenswert ist, dass für die Beurkundungen jeweils der Münstersche Bischof Hermann II. gewonnen werden konnte, der auf diese Weise das Clarholzer Stift förderte.  Es erstaunt deshalb besonders, dass der genannte Bischof in der unmittelbaren Nachbarschaft das Zisterzienser-Kloster Marienfeld mit begründet und ausgestattet hat, das durchaus mit den Prämonstratensern in Clarholz um fromme Stiftungen konkurrierte. Der prominente Rahmen, in dem die Beurkundungen stattfanden, diente sicher einerseits der Rechtssicherung. Wer hätte dem Wort dieser versammelten Zeugen widersprechen wollen? Andererseits stellte es einen hohen Gunsterweis dar, dass der Bischof sein Siegel unter das Rechtsgeschäft setzte und dafür auch noch einen Großteil seines Münster’schen Beraterkreises einbestellte.

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/1028

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Arbeit für BettlerInnen – Spendenaktion des Verein Goldenes Wiener Herz

Nur noch wenige Tage läuft die Spendenaktion des Verein Goldenes Wiener Herz, der kommenden September und Oktober in Wien Menschen anstellen möchte, die bislang aufs Betteln angewiesen waren und als PromoterInnen Aufklärungsarbeit leisten sowie gegen die Bettelverbote arbeiten. Ab 20 Euro ist man mit dabei, surfet also hin und spendet!

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/964898845/

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Radio Dispositiv mit Richard Schuberth

Sehr schön, Herbert Gnauer hat für die von Radio Orange gestern ausgestrahlte Folge von Radio Dispositiv ein Gespräch mit Richard Schuberth geführt:

Das neue Wörterbuch des Teufels – Sommerschluss mit Richard Schuberth

Neben Dramen, Drehbüchern und Prosa aller Art verfasst Richard Schuberth besonders gerne Aphorismen. Jüngst hat er in Nachfolge von Ambos Bierce Klassiker 'Das neue Wörterbuch des Teufels' herausgebracht. Auch in seinen '30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus' spielt der Aphorismus naturgemäß eine zentrale Rolle, hat Kraus doch wesentlich zu seiner Anerkennung als Kunstform beigetragen. Ausgehend von diesen beiden Büchern nimmt das Studiogespräch seinen Lauf.


Download: http://cba.fro.at/266760

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/963788161/

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Gegen Belgier, Engländer und Franzosen

(Von Werchter nach Brüssel, Assche und Berchem) Bisher haben wir von den ersten Erlebnissen unserer drei Bataillone auf dem belgischen Kriegsschauplatz gesondert berichtet, da jedes zunächst seinen Weg allein suchen mußte. Sehen wir jetzt, wie sie sich wieder zum Regimentsverbande zusammenfanden. Bald nachdem das II. Bataillon die belgischen Vortruppen durch seinen Angriff aus Werchter vertrieben hatte (am 26. August morg.), wurde von Radfahrern und Husarenpatrouillen der Anmarsch starker feindlicher Kolonnen aus zwei verschiedenen Richtungen gemeldet. Daraufhin beschloß Major Mansfeld, erst den Anschluß an das […]

Quelle: http://sdvigpress.hypotheses.org/150

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Arbeit mit Genealogischen Quellen: Ein Erfahrungsbericht zur Transkription einer Abgabenliste des Stiftes Asbeck

 

Unsere kleine Sommerserie zu den genealogischen Quellen erfährt hier eine Ergänzung. Was macht man, wenn man eine  Quelle im Archiv findet? Wie geht man vor? Die Höhen und Tiefen in diesem Bereich erläutert anschaulich der Text der beiden  Studenten Richard Lüdicke und Simon Schneider, die hier bei uns im LWL-Archivamt eine solche Quelle fanden.

Von Malter, Ergänzungen und falschen Signaturen – ein Erfahrungsbericht zur Transkription einer Abgabenliste des Stiftes Asbeck (von Richard Lüdicke und Simon Schneider)

 

Coe.H_5_VorderseiteEine institutionsübergreifende Zusammenarbeit zwischen Universität und Archiv ist ein in der freien Forschungswildbahn viel zu selten zu beobachtendes Schauspiel. Studenten und Archivare findet man leider noch zu selten im gleichen Habitat. Wie kann man nun diese beiden Spezies zusammenzuführen, die Studierenden an der Expertise der Archivare teilhaben lassen und schließlich mit den handgeschriebenen Quellen in Kontakt bringen? Im Rahmen einer Transkriptionsübung mittelalterlicher Quellen bei Prof. Dr. Sita Steckel, Juniorprofessorin an der WWU Münster mit einer innigen Vorliebe für mittelalterliche Handschriften, kam ein kleines Projekt zu Stande. Es ging darum, eine Abgabenliste des Zehntes des Stiftes Asbeck (Kreis Coesfeld) aus dem späten 13. Jh. zu transkribieren. Bereit gestellt wurde besagte Liste freundlicherweise als Scann durch Dr. Antje Diener-Staeckling, Referentin im Archivamtes in Münster, das u.a. im Rahmen der Übung besucht wurde. Dieser Herausforderung stellten sich also die Studierenden Simon Schneider für die Vorderseite und Richard Lüdicke für die Rückseite der Liste. Es gelang ihnen, den Text der Quelle nahezu vollständig zu erfassen und sämtliche Abkürzungen aufzulösen, lediglich die Eigennamen der abgabenpflichtigen Höfe, einige Stellen mit Radierungen und die sehr kleinen, zwischen den Zeilen hinzugefügten Nachträge bereiteten Probleme.

Nach einer gewissen Recherche gelang es, das mittelalterliche Wirtschaftsvokabular und damit den Inhalt der Quelle zu erschließen. Besondere Probleme bereitete dabei das im klassischen Latein nicht vorhandene Wort „malcium“ für die mittelalterliche Maßeinheit „Malter“ (ca. 12 Scheffel). Als besonders wertvoll erwies sich dabei die Dissertation von Heinz Gobel von 1997: „Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Datenverarbeitung bei der Erschließung historischer Quellen am Beispiel der Entwicklung des Grundbesitzes und der Abgaben des Stiftes Asbeck.“ Über diesen Titel wurden die Studierenden dann aber leider auf eine bereits 1907 von Franz Darpe im sechsten Band des „Codex Traditionum Westfalicarum“ edierte Version der Quelle aufmerksam. Damit wurde eine angedachte, mögliche Veröffentlichung der Ergebnisse hinfällig.  Ein Vergleich der eigenen Arbeit mit der Edition ergab aber dennoch einige interessante Verwicklungen. Darpe hat 1907 nicht die seit der Übernahme des Stiftsarchives 1805 durch die Wild- und Rheingrafen von Salm-Horstmarsch bis heute übliche neue Signatur verwendet, sondern die alte Stiftssignatur, die noch auf dem Dokument selbst vermerkt war. Dadurch musste die Edition zunächst im Verborgenen schlummern, ehe sie, geweckt mit Hilfe der Dissertation, wieder ihre Bestimmung als aufbereitete Gebrauchsvariante der Abgabenliste erlangen konnte. Die Studierenden konnten auch feststellen, dass Darpe getreu der Umkehr des Mottos „aus den Augen, aus dem Sinn“, also, „aus dem Sinn, aus den Augen“, nur das ediert hat, das für ihn auch Sinn ergeben hat. Auch wenn er damit vieles erfasst hat, so gehen doch zahlreiche zusätzliche Informationen, besonders unterhalb des eigentlichen Haupttextes der Vorderseite, in der Edition verloren.

Diese Nachträge können einerseits zeitlich erst später hinzugekommene Zehnteinkünfte und damit sonst nicht überlieferte Einnahmequellen darstellen. Andererseits geben sie über die Veränderung der Namen der einzelnen Güter Aufschluss: So wurde beispielsweise das „alta domus“ im Kirchspiel Coesfeld später „Hosekink“ (oder ähnlich) genannt, was aus Darpes Edition nicht hervorgeht. Diese Erfahrungen verdeutlichen, dass man den Quelleneditionen besser mit einem gewissen Misstrauen begegnen sollte, ein Blick auf das Original auf jeden Fall nicht schaden kann. Momentan arbeiten viele Archive emsig wie die Bienchen an der Digitalisierung ihrer Bestände, sodass ein kurzer Abgleich mit dem Original deutlich unkomplizierter möglich ist – wenn denn die Edition zur Quelle die richtige Signatur führt.

 

 

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/1005

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Seiferts Seidenkleid

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Jaroslav Seiferts Gedichtband „Samá láska“ („Lauter Liebe“) erschien 1923 in dem Prager linksorientierten Verlag „Večernice“ von Vortel und Rajman.

Die Osteuropasammlung der Bayerischen Staatsbibliothek besitzt ein bemerkenswertes Exemplar dieser Erstausgabe (BSB-Signatur: Res/81.91489).

Das ursprünglich broschierte Büchlein ist mit einem buntgemusterten Seideneinband versehen, das Originaldeckblatt ist hinten mit eingebunden.

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Ebenfalls hinten mit eingebunden ist ein Doppelblatt mit einem handgeschriebenen Gedicht aus der Feder von einem biographisch nicht näher fassbaren Dr. Josef Šebek. Es ist in roter und schwarzer Tinte ausgeführt und als „Komunistický manifest pracujích žen“ („Kommunistisches Manifest arbeitender Frauen“) überschrieben.

4Der Text dieses „Manifests“ persifliert expressis verbis jenes Paradestück Seifertscher proletarischer Poesie -  die Gedichtsammlung „Samá láska“ – dem es im Fall der vorliegenden Erstausgabe gleichsam einverleibt ist.

Wenn es denn wahr ist, was Šebek in der Schlussanmerkung zu seinem Spottgedicht mitteilt, geht die Persiflage allerdings weit über den Text hinaus – sie wird gewissermaßen stofflich: Das „Manifest“ hätte nämlich im Literaturwettbewerb einer renommierten Prager Textilienhandlung zu Weihnachten des Jahres 1923 Seide im Wert von 200 Kronen gewonnen. Aus der Seide sei ein Kleid für seine kleine Tochter Šárka geschneidert und in einen übrig gebliebenen Rest Stoff dann Seiferts „Samá láska“ samt den sie persiflierenden preisgekrönten „Versen“ von deren Autorenhand  – zum Andenken! – eingebunden worden.

5Der raffinierte, ja perfide Spott des zweifellos lustigen Herrn Dr. Šebek hinderte seine Tochter keineswegs daran, den Dichter Seifert zu lieben. Wie aus diversen mit Bleistift – vermutlich vom Vater und, später, der erwachsenen Tochter – geschriebenen Bemerkungen hervorgeht, war sie es, die das Bändchen (eventuell samt dem dazu passenden Kleidchen) zu ihrem 11. Geburtstag bekam. Sie war es, die daraus auf einer Weihnachtsfeier  des Jahres 1926 oder 1927 das „Neujahrsgedicht“ („Báseň k Novému roku“) vortrug. Und sie war es, die am 21. Januar 1986 bei plus 10 Grad mit dem Hund Heidi und diesem Buch auf dem Prager Laurenziberg saß – am Tag von Seiferts Begräbnis.

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Jaroslav Seifert selbst signierte auf dem Titelblatt am 18. Oktober 1930.

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Filip Hlušička

 

 

Quelle: http://ostbib.hypotheses.org/535

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Marc Bloch Prize für Masterarbeiten zu europäischer Geschichte, 15.-21. Jahrhundert

Das Department of History and Civilization des European University Institute schreibt zum vierten Mal den mit 3000 Euro dotierten Marc Bloch Prize in Early Modern and Modern European History (15th-21st centuries) aus, der an MA-Arbeiten vergeben wird, deren VerfasserInnen ihren akademischen Grad 2013 oder 2014 verliehen bekommen haben; die Arbeiten können in jeder europäischen Sprache verfasst sein, Deadline ist der 1.11.2014. EUI-Angehörige sind ausgeschlossen.

Infos auch in diesem PDF: Marc-Bloch-Prize-2015 (pdf, 1,075 KB)

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/949243545/

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Scheinwelten und Publikationsverbot

Portraitfoto Ludwig Rauch
Porträtfoto Ludwig Rauch

Porträtfoto Ludwig Rauch

Schwitzende Werkarbeiter in der DDR, Menschen im Porträt, Bilder als kombinierte Triaden, die ihnen einen neuen Sinn geben – die aktuelle Werkschau des Berliner Fotografen Ludwig Rauch erzählt im Cottbusser Dieselkraftwerk Geschichte und Geschichten. Es geht um die DDR, um Menschen und ihre Biografien: sichtbar gemacht in Porträts und Serien. Das Altern, der Tod und vor allem das Leben sind Motive in Rauchs Werkschau, die er unter dem Titel Noch ein Leben zusammenfasst. Auf drei Etagen begegnen die Ausstellungsbesucher unterschiedlichsten Arbeiten, die auf teilweise überraschende Weise zusammengehören.

Vom 19. Juni bis zum 2. November 2014 ist die Ausstellung in der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg zu sehen.

 

In einem Interview mit zwei Berliner Studentinnen spricht Ludwig Rauch über seine Arbeit in der DDR, über Flüchtlinge im Libanon und seine beruflichen Visionen.

Meike Dreckmann und Maja Schubert: Herr Rauch, als Studierende des Masterstudiengangs Public History beschäftigen wir uns an der Freien Universität Berlin u.a. mit Theorien und Methoden der Visual History. Bilder können demnach in der Geschichtswissenschaft sowohl als Quellen als auch als eigenständige Objekte der historischen Forschung betrachtet werden. Wie können Ihre Bilder zur Geschichtsvermittlung genutzt werden?

Ludwig Rauch: Sehr vielfältig. Es gibt natürlich aus historischer Sicht eine ganze Reihe von Aufnahmen, die unwiederbringlich sind. Diese Fotografien zeigen Ausschnitte aus der Wirklichkeit, die man sowohl zur Forschung heranziehen als auch ästhetisch betrachten könnte. Und das kann durchaus auch tiefer ausgelotet werden. Es gibt eine ganze Reihe von Bildern, an denen man sehen kann, wie die Verhältnisse an diesem Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt waren. Anhand dieser Bilder lässt sich eine ganze Reihe von Fragen stellen.

Berlin, Checkpoint Charlie, 9. November 1989

Berlin, Checkpoint Charlie, 9. November 1989

M.D. und M.S.: Die Bilder stellen Fragen, aber können sie auch erklären?

L.R.: Das ist schwierig. Vielleicht ist es eine Mischung aus Herz und Verstand. Ein gutes Bild spricht mehrere Sinne an, sowohl über das Sehen als auch über das Nachdenken. Die Fotografie birgt in sich die Möglichkeit einer hohen Authentizität, es ist dabei jedoch immer entscheidend, wer hinter der Kamera steht. Wie authentisch Bilder beispielsweise aus der Kriegsberichterstattung sind, aus Krisengebieten, da muss man sich zum Teil auf den Fotografen verlassen, der diese Bilder gemacht hat.

M.D. und M.S.: Wo beginnt für Sie die Manipulation von Bildern? Wenn man als Fotograf auswählt, welche Menschen oder Momente man zeigen möchte, die Anordnung der Menschen eventuell verändert – ist das Manipulation?

L.R.: Auf eine gewisse Weise ist es Inszenierung. Natürlich wird in dem Moment eingegriffen, in dem ich als Fotograf festlege, von wo aus ich das Bild mache und was ich darauf haben möchte. Insofern ist es mein Bild und meine Verantwortung, daraus ein gutes Foto zu machen, und fernab davon, manipulativ zu sein. Für mich wäre es aber eine Manipulation, zu sagen: „Du nicht“, oder jemand anderen dazu zu nehmen, beispielsweise drei hübsche Mädchen aus der Kantine, um das Bild der dreckigen Brigadearbeiter etwas anderes aussagen zu lassen. Das hat es ja in der DDR durchaus gegeben.

Es gab heftige Diskussionen über das World Press Photo des Jahres 2012.[1] Der Fotograf hat die Lichtverhältnisse verändert und damit die Szene dramatisiert. Er hat aber nichts an der Grundaussage des Bilds verändert. Lichtsituationen wurden in der Fotografie schon immer verstärkt. Früher wurden beispielsweise Gelbfilter vor die Linse geschraubt, um den Himmel schwarz und die Wolken weiß erscheinen zu lassen.

M.D. und M.S.: Die Veränderung der Lichtverhältnisse kann ja auch zu einer Emotionalisierung der Bilder führen, die vorher so nicht gegeben war.

L.R.: Genau. Es existiert keine Definition, ab welchem Moment das Bild eine neue Aussage bekommt. Aber Sie können davon ausgehen, dass mehr oder weniger jedes Bild, das Ihnen in gedruckter Form begegnet, bearbeitet ist.

M.D. und M.S.: Auf Ihre Fotografien der Brigade Karl Marx reagierten die Verantwortlichen in der DDR mit einem generellen Publikationsverbot für Sie. Haben Sie damit gerechnet? Wie haben Sie darauf reagiert?

Ost-Berlin, Brigade Karl Marx, 1986

Ost-Berlin, Brigade Karl Marx, 1986

L.R.: Ich konnte es mir nicht vorstellen, ich war völlig verwirrt. Ich hatte mir aus meiner Sicht die allergrößte Mühe gegeben, die Arbeiter der Brigade Karl Marx so darzustellen, wie sie sind – mit ihrer Würde, der schweren Arbeit, die sie haben. All das habe ich versucht, in den Bildern auszudrücken, und ich hatte auch das Gefühl, eine gute Arbeit geleistet zu haben. Dementsprechend war ich entsetzt, als mir gesagt wurde, dass die Bilder nicht veröffentlicht werden. Auf der anderen Seite hatte ich ja schon genügend Erfahrungen mit diesem Staat gemacht, die mich hatten aufhorchen lassen. Aber das hat dem Fass den Boden ausgeschlagen. Natürlich war das für mich auch deshalb eine sehr schwierige Situation, weil mir als Fotograf von einer Minute zur anderen die Möglichkeit entzogen wurde, Geld zu verdienen.

M.D. und M.S.: Wie haben Sie dann bis 1989 Ihr Geld verdient?

L.R.: Ich habe für viele Künstler Reproduktionen gemacht. Und dann hatte ich Kontakt zu einer Agentur in Westdeutschland, für die ich heimlich gearbeitet habe. Das kann man alles in meiner Stasi-Akte nachlesen, die sehr umfangreich ist. Die Jungs haben das leider alles gewusst, was mir nicht klar war. Aber ich habe mehrere Jahre die DDR fotografiert. Die Filme wurden dann bei mir abgeholt und in Westdeutschland entwickelt. Erst später habe ich gemerkt, dass damit ganze Bildbände herausgegeben wurden. Meine erste Doppelseite im „Stern“ hatte ich 1986, ohne dass ich davon wusste.

M.D. und M.S.: Das hat die Stasi nicht unterbunden?

L.R. Sie wollten es. Ich wurde sehr intensiv bespitzelt. Aber da sind ganz kuriose Dinge passiert, das ist heute schon etwas lächerlich. Mein Kontakt zu der westdeutschen Agentur lief über eine Telefonzelle, und aufgrund der schlechten Tonqualität konnte die Stasi meine Stimme nicht einwandfrei zuordnen. Aber es war fürchterlich, weil mehrfach versucht wurde, mich zu einer Zusammenarbeit zu zwingen. Das habe ich aber abgelehnt.

M.D. und M.S.: Auf so eine Verweigerung wurde ja auch häufig mit einer Festnahme und U-Haft reagiert.

L.R.: Das war als Maßnahme vorgesehen. Man wollte mir dann die Pistole auf die Brust setzen, so steht es in meiner Akte. Aber ich hatte 1986 mein zweites Studium in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst begonnen. Also war ich plötzlich dort, und meine Akte war noch in Berlin. Es hat gedauert, bis man das mitbekommen hat. Ich war natürlich auch ein ganz unauffälliger kleiner Fall. Es gab ja die Bürgerrechtsbewegung, Leute, die politisch viel aktiver waren.

M.D. und M.S.: Würden Sie sagen, dass Bilder wie die der Brigade Karl Marx – eines diktatorischen Staats automatisch regimekritisch sind, weil sie die Realität abbilden?

L.R.: Nein, nein. Der Mensch läuft doch nicht durch die Welt und ist jede Sekunde lang gepeinigt vom Regime. Der normale Mensch lebt sein Leben, egal, wo er ist, und er versucht so gut, wie es ihm irgendwie möglich ist, sich und seine Familie zu ernähren und voranzukommen. Und wenn die Bilder das zeigen, sind sie nicht automatisch regimekritisch. Wenn ich aber sage: „Ja, wir leben in einem tollen Land. Uns gehts allen gut, wir haben alle Arbeit, wir sind alle gesund, wir machen alle alles richtig“  das kann nicht stimmen. Das stimmt ja nirgendwo.

Ost-Berlin, Prenzlauer Berg, 1989

Ost-Berlin, Prenzlauer Berg, 1989

M.D. und M.S.: Noch eine Frage zu Ihrem Publikationsverbot: Hätten Sie die Bilder noch einmal gemäß den genauen Vorstellungen der Partei aufgenommen? Auch in Hinblick auf den finanziellen Druck, unter dem Sie standen?

L.R.: Niemals. Nie. Das hätte ich nicht nur, das habe ich auch abgelehnt. Bessere Bilder hätte ich nicht machen können. Und wer die nicht haben will, hat eben Pech gehabt. Finanziell konnte man in der DDR nicht wirklich unter Druck gesetzt werden. Man brauchte zum Überleben nicht allzu viel. Essen zu kaufen und ein Dach über dem Kopf zu haben, war mit so wenig Geld möglich. Insofern war man da eigentlich nicht korrumpierbar. Ein bisschen anders als heute.

M.D. und M.S.: Was würden Sie fotografieren, wenn Sie vollständig unabhängig wären?

L.R.: In den nächsten Jahren würde ich mich gerne mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigen; ich könnte mir auch eine größere Arbeit dazu in Zusammenarbeit mit verschiedenen internationalen NGOs vorstellen.

M.D. und M.S.: Was hat Sie dazu bewogen?

L.R.: Es ist für mich unerträglich, wie wir mit diesem Thema umgehen. Nur ein Beispiel: Im Libanon leben vier Millionen Libanesen. Und innerhalb von zweieinhalb Jahren sind eine Million Flüchtlinge in dieses Land gekommen. Das ist die Realität. Das kann man sich nicht vorstellen, an der Straße befinden sich dort rechts und links Flüchtlingscamps. Jeder fünfte Mensch in diesem Land ist inzwischen ein registrierter Flüchtling mit vielen Kindern, die alle keine Schulausbildung erhalten. Ich bin mit einer wirklich großen Anzahl an interessanten Bildern nach Deutschland zurückgekommen. Ich habe die Bilder dem „Stern“ angeboten, der „Zeit“ angeboten, der „Süddeutschen“, der „FAZ“, und alle haben abgelehnt: „Ach, das hatten wir gerade erst schon.“ Als sich unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor kurzem in diesen Flüchtlingscamps umsah, konnten wir dann „schöne Bilder“ in den Medien sehen. Dabei ist mir klar geworden, worüber wir berichten: immer nur über Ausgewähltes. Wir gehen den Sachen nicht nach, und vielleicht sind die Bilder eine Möglichkeit, ein Stück von dieser Wahrheit zu zeigen. Ob es funktioniert, weiß ich nicht. Aber jedenfalls habe ich mir vorgenommen, mein Augenmerk wieder mehr auf solche Themen zu richten und den schönen blühenden Baum für sich blühen zu lassen. Der muss ja nicht unbedingt noch mal fotografiert werden.

M.D. und M.S.: Gibt es noch jemanden, den Sie gerne einmal fotografieren würden und den Sie bisher nicht vor die Linse bekommen haben?

L.R.: Gerhard Richter. Ich habe ja nun viele große Künstler fotografiert, aber mit Gerhard Richter hat es bisher nicht geklappt. Ich habe aber auch merkwürdigerweise nie richtig versucht, ihn zu fotografieren, ich weiß auch nicht, warum. Es ist vielleicht schwierig, aber es gibt Bilder von ihm. Also ihn würde ich wahnsinnig gerne mal fotografieren.

M.D. und M.S.: Herr Rauch, schön, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Vielen Dank dafür!

 

Das Interview fand im Rahmen einer Übung im Sommersemester 2014 an der Freien Universität Berlin statt. Das Thema der Übung lautete Fotografie und Geschichte. Entstehung, Manipulation und Vertrieb von Bildern im 20. und 21. Jahrhundert. Die Übung ist ein Modul des Masterstudiengangs Public History an der FU Berlin und wurde von Dr. Annette Schuhmann geleitet.

 

[1] Gemeint ist das Foto des schwedischen Fotografen Paul Hansen über einen Trauerzug im Gaza-Streifen.

 

 

Ludwig Rauch, Noch ein Leben
Ausstellung vom 20. Juni bis 2. November 2014 in der Lyonel-Feininger-Galerie
Quedlinburg

 

 

Ludwig Rauch (*1960)

Von 1986 bis 1989 Studium der Fotografie bei Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst

Ab 1986 Publikationsverbot für alle „journalistischen Medien“ der DDR

1989 Übersiedlung nach Westberlin

1991 gemeinsam mit Matthias Flügge und Michael Freitag Gründung der Kunstzeitschrift Neue Bildende Kunst

Arbeiten für den „Stern“, „Tempo“, „Zeit“ und „Spiegel“

1992 Beginn der gemeinsamen Arbeit mit dem Maler Johannes Ulrich Kubiak (Kubiak & Rauch). Im Jahr 2006 beendeten Kubiak & Rauch die gemeinsame Arbeit.

Ab 2009 Dozent an der Ostkreuzschule Berlin

 

 

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/08/25/scheinwelten-und-publikationsverbot/

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Das asiatische Pressewunder

The continued resilience of Print Media in Asia. Plenary Session auf der Jahrestagung der IAMCR (International Association for Media and Communication Research), Hyderabad, 19. Juli 2014

Wenngleich ‚Resilienz‘ im Veranstaltungstitel steckt, fällt der Begriff im Lauf der 90 Minuten nur hin und wieder. Die Vortragenden bieten keine Definitionen an, allenfalls Umschreibungen wie ‚converting‘ oder ‚transisting‘. Es gibt für die rund 200 Zuhörer einiges Interessantes über den Wandel des indischen, bengalischen und chinesischen Mediensystems zu hören. Doch es bleibt vor allem die Einsicht hängen, dass es nicht nur unterschiedliche Ansichten über das Wie von Resilienz gibt, sondern vielmehr auch hinsichtlich der Frage, auf was sich der Begriff innerhalb der Printmedien überhaupt beziehen sollte.

Dr. N. Bhaskara Rao, Gründer und Chef des Centre for Media Studies (CMS) in Neu-Delhi, wird als „India’s pioneer in media research“ vorgestellt. Ihm zufolge gelte in Indien ‚Print is King‘, sowohl auf dem Leser- als auch auf dem Werbemarkt. Das Land verzeichne eine steigende Nachfrage nach Nachrichteninhalten in allen Mediengattungen. Viele neue Nachrichtenkanäle sind in den letzten zehn Jahren auf Sendung gegangen. Doch es seien die Zeitungen, deren Boom in der jüngeren Vergangenheit auf ein Schlagwort verdichtet werden könne: Regionalisierung. Der gestiegene Hunger nach Nachrichten in der jeweiligen Muttersprache lässt jenseits der führenden englischsprachigen Titel neue, regionale Absatzmärkte und auf ihnen neue Titel blühen – kein Wunder in einem Land mit über 120 Sprachen und unzähligen Dialekten. Die Zukunft seien etwa „Hindi-speaking media“. Indirekt ist der Zeitungsboom auch eine Folge von steigender Alphabetisierung und Bildung im Allgemeinen: „The more you see, the more you read“, so Rao. Für die indische Mittelschicht repräsentiere ein Abonnement auch einen gewissen Status, was Online-Medien in dieser Form nicht (oder zumindest nicht sichtbar) bieten könnten. Bei einem Leserkreis von bislang 400 Millionen Menschen und einer Alphabetisierung von rund drei Viertel der Bevölkerung gibt es noch viel Luft nach oben. Die Abwanderung der Rezipienten von Print- zu Online-Medien sei minimal und werde vom Print-Boom überkompensiert, besonders durch Erstleser, so Rao. Auch Shudipta Sharma, Dozent am Department of Communication and Journalism an der University of Chittagong in Bangladesh, bestätigt die Zugkraft der Alphabetisierung für sein Land.

Siddharth Varadarajan hat als Ex-Chefredakteur und Krisenreporter der Hindu eine etwas andere Perspektive auf den indischen Zeitungsmarkt. Er stellt fest, dass es mehr um Geschäftsmodelle gehe als um Journalismus. Jenseits des Wachstums der regionalsprachlichen Zeitungen und trotz absoluter Auflagenzuwächse sei die Situation der alten, englischsprachigen Qualitätstitel schwierig. Der niedrige Verkaufspreis habe dazu geführt, dass Zeitungen fast ausschließlich von Werbeeinnahmen und den in Indien weitverbreiteten „paid news“ abhängig seien. Aber auch fast alle Nachrichtensender würden defizitär arbeiten, Online-Medien hätten gleichermaßen bislang kein tragfähiges Geschäftsmodell gefunden, so Varadarajan. Dennoch, und für westliche Ohren ungewohnt: Print ist Indiens Werbeträger Nummer eins und vereinigt zwei Drittel der gesamten Werbeerlöse auf sich. Während Rao in der Rolle der Zeitungen als Werbeträger den zweiten großen Wachstumsmotor neben der Bildungsexpansion sieht, steht und fällt Varadarajan zufolge die Resilienz der Zeitungsverlage letztlich damit, ob sie es schaffen, ihre Stärke als verantwortungsvolle Gatekeeper auf neue Publikationsformate zu übertragen. Gleichwohl sei es nicht entscheidend, ob Nachrichten in Zukunft (auch) noch auf Papier gedruckt würden. Varadarajan, ganz Journalist: Die Tugenden des Qualitätsjournalismus – Recherche, Relevanzzuweisung, Kommentierung – müssten vielmehr erweitert werden auf Fähigkeiten im Umgang mit der Geschwindigkeit und Interaktivität von Online-Medien. Man dürfe sich also künftig noch viel weniger allein als Journalist der Printausgabe von The Hindu sehen, sondern genauso für die Website und alle anderen Ausspielkanäle verantwortlich fühlen.

Eine dritte, weit politischere Perspektive bringt Dr. Debao Xiang ein, Associate Professor an der School of International Journalism in Shanghai. Die Entwicklung von Staatsmedien zu kommerziellen und sozialen Medien habe das chinesische Mediensystem in den vergangenen 20 Jahren gekennzeichnet. Drei große Zeitungen, erst um die Jahrtausendwende gegründet, wurden in den letzten Jahren eingestellt. Dies sei aber nicht mit einem Niedergang des Journalismus gleichzusetzen. Vielmehr gehe es bei den meisten Titeln um ein erfolgreiches ‚converting‘ oder ‚transisting‘, seit China vor 20 Jahren an das Internet angeschlossen wurde. Xiang skizziert den Masterplan: Von der Regierung nach einem Parteitagsbeschluss geleitet und von Medien- und IT-Firmen umgesetzt habe sich der Wandel von Print zu Online technologiegerieben, marktorientiert und rezipientenzentriert vollzogen. Das neue Massenmedium sei Social Media, von Xiang auch als ‚new media‘, ‚grassroot media‘ oder ‚public media‘ bezeichnet. Hierzu zählen Internetdienste wie ein chinesisches Facebook, ein Messenger und RSS-Feeds der Zeitungen, mit denen sich die alten Printanbieter neu erfunden hätten. Die Online-Angebote seien nun sogar beliebter als die entsprechenden Printprodukte.

Zusammengefasst hat der Printsektor also einmal weniger (Stichwort Bildungsexpansion) und einmal mehr (Regionalisierung als Marketingstrategie, neue Onlineangebote) zur eigenen Resilienz beigetragen. Da die indischen Qualitätstitel Probleme haben und die neuen Blätter eher am Geldverdienen interessiert zu sein scheinen als an einer (wie auch immer definierten) öffentlichen Aufgabe (paid content, Abhängigkeit von Werbung und damit von hohen Reichweiten), ist zudem fraglich, ob Auflagenwachstum hier tatsächlich mit einer Resilienz des Systems Massenmedien gleichgesetzt werden kann.

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/228

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21. Jahrestagung der International TUSTEP User Group zum Thema Digitale Geisteswissenschaften: Entwicklungen und Perspektiven, 1.-3. Oktober 2014 in Amsterdam (NL)

Während die frühen Geisteswissenschaften einer hermeneutischen Perspektive folgten, um Texte und Sachverhalte zu verstehen und zu interpretieren, rückte in den frühen E-Humanities das Aufdecken von Mustern und Regelhaftigkeiten durch den Einsatz von Computerprogrammen in den Mittelpunkt. Rens Bod, Professor für Computational and Digital Humanities der Universität Amsterdam und Keynote-Sprecher der diesjährigen ITUG-Jahrestagung, fordert eine Zusammenführung der technischen Methoden und des hermeneutischen Paradigmas hin zu Digitalen Geisteswissenschaften.

Das Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen (TUSTEP) stellt einen umfangreichen, bewährten, flexiblen und stetig weiterentwickelten Werkzeugkasten zur Analyse und Verarbeitung von Texten bereit, um so die wissenschaftliche Interpretation und Präsentation zu ermöglichen. Das Interesse der International TUSTEP User Group (ITUG) gilt seit über 20 Jahren der Entwicklung und Verbreitung von TUSTEP. Dazu gehören die jährlich stattfindenden Tagungen, deren Inhalte stets über TUSTEP-bezogene Themen hinausgehen. Gastgeberin der diesjährigen Tagung ist das Eep Talstra Center for Bible and Computer an der Universität Amsterdam.

Die Organisatoren und die ITUG laden ein zur Teilnahme an der 21. Jahrestagung mit dem Rahmenthema Digitale Geisteswissenschaften: Entwicklungen und Perspektiven. Beiträge zum Rahmenthema in Form von Referaten und Werkstattberichten sind herzlich willkommen (Anmeldung bis 14. September 2014). TUSTEP-bezogene Workshops für Anfänger und Fortgeschrittene im Vorfeld der Tagung sind geplant. Nähere, ständig aktualisierte Angaben finden sich auf der Homepage der ITUG unter http://itug.de/Jahrestagung2014.html.

Dieser Text wurde zur Verfügung gestellt von Ute Recker-Hamm.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3945

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