Zugegeben, es ist merkwürdig, der Unlust oder dem Unbehagen etwas Positives abzugewinnen. Eigentlich ist es doch gerade so, dass wir alles daran tun, diese Art der Unlust zu vermeiden. Denken Sie nicht auch? “Keine Lust, Ärger zu kriegen, ich parke doch lieber nicht mitten auf der Landebahn”, sagen die einen. Die anderen sagen: “Ich habe keine Lust aus dem Bett aufzustehen, sondern behalte lieber den Status der Lust bei, den ich gerade empfinde.”
Erinnern Sie sich an die Geschichte vom Schlaraffenland? Alle Gemälde bringen das Problem dieses Landes auf den Punkt: Die Leute haben alles, was sie brauchen, und liegen eigentlich nur rum. Keiner verspürt die Last der Unlust. Es scheint doch so zu sein, dass die Unlust einen gewissen Antrieb in uns weckt, sie zu vermeiden, oder sie los zu werden. Nicht? Der Status des Unbehagens verlangt eben der Veränderung. Wenn wir gemütlich im Bett liegen und keine Lust haben aufzustehen, wird die stärkere Unlust, die vom Gedanken an den angelassenen Herd ausgeht, uns schon zum Aufstehen bringen.
Irgendwie scheint die Unlust auch etwas Unerfülltes zu sein. Das wird eben auch besonders in Bezug auf Nahrung deutlich. Das unangenehme Gefühl des Hungers treibt uns dazu an, etwas zu Essen zu besorgen, den unerfüllten Status des Hungers zum erfüllten der Sättigung zu verändern. Nun gibt es eine ganze Menge an unvollendeten Statûs (mit langem u). Hunger ist nur einer davon. Das unaufgeräumte Zimmer ist es ebenfalls, gehört aber einer anderen Kategorie an, weil es kein körperliches Bedürfnis ist. Wieder anders verhält es sich mit selbstgesetzten Zielen, also mit eigenen Willensausrichtungen: Ich will mein Abitur machen, aber die fünf in Mathe lässt ein starkes Gefühl der Unlust oder des Mangels oder der Angst in mir erwachen, weil die Erfüllung meines gewählten Zieles gefährdet ist.
Wenn wir also nur Nahrung, Sexualtirieb und Schlaf betrachten würden, dann wäre das Schlaraffenland the place to be. Aber als Menschen können wir uns eben selbst Ziele setzen, die über unsere körperlichen Bedürfnisse hinaus gehen: Wir können beispielsweise das Ziel wählen, Olympiasieger zu werden oder alle Primzahlen auswendig zu lernen, oder der beste Blogger des Universums zu werden. Und mit der Wahl dieser Ziele und dem Status, sie nicht oder noch nicht erreicht zu haben, stellt sich ein Unlustgefühl ein, das uns antreibt.
Manche Menschen, die einmal zwei Wochen Urlaub in einem entfernten Land gemacht haben, sagen, man müsse zufrieden mit dem sein, was man hat, und verbeugen sich meist auch noch einmal nach dieser Feststellung. Wenn sie meinen, wir müssen die Unlust, die wir empfinden, wenn wir keine ausgefallenen Speisen aufgetischt bekommen, ignorieren oder abstellen, dann stimme ich Ihnen zu. Wenn Sie aber meinen, wir sollten die selbstgesteckten Ziele, die über die rein körperlichen Bedürfnisse hinausgehen, abstellen, dann stimme ich Ihnen nicht zu. Wir wollen schließlich nicht das Leben einer Gurke leben (Sie erinnern sich an Aristoteles’ und die Artgerechte Haltung?).
Jedenfalls scheint Unlust wegen körperlicher Bedürfnisse oder selbstgewählter Ziele gar nicht einmal so schlecht zu sein, sondern treibt irgendwie an, einen Status zu verändern.
Jetzt gibt es aber auch den Fall, dass jemand sowohl Abitur machen will, als auch Lust verspürt, Mathematik zu machen (ist wirklich nur eine Annahme, sowas gibt es in Wirklichkeit nicht). Ebenso macht ja auch das Essen Spaß, bevor wir gesättigt sind, oder? Und jemandem zu helfen, kann auch Spaß machen. Wäre es daher nicht viel besser, nicht ständig von Unlust oder Unbehagen angetrieben zu werden, sondern bei allem, was man tut, diese Lust zu empfinden? Also sowohl die Tätigkeit zu mögen, als auch den daraus resultierenden Status oder das Ziel? Ist es nicht peinlich, nur von der Unlust angetrieben zu werden, wie ein müdes Pferd, das einen Wagen ziehen muss? Also ständig nur zu berechnen, was weniger Unlust bringt? Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten:
“Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der Unlust wegen unterlassen wir das Gute. Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung” (Aristoteles’ Nikomachische Ethik 1104 b 9-14).
Lust und Unlust zu empfinden, ist keine Konstante, sondern, so Aristoteles, sie lassen sich erziehen. Und am schönsten wäre es demnach, gute Dinge zu tun und dabei Lust zu verspüren, oder?
“Als ein Zeichen der Charakterhaltung muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten. Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hieran Freude hat, ist mäßig, wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos. Und wer Gefahren besteht und sich dessen freut oder wenigstens keine Unlust darüber empfindet, ist mutig, wer aber darüber Unlust empfindet, ist feige” (Aristoteles’ Nikomachische Ethik 1104 b 4-8).
Schöner als von der Unlust angetrieben zu sein und immer nur zu kalkulieren, was weniger Unlust bringt, ist es doch, bei den richtigen Tätigkeiten Lust zu verspüren, die uns damit ebenfalls antreibt, oder?
Irgendwie gefällt mir der Gedanke schon. Aber glauben Sie tatsächlich, dass der Mensch so “formbar” ist? Oder denken Sie, dass die Empfindung von Lust und Unlust in gewissen Situationen beispielsweise im menschlichen Genom festgeschrieben stehen und unveränderlich ist? Wir brauchen einen Humanbiologen oder einen Genetiker, schnell!! Schnell! Ich habe Lust auf eine Diskussion!
Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/262