Im heutigen Post möchte ich eine der aufwendigsten Verschlüsselungsmethoden vorstellen, die aber – vor allem für kurze Texte und trotz ihres Alters von mehr als 500 Jahren – sehr sichere Geheimtexte erzeugt, die man im Zweifelsfall gar nicht als solche erkennt. Und da ich den Post am langen Osterwochenende schreibe und veröffentliche, verpacke ich die Darstellung in eine Rahmenhandlung, die zu diesem christlichen Fest (und gewissen Einschränkungen, die in seinem Rahmen bezüglich öffentlicher Vergnügungen gelten) passt. Stellen wir uns vor, wir bekämen am Karfreitag eine gedruckte Einladung zu einer Karfreitagsmesse in die Hand, auf der der folgende Leitspruch (oder wie man das auch immer nennt) abgedruckt wäre:
“Redemptor clemens stabiliens vitam iustis suis in paradiso amen.”
Wenn man sich an ein paar Bröckchen Latein erinnert (so wie ich), so könnte man sich vielleicht zusammen konstruieren, dass irgendwie von einem barmherzigen Erlöser und wahrscheinlich dem Garten Eden die Rede ist und sich dabei ein wenig über die getroffene Wortwahl wundern. Altphilologen würden wohl skeptischer werden ob der Holprigkeit des Ausdrucks. Niemand aber könnte wohl erahnen, dass es sich um eine versteckte Aufforderung handelt, das behördlicherseits streng kontrollierte Tanzverbot am stillen Feiertag zu ignorieren.
Verschlüsselt wurde diese Aufforderung mit einer Methode, die beschrieben wird im ersten Buch der sechsteiligen
Polygraphia von Johannes Trithemius. Leser dieses Blogs, die schon zu Posterous-Zeiten dabei waren oder über den
Übersichts-Artikel den
ersten und den
zweiten Teil zur Entschlüsselung der
Steganographia III gelesen haben, ist der Name Johannes Trithemius bereits ein Begriff. Ich habe ihn als Abt des Klosters Sponheim im Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert vorgestellt. Wegen einer unguten Geschichte hinsichtlich der Rezeption seines ersten Buchs zu Geheimschriften (eben der Steganographia) stellte er sein Amt dort zur Verfügung und war bei der Fertigstellung der Polygraphia bereits der Abt des Klosters Würzburg. Ich hatte den Ablauf der Ereignisse, die Trithemius zum Klosterwechsel veranlassten, bereits in den beiden erwähnten Posts thematisiert, das Problem lag in der explosiven Kombination einer großspurigen Vorankündigung des Werks, einer Menge arkanen Popanz im Buch sowie einem Abt, der lieber den überlegenen Geheimniskrämer gab, als glaubhaft darzulegen, dass das, was wie magischer Schnickschnack aussah, in Wirklichkeit durchdachte Chiffriermethoden waren. Trithemius wiederholt diese Fehler im Falle der Polygraphia nicht, dem Buch geht – zumindest oberflächlich betrachtet – jeder Anschein des Geheimnisvollen ab.
Mit der Polygraphia wird aber etwas eingelöst, was schon für die Steganographia angekündigt war: Die Beschreibung eines Verfahren, mit dem – wie Trithemius behauptet – ein ungelehrter Mann innerhalb von zwei Stunden das Lateinische lesen, schreiben und verstehen können soll. Dieses Verfahren entpuppt sich bei näherem Hinsehen allerdings eher als eine raffinierte Chiffriermethode denn als tatsächliches Lernprogramm für die lateinische Sprache. Dessen ungeachtet wird der Ansatz später sowohl ins Französische (durch Gabriel des Collange 1561) als auch ins Tschechische (durch Raphael Mnishowsky, um 1628) übertragen, um es tatsächlich als Lernverfahren für das Französische bzw. Tschechische einzusetzen. Beides kann eigentlich nicht wirklich funktioniert haben. Bessere Aussichten hatte da die Entlehnung der Methode als Chiffre. Betrachten wir aber zunächst ihre Funktionsweise.
Neben einer kurzen lateinischen Beschreibung zu Anfang finden sich in der Polygraphia I 383 Listen, die aus jeweils 24 untereinander platzierten Wörtern bestehen. Zusammengenommen ergeben diese Listen eine über mehr als 100 Seiten laufende Tabelle, die sich aus 24 Zeilen und 383 Spalten zusammensetzt. Die ersten sechs Spalten finden sich in der Tabelle unten.
Die ersten 6 Spalten der Polygraphia I. Vor der sechsten Spalte sieht Trithemius ein "suis in", dahinter ein "amen" vor.
Wie die Tabelle andeutet, stehen die 24 Zeilen der Tabelle für 24 Buchstaben des Alphabets (im Vergleich zu dem heute bei uns gebräuchlichen Alphabet fehlen die Buchstaben j und v). Für jeden dieser Buchstaben hat Trithemius 383 verschiedene Wörter zusammengestellt, welche diese ersetzen können. Insofern kann man hier von einer Substitutionschiffre sprechen, die für jeden Klartext-Buchstaben 383 Geheimtext-Homophone bereitstellt. Die Anordung der Wörter in der Tabelle aber ist auf eine beeindruckende Weise ausgeklügelt: Jede Spalte enthält nur Wörter mit gleichen morphosyntaktischen Merkmalen (die erste Spalte etwa nur maskuline Nomen im Nominativ). Benachbarte Spalten sind dabei so gewählt, dass sich sowohl ein syntaktischer wie auch ein semantischer Anschluss ergibt, egal welche Kombination von Wörtern (als Chiffren für eine Buchstabenkombination) auch ausgewählt werden. Ersetzt man mit Hilfe dieser Tabellen einen Klartext sukzessive Buchstaben für Buchstaben mit einem Wort der jeweils nächsten Spalte, so ergibt sich damit ein lateinischer Text, der an ein Gebet erinnert. Der Geheimtext ist damit nicht nur verschlüsselt, sondern zugleich auch maskiert, das heißt – zumindest für Laien – nicht als verschlüsselter Text erkennbar. Aus diesem Grund wurde das Verfahren später auch als
Ave-Maria-Chiffre bezeichnet.
Das Verfahren ist (wie eigentlich alle trithemischen) sehr innovativ und durch die Kombination von steganographischen (versteckenden) und kryptographischen (verschlüsselnden) Elementen auch doppelt sicher – man muss ja erst einmal darauf kommen, dass man es überhaupt mit einer verschlüsselten Botschaft zu tun hat. Selbst wenn man um diese weiß, dürfte es so gut wie unmöglich sein, den Klartext auf irgend eine Weise zu rekonstruieren, hat man nicht die Ersetzungstabelle (in diesem Fall eine Ausgabe der Polygraphia) zur Hand. Das Verfahren weist allerdings auch eine Reihe von Nachteilen bezüglich seiner Anwendung auf:
- Der verschlüsselte Text ist um einiges länger als die ursprüngliche Nachricht – schließlich werden ja einzelne Buchstaben durch ganze Wörter ersetzt.
- Nach 383 Klartextzeichen kommt man am Ende der Ersetzungsspalten an. Beginnt man einfach wieder von vorne, so öffnet man ein Einfallstor für einen kryptoanalytischen Angriff auf den Geheimtext, weil sich zwangsläufig Wörter häufig wiederholen werden, die hochfrequent vorkommende Buchstaben ersetzen.
- Sender und Empfänger müssen beide über die gleiche Ersetzungstabelle verfügen. Niemand anderem sollte diese zur Verfügung stehen.
Diese Schwierigkeiten waren wohl auch der Grund dafür, dass sich kaum Belege dafür finden lassen, dass die Methode auch Anwendung fand. Lediglich
Blaise de Vigenère, der sich später auch einen Namen als Kryptograph machen sollte (die
Vigenère-Chiffre ist um einiges berühmter als jedes trithemische Verfahren), weiss zu berichten, dass sich die Türken vom venezianischen Botschafter in Konstantinopel durch eine Ave-Maria-Chiffre haben täuschen lassen. Herzog August der Jüngere (der auch für den legendären Ruf
der nach ihm benannten Bibliothek verantwortlich ist) führt in dem von ihm unter dem Pseudonym Gustav Selenus verfassten Handbuch zur Kryptographie zwei Adaptionen der trithemischen Ave-Maria-Chiffre auf, eine weitere lateinische vom italienischen Kryptologen Giambattista della Porta, sowie eine deutsche von einem unbekannten Autor (möglicherweise von ihm selbst). Mit letzterer lassen sich Geheimtexte erzeugen, die in Inhalt, Metrik und Rhythmus dem Vater-unser-Gebet ähneln (leider habe ich über das Wochenende keinen Zugriff auf das entsprechende Buch, so dass ich hier leider kein Beispiel präsentieren kann).
Oben erwähnt hatte ich ja auch schon die Übertragungen ins Tschechische und ins Französische, um damit Sprachunterricht durchführen zu können. Vielleicht fehlt mir die Phantasie, wie der Sprachunterricht anhand von Wortlisten vonstatten gehen könnte, jedenfalls kann ich mir einen solchen nicht erfolgreich vorstellen. Natürlich kann ein des Lateinischen unkundiger die Polygraphia I nutzen, um ohne Probleme einen Text in einer Sprache, die er beherrscht, zu verschlüsseln. Er kann sie genauso nutzen, um einen verschlüsselten Text zu dechiffrieren. Dabei erzeugt und liest er zwar einen lateinischen Text, er versteht aber nicht im Mindesten dessen Inhalt. Es passiert ungefähr genau das, was in
Searles chinesischem Zimmer vor sich geht – vorgetäuschtes Verständnis, ohne eine Sprache zu beherrschen.
Insgesamt besteht die Polygraphia aus insgesamt sechs Teilen, von denen ich bisher lediglich den ersten erwähnt habe. Der zweite Teil unterscheidet sich vom vorherigen lediglich durch die auf die Tabelle verteilten lateinischen Wörter, auch Teil drei und vier sehen oberflächlich betrachtet aus, als würde das gleiche Prinzip weiter durchgehalten. Das stimmt aber nur zum Teil. Wie ich
hier schon einmal kurz angedeutet habe, spreche ich dem Verfahren, welches in der Polygraphia III beschrieben wird, das Potential zu, einen Text zu erzeugen, der
ähnliche statistische Eigenheiten wie der des
Voynich Manuskripts aufweist. Dazu aber ein andermal mehr (wie immer – wer nicht abwarten kann, lese einfach
hier weiter).
Ach so – die versteckte Botschaft – die habt ihr euch doch aber schon längst selbst aus der Tabelle rekonstruiert, oder?
Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/156