Aktuelle Stunde II: Erlebnis Archiv

Im Anschluss wirbt die Archivpädagogin des Archivs des Landschaftsverbands (ALVR) Dr. Bettina Bouresh für das seit 2006 laufende Programm „Erlebnis Archiv“, das inzwischen jährlich ca. 50 Studierende des Fachs Geschichte von sechs rheinischen Universitäten mit dem Beruf der Archivarin / des Archivars  vertraut macht. Weiterhin werden rheinische Archive gesucht, die bereit sind in den Sommersemesterferien Studierende als Praktikanten aufzunehmen.

Meine Damen u Herren, sehr geehrte Kolleginnen u Kollegen,
die Gunst der Aktuellen Stunde beim Rhein. Archivtag erlaubt es, hinzuweisen auf ein Seminar, das wir im Archivberatungs- und Fortbildungszentrum und im Archiv des LVR vor 7 Jahren krëiert haben und das mittlerweile zum festen Bestandteil der Angebote unseres Hauses geworden ist.

Ich möchte Ihnen kurz „Erlebnis Archiv“ vorstellen, ein Blockseminar für rheinische Geschichtsstudenten, das viele von Ihnen kennen, weil sie mit dabei sind und weil wir Sie alle brauchen, die noch nicht dabei sind.

„Erlebnis Archiv“ hat zum Ziel, Studierende des Faches Geschichte aus 6 rheinischen Universitäten (RWTH Aachen, die Universitäten Bonn, Essen-Duisburg, Düsseldorf, Köln und Wuppertal) in einem zweitägigen Kompaktseminar in Brauweiler in die Archivkunde einzuführen und ihnen anschließend ein 4wöchiges Praktikum in einem rheinischen Archiv zu vermitteln. Die Studenten, KEINE angehenden Lehrer, sondern mit zukünftigen BA / MA-Abschlüssen – unter ihnen sicher potentielle Kollegen der Zukunft – erhalten in abwechslungsreichen 2 Tagen Einblicke in die Archivwelt, für die meisten sind es tatsächlich die ersten Eindrücke. Anschließend schwärmen sie aus in die rheinischen Archive.
Das Seminar hat an den beteiligten Unis inzwischen einen festen Platz am Ende des Sommersemesters, das Praktikum folgt in der Zeit zwischen Ende Juli bis Anfang Oktober, also den Sommersemesterferien. Vor Beginn des Wintersemesters Anfang Oktober gibt es einen „Evaluationstag“, der bis auf wenige Ausnahmen zu durchwegs positivem Echo führt.
In diesem Jahr, dem 7. in Folge, haben wir 52 Anmeldungen zu verzeichnen. Auf der Liste der in dieser Sache mit uns zusammenarbeitenden Archive stehen mittlerweile über 60 Archive aus dem Rheinland.

Warum ich Ihnen das berichte?
Ich möchte dringend an Sie appellieren, sich an diesem erfolgreichen Format zu beteiligen und uns für das kommende Jahr rechtzeitig Praktikantenplätze zu „reservieren“. Wir sind uns der Schwierigkeiten bewusst, im Sommer Praktika anzubieten, deshalb bedarf es erfahrungsgemäß langer Vorlaufzeiten und Planung. Lassen Sie uns doch einfach eine kurze Nachricht zukommen – und wir wenden uns im Herbst an Sie, bevor wir die Listen für das nächste Jahr ausschreiben. Aus dieser Liste von Archiven, die einen Praktikantenplatz (oder sogar mehrere) anzubieten haben, dürfen sich die Studierenden 3 Archive ihrer Wahl aussuchen. Wir versuchen bei unserer letztendlichen Verteilung der Praktikantenplätze all diese Wünsche möglichst zu berücksichtigen.

Auf diese Weise führen wir Jahr für Jahr zwischen 30 und 50 Studierende im Rheinland an die Archive ihrer Region heran. – Wenn wir mehr Archive = Praktikantenplätze haben, könnten es auch mehr Studierende sein. Die Studenten lernen Archive kennen sowohl als interessanten Arbeitsort für ihre Studien – so mancher entscheidet sich nach der Teilnahme an „Erlebnis Archiv“ für eine Abschlussarbeit im Archiv. Immer größer wird jedoch, das ist ein erkennbarer Trend, das Interesse der angehenden Historikerinnen und Historiker am Archiv als attraktivem Berufsziel.

Für uns also Gelegenheit, unserer Nachwuchs in Augenschein zu nehmen und näher kennenzulernen – eine Begegnung, die erfahrungsgemäß in den meisten Fällen beiden Seiten Gewinn bringt und Spaß macht.
Die beteiligten Archive nutzen die 4 Wochen, um den Studenten kleine Aufgaben zu überlassen – natürlich um den Preis des Betreuungsaufwandes. Es ist aber jedes Jahr von neuem schön zu beobachten, wie die Studenten sich diesem für sie neuen Feld öffnen mit sichtlicher Begeisterung. Das Wichtigste und Eindrücklichste, so berichten viele, ist für sie die Erfahrung, als Kollegen auf Zeit angenommen und ernst genommen worden zu sein.

Für die Archive ist das Besondere an diesem Seminar + Praktikums-Paket das koordinierte Vorgehen. Sechs rheinische Universitäten und mehr als 60 Archive arbeiten zusammen! Programmausarbeitung und Vorlauf werden für alle vom Archivberatungs- und Fortbildungszentrum erledigt. Als Archive leisten wir einen von den Universitäten hoch geschätzten Beitrag im Rahmen der beruflichen Orientierung der Studierenden. – Dies sind Lorbeeren, die wir zusammen ernten mit vergleichsweise wenig Aufwand. Von außen werden wir wahrgenommen als Archive, die sich aktiv um Bildung und Zukunft und Zusammenarbeit bemühen – ein Image, das sich zu pflegen lohnt.

Bei Interesse zur Teilnahme am Seminar „Erlebnis Archiv“ und Angebot eines Praktikumsplatzes bitte eine Nachricht an:
Dr. Bettina Bouresh
Mail: bettina.bouresh@lvr.de

Quelle: http://lvrafz.hypotheses.org/1130

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Sofortmaßnahmen – „Erste Hilfe“ nach Bombenschäden

Die Maßnahmen, die man im Sommer 1943 unmittelbar nach dem verheerenden Feuersturm ergriff, dienten dazu, so viele Menschen wie irgend möglich zu retten und den ersten Schritt zur Wiederherstellung der Ordnung zu unternehmen. Doch erreichten die Flächenbrände in Hamburg Dimensionen, angesichts derer die in der Vorkriegszeit für den Luftschutz ausgearbeiteten Systeme an ihre Grenzen stießen. Auch wenn das Inferno für viele Zeitgenossen einem Weltuntergang gleichkam, konnte man zumindest das Ausmaß sowie einige der Langzeitfolgen dieser Katastrophe etwas begrenzen. Welche Handlungsspielräume gab es und was wurde durch deren Ausschöpfung erreicht?

Luftschutz

Schon vor Beginn des II. Weltkrieges hatten die Verantwortlichen geahnt, dass die technischen Innovationen in der Luftfahrt das Risiko von Bombenangriffen gegen die Städte erhöhten. Dementsprechend hatte man im Rahmen des Luftschutzes Vorkehrungen getroffen, mit denen man die Auswirkungen begrenzen wollte. Dies betraf sowohl die Prävention als auch Planungen für die Durchführung von Sofortmaßnahmen im Ernstfall. Da der Luftkrieg ein vollkommen neues Mittel der Kriegsführung war, konnte jedoch kaum jemand im Voraus ahnen, welche Szenarien genau man zu erwarten hatte. Daher kamen die Verantwortlichen im Verlauf des II. Weltkrieges nicht umhin, ihren Luftschutz an die tatsächlich eintretenden Gegebenheiten anzupassen. In Deutschland geschah dies auch und gerade unter dem Eindruck des Schocks infolge der so genannten „Operation Gomorrha“ in Hamburg.

Schutzräume

Bereits bei Kriegsbeginn hatte man Luftschutzräume eingerichtet, in denen die Menschen sich im Falle eines Angriffs sicher fühlen sollten. Es gelang in Hamburg ebenso wie in vielen anderen deutschen Großstädten nicht, für die ganze Bevölkerung Plätze in den besonders gut ausgestatteten öffentlichen Schutzräumen zu schaffen. Daher mussten viele Menschen bei Bombenangriffen auf ihre behelfsmäßig ausgebauten Hauskeller ausweichen, die nur einen sehr unzureichenden Schutz boten. Bei Flächenbränden konnten sich in diesen Räumen giftige Gase entwickeln, an denen die Insassen erstickten, sofern sie diese Keller nicht umgehend verließen. Die fatalen Folgen dieser Mängel sollten die Bewohner Hamburgs im Sommer 1943 auf grausame Weise zu spüren bekommen. Ausgerechnet die Kellerräume, die sie zu ihrem eigenen Schutz aufgesucht hatten, wurden für Tausende zur tödlichen Falle.

Organisationsstrukturen im Luftschutz

Ebenfalls vor Kriegsbeginn hatte man die Organisation der Sofortmaßnahmen für den Fall von Bombenangriffen genau geregelt. Hierbei war es zum Einen wichtig, die vorgesehenen Abläufe genau einzustudieren und damit das angemessene Verhalten im Ernstfall zur Routine werden zu lassen. Zum Anderen war man jedoch auf Spielräume angewiesen, um sich an unvorhersehbare Gegebenheiten anpassen zu können. Daher waren einerseits kommunale und staatliche Institutionen erforderlich, die Personal und Logistik bereitstellten, um umfangreichere Einsätze durchzuführen. Andererseits wurde die Schadensbegrenzung vor Ort durch schnelles Eingreifen entscheidend durch dezentrale Strukturen erleichtert. Gerade in Deutschland spielte der Einsatz der Bewohner vor Ort neben den Einrichtungen des professionellen Katastrophenschutzes eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der so genannten „Luftschutzdienstpflicht“ waren im „Dritten Reich“ alle erwachsenen und gesunden Bewohner zur Mitwirkung verpflichtet. Damit waren die luftschutzbedingten Eingriffe in das Privatleben der Menschen besonders massiv. Dass Menschen angesichts der primitiven Ausstattung, die dafür zur Verfügung stand, bei Großangriffen ihr Leben riskierten, nahm die NS-Führung billigend in Kauf. Für das Regime waren diese Organisationsstrukturen nicht nur aus praktischen Erwägungen heraus notwendig, sondern man sah darin vielmehr noch eine zusätzliche Chance, die Kampfmoral im totalen Krieg zusätzlich zu erhöhen. Bei kleinen Bombenangriffen mochten die Einsätze dieser so genannten „Selbstschutzgemeinschaften“ aus Hausbewohnern und Belegschaften von Betrieben durchaus eine gewisse Wirksamkeit entfalten. Mit Flächenbombardements und deren verheerenden Folgen waren sie jedoch überfordert.

Brandbekämpfung

Um Menschenleben zu retten und Zerstörungen zu begrenzen, war es zunächst einmal erforderlich, die durch Tausende von Phosphor- und Stabbrandbomben ausgelösten Brände zu bekämpfen. Zunächst war es an den „Selbstschutzgemeinschaften“, Brände im Keim zu ersticken, zumindest aber deren weitere Ausbreitung zu verhindern. Die mit Fahrzeugen und professionellem Löschmaterial ausgerüstete Feuerwehr sollte dann eingreifen, wenn die Löschkräfte vor Ort ein Feuer nicht unter Kontrolle bringen konnten.

Aufgrund der wiederholten massiven Bombardements im Juli und August 1943 stießen alle Beteiligten dieses Brandbekämpfungssystems an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die professionelle Feuerwehr war in ihrer Mobilität eingeschränkt, weil Trümmer und Brände kein Durchkommen mehr ermöglichten. Darüber hinaus fielen zahlreiche Fahrzeuge den Flammen zum Opfer. Die „Selbstschutzgemeinschaften“ konnten mit ihren primitiven Löschmitteln – einfache Handspritzen gegen herkömmliche Brandbomben und Sand gegen Phosphor – der umfassenden Brandentwicklung keinen Einhalt mehr gebieten. Je länger die Großangriffsserie dauerte, desto stärker wurden bei allen Löschkräften die Erschöpfungssymptome. Wenn es angesichts der Konzentration der abgeworfenen Brandbomben kaum möglich war, Brände zu löschen, so konnte man zumindest deren Ausbreitung eindämmen. Vor allem bei den ersten Bombenangriffen vor dem 27. Juli 1943 konnte man hier noch eine entscheidende Wirkung erzielen. Die vorübergehende Eindämmung der Brände verschaffte eine Atempause im Wettlauf gegen die Zeit und ermöglichte es zahlreichen Bewohnern, sich und einen Teil ihrer Habe in Sicherheit zu bringen, bevor es zu spät war.

Hilfe für die Opfer

Mit mehr als 30.000 Toten gehörte die „Operation Gomhorra“ zu den folgenschwersten Bombenangriffen gegen deutsche Städte im II. Weltkrieg. Doch angesichts der Dimensionen des Brand-Infernos hätte es noch um einiges schlimmer kommen können, wenn nicht die trotz allem bestehenden Handlungsspielräume zur Rettung von Menschenleben ausgeschöpft worden wären.

Rettung und Bergung

Durch die sehr gut funktionierende mobile medizinische Versorgung konnten zahlreiche Verletzte überleben und vor dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen bewahrt werden. So waren eingesetzten Pflegekräfte angemessen darauf vorbereitet, Verletzungen durch Phosphor und Stabbrandbomben wirkungsvoll zu behandeln. An die Belastungsgrenzen stieß man jedoch bei der Rettung von Bombenopfern, die entweder verschüttet oder vom Flammenmeer eingeschlossen waren. Hierfür musste man schnell handeln, gleichzeitig jedoch mit Sorgfalt vorgehen, um die Betroffenen nicht zusätzlich zu gefährden. Angesichts der allgemeinen Überlastung kam daher für viele Opfer jede Hilfe zu spät. Die Bergung der Toten stellte die städtischen Institutionen lange nach Ende der Großangriffsserie vor erhebliche Belastungen. Die Leichen mussten geborgen und umgehend entfernt werden, um den Ausbruch von Seuchen sowie eine Beeinträchtigung der Moral der Bevölkerung zu vermeiden. Tatsächlich verlief die Seuchenbekämpfung trotz der sommerlichen Witterung erfolgreich. Ob dies auf die Wirksamkeit der Bergungsaktionen oder eher darauf zurückzuführen ist, dass es die meisten Toten in den schwer zerstörten Stadtteilen gab, die ohnehin weitgehend unbewohnbar geworden waren, lässt sich im Nachhinein kaum noch nachvollziehen.

Versorgung der Obdachlosen

Um die Moral der Bevölkerung zu stabilisieren und den Ausbruch sozialer Unruhen zu vermeiden, war es unerlässlich, die Obdachlosen, die oftmals ihre gesamte Habe verloren hatten, umgehend mit dem Nötigsten zu versorgen. Unverzüglich sollten kommunale Institutionen und NS-Wohlfahrtsorganisationen Nahrungsmittel, Getränke und eine Grundausstattung mit Ersatz-Hausrat für die Ausgebombten bereitstellen. Durch die besonderen Bedingungen des Hamburger Feuersturms waren viele Obdachlose zusätzlich akuter Lebensgefahr ausgesetzt. Daher funktionierte das ursprünglich ausgearbeitete Versorgungssystem nicht, das die Ausgebombten zu den bereits vorbereiteten Sammelunterkünften leiten sollte, in Hamburg nur sehr unzureichend. Tatsächlich verließen in Hamburg zahlreiche obdachlos gewordene Menschen fluchtartig die Stadt in Richtung Umland, nachdem sie dem Inferno entronnen waren. Es kam zu chaotischen Zuständen auf den Bahnhöfen. Doch es gelang Behörden und NS-Wohlfahrtsorganisationen rasch, die  Obdachlosen auf dem Land mit dem Lebensnotwendigen – vor allem mit Nahrungsmitteln – zu versorgen. Unterkünfte konnten ebenfalls zeitnah bereitgestellt werden. Trotz des durch das Inferno hervorgerufenen Chaos gerieten diejenigen, die durch den Feuersturm in Hamburg ihr Zuhause verloren hatten, aufgrund dieser wirkungsvollen Maßnahmen nicht in eine die existenziellen Lebensgrundlagen dauerhaft bedrohende Notsituation. Das Wichtigste war, dass die Lebensmittelversorgung der Obdachlosen durch die großzügigen Sonderzuteilungen zu keinem Zeitpunkt gefährdet war.

Wiederherstellung von Ordnung und Normalität

Sobald man die unmittelbare, mitunter lebensbedrohliche Notsituation infolge der Bombenangriffe unter Kontrolle gebracht hatte, ging es darum, die Grundlagen für die Wiederaufnahme eines geregelten Alltagslebens zu schaffen. Durch entsprechende effiziente Sofortmaßnahmen konnte man mit einem geringen Aufwand an Personal und Logistik schnell eine Wiederherstellung der lebenswichtigen Grundfunktionen bewirken. So gelang es, die Auswirkungen der Bombenangriffe in den als lebensnotwendig oder kriegswichtig eingestuften Bereichen zeitlich und räumlich erheblich zu begrenzen.

Trümmerbeseitigung

Um die für die Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens entscheidenden Verkehrswege wieder nutzbar zu machen, mussten die dort befindlichen Trümmer umgehend beseitigt werden. Dazu gehörte auch das Entfernen einsturzgefährdeter Ruinen, die ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen konnten. Wollte man zudem mit den Ressourcen effizient haushalten, war es erforderlich, den Schutt bestmöglich wiederzuverwerten. Somit kam der Trümmerbeseitigung auch bei der Schaffung der Grundlagen für eine langfristige Bewältigung der Bombenkriegsfolgen eine Schlüsselrolle zu.

Die Enttrümmerung war also eine anspruchsvolle, mit hohem personellem und logistischem Aufwand verbundene Aufgabe. Aufgrund der flächendeckenden Zerstörung ganzer Stadtteile durch den Feuersturm war es unmöglich, alle Trümmer zeitnah zu entfernen. Doch indem die Verantwortlichen klare Schwerpunkte beim Freiräumen der lebenswichtigen Hauptverkehrswege setzten, gelang es in diesem Bereich eine beachtliche Wirksamkeit zu entfalten. Das Abräumen des Schutts auf den total zerstörten Grundstücken wurde damit zur Nachkriegsaufgabe.

Behelfsmäßige Reparaturen

Während des Krieges war aufgrund des Mangels an Personal, Baumaterialien und finanziellen Mitteln nicht an einen groß angelegten Wiederaufbau zu denken. Dennoch gab es bei den begrenzten Schäden beträchtliche Handlungsspielräume für behelfsmäßige Instandsetzungen. Um hierbei mit dem geringstmöglichen Aufwand eine größtmögliche Wirksamkeit zu erzielen, konzentrierte man sich sehr gezielt auf die lebensnotwendigen und kriegswichtigen Bereiche. Entscheidende Ergebnisse brachten diese Reparaturen vor allem bei der Infrastruktur, bei lebenswichtigen öffentlichen Gebäuden sowie bei der Industrie. Gerade das Beispiel des Hamburger Feuersturms zeigt, dass es trotz schweren und flächendeckenden Bombenschäden während des Krieges möglich war, die Grundfunktionen einer Metropole aufrechtzuerhalten.

Sofortmaßnahmen und Ausbeutung von Zwangsarbeitern

Die frühen Publikationen zum Hamburger Feuersturm in den 1950er und 1960er Jahren betonen den vorbildlichen Einsatz der deutschen Bevölkerung und das dabei angeblich gelebte Gemeinschaftsgefühl. Erst in den letzten Jahren wurde herausgearbeitet, dass diese Sichtweise einseitig ist. Es ist an der Zeit, dass der Einsatz von Zwangsarbeitern, die auch bei diesen Kraftakten ausgebeutet wurden, größere Beachtung findet.

Der Zwangsarbeiter-Einsatz für jene Maßnahmen, die mit der Bewältigung von Bombenkriegsfolgen zu tun hatten, war in Hamburg keine improvisierte Notlösung, auf die man erst 1943 zurückgriff. Vielmehr war die menschenunwürdige Ausbeutung dieser billigen Arbeitskräfte von langer Hand geplant worden. Schon seit 1938 mussten Häftlinge des KZ Neuengamme unter lebensfeindlichen Bedingungen schuften, um in dem dortigen Klinkerwerk dringend benötigte Baustoffe zu produzieren, die für Zwecke des Luftschutzes und der Behebung von Bombenschäden zum Einsatz kommen sollten. Als die Intensität des Bombenkrieges zunahm, wurden über das ganze Stadtgebiet verteilt dezentrale Zwangsarbeiter-Lager eingerichtet, um die Arbeitskräfte zeitnah an den Einsatzorten bereitstellen zu können.

Zwangsarbeit spielte vor allem in denjenigen Bereichen der Sofortmaßnahmen eine entscheidende Rolle, in denen die physische oder psychische Belastung für deutsche Arbeitskräfte eine Belastung der allgemeinen Kriegsmoral hätte bewirken können. Zugleich handelte es sich um Tätigkeiten, die weder ein ausgeprägtes Fachwissen voraussetzten, noch sicherheitsrelevante Bereiche der Kriegswirtschaft berührten. Daher griff man vor allem bei der Bergung der Leichen und bei der Schutt-Beseitigung verstärkt auf Zwangsarbeiter zurück. Es ist daher davon auszugehen, dass die Wiederherstellung der Lebensgrundlagen nach dem Feuersturm durch den Einsatz der Zwangsarbeiter erheblich erleichtert und beschleunigt wurde. Daher ist es an der Zeit, die Arbeit dieser Menschen bei der Erinnerung an die Bombenangriffe angemessen zu würdigen.

Quelle: http://ueberlebenhh.hypotheses.org/34

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Bilder des Bundesarchivs zum Puzzlen

Über den Webauftritt “CC PLAY” können Personen und Momente der deutschen Geschichte spielerisch erlebt werden.

Beispielbild vom 27. Juli 1991Beispielbild vom 27. Juli 1991Quelle: BArch, B 145 Bild-F088836-0033 / Joachim Thum (bearb. durch CC PLAY)

Im Rahmen der inzwischen beendeten Kooperation von Bundesarchiv und Wikimedia Deutschland e.V. wurden zehntausende Fotos des Bundesarchivs unter der Creative Commons (CC)-Lizenz 3.0 by-sa der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Aus diesem Fundus hat das Kölner Game Studio the Good Evil zahlreiche Bilder ausgewählt und das kostenlose digitale Puzzle-Spiel “CC PLAY” entwickelt.

Auf ungewöhnliche Weise erfahrbar werden so weite Teile der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Herausragende und alltägliche, heitere und sehr dunkle Momente u.a. aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Sport: “Vom Hitlerputsch 1923 bis zur Birkensafternte in Colditz 1985″. Probieren Sie es aus!

Zum Bilderpuzzle CC PLAY des Unternehmens “The Good Evil”

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/717

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Üç maymun Eylemleri – Drei Affen-Demonstrationen

Heute abend haben hunderte Teilnehmer/innen des Park-Forums im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ihr Forum unterbrochen, um zum Gebäude des Medienkonzerns ATV-Sabah zu ziehen. Sie haben dort eine sog. “üç maymun” [3 Affen]-Demo abgehalten mit Slogans wie: “Ich sehe nichts, höre nichts, weiß von nichts” (“Görmedim, duymadım, bilmiyorum”) sowie “Takvim, mach doch mal uns zur Nachricht!” (“Takvim bizi haber yapsana”).

3 Affen-Demo vor dem Gebäude des Medienkonzerns ATV/Sabah in Istanbul, 26.6.2013

3 Affen-Demo vor dem Gebäude des Medienkonzerns ATV/Sabah in Istanbul, 26.6.2013  Q:http://www.gazetecileronline.com/newsdetails/10442-/GazetecilerOnline/iktidar-medyasina-uc-maymun-protestosu

Die zum ATV/Sabah-Konzern gehörige Tageszeitung Takvim hatte in ihrer Ausgabe vom 26.6.2013 berichtet, die Protestierenden des Gezi Parks hätten Polizisten fast zu Tode geprügelt, und Ethem Sarısülük – das von einem Polizisten erschossene Opfer – wäre Teil einer Provokateurs-Gruppe gewesen, welche die türkische Flagge verbrannt habe [zum Kampf um und mit dem Symbol der türkischen Flagge will bei anderer Gelegenheit noch geschrieben werden]. Die Website der Zeitung zeigt zudem ein 5minütiges Video, auf dem Ethem inmitten einer Gruppe von Chaoten zu sehen sein soll – im Video jeweils mit einem roten Pfeil markiert.

Der Zeitungsbericht ist Teil einer seit Beginn der Parkbesetzung laufenden großen Propaganda-Maschinerie der Kriminalisierung, die ihren Anfang mit Recep Tayip Erdoğans (RTE) Beschimpfung der Demonstrant/innen als Çapulcu machte – welche sich die Demonstrant/innen aber sogleich aneigneten: Der im Gezi Park als Kollektiv gegründete Internet-TV-Sender www.capul.tv begrüßt seine vielen Interviewgäste grundsätzlich und liebevoll mit “Wie geht es Dir, Çapulcu? Was hast Du uns zu sagen?” Als Neologismus – “Everyday I’m çapuling” – hat der Begriff schon international die Runde gemacht, Wikipedia führt unter “Chapulling (Turkish: çapuling)” bereits einen Eintrag incl. Debatte.

Zum Arsenal der Staats- bzw. Regierungs-Medienoffensive gehört seit neuestem auch ein von der Regierungspartei AKP (Tanıtım ve Medya Başkanlığı=Öffentlichkeits- und Mediendirektion) produzierter 28minütiger Film, der auf CD und von der Jugendbewegung der AKP via Youtube verteilt wird. Der Titel des Propagandafilmchens, das auf unerträgliche Weise alle diffamierenden und verschwörungstheoretischen Argumente der letzten Wochen zusammenfasst, lautet: “Ein großes Schauspiel! Sieh das wahre Gesicht der Ereignisse um Gezi, meine Türkei!” (“Büyük Oyun! Gezi olaylarının gerçek yüzünü gör Türkiyem!”)

Auf unterschiedlichen Wegen versuchen die Çapulcu die Diffamierungen durch Regierung und ‘gleichgeschaltete’ Medien auszuhebeln. In diesem Kampf um und mit Medien praktizieren sie verschiedenste Taktiken: Alternativmedien, (Über)Affirmation, Ironie, Proteste vor Medienkonzernen (schon ganz am Anfang hatte es bei CNN Türk eine Protestkundgebung gegen die Nicht-Berichterstattung von den Protesten gegeben) u.a., wovon ich in den nächsten Wochen noch berichten werde.

Vom Tempo in und mit Alternativmedien zu operieren zeugt auch, dass es innerhalb von zweieinhalb Stunden nach der Demo vor dem ATV-Gebäude ein erstes Video gibt, eingebunden in einen je nach Bedarf aktivierten Liveticker bei der Online-Plattform sendika.org [http://www.sendika.org/2013/06/besiktas-halki-ethem-sarisuluk-hakkinda-yayimlanan-yalan-haber-icin-atv-sabah-binasini-basti/]

“Üc maymun” eylemi 26.6.2013

Während der Begriff  “’3 maymun’ eylemi” schon selbstverständlich verwendet wird, werden die Formen der 3 Affen-Demo noch eingeübt:-) Am Ende des Videos wird skandiert: “Wir wollen keine parteiischen Medien!” ["Yandaş medya istemiyoruz"] – auch dies ein taktischer Zug: unparteiische Medien zu fordern. Die Menge, die ihr Forum/Park-Parlament für die Demo unterbrochen hatte, begibt sich danach wieder in den Abbasağa Park. Auf dem Rückweg wird sie von solidarisch hupenden Autos und töpfeschlagenden Nachbarn gegrüßt.

Währenddessen finden in der Regierungshauptstadt Ankara wieder massive Einsätze der Polizei gegen Demonstrierende statt. Zu verfolgen u.a. am in mehrere Sprachen übersetzten Liveticker gezipark.nadir.org.

Anm.:
- Park-Foren/Park-Parlamente: die seit Vertreibung vom Taksim-Platz allabendlich stattfindenden dezentralen Diskussionsrunden in den Parks Istanbuls
- sendika.org ist eine der wichtigsten alternativen Informations-Plattformen der Bewegung und hat in den ersten Tagen neben Berichten einen Liveticker mit aktuellsten Demo-Infos eingerichtet, der inzwischen je nach Bedarf betrieben wird. Hier finden sich auch Protokolle von den Treffen der Park-Parlamente, Presserklärungen der Taksim-Plattform, veröffentlicht werden auch Erklärungen der Anwaltsvereinigungen, der Ärztekammer, der Gewerkschaften usw. Einzelne Artikel werden ins Englische übersetzt.
- gezipark.nadir.org – Plattform mit kollektiv erstellten Übersetzungen des Livetickers von sendika.org in 9 Sprachen.

Quelle: http://mediares.hypotheses.org/156

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Vier Schätze des Studierzimmers (IV)

Sobald die Tusche auf dem Reibstein angerieben worden ist, konnte und kann man zum Pinsel greifen. Durch ihre Bedeutung für Malerei und Kalligraphie stellen Tusche und Pinsel “vielleicht sogar das prägnanteste Ausdrucksmittel”[1] der chinesischen Kunst dar. In der Phrase bi mo zhi yan 筆墨紙硯 (d.i. Pinsel, Tusche, Papier, Reibstein), die für die wichtigsten Utensilien des Kalligraphen steht, wird der Pinsel gar an erster Stelle genannt.

Während die Legende dem Qin-General Meng Tian 蒙恬 (ausgehendes 3. Jh.v.Chr.) die Erfindung des Pinsels zuschreibt, ist jedoch davon auszugehen, dass der Pinsel schon viel früher Verwendung gefunden hatte, spätestens nachdem man dazu übergegangen war, Texte auf Bambus und Seide zu schreiben. [2]

Bei der Herstellung des Pinsels werden Tierhaare (von Hirsch, Ziege, Hase, Fuchs und Wolf) oder Vogelfedern verwendet.[3]. Stand das Zeichen bi 筆 früher ausschließlich für Pinsel, so bezeichnet es (mit entsprechenden Zusätzen) heute alle Schreibgeräte.

Die Bedeutung des Pinsels für Literatur und Kultur fand nicht zuletzt in frühen Klassifikationen chinesischer Literatur ihren Niederschlag. In seinem Wenxin diaolong 文心彫龍 (“Literarische Gesinnung und das Schnitzen von Drachen”), in dem er die literarischen Werke in 34 Kategorien einteilte, ordnete Liu Xie 劉勰 Prosawerke unter die Rubrik bi 筆 ein, während er die Dichtung in der Rubrik wen 文 – zu wen vgl. Annäherungen zum Kulturbegriff im Chinesischen – auflistete.[4]. Diese Unterscheidung, die also Ende des 5./Anfang des 6. Jahrhunderts verbreitet gewesen zu sein scheint, wird später auch bei dem japanischen Mönch Kūkai (774-835) erwähnt:

“In der Art, Texte zu schreiben, gibt es nur bi und wen. Wen umfaßt Gedichte, Rhapsodien, Inschriften, Preisungen, Ermahnungen, Würdigungen, Klagelieder und dergleichen mehr; bi umfasst Erlasse, Pläne, Throneingaben, Stellungnahmen, Briefe, Berichte usw. Oder um es direkt zu sagen: was sich reimt, ist wen, und was sich nicht reimt, ist bi.”[5]

Die Homophonie von bi 筆 (Pinsel) und bi 必 (sicher, sicherlich) fand etwa in der chinesischen Symbolik ihren Niederschlag. Ist der Pinsel durch die Nabe eines Rades gesteckt, bedeutet dies “er wird sicher treffen” (hier machte man sich die Bedeutungen von zhong 中 (einerseits “Mitte”, andererseits “ein Ziel treffen”) zunutze. Diese Anspielung soll den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass ein Kandidat bei den Beamtenprüfungen, die erst eine Karriere als Gelehrten-Beamter ermöglichten, bestehen möge/werde. [6]

 

  1. Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008) 221.
  2. Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte  der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (München, 2. Aufl., 1999) 84.
  3. Eine nützliche Übersicht über die Herstellung und die einzelnen Teile des Pinsels sowie über die verschiedenen Formen von Pinselspitzen in Grove Art Online: China § XIII,4 Brushes sowie Asia-Art.net: Chinese Brush-Painting.
  4. Vgl. Grand Dictionnaire Ricci de la lange chinoise, Bd. IV, S. 987 (Nr. 8813. Zum Wenxin diaolong vgl. chinaknowledge.de: Wenxin diaolong.
  5. Zitiert nach Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur, 251
  6. Vgl. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl., 1996) 230 (‘Pinsel’), Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 264 (‘Writing Instruments’).

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/558

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Intersexualität und Normalität: Strukturen eines Verhältnisses am Beispiel des Deutschen Ethikrates – Von Markus Kluge

Seit der Antike werden intersexuelle Menschen und vor allem Kinder, die aufgrund ihrer körperlichen Merkmale nicht eindeutig als Frau oder Mann einzuordnen sind, operativen Eingriffen verschiedenster Art mit der Absicht, diese Kategorisierbarkeit herzustellen (vgl. Klöppel 2010 insbes. Teil I; Voß … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5102

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1000 Bücher – Eine Wand voll und doch nur ein Anfang

In der Salzburger Priesterhausbibliothek, die Teil der Diözesanbibliothek (DBS) und damit Teil des Archivs der Erzdiözese Salzburg (AES) ist findet ein voraussichtlich mehrjähriges Projekt zur Sichtung, Reinigung, Konservierung, Neuaufstellung und Katalogisierung der Bestände des 18. Jahrhunderts statt. Dabei wurde nun das tausendste Exemplar fertig bearbeitet. Wie groß der Bestand aus dem 18. Jahrhundert tatsächlich ist, lässt sich nur schwer abschätzen.

Im neu dazugewonnenen Raum werden die Bücher des 18. Jhs. aufgestellt

Im neu dazugewonnenen Raum werden die Bücher des 18. Jhs. aufgestellt

Die Geschichte der Priesterhausbibliothek lässt ab der Gründungszeit des Priesterseminars unter Fürsterzbischof Wolf-Dietrich von Raitenau im ausgehenden 16., bzw. beginnenden 17. Jahrhundert verfolgen. Als Bibliothek, die der umfassenden Bildung der Salzburger Priesterseminaristen dienen sollte, erfuhr und erfährt sie immer noch durch Schenkungen verschiedenster Persönlichkeiten große Zuwächse. Mehrere Umstellungen im Laufe der Jahrhunderte, besonders in den Wirren des 2. Weltkrieges brachten die Bestände etwas durcheinander und machten eine Neuaufstellung und Katalogisierung in den 40er und 50er Jahren notwendig. Diese geschah innerhalb weniger Jahre durch Dr. Schliessleder. Auf ca. 65.000 Katalogkarten wurde eine Autorenkatalog erstellt, parallel dazu ein Sachkatalog. Aufgrund der kurzen Entstehungszeit und der schwierigen Umstände nach dem 2. Weltkrieg ist der Katalog nicht sehr genau. Einige spätere Buchabgaben hinterließen auch Lücken im Buchbestand, einige Bücher dürften auch ohne Wissen und Wollen der Bibliothekare verschwunden sein. Seit der Erstellung dieses Katalogs hat sich der Bestand außerdem durch Schenkungen auf wenigstens 120.000 Bände erhöht.

Die starke Staubbelastung, die schwer zu kontrollierenden klimatischen Verhältnisse und die mangelhafte Katalogisierung in der Priesterhausbibliothek wurden schließlich zum Anlass verschiedener Projekte um die Zustände zu verbessern: So wurden seit der Neuerrichtung des Archivgebäudes des AES alle Buchbestände vor dem Jahr 1701 und alle Handschriften (neuzeitliche wie mittelalterliche) in die dortigen gekühlten Magazine verbracht. Diese sind auch schon vollständig katalogisiert und damit der Wissenschaft zugänglich. Für die Buchbestände des 18. Jahrhunderts war vor allem aus Platzgründen keine derartige Lösung möglich. Während es sich beispielsweise bei den Beständen des 17. Jahrhunderts um ca. 2000 Bände handelt, kann bei den Beständen des 18. Jahrhunderts etwa die fünf- bis zehnfache Menge vermutet werden.

Die Bücher des 18. Jhs. werden aus der bisherigen Aufstellung herausgezogen

Die Bücher des 18. Jhs. werden aus der bisherigen Aufstellung herausgezogen

Die Bücher des 18. Jahrhunderts in der Priesterhausbibliothek werden nun aus dem übrigen Bestand herausgezogen, gereinigt, von Auflösungserscheinungen betroffene Einbände werden mit Klucel-G fixiert und in einem Raum, dessen Klima etwas besser kontrollierbar ist, neu aufgestellt. Um diesen Raum (und einen schönen neuen Benutzersaal) wurde die Priesterhausbibliothek bei den jüngsten Umbauten im vergangenen Jahr erweitert. Sind die Bücher dort aufgestellt, werden sie nach und nach katalogisiert. Bei diesen Katalogisierungsarbeiten wurde nun das tausendste Exemplar angelegt – was auch den Anlass zu diesem Artikel bietet.

Ein nicht unerheblicher Teil dieser neu katalogisierten stammt aus dem weiten Themenfeld der Moraltheologie, da mit den Arbeiten an einer Stelle der Bibliothek begonnen wurde, an der Bücher zu diesem Thema etwas verdichtet aufgestellt waren. Beispielsweise in mehreren Auflagen vorhanden sind die moraltheologischen Werke von Paul-Gabriel Antoine. Bibelkommentarwerke von Augustine Calmet, Jacobus Tirinus und Cornelius a Lapide wurden ebenfalls bearbeitet. Bemerkenswert ist eine Sammlung von aufklärerischen Bildungsromanen, die ein gewisser Johannes Chrysostomus Antonius Gschwentner von Adel der Priesterhausbibliothek hinterlassen hat. Auf der Innenseite des Vorderdeckels ist in jedem Band aus dieser Sammlung ein Portrait einer bedeutenden Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts eingeklebt – vielleicht um die Gesichter kennenzulernen und zu studieren. Außerdem finden sich noch Textausgaben und Kommentarwerke zu verschiedenen Kirchenvätern, darunter besonders Johannes Chrysostomus, Minucius Felix und Basilius der Große. Aber auch lateinische Klassiker sind vorhanden, so beispielsweise eine Ausgabe des Geschichtswerkes von Livius.

Unter dieser Absauganlage werden in der Priesterhausbibliothek die Bücher gereinigt

Unter dieser Absauganlage werden in der Priesterhausbibliothek die Bücher gereinigt

Der Katalog der Diözesanbibliothek ist leider noch nicht online zugänglich, aber es wird daran gearbeitet dies – eventuell in Kooperation mit anderen kirchlichen Bibliotheken Österreichs – zu verbessern. Der alte Zettelkatalog der Priesterhausbibliothek ist bereits hier einsehbar.

Mit Klucel-G werden vor allem die dunkleren Ledereinbände behandelt, die sich bei jeder Berührung Stück für Stück auflösen

Mit Klucel-G werden vor allem die dunkleren Ledereinbände behandelt, die sich bei jeder Berührung Stück für Stück auflösen

Quelle: http://aes.hypotheses.org/165

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Gründungsmythen der Architektur – der Grundriss als kulturelle Metapher

Der Grundriss ist die archetypische Darstellungsform von Architektur schlechthin. In den Boden geritzt oder nur gedanklich imaginiert, als schematische Skizze auf Papier gebracht oder aufwendig koloriert ist er seit Vitruv und Alberti das gedankliche wie bildliche Fundament des Entwurfs, auf … Weiterlesen

Quelle: http://archidrawing.hypotheses.org/51

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Ein Dokumentationsprofil für ein Universitätsarchiv – Teil 1: Grundlegung

von Karsten Kühnel

Der folgende Beitrag soll die Anwendbarkeit und mögliche Ausrichtung eines Archivierungs- und Dokumentationsprofils für das Universitätsarchiv Bayreuth reflektieren. Der Autor würde sich über eine rege Diskussion und konstruktive Kommentare in diesem Blog freuen.

„Hochschularchive sind wesentlich mehr als nur Materialsammlungen für die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Träger. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bildung der von einer zivilisierten Gesellschaft benötigten historischen Überlieferung.“ So beginnt die Einleitung zum 2009 von einem Autorenteam vorgelegten und von der Universität des Saarlandes herausgegebenen „Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen“.[1] Und Bezug nehmend auf die typische Situation der Personen, die die Überlieferung tatsächlich formieren, findet sich wenige Zeilen weiter der Satz, dass typischerweise unter anderem der Umstand die Situation im Hochschularchiv charakterisiere, dass die „Archivarin oder der Archivar […] sehr weitgehend eigenverantwortlich“ arbeite. Einer der Autoren schreibt kurz darauf in einer ausführlichen Kommentierung des Profils in der Zeitschrift „Der Archivar“ darüber: „Das Dokumentationsprofil versteht sich […] als Handreichung, nicht als Vorschrift, und es ist an vielen Stellen offen für individuelle Lösungen.“[2]

Das Ziel eines Dokumentationsprofils für ein Archiv ist es, ein Profil vorzugeben, an dem sich die Auswahl und der Erwerb von Archivgut messen lassen können. Die Kriterien, auf denen das Profil beruht, können unterschiedlicher Art sein. Ihm können inhaltliche Aspekte und formale Aspekte aus wiederum unterschiedlichen Sichtweisen zugrunde liegen. Ein Dokumentationsprofil zu akzeptieren ist eine Entscheidung für bestimmte zu erwartende und gegen bestimmte ebenfalls zu erwartende Informationen, deren Erhalt einerseits gewünscht und deren Verlust andererseits akzeptiert wird. Das Dokumentationsprofil ist die Grundlage für die Bewertung, das heißt für die Entscheidung über Archivierung oder Vernichtung von Unterlagen.

Ein Dokumentationsprofil bestimmt nicht nur das Profil des materiellen Archivs, das auf seiner Grundlage anwächst. Es spiegelt auch das Profil des Archivs als Institution. Dem Selbstverständnis einer Institution „Archiv“ entfließt ganz wesentlich dessen Auffassung darüber, was zu archivieren ist und wie das Profil der Überlieferungsbildung aussehen soll. Nicht ohne Grund ist die erste Stufe der archivischen Erschließung die eigene Beschreibung des Archivs als archivischer Institution. Die überblicksartige Beschreibung der Archivbestände ist bereits die zweite Erschließungsstufe. Denn das Profil des Archivs als Institution lässt bereits entscheidende Rückschlüsse auf die Inhalte seiner Bestände zu, und seine Beschreibung gibt dem potentiellen Nutzer den ersten Anhaltspunkt, ob dieses Archiv für seine Forschung überhaupt von Bedeutung sein kann.

„Archivalien konservieren Spuren und Überreste vergangener Zeit.“ So schreibt Alf Lüdtke in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Arlette Farge’s Le goût de l’archive.[3] Die Autorin selbst schreibt an einer Stelle über das Archiv: „Unter dem Archiv organisiert sich das Relief, man muss es nur zu lesen wissen – und sehen, dass es an eben diesem Ort eine Produktion von Sinn gibt, an einem Ort, an dem die Leben, ohne es sich ausgesucht zu haben, auf die Macht stoßen.“[4] Farge schreibt diesen Satz angesichts von Archivalien aus dem 18. Jahrhundert. Und doch ist die reliefartige Überlieferungsbildung ein Thema, das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der sich allmählich bildenden Archivwissenschaft bis heute eine bedeutende Rolle spielt. Heinrich Otto Meisners „Schutz und Pflege des staatlichen Archivguts mit besonderer Berücksichtigung des Kassationsproblems“ von 1939 wird noch heute als Meilenstein in der Bewertungsdiskussion zitiert.[5] Im Jahr 1965 legte die Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik unter dem Titel „Grundsätze der Wertermittlung ein ausführliches schriftliches Profil für die archivische Überlieferungsbildung unter marxistisch-leninistischen Leitlinien vor, das sie 1984 noch einmal überarbeitete.[6]

In Westdeutschland war es Hans Booms, der 1972 die Überlieferungsbildung auf der Grundlage eines Dokumentationsprofils vorschlug und damit auf großen Widerstand und Ablehnung im Kreis seiner Kollegen stieß.[7] Angelika Menne-Haritz beleuchtete in ihrem Vortrag auf dem ersten Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg, das am 28. und 29. Juni 1994 unter dem Leitthema „Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung“ stand, terminologische Unschärfen im Zusammenhang mit der Bewertung. Dabei analysiert sie die Verwendung der Begriffe des „Archivierens“ und des „Dokumentierens“ im Rahmen der Überlieferungsbildung und kommt zu der bemerkenswerten Aussage: „Dokumentation gesellschaftlicher Phänomene interessiert sich nicht für Evidenz. Sie läuft Gefahr, Kontexte zu zerstören, ohne zu wissen, was sie tut, da sie nur ihre subjektiven Inhaltsfragen sieht. Dann wird Geschichte zerstört, weil Evidenz vernichtet wird und die Interpretationskontexte für Fakten fehlen.“ Und sie gipfelt in der Warnung vor einem Paradigmenwechsel in der Kultur der Geschichte tradierenden Institutionen: „Wenn Archive sich als Dokumentationsstellen verstehen, besteht die Gefahr, daß sie sich zu rückwärtsgewandten Dokumentenmuseen entwickeln und vom lebendigen, zukunftsorientierten Zusammenspiel mit der Exekutive abgeschnitten werden.“[8]

Die Gegner von Dokumentationsprofilen stellten ihnen den Anspruch an die Bewertung gegenüber, eine nicht auf bestimmte, inhaltlich orientierte und somit vorhersehbare Fragestellungen ausgerichtete, sondern eine nach Möglichkeit für alle Fragestellungen offene Überlieferung zu bilden, die die Kontexte ihrer ursprünglichen Entstehung bewahrt. Infolge dieser Ausrichtung machte sich die Bewertung an Maßgaben wie Zuständigkeiten, Federführung, Verwaltungshierarchie und Aktenplänen fest und mündete in Bewertungsmodelle, die den Grat zwischen horizontalen und vertikalen Bezügen unter Überlieferungsbildnern gangbar machte. Retrospektiv kann man von einer Etablierung einer anderen Art von Dokumentationsprofilen sprechen, die mehr auf formale Bezüge ausgerichtet waren und noch sind, die aber die inhaltlichen Aspekte auch nicht außer Acht ließen.

Damit einher ging das nur zaghafte Aufgeben der Tradition der engen Bindung an den eigenen Träger bzw. an die Behörden in der Sprengelhoheit eines Archivs. Archive waren dazu da, die Überlieferung derjenigen Einrichtungen zu archivieren, für die sie explizit als zuständig deklariert worden waren. Je mehr sich die historische Forschung der ganzen Breite gesamtgesellschaftlicher Überlieferung und Dokumentation zuwandte, desto mehr wurden die Archive aus dem Mittelpunkt des Interesses der Historiker bei der Suche nach authentischen Quellen verdrängt. Die Bildung von Ergänzungsüberlieferung in Form von Sammlungen und Nachlässen wird heute zu den Kernaufgaben eines Archivs gerechnet, was durchaus nicht immer selbstverständlich gewesen war.[9] Diese Selbstverständlichkeit zeigt aber exemplarisch, wie sich das Selbstverständnis der Archive in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise verändert hat. Das Bewusstsein, in einem Archiv immer nur Ausschnitte der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abbilden zu können, rückte wieder die Frage nach den Inhalten in den Vordergrund: Was oder welche Entwicklungsstränge sollen abgebildet werden? „In diesem Szenario kann das Ziel der Bewertung einzelner Überlieferungen nicht darin bestehen, die Tätigkeit einer Provenienzstelle abzubilden, sondern möglichst aussagekräftige Spuren aus der jeweils berührten Lebenswirklichkeit zu bewahren“, ist die Antwort, die Robert Kretzschmar in seiner Einführung in das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA zur archivischen Überlieferungsbildung gibt.[10] Wie nebenbei wurde der Dokumentationscharakter archivarischer Tätigkeit terminologisch salonfähig. Max Plassmann ging auf das terminologische Unbehagen in seinem 2004 veröffentlichten Aufsatz „Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung“ noch ein, wenn er schreibt: „Wer etwa aus standespolitischen Erwägungen heraus Unbehagen verspürt, den Begriff ‚Dokumentation‘ zu nutzen, der mag auch auf ‚Festlegung inhaltlicher Ziele der Überlieferungsbildung‘ oder etwas anderes ausweichen.“[11]

Das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung von 2004 rät zu Abstimmungen zwischen Archiven unterschiedlicher Träger bei Überschneidungen und Berührungen und empfiehlt die Methode der horizontalen und vertikalen Bewertung zur archivübergreifenden Überlieferungsbildung. Gleichzeitig wird vor dieser Bewertungsmethode gewarnt, sofern keine verlässlich strukturierte Akten- und Registraturführung vorliegt. Somit kommt das Modell für weite Bereiche universitärer Überlieferung nicht in Frage. Das Thema blieb aktuell und mündete in die Forderung, Überlieferung im Verbund zu gestalten. Im Jahr 2011 folgte vom gleichen Arbeitskreis ein Positionspapier zur „Überlieferungsbildung im Verbund“, das an das Papier von 2004 anknüpfte.[12] Was Überlieferung im Verbund ist, definieren die Autoren wie folgt: „Überlieferungsbildung im Verbund bedeutet, dass sich Archive unterschiedlicher Trägerschaft in einem definierten, beide Seiten berührenden Zuständigkeitsbereich bei der Überlieferungsbildung austauschen und abstimmen. Das Ziel des Abstimmungsprozesses zwischen den beteiligten Archiven sind langfristig verlässliche Absprachen, die darauf abzielen, eine qualitätsvolle, sich ergänzende und Redundanzen vermeidende Überlieferung bei gleichzeitiger grundsätzlicher Wahrung des Provenienzprinzips und der Sprengelzuständigkeit zu schaffen.“[13] Berührungspunkte mehrerer Universitätsarchive können sich beispielsweise bei Professorennachlässen ergeben. Hier könnten gemeinsame Richtlinien vereinbart werden, nach denen bestimmte Konstellationen einem bestimmten Universitätsarchiv den Vortritt einräumen. Hinsichtlich der Überlieferung studentischer Initiativen wäre beispielsweise mit dem jeweiligen Stadtarchiv zu klären, wer sich dafür zuständig fühlen soll.

Überlieferungsbildung im Verbund ist aber nach dem Papier des Arbeitskreises deutlich mehr, ja wohl sogar eigentlich etwas anderes als Verabredungen über den besten Verwahrungsort für Bestände. Sie bezieht sich auf Abreden hinsichtlich der zu überliefernden Inhalte und basiert demnach auf gemeinsam vereinbarten Dokumentationsprofilen, Festlegungen inhaltlicher Ziele oder Bewertungsmodellen. Ist bereits die Festlegung inhaltlicher Dokumentationsziele innerhalb eines einzelnen Archivs eine strategische Entscheidung enormer Reichweite, so ist sie es umso mehr im Kreis von Überlieferungsverbünden.

Destruktiv wäre es, die Ergebnisse der Bewertungsdiskussion der 1990er Jahre einfach über Bord zu werfen, und den Informationswert von Unterlagen als das einzig Wahre für die Bestimmung der Ziele einer Überlieferungsbildung und von Bewertungskriterien anzusehen. Man würde dadurch um Jahrzehnte zurückfallen und sich zudem einer historischen Mindermeinung anschließen. Frank M. Bischoff brachte in seinem Vortrag über „Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung“ auf einem Workshop der Archivschule Marburg im November 2004 im Zusammenhang mit der Vielfalt von Bewertungsansätzen, die die Archivwissenschaft kannte und noch kennt, den in den 1990er Jahren in Deutschland wirkungsvoll von Angelika Menne-Haritz propagierten Schellenbergschen Ansatz erneut ins Bewusstsein der Archivare.[14] Er betonte dabei, dass die Diskussion der 90er Jahre zu einer Polarisierung im Archivarsstand und letztlich zu einer übermäßigen Betonung des Evidenzwertes als Bewertungskriterium geführt habe, dass aber Schellenberg mit dem Evidenzwert auch den Informationswert verknüpft habe. Der Hinweis Bischoffs kann als Aufforderung verstanden werden, Dokumentationsprofile nicht nur inhalts- oder informationswertorientiert auszurichten, sondern auch mit den Elementen der Evidenzdokumentation synergetisch zu verbinden.

Bemerkenswert ist, dass sich das bereits erwähnte Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen von 2009 nach Aussage Max Plassmanns in seiner ebenfalls bereits genannten Kommentierung im Archivar an den „Hauptaufgaben von Universitäten – Forschung und Lehre“ orientiert, dass in der Einleitung des Dokumentationsproifls selbst aber stets nur von Inhalten die Rede ist, an denen man sich orientiere: „Das Dokumentationsprofil orientiert sich vorrangig an den in Hochschularchiven zur Bewertung anstehenden Inhalten und setzt sich dabei mit typischen Schriftgutsorten auseinander. Die Überlieferungssituation an Hochschulen ist oft so unübersichtlich, dass eine vorrangig nach Organisationsstrukturen gegliederte Darstellung die weniger sinnvolle Alternative wäre.“[15] In beiden Texten ist von Funktionen einer Universität als Orientierungskriterien nicht die Rede, obwohl doch einiges darauf hindeutet, dass die Intention der Autoren in etwa in diese Richtung ging. Es zeigt sich jedoch bei anderen Dokumentationsprofilen der letzten Jahre, dass Funktionsorientierung offenbar insgesamt keine herausragende Rolle spielte. In ihrer „Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive – Einführung in das Konzept der BKK zur Überlieferungsbildung und Textabdruck“ lässt Irmgard Christa Becker eine sehr starke inhaltsbezogene Orientierung erkennen, die Aufgaben- und Funktionsbezogenheit in den Hintergrund zu stellen scheint.[16]

Die amerikanische Archivarin und Bibliothekarin Helen Willa Samuels veröffentlichte 1998 unter dem Titel „Varsity Letters“ ein Buch über die Dokumentation von Universitäten und ebnete darin den Weg zur Erstellung eines auf Funktionen basierenden Dokumentationsprofils. Sie stellt bereits im einleitenden „Rationale“ prägnant fest, dass Funktionen von Organisationsstrukturen gelöst zu betrachten sind und zitiert dazu David Baerman und Richard Lytle: „Functions are independent of organizational structures, more closely related to the significance of documentation than organizational structures, and both finite in number and linguistically simple.“[17] Die Funktionen, die sie für Hochschulen herausarbeitet, sind gegründet auf eine Analyse dessen, was diese Institution tut. Damit unterscheidet sich ihre Herangehensweise von der Beschreibung zugewiesener Funktionen und blickt stattdessen auf die in Vergangenheit und Gegenwart tatsächlich wahrgenommenen Funktionen. Sie unterscheidet sich damit auch vom Funktionsbegriff des ISDF-Standards des Internationalen Archivrats, der eine Funktion wie folgt definiert: „Any high level purpose, responsibility or task assigned to the accountability agenda of a corporate body by legislation, policy or mandate. Functions may be decomposed into sets of co-ordinated operations such as subfunctions, business processes, activities, tasks or transactions.”[18] Dabei ist es ihr ein Anliegen, von der Betrachtung der einzelnen Akte oder der einzelnen Büros bei der Bewertung loszukommen und den Bewertungsvorgang mit der Analyse des konzeptualen Kontexts der Unterlagen einer Universität vorzubereiten. Mit Terry Cook befürwortet sie einen Perspektivenwechsel von der physischen Einheit zur intellektuellen, „from matter to mind“.[19] Samuels möchte bei der Funktionsanalyse die enge Sichtweise auf die Reflexion administrativer Prozesse aufgeben und in den Funktionen zwar auch die administrativen Aktivitäten, aber ebenso die anderer Akteure wie der Studenten, der Fakultäten, des Personals und von Personen und Körperschaften außerhalb der Universität einbeziehen.

Sie kommt schließlich zu sieben Hauptfunktionen einer modernen Hochschule:

  1. Ausstellen von Zeugnissen: beinhaltet den Prozess des Anwerbens, Auswählens und Zulassens von Studenten, die Vergabe finanzieller Unterstützung und akademischer Beratung sowie die Graduierung der Studierenden.
  2. Transport von Wissen: beinhaltet die Gestaltung der Curricula und die Lernprozesse.
  3. Förderung der Sozialisation: beinhaltet die informellen Lernvorgänge außerhalb der Vorlesungen und Seminare in organisierter und nicht organisierter Form im häuslichen Leben, in extracurricularen Aktivitäten und in persönlicher Beratung.
  4. Forschung und Ermöglichung von Forschung: beinhaltet Maßnahmen und Aktivitäten der Fakultäten und graduierten Studenten bei der Suche nach neuem Wissen und neuer Erkenntnis
  5. Verwaltung der Institution: beinhaltet die Aktivitäten, die für den reibungslosen Betrieb der Institution nötig sind (inkl. Leitung, Finanz- und Personalverwaltung, technische Anlagenverwaltung etc.).
  6. Dienstleistungen für die Öffentlichkeit: beinhaltet die Aktivitäten, die in erster Linie für externe Adressaten(gruppen) erfolgen (inkl. technische Supportdienstleistungen und Weiterbildungsangebote).
  7. Kulturelle Integration: bedeutet die Funktion der Institution als Vermittler von Kultur, z.B. durch die Unterhaltung von Sammlungen, Museen, Bibliotheken und Archiven.

Schwieriger wird es nun bei der Zuordnung von Aktivitäten zu Funktionen, und Samuels räumt selbst ein, dass ein und dieselbe Aktivität durchaus in unterschiedliche oder mehrere Funktionen eingereiht werden könnte. Es sei aber auch von ihr nicht beabsichtigt gewesen, Aktivitäten speziellen Funktionen zuzuordnen, sondern einen Ausgangspunkt für eine weitergehende Funktionsanalyse anzubieten und das Verständnis von Funktionen zu fördern.[20]

Es stehen nun vier Größen sowohl als Bestandsbildungs- als auch als mögliche Ordnungskriterien archivischer Überlieferung im Raum:

  1. Inhalte
  2. Strukturen
  3. Aufgaben
  4. Funktionen

Inhalte zu archivieren ist nichts anderes als das zu archivieren, was das Objekt der Archivierung überhaupt ist: Information. Bei der Überlieferungsbildung bedarf es demnach eines Konsenses darüber, welcher Wert einer Information innewohnen muss, um sie archivwürdig erscheinen zu lassen. Schellenberg nennt für die Analyse des Informationswerts drei Kriterien, die ihm dabei wichtig sind: den Unikatcharakter der Information, ihre Form und ihre Bedeutung für die historische Forschung. Zu finden ist Information in den Unterlagen, die prozessbezogen und ergebnishaft davon zeugen, mit welchen Angelegenheiten ein Schriftgutbildner zu tun hatte.[21] Doch wird man bei der Archivierung von Information letztlich nie um die parallele Evidenzwertermittlung herumkommen, die ebenfalls bereits bei Schellenberg die Informationswertermittlung gleichberechtigt begleitet.[22] Denn nur so lässt sich garantieren, dass Information nicht kontextdefizitär bewahrt wird. Kontexte sind durch Handlungen verursacht, die mit Zwecken und Aufgaben im Zusammenhang stehen. Insofern kann man davon ausgehen, dass eine primäre Konzentration auf kontextverursachende Kriterien eher zu seiner umfassend aussagekräftigen Überlieferung führt als eine primäre Konzentration auf Inhalte.

Strukturen unterliegen häufigen Veränderungen und müssen mit Aufgaben und Funktionen nicht deckungsgleich sein. Die Dokumentation von Organisationsstrukturen und ihrer historischen Entwicklung beinhaltet Aussagen zur Arbeitsweise der Einrichtung und hat einen hohen Wert für die Evidenzüberlieferung. Deshalb kann die Archivierung von Information über Strukturen nicht unterbleiben. Die Nutzung von Archivgut, das den Strukturen einer Einrichtung entsprechend in Findmitteln präsentiert wird, ist für den Nutzer dadurch erschwert, dass er für eine systematische Suche Kenntnisse über die Aufgaben und Funktionen der jeweiligen Organisationseinheiten und über chronologische Schnitte, an denen sich Aufgaben- und Funktionszuweisungen geändert haben, kennen muss. Ein intensives Studium der Schriftgutbildner und ihrer Geschichte muss der effizienten Archivgutrecherche vorausgehen.

Aufgaben werden zugewiesen. Die Zuweisung einer Aufgabe sagt jedoch noch nichts über den Grad und die Art ihrer tatsächlichen Erfüllung aus. Zudem versuchen Aufgabenzuweisungen, den Tätigkeitsrahmen und den Wirkungskreis einer Institution ex ante abzustecken. Das Fortwirken und das Feedback, das sich aus der Erfüllung von Aufgaben ergibt, ist in eine aufgabenbezogene Dokumentation nicht eingebunden. Gleichwohl basiert das Handeln und Funktionieren einer Einrichtung darauf, zugewiesene Aufgaben wahrzunehmen. Für die Recherche nach geeignetem Archivgut ist es für den Forscher wichtig, die Aufgaben eines Bestandsbildners zu kennen, um einschätzen zu können, ob dessen Überlieferung für sein Forschungsthema relevant sein kann. Die Orientierung an Schriftgutbildnern und an deren zugewiesenen Aufgaben ist ein grundlegendes Element des Provenienzprinzips.

Funktionen, verstanden als Zusammenfassung von Aufgaben, Handeln und Wirken einer Stelle, betrachten das Leben einer Einrichtung, ohne dabei eine fremdbestimmte Sichtweise einnehmen zu müssen. So ist es beispielsweise nicht mehr die Sicht des Aufgaben zuweisenden Staats auf eine seiner Behörden, die der Archivar für die Dokumentation, Archivierung oder Bewertung einnehmen muss, vielmehr ermöglicht die Bestandsbildung auf der Grundlage von Funktionen eine objektivere oder neutralere Sicht auf den Bestandsbildner. Funktionsorientierung vermeidet zudem eine Fragestellungen an das Archivgut vorwegnehmende inhaltsorientierte Bestandsbildung, weil sie keine Inhalte definiert, sondern neben Funktionen, die sich durch Aktivitätsbezeichnungen darstellen lassen und dann mit Aufgaben zusammenfallen, den Ausfluss des Handelns einer Stelle durch die beobachtete Wirkung als Funktionsbenennung kennt. Will man Funktionen nach diesem Verständnis als Bestandsbildungskriterien heranziehen, so steht man freilich vor der Situation, dass ihre Bezeichnung hinsichtlich des Zeitraums des Handelns einer Stelle erst ex post geschehen kann, weil erst dann eine Funktionsanalyse im Sinne einer Wirkungsanalyse möglich wird. Hier könnte ein Konfliktpotential mit den Grundsätzen des Provenienzprinzips bestehen, das sich aber als ein nur scheinbares erweist, wenn man auf die Ursache von Verwaltungshandeln als aus der Not, das Chaos im menschlichen Zusammenleben zu verhindern, geborene Tätigkeit sieht. Dann nämlich sind auch Aufgabenzuweisungen an öffentliche Stellen als Resultate der Erkenntnis über ein Handlungsvakuum zu verstehen und somit ebenfalls ex post definiert. Die Funktionsanalyse geht insofern weiter, als sie auf das täglich neu von einer öffentlichen Stelle zu erkennende und auszufüllende Handlungsvakuum rekurriert, das die Realität ihres Wirkens in all seiner Breite bestimmt. Sie nimmt insofern Bezug sowohl auf die Ursache als auch auf die Wirkung von Handlungen.

Der Standard ISDF sieht in der Beschreibung von Funktionen eine Möglichkeit, Archivgut mit höherer Sorgfalt in seinen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen zu präsentieren und Beziehungen zu anderen Teilen des Archivguts herauszuarbeiten.[23] Funktionsanalyse wird in ihm als mögliche Grundlage für die Ordnung, Klassifikation und Beschreibung, für die Bewertung und für die Recherche und Auswertung von Archivgut bezeichnet.[24] Außerdem ist die Beziehung zwischen Archivgut und den seine Entstehung verursachenden Funktionen eine mögliche Definition des Begriffs der Provenienz.[25]

Das Dokumentationsprofil des Universitätsarchivs Bayreuth ist die Grundlage seiner Bestandsbildung. Es orientiert sich an den Funktionen der Universität in ihrem Handeln und gesamtgesellschaftlichen Wirken und greift somit über die amtliche Überlieferung der Universität hinaus und bezieht externe und private Stellen in die Bestandsbildung mit ein. Dabei bleibt es dem Provenienzprinzip treu, indem es Funktionen als Ursachen für Entstehungsprozesse auffasst, beschreibt und bei der Bewertung der Archivwürdigkeit als maßgebende Kriterien mitwirken lässt.

[1] Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen / von Thomas Becker, Werner Moritz, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2009; hier: S. 7-8.

[2] Max Plassmann, Das Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. In: Der Archivar 62 (2009), S. 132-137; hier: S. 133.

[3] Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, aus dem Französischen von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Göttingen, Wallstein Verlag, 2011; Nachwort von Alf Lüdtke, S. 115.

[4] Farge, aaO, S. 28.

[5] In: Archivalische Zeitschrift, 45 (1939), S. 34-51.

[6] Grundsätze der Wertermittlung für die Aufbewahrung und Kassation von Schriftgut der sozialistischen Epoche in der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. v. d. Staatlichen Archivverwaltung im Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik, 1965, S. 14.

[7] Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung – zur Theorie archivarischer Quellenbewertung. In: Archivalische Zeitschrift, 68 (1972), S. 3-40. Der Beitrag wurde 1987 ins Englische übersetzt und in der kanadischen Zeitschrift „Archivaria“ (24) unter der Überschrift „Society and the Formation of a Documentary Heritage: Issues in the Appraisal of Archival Sources“ veröffentlicht. Booms nimmt erneut Bezug darauf in einer Neubetrachtung unter dem Titel „Überlieferungsbildung: Keeping Archives as a Social and Political Activity“ in Archivaria 33 (1991/92, S. 25-33), die erst 1999 in Deutschland unter „Überlieferungsbildung als eine soziale und politische Tätigkeit“ verbreiteter zugänglich wird (Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Hrsg. von Friedrich Beck, Wolfgang Hempel, Eckard Henning (Potsdamer Studien 9). Potsdam 1999. S. 77-89).

[8] Angelika Menne-Haritz, Archivierung oder Dokumentation – Terminologische Fallen in der archivischen Bewertung. In: Bilanz und Perpektiven archivischer Bewertung – Beiträge eines Archivwissenschaftlichen Kolloquiums, hg. v. Andrea Wettmann, Marburg, 1994 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 21), S. 232.

[9] Noch im März 2013 sah der Bayerische Archivtag die Notwendigkeit, dieses Selbstverständnis zu propagieren, indem er sein Motto in eine rhetorische Frage kleidete: Pflicht oder Kür? Nachlässe, Sammlungen, Verbandsschriftgut“.

[10] Robert Kretzschmar, Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare zur archivischen Überlieferungsbildung. In: Der Archivar 58 (2005), S. 88-94; hier: S. 90. Im Internet wurde das Positionspapier bereits im November 2004.

[11] Max Plassmann, Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung. In: Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen – Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 – Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Insitutionen – des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2007 (= Universitätsreden, Bd. 73), S. 33-45; hier: S. 34.

[12] Abgedruckt in: Der Archivar 65 (2012), S. 6-11.

[13] aaO, S. 7.

[14] Frank M. Bischoff, Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung – Fragen aus Sicht der Archivschule Marburg. In: Neue Perspektiven archivischer Bewertung, hg. v. Frank M. Bischoff u. Robert Kretzschmar, Marburg, 2005, S. 119-144; hier v.a.: S. 140-141; Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. und hrsg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, 7).

[15] Dokumentationsprofil, S. 12.

[16] In: Der Archivar 62. 2009, S. 122-131.

[17] David Bearman und Richard Lytle, The Power of the Principle of Provenance. In: Archivaria 21 (Winter 1985-86), S. 22; zitiert aus: Helen Willa Samuels, Varsity Letters – Documenting Modern Colleges and Universities, Lanham, Md., und London, 1998, S. 4. Die gleiche Auffassung vertreten die Autoren des Standards ISDF: “Functions are recognised as generally being more stable than administrative structures, which are often amalgamated or devolved when restructuring takes place.“ (ISDF, Kap. 1.3).

[18] ISDF – International Standard for Describing Functions, First Edition, hg. v. International Council on Archives (ICA), 2007

[19] Samuels zitiert hier Terry Cook, Mind or Matter – Towards a New Theory of Archival Appraisal. In: Festschrift für Hugo Taylor, hg. v. d. Association of Canadian Archivists, 1992.; bei Samuels auf Seite 3.

[20] Samuels, Varsity Letters, S. 22-23.

[21] Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. u. hg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröfffentlichungen der Archivschule Marburg, 17), S. 58-59.

[22] Vgl Schellenberg, aaO, S. 38 ff.

[23] ISDF, Kap. 1.4.

[24] ISDF, Kap. 1.3.

[25] ISDF, Kap. 3 „Glossary of Terms and Definitions“, s.v. “Provenance. […] Provenance is also the relationship between records and the functions which generated the need of the records.”

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/693

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Pommersche Gravamina, Teil VI – politische Destabilisierung

Ein letztes Mal zu der Flugschrift, in der die Gesandtschaft des Herzogtums Pommern auf dem Regensburger Kurfürstentag auf die unerträglichen Zustände in ihrem Land hinwies. Jenseits der Gravamina über die Ausschreitungen der in Pommern einquartierten Truppen ist ein Aspekt festzuhalten, der meist unausgesprochen mitschwingt, in wenigen Passagen dieser Beschwerdeschrift dann auch explizit benannt wird. So heißt es an einer Stelle: „Vnd lassen sich zum 30. theils der Officirer noch wol verlauten / daß sie / vnd nicht der Landsfürst vber die Vnterthanen im Lande zu gebiethen haben.“ (S. 9, Nr. 30) Was hier formuliert wird, ist nichts weniger als der Anspruch des Militärs, die landesherrliche Souveränität völlig an die Seite zu drücken und die obrigkeitlichen Kompetenzen für sich selbst zu reklamieren.

An der Machtlosigkeit des Herzogs von Pommern war gar nicht zu zweifeln. Wer konnte der kaiserlichen Armee widerstehen, die in den vergangenen Jahren jeden Gegner im Feld besiegt hatte (die unglückliche Belagerung vor Stralsund lassen wir hier mal außen vor) und allein durch ihre schiere Masse jeden Widerstand zu erdrücken schien? Am Ende der Flugschrift findet sich eine Beilage, die ein Verzeichnis der in Pommern stationierten Truppen enthält: Dort ist von 19 Regimentern Infanterie und Kavallerie mit insgesamt 163 Kompagnien die Rede. Natürlich waren dies erst einmal Einheiten, über deren Ist-Stärke kaum Klarheit zu erzielen war. Doch auch wenn Abgänge durch Krankheit und Desertion die Truppenstärke reduziert hatte, blieb eine gewaltige Militärmacht im Lande. Auch dies gehörte zum Prinzip Wallensteinscher Kriegführung: Es wurden so viele Einheiten in ein Territorium gelegt, daß Widerstand zwecklos war – und mit der militärischen Dominanz ließen sich auch politische Ziele erreichen.

Pommern selbst befand sich in einer besonders schwierigen Situation. Herzog Bogislaw XIV. war der letzte Vertreter des Greifenhauses, seine Ehe kinderlos: Das Herzogtum stand also vor einer offenen Nachfolge, und die Prätendenten begannen bereits, sich in Position zu bringen – kein Wunder, war das Territorium an der Ostseeküste mitsamt der Odermündung auch von besonderem strategischen Wert: für den südlichen Nachbarn Brandenburg, für das von einem dominium maris Baltici träumende Schweden wie auch für eine kaiserliche Politik, die ihren Feldherrn zum „Admiral der baltischen und ozeanischen Meere“ bestimmte. Angesichts dieser Machtinteressen war Wallensteins Urteil über Bogislaw fatal: Der Herzog von Pommern sei ein einfältiger Herr, ja einen armen Tropf nannte er ihn ein anderes Mal (Golo Mann, S. 361).

So besehen erschien die massive Truppenpräsenz des kaiserlichen Heeres in Pommern durchaus sinnvoll. Und doch wird man über den speziellen Fall Pommerns hinaus sehen müssen, daß es viele Maßnahmen gab, die unabhängig von einem übergeordneten Machtkalkül das Herzogtum erschütterten: Wenn kaiserliche Offiziere Zölle erhoben und neue Zölle einführten, den pommerschen Untertanen eigene Pässe ausstellten und über sie auch „in causis ciuilibus“ Gerichtsurteile verhängten (S. 9 f., Nr. 27, 30-32) – von den Eingriffen in die konfessionellen Verhältnisse des Landes gar nicht zu reden (vgl. Pommersche Gravamina, Teil II) –, dann wird deutlich, daß eine Einquartierung immer auch eine potentielle politische Destabilisierung bedeutete. Jede Landesobrigkeit sah sich nun einer konkurrierenden Herrschaftsinstanz gegenüber, die die Macht hatte, die landesherrliche Souveränität auszuhöhlen und Kompetenzen an sich zu ziehen.

Wenn also Feldmarschall Torquato Conti, der Kommandeur über die kaiserlichen Truppen in Pommern, von einer pommerschen Delegation ultimativ die Zahlung der Ausstände für seine Truppen forderte, und „solten sie sich auch biß auffs Hembde außziehen müssen“ (so wurde er in der Flugschrift zitiert: S. 16), so war dies nicht nur eine brüske Drohung, sondern auch der klare Verweis darauf, daß der Herzog in diesem Land nicht mehr viel zu sagen hatte.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/159

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