Review: 3. Alfried Krupp-Sommerkurs für Handschriftenkultur an der Universitätsbibliothek Leipzig (8.-14.9.2013)

Renaissance der Sommerkurse

Wenn sich der Sommer und die Vorlesungszeit ihrem Ende entgegen neigen, beginnt für den akademischen Nachwuchs die Zeit der Sommerkurse. Gerade im Bereich der mediävistischen Hilfswissenschaften scheint sich diese Form der Fortbildung zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, wie zwei unlängst auf diesem Portal erschienene (und sehr positive) Erfahrungsberichte vermuten lassen.

Auch die Universitätsbibliothek Leipzig bietet seit drei Jahren Sommerkurse für Handschriftenkultur an, deren Realisierung sich der großzügigen Förderung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (kurz: Krupp-Stiftung) verdankt. Ein Kurs zur mittelalterlich-abendländischen Handschriftenkunde konnte vom Handschriftenzentrum der UB Leipzig im September diesen Jahres in Zusammenarbeit mit dem Mediävisten-Verband zum zweiten Mal stattfinden .

Diese zunehmende Häufung solcher Kursangebote hat dabei nicht etwa zu einem redundanten Überangebot geführt, im Gegenteil: Das Panorama der handschriftenzentrierten Sommerkurse in Deutschland erscheint durch eine jeweils eigene Schwerpunktsetzung erfreulich bunt.

Von eher inhaltlich orientierten Kursangeboten, etwa dem Sommerkurs in Wolfenbüttel, reicht die Palette über im klassischen Sinne hilfswissenschaftliche Fortbildungsangebote, wie den kürzlich rezensierten Münchner Sommerkurs, bis zum umfangreichen Lehrgang SCRIPTO (und diese Liste ließe sich sicherlich beliebig fortsetzen). Sommerkurse bieten damit damit zunehmend eine notwendige und sinnvolle Ergänzung zum Curriculum an den Universitäten, an der die historischen Grundwissenschaften ja bekanntermaßen im Schwinden begriffen sind.

Handschriftenkultur im Fokus

Auch der Leipziger Sommerkurs unter der Leitung von Dr. Christoph Mackert hat einen ganz eigenen Zugang und Schwerpunkt gewählt und damit mit den Worten des Kursleiters „ein Experiment gewagt“, das meiner Ansicht nach durchaus geglückt ist. Ein weiterer – nunmehr dritter – Erfahrungsbericht auf diesem Blog scheint daher durchaus gerechtfertigt.

Die „Leipziger Schule“ zeichnet sich dabei durch einen fast schon holistischen Ansatz aus, der nicht nur einzelne Aspekte der Handschriftenkunde in den Blick nimmt, sondern sich im Grunde der Handschriftenkultur des Mittelalters als Ganzes widmet. Neben einer inhaltlichen Erschließung dieses breiten Feldes liegt eine Besonderheit des Kurses in der umfangreichen und (angeleitet) selbstständigen Arbeit der Teilnehmer mit dem Originalmaterial, den Handschriften. Thematischer Schwerpunkt des diesjährigen Kurses war vor allem der Bereich der Musikpaläographie und Liturgie. Trotz der fundamentalen Rolle dieser Bereiche für die mittelalterliche Kultur betrat der überwiegende Großteil der Teilnehmer mit dieser Themensetzung #Neuland, ein Umstand, der sicherlich als Verdienst des Kurses zu gelten hat.

Kursprogramm

Während der erste Leipziger Sommerkurs 2011 sich als Einführung in die Bearbeitung historischer Buchbestände und das Erkenntnispotential materialbasierten Forschens verstand, richtete sich der diesjährige Kurs an fortgeschrittenere Teilnehmer, die sich im Rahmen einer Abschlussarbeit oder Dissertation bereits mit den Grundlagen der Handschriftenarbeit vertraut gemacht haben. Die Einheiten des Kurses konzentrierten sich daher weniger auf das grundsätzliche Arbeiten mit Handschriften, sondern mehr auf die inhaltliche Vertiefung verschiedener Bereiche der Handschriftenkultur des Mittelalters.

Trotzdem begann der Kurs mit einer knappen und sinnvollen paläographischen Einheit durch Prof. Gerlinde Huber-Rebenich (Universität Bern). Hier wurden die Kenntnisse der Teilnehmer aufgefrischt und gute Tipps aus der paläographischen Praxis vermittelt.

Dieser handwerklichen Einführung folgte am Dienstag ein sehr dichter inhaltlicher Einführungsteil unter dem Schlagwort „Textüberlieferung des Mittelalters“. In jeweils etwa einer halben Stunde stellten ausgewiesene Experten einen(/ihren), für die Handschriftenkultur des Mittelalters relevanten Bereich vor: zunächst Dr. Chris Wojtulewicz (King’s College London) den Bereich der Theologie; dann Prof. Susanne Lepsius (Universität München) Recht; Prof. Iolanda Ventura (Université d’Orléans) führte in das Gebiet der mittelalterlichen Medizin ein; Dr. Mackert endete mit einer Übersicht über die Artes liberales. Neben einer systematischen Einführung wurde hier vor allem die handschriftliche Praxis des jeweiligen Gebietes vermittelt.

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Chris Wojtulewicz stellt theologische Handschriften vor

Das Konzept einer halbstündigen Einführung mag vielleicht dem jeweiligen Kenner der Disziplinen als nicht ausreichend erscheinen. Für die wirklich interdisziplinäre Gruppe stellte es sich aber als hervorragend geeignet heraus, um die Teilnehmer für bislang (in unterschiedlichem Maße) fremde Disziplinen zu sensibilisieren. Dieser ganze Block war inhaltlich und zeitlich ziemlich dicht, die kurzweiligen und vor allem praxisnahen Vorträge aber noch im Bereich des Aufnehmbaren.

Während die inhaltliche Sitzung am Dienstag Bereiche behandelte, die den meisten Teilnehmern wohl irgendwie geläufig waren, so führten die Einheiten von Mittwoch und Donnerstag den Großteil von ihnen auf unbekanntes Terrain. In zwei größeren Blöcken stellten Prof. Jeremy Llewellyn (Schola Cantorum Basiliensis) und Prof. Felix Heinzer (Universität Freiburg) die mittelalterliche Musik und Liturgie bzw. die musikalische und liturgische Handschriftenkultur vor. Dieses Feld, das wohl einen der wichtigsten Bereiche der mittelalterlichen Kultur und ihrer handschriftlichen Überlieferung darstellt, wird außerhalb der jeweiligen Spezialdisziplin häufig leider nicht ausreichend vermittelt. Schnell wurde deutlich, dass dieser Umstand wohl auch in der hohen Komplexität des Materials begründet liegt.

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Jeremy Llewellyn erklärt mittelalterliche Notationssysteme

Trotzdem gelang es beiden Dozenten eine Basis zu vermitteln und vor allem Interesse zu wecken, auf das sich aufbauen lässt: Zunächst führte Jeremy Llewellyn anhand des Leipziger Thomas-Graduale in das weite Feld der mittelalterlichen Musik, vor allem aber in die Musikpaläographie ein. Dass es ihm dabei gelang, Historikern, Skandinavisten, Germanisten, Anglisten, Buchwissenschaftlern und Kunsthistorikern (und natürlich -innen) in ca. anderthalb kurzweiligen Stunden (unter vielem anderen) den Unterschied von adiastematischen und diastematischen Neumen zu verdeutlichen, spricht auch hier für die Qualität der Lehreinheiten.

 

Am nächsten Tag vermittelte Felix Heinzer die Grundlagen zur Erschließung liturgischer Handschriften und deren historischen Kontexts in Messe und Offizium in ähnlicher Weise. Musik- und Liturgiewissenschaftler wurden die Teilnehmer dadurch natürlich nicht, sicherlich konnte aber die Scheu vieler Teilnehmer vor diesen Handschriften und den mittelalterlichen Notationen genommen werden.

Als besonderes Highlight wurden diese theoretischen Einführungen am Mittwochabend durch einen Einblick in die Praxis des liturgischen Gesangs im Leipziger Thomanerkloster um 1300 ergänzt.

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Felix Heinzer und das Ensemble Amarcord

Auf der Grundlage des Thomas-Graduale interpretierte das Ensemble Amarcord den Gesangsteil einer Liturgiefeier (Kirchweih) in ihrem Ablauf. Jeremy Llewellyn und Felix Heinzer erklärten und kommentierten einem größeren Publikum die Hintergründe der liturgischen Feier und boten ergänzende Hinweise auf die priesterlichen Gebete, Lesungen und kultischen Handlungen zwischen den Messgesängen. Schon allein von der musikalischen Darbietung war der Abend ein Genuss. Übrigens schloss die Bibliotheca Albertina extra für diese Aufführung einige Stunden früher, wofür hier nochmals gedankt sein soll.

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Naumburger Chorbuch

Abgeschlossen wurde der inhaltliche Aspekt des Kurses durch eine freitägliche Exkursion nach Naumburg, wo Archivleiter Matthias Ludwig von den Vereinigten Domstiftern durch den Dom, das Archiv und die Bibliothek führte und dabei einen Einblick in eines der acht riesigen Naumburger Chorbücher gewährte.

Arbeit mit den Handschriften

Soviel zum gelungenen inhaltlichen Programm des Kurses. Meiner Ansicht nach lag die Stärke des Kurses aber vor allem in der Arbeit mit den Handschriften. Zunächst möchte ich vorausschicken, dass das Handschriftenzentrum Leipzig hierfür ideale Bedingungen geschaffen hatte. So war etwa  der Lesesaal extra für uns reserviert worden und Christoph Mackert und sein Team sowie die Dozenten waren jederzeit mit Rat, Tat und dem richtigen Hilfsmittel zur Stelle. Ich persönlich glaube, dass ich durch diese vielen Tipps und Tricks aus der Praxis am meisten gelernt habe.

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Die Handschriften werden ausgewählt

Schon im Vorfeld des Kurses bekamen alle Teilnehmer eine Objektliste der Handschriften aus den im Kurs relevanten Themengebieten. Darunter 30 liturgische Fragmente aus der Zeit vom 9./10. bis ins 15. Jahrhundert, daneben ca. 20 unterschiedlichste Codices, darunter vor allem Objekte, die bislang noch nicht tiefer erschlossen worden sind. Jeweils der halbe Tag war zur Bearbeitung der Handschriften reserviert.

Die Ergebnisse dieser Bearbeitung wurden am Ende des Kurses präsentiert. Hier konnte eigentlich jede Gruppe bislang unbekannte und überraschende Erkenntnisse für eine ihrer Handschriften oder Fragmente vorweisen, so dass die Teilnehmer nicht nur klüger, sondern vor allem um ein kleines Erfolgserlebnis reicher nach Hause gehen durften. Gerade bei der Arbeit mit dem handschriftlichen Original ist das ja nicht unbedingt selbstverständlich.

Teilnehmer und Organisation

Ein paar Worte noch zur Organisation des Kurses: Sehr positiv aufgefallen ist mir die aufwändige und gelungene Organisation des Kurses durch das Team des Handschriftenzentrums, die den Aufenthalt für die Teilnehmer so angenehm und produktiv wie möglich gestaltet haben. Auch die Nachbereitung der Kurseinheiten war durch das Bereitstellen von Materialien, Fotos und Digitalisaten hervorragend und nachhaltig.

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Hilfsmittel werden vorgestellt…

Am wichtigsten und augenscheinlichsten war aber die wirklich angenehme Atmosphäre: zum einen durch die Mitarbeiter und Dozenten, die über das übliche Maß hilfsbereit, hilfreich und offen für Fragen und Gespräche aller Art waren.

Zum anderen ist aber auch das Auswahlkonzept der Kursteilnehmer aufgegangen, bei dem großer Wert darauf gelegt wurde, möglichst viele Leute aus unterschiedlichen Fächern und Universitäten zusammenzubringen. Diese interdisziplinäre Heterogenität der Gruppe mit den jeweils sehr unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer war aus meiner Sicht ein großer Gewinn für den Kurs.

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… und gewälzt

Zusammenfassend hat das Team des Handschriftenzentrums mit dem diesjährigen Sommerkurs unter großem Einsatz ein beeindruckendes Programm auf die Beine gestellt und dabei für eine so freundliche Atmosphäre gesorgt, die nicht nur das Arbeiten und Lernen gefördert, sondern auch den persönlichen Austausch der Teilnehmer über Fachgrenzen hinweg ermöglicht hat (sowohl während als auch nach dem täglichen Kursprogramm).

Und zu allerletzt noch eine Anmerkung zur Förderung des Kurses durch die Alfried-Krupp-Stiftung. Gerade beim wissenschaftlichen Nachwuchs ist die finanzielle Situation ja durchaus sehr unterschiedlich, ebenso die Reise-, Unterkunfts- und Teilnahmekosten eines solchen Kurses. Der Alfried-Krupp-Stiftung ist es zu verdanken, dass durch die Übernahme all dieser Kosten die Teilnahme am Sommerkurs keine Frage des eigenen Geldbeutels oder Projektbudgets war, was eine Besonderheit des Leipziger Kursangebots darstellt. Ich bin mir nicht sicher, ob Handschriftenkurse bei Stiftungen grundsätzlich oberste Förderpriorität besitzen, ich hatte aber auf jeden Fall den Eindruck, dass das Geld, zumindest am Ertrag des Kurses gemessen, gut angelegt war.

Ich persönlich konnte für mein Dissertations-Projekt viel mitnehmen und fühle mich nun relativ gut auf die Arbeit mit den Handschriften vorbereitet. Dass darüber hinaus auch sehr nette persönliche und „berufliche“ Kontakte entstanden sind, rundet das Bild des Leipziger Sommerkurses nur ab, den ich nachdrücklich jedem Mediävisten empfehlen kann.

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Abschlussfoto

Fotos: Handschriftenzentrum der UB Leipzig

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2644

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Netzwerk Jüdische Geschichte digital

Netzwerk Jüdische Geschichte digital

Die AG Digitale Geschichtswissenschaft besteht nun schon seit über einem Jahr und leistet einen wichtigen Beitrag zur fachinternen Diskussion über die Auswirkungen und Herausforderungen der Digitalisierung. Seit einigen Monaten existiert innerhalb der AG auch das Netzwerk Jüdische Geschichte digital.

Die Idee für seine Gründung geht unter anderem auf die Konferenz „Jüdische Geschichte digital“ zurück, die im Juni 2013 am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg stattfand. Die Konferenz verdeutlichte, dass es zwar bereits eine Vielzahl von Projekten und digitalen Angeboten im Bereich jüdische Geschichte gibt, die Vernetzung und der Austausch untereinander aber oftmals noch zu kurz kommen. Der Tagungsbericht kann hier abgerufen werden.

Vor diesem Hintergrund versteht sich das Netzwerk Jüdische Geschichte digital als ein loser Verbund zum Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit der Erstellung digitaler Projekte befasst sind, sich mit Fragen digitaler Geschichtsvermittlung oder allgemein der Digital Humanities im Kontext jüdischer Geschichte auseinandersetzen.

Neben Erfahrungen bei der Erstellung digitaler Angebote soll die Diskussion über methodische und inhaltliche Veränderungen im Fach jüdische Geschichte angeregt werden. Ebenso kann das Netzwerk dazu dienen über neue Projekte oder interessante Veröffentlichungen zu informieren und auf relevante Veranstaltungen hinzuweisen.

Bei Interesse können Sie dem Netzwerk hier beitreten. Wir freuen uns auch über Vorschläge und Anregungen!

Quelle: http://digigw.hypotheses.org/449

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Politik und Agitation im Film: The Big Road 大路 (1934)

Dàlù 大路 ['The Big Road", "Breiter Weg"] von Sun Yu 孫瑜 entstand 1934, in der ersten Phase des Krieges gegen Japan.Der Film, in dem  Jin Yan and Li Lili die Hauptrollen spielen, verbindet lyrische Darstellung mit sozialen und politischen Themen. Der Film kommt ohne Dialoge aus, doch die Akteure singen bei der Arbeit am Straßenbau. Die besonderen Bildsprache soll in einer Zeit, in der der Krieg immer größere Teile Chinas erfasst, Mut machen und den Glauben an die Zukunft festigen[1].

The Big Road (1934)

The Big Road (1934)
Internet Archive

Der Kampf gegen den Feind führt sechs junge Arbeiter, die ihre Arbeit in Shanghai verloren hatten, und zwei junge Frauen aus dem Dorf zusammen Die sechs Arbeiter, die an einer strategisch wichtigen Autobahn arbeiten, stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: Zhang ist eher melancholisch und einzelgängerisch, Luo ein Träumer, Jin trotz seiner schwierigen Kindheit Optimist, Zhangda ist körperlich stark, Xiaoliu war ein Kleinkrimineller, der zur Vernunft gebracht wurde, und Zheng war Student, bevor er vor den Japanern aus der Mandschurei fliehen musste. Moli, die ambitioniertere der beiden jungen Frauen, begegnet den sechs auf freundschaftlicher Ebene, während sich Dingxiang, die ehr schüchtern ist, in den Träumer Luo verliebt.
Als die Japaner immer näher an das Dorf herankommen, versucht ein Verräter, die Arbeit an der Straße zu behindern. Die sechs Arbeiter leisten Widerstand, werden aber gefangen gesetzt und gefoltert.
Mit Hilfe der beiden Frauen können die sechs entkommen und weiterarbeiten. Nach der Fertigstellung der Swiedertraße kommen die sechs Arbeiter und Moli bei einem Bombenangriff um. Nur Dingxiang überlebt, sie träumt, dass ihre Freunde wiederaufstehen und China in eine neue Zukunft führen.

Dàlù gehört zu den bedeutendsten Filmen der 1930er[2] und wurde 2004 unter bei den 24. Hong Kong Film Awards in der Liste der 100 besten chinesischen Filme auf Platz 30 gereiht.

  1. Vgl. dazu Stefan Kramer: Geschichte des chinesischen Films (Stuttgart/Weimar: Metzler 1997)  27 f.
  2. S. auch “Retro Review: 《The Big Road》(1935[sic!] in: The Chinese Mirror. A Journal of Chinese Film HistoryA <Abgerufen am 30.11.2013>.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1177

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Archive im digitalen Nutzerkontakt. Virtuelle Lesesäle, soziale Medien und mentale Veränderungszwänge

Titelblatt Archivar 66 (2013)

In der aktuellen Ausgabe des Archivar (66/2013) findet sich auf den Seiten 406 bis 415 der Artikel “Archive im digitalen Nutzerkontakt. Virtuelle Lesesäle, soziale Medien und mentale Veränderungszwänge”. Wie dort angekündigt, soll hier in diesem Blog die Möglichkeit geschaffen werden, seine Inhalte und Thesen zu diskutieren. Für alle Anmerkungen, Meinungen, Rückfragen – natürlich gerne auch kritischer Art – ist der Autor dankbar.

Hier ist der Artikel auch online lesbar: Archive im virtuellen Nutzerkontakt

Für die unkomplizierte Bereitstellung des Artikels hier auf Archive 2.0 sei der Redaktion des Archivar gedankt.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1026

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Die “gute Butter” und das Schweigen: Eindrücke aus Gesprächen über die Nachkriegskinder-Studie

Häufig, wenn ich über die Nachkriegskinder-Studie erzähle, fangen meine Gesprächspartner an von ihren Eltern (oder Großeltern) zu erzählen. Die Geschichten dieser “zweiten Generation” sind nicht immer gleich, doch einige Themen tauchen öfter auf, wenn ich den Geschichten von früher und heute zuhöre.

„Gute Butter“, dieser Begriff gehört für mich zu der Generation, die den Krieg und die Zeit kurz danach selbst erlebt hat. Mir wurde erzählt, dass die Eltern/Großeltern als Kinder oder Jugendliche Kartoffelschalen ausgekocht haben, damit sie etwas zu Essen hatten. Manches Mal mussten sie lange suchen und bei Bauernhöfen betteln oder hungrig schlafen gehen. Der Hunger gehörte für sie dazu.
In späteren Wohlstandszeiten konnte dann dick gute Butter und Leberwurst auf das dünn geschnittene Brot geschmiert werden, so dick, dass die zweite Generation das Verhalten ihrer Eltern kaum nachvollziehen konnte. Wenn Besuch kam, wurde diesen trotzdem reichlich Essen aufgetischt, auch wenn die Gäste bereits satt waren, wurde mir erzählt. Widerrede war da zwecklos.

Ein weiteres Thema, dass in den Erzählungen immer wieder auftaucht, ist das Schweigen über die Vergangenheit. Kriegsgeschichten oder Flüchtlingserlebnisse, nach solchen Geschichten zu fragen sei für die nachfolgende Generation wie ein Tabu gewesen. Manche Kriegs- und Nachkriegskinder öffnen sich erst im hohen Alter, wenn sie überhaupt jemals darüber sprechen. Und wer hört schon gerne von Bombennächten, Fliegeralarm und Flucht, von Überlebensangst, Erschießungen, Vergewaltigungen, dem Tod des Vaters oder der Mutter und all den Schrecken, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte. Wenn ich nur Teile solche Geschichten höre und sie vergleiche mit den Sorgen, die Eltern heute um ihre Kinder haben, wenn ihnen im Vergleich eine Kleinigkeit zustößt, merkt man schnell, dass bei diesen Vergleichen Welten dazwischen liegen. Aber wieso sollten die Kinder von damals stärker oder unempfindlicher sein als die heutigen Kinder?

Besonders schwierig empfinde ich bei diesem Thema das Spannungsfeld zwischen Deutschen als Tätern und Deutschen als Opfern. Ich denke es ist einfach zu sagen, dass Kinder, die in der Kriegszeit und in der Nachkriegszeit geboren wurden, auch zu den Opfern des Nationalsozialismus gehören. Viele von Ihnen sind in einer Welt voller Zerstörung aufgewachsen, sowohl materieller, als auch ideeller Zerstörung. Fern liegt es mir jedoch, die deutschen Kriegs- und Nachkriegskinder so darzustellen, dass sich die tatsächlichen Täter mit Ihnen als Opfer identifizieren können. Kein Opfer des Nationalsozialismus darf vergessen werden. Manchmal ist das Schweigen der zweiten Generation bei diesem Thema auch Ausdruck des Unbehagens über das, was ihre Eltern getan haben, vermute ich.

Ein Arzt beschrieb mir die Generation, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebt hatte, oft als sehr bescheiden, wenn sie zu ihm in die Praxis kommen. Sie möchten nicht gerne zum Arzt gehen, reden ihre Leiden und Schmerzen klein und nehmen sich selbst zurück. Sie wünschten sich, dass es ihren Kindern einmal besser ginge, wofür sie oft wenig Rücksicht auf sich selbst genommen haben. Viele von Ihnen haben lange über ihre Vergangenheit geschwiegen, weil es ja allen schlecht ging, weil die Eltern beschäftigt waren, wegen dem Wiederaufbau und ihren seelischen Trümmern und wo für die kleinen Sorgen vielleicht kein Platz war. Jetzt im Alter, wo die Stärke und Selbstständigkeit schwindet, wo die eigene Hilflosigkeit immer deutlicher wird, bahnen sich die Erinnerungen ihren Weg. Und so sprechen diese Menschen plötzlich mit ihren Arzt in 10 Minuten über Dinge, über die sie mehr als 60 Jahre geschwiegen haben.

Die Reaktivierung der Nachkriegskinder-Stichprobe, ist für mich also nicht nur ein wissenschaftliches Projekt bei dem Forschungsfragen beantwortet werden sollen, sondern es soll auch ein Angebot zum Dialog der Generationen sein, bevor die Kriegskinder und die Nachkriegskinder ihre Geschichten nicht mehr selbst erzählen können.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/378

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Kulturgut versus menschliches Leid?

In seinem absolut empfehlenswerten Wissenschaftsblog Archaeologik geht Rainer Schreg immer wieder auf bedrohtes Kulturgut ein. Ein aktueller Schwerpunkt ist der syrische Bürgerkrieg, der auch immense Kulturgutverluste brachte. Der jüngste Beitrag zitiert einen Kommentar in der WELT: “Es fällt schwer, bei all dem menschlichen Leid an Kulturgüter zu denken. Doch viele Experten sind davon überzeugt, dass deren Erhalt beinahe so wichtig ist wie die Rettung von Menschenleben. Das kulturelle Erbe sei untrennbar mit den Menschen verbunden, heißt es bei der Unesco. “Wenn Kulturgut in einem vom Krieg betroffenen Land Schaden nimmt, kann das bedeutende Auswirkungen auf das kollektive Gedächtnis der gesamten Bevölkerung haben”, sagt auch Museumsratspräsident Hans-Martin Hinz. Der Erhalt des Erbes sei ein entscheidender Faktor, um den kulturellen Wohlstand eines Landes zu schützen, seine Offenheit gegenüber der Welt zu wahren und um den Tourismus zu fördern. “Und der ist unerlässlich für den potenziellen Wiederaufbau.””

Das ist auch meine Auffassung. Es ist töricht, Kulturgutschutz und humanitäre Hilfe gegeneinander auszuspielen. Niemand dürfte bestreiten, dass die primäre Unterstützung den Menschen gelten muss. Doch in Kulturgütern verkörperte kulturelle Traditionen sind wichtige Bestandteile der menschlichen Lebenswelt, die ebenso Schutz verdienen wie unsere Umwelt.  Werden Kulturgüter vernichtet oder beschädigt, nimmt auch die kulturelle Identität der betroffenen Länder Schaden. Menschen brauchen Kultur.

Ich wünsche uns einen schönen Advent 2013. Wenn Sie etwas spenden möchten, gibt es unzählige Möglichkeiten. Beispielsweise für die Menschen auf den Philippinen, die Opfer des Taifuns geworden sind (der übrigens auch im Denkmalbestand gewütet hat, siehe Bild). Oder in Deutschland für die Stiftung Stadtgedächtnis, die sich um die Archivalien des 2009 eingestürzten Kölner Stadtarchivs kümmert.

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/330

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