App “Die Berliner Mauer”

[Autorin: Sabrina Büning | Studierende | Universität Duisburg-Essen]

Digitale Medien gehören im Jahr 2013 sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche zum Alltag. Ein mittlerweile gängiges und vielgenutztes Format stellen Apps für mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets dar. Die Bundeszentrale für politische Bildung (Bonn) hat anlässlich des 50. Jahrestages des Mauerbaus in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für zeithistorische Forschungen (Potsdam) die kostenlose Berliner-Mauer-App veröffentlicht, welche seine Nutzerinnen und Nutzer während eines Aufenthaltes in Berlin zu zahlreichen historischen Orten rund um die Berliner Mauer navigiert. Sie enthält bereits vorprogrammierte Touren mit festgelegten Stationen, jedoch können auch eigene Touren individuell zusammengestellt werden. Des Weiteren existiert auch ein Entdeckermodus, mit dem sich die Nutzerin oder der Nutzer auf Mauerüberreste in seiner unmittelbaren Umgebung aufmerksam machen lassen kann. Dieses Herzstück der App kann jedoch nur in vollem Umfang genutzt werden, wenn sich die Nutzerin oder der Nutzer in Berlin aufhält. Da die App neben den Touren jedoch auch zahlreiche Bild-, Ton- und Textmaterialien bereit hält, ist es zudem möglich, die App zum Beispiel im Geschichtsunterricht zu verwenden, ohne dass eine Anwesenheit in Berlin von Nöten wäre.

Die App ist sowohl mit Smartphones, die mit einem IOS-Betriebssystem ausgestattet sind als auch mit Android-Phones kompatibel. In Verbindung mit der Mauer-App gibt es weiterhin eine Webseite (www.chronik-der-mauer.de), die in den Rubriken Chronik, Grenze, Todesopfer, Material und Lernen weiteres detailliertes Infomaterial zu der Berliner Mauer bietet.

Was bietet die App seinen Nutzerinnen und Nutzern neben den Touren?

Die App beinhaltet einige weitere Funktionen, die jederzeit aufgerufen und genutzt werden können. Sie enthält beispielsweise eine Karte, die den Verlauf der Mauer aufzeigt und darüber hinaus mit Symbolen versehen ist. Die verschiedenen Symbole zeigen dem Anwender historische Orte und Sehenswertes, Informationen zur Flucht, Mauerspuren, Ausstellungen und Denkmäler sowie (ehemalige) Grenzübergänge. Zu allen in der App angesprochenen Orten gibt es eine textuelle Erläuterung, die durch Fotostrecken und Tonmaterial (z.B. in Form von Reportagen) ergänzt wird. Zudem erhält die App das Video “Eingemauert – die innerdeutsche Grenze”. Es zeigt einen etwa zehnminütigen animierten und kommentierten Film, der dem Nutzer den Aufbau und die verschiedenen Zonen der Mauer aufzeigt.

Wie sinnvoll ist die Nutzung der App im Geschichtsunterricht ohne Aufenthalt in Berlin?

Obwohl die Hauptfunktion der App (außer in Berlin) im Klassenzimmer nicht verwendet werden kann, gibt es dennoch Möglichkeiten, im Geschichtsunterricht auf die App zurückzugreifen und gleichzeitig die digitale Medienkompetenz der Klasse zu schulen. Die interaktive Karte mit dem Mauerverlauf kann aufgerufen werden, um den Schülerinnen und Schülern den Verlauf der Mauern in Berlin entdecken zu lassen. Die kurzen Texte, die es zu jeder Station gibt, eignen sich gut, um einen ersten Eindruck von einem Thema zu erhalten (z.B.: Was ist das Brandenburger Tor?). Die zu dem Text passenden Fotostrecken veranschaulichen den Inhalt. Die Tondokumente, die zum Großteil aus Ausschnitte von Reportagen bestehen, erweisen sich als weniger für die Verwendung im Unterricht geeignet, da sie überwiegend monoton wirken und keinen roten Faden bzgl. eines Themas erkennen lassen. Besonders empfehlenswert ist jedoch das Video, da es den Aufbau und die Funktionen der Mauer sehr anschaulich darstellt und erklärt. Obwohl nicht alle Funktionen der App sinnvoll in den Unterricht integriert werden können, haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, diese außerhalb der Schule zu verwenden und sich mit den nicht behandelten Themen auseinandersetzen und weitere Informationen zu einem Thema ihrer Wahl zu sammeln.

Da nahezu alle Schülerinnen und Schüler mittlerweile ein Smartphone besitzen und mit dessen Bedienung vertraut sind, kann die App problemlos im Unterricht eingesetzt werden.

Aus diesen Gründen kann die Verwendung der App im Geschichtsunterricht insgesamt als empfehlenswert angesehen werden, auch wenn sie die Schülerinnen und Schüler nicht in Berlin aufhalten, um die Touren der App zu nutzen.

Quelle: http://zwopktnull.hypotheses.org/118

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Twitter – Medium der Geschichtskultur, z.B. @9Nov38 (Akteursperspektive)

 

Geplant für ein paar hundert Twitter-Follower, wurde „Heute vor 75 Jahren – @9Nov38“ zu einem Massenereignis mit über 11.000 Abonnenten und 36.000 Homepageabrufen. Die vielfach geschilderte Wirkung erhielt es aus zwei für das Medium spezifischen Eigenheiten: Der niedrigen Partizipationshürde und der Zeit als eigener inhaltlicher Dimension. Diese machen Twitter zu einem beachtenswerten Kanal der öffentlichen Geschichtsvermittlung.

 

Ein Netzereignis

Die Nachzeichnung der Umstände und Ereignisse der Pogrome im November 1938 auf Twitter ist innerhalb weniger Tage und ohne professionelle Werbung zu einem wirklichen Netzereignis geworden. Über 11.000 Menschen äußerten innerhalb von zwei Wochen mit einem Klick auf ‚Folgen‘ Interesse an diesem zeithistorischen Phänomen und besuchten die dazugehörige Homepage mit kontextualisierenden Zusatztexten und Abschriften von Quellen über 36.000 Mal. Nach der regionalen und überregionalen Presse Deutschlands berichteten auch internationale Medien von China bis Panama, zuletzt die New York Times1. Zu erklären ist dies nicht allein mit dem erinnerungskulturellen Fokus rund um den 75. Jahrestag des deutschen Pogroms. Vielmehr sind zwei Besonderheiten des neuen Mediums Twitter entscheidend für den Erfolg eines solchen Public History-Projektes, die es zu einer wertvollen Ergänzung von etablierten Vermittlungsformen machen.

Geschichts-Kommunikation ohne Hürden

Ein Twitteraccount bietet – im Gegensatz zum Weblog oder zur Website oder analogen Medien – mindestens zwei wesentliche Vorteile: Da wäre zum einen die niedrige Partizipationshürde. Ausgehend von der Grundannahme, nur Twitternutzer oder Menschen mit der Bereitschaft, sich dort zu registrieren, erreichen zu können, ist die Rezeption für diese Zielgruppe äußerst einfach: Es genügt ein Klick. Da Twitter durch sog. Replies, Retweets und Favs mittlerweile zu einem stark wechselseitig ausgerichteten Kommunikationsmedium geworden ist, fallen dort auch viele Hürden, die ein direktes Feedback zu den HistorikerInnen sonst erschweren: Eine Antwort in 140 Zeichen erfordert weniger Mühe und Überwindung als eine Mail, ein Kommentar oder ein Brief. Im Projektfortschritt von @9Nov38 war dies leicht zu erkennen: Unter einzelnen Tweets entsponnen sich längere Diskussionen, in die sich immer mehr LeserInnen einschalteten. Es wurden Rückfragen gestellt oder tradierte Familiengeschichten zu den Novemberpogromen geschildert. Nach einigen Tagen begannen Nutzer, die Tweets simultan ins Englische, Spanische, Türkische und Kurdische zu übersetzen. Andere gaben Anregungen oder verlinkten mit Verweis auf den Nutzernamen @9Nov38 Artikel, Fotos und Quellen. Wir erhielten Privatnachrichten und später auch E-Mails von Menschen, die nun die eigene Familiengeschichte im Nationalsozialismus nachvollziehen, vielleicht sogar erforschen wollten und um Starthilfe baten.2 In diesem Sinne wurde @9Nov38 zu einem gegenseitigen Austausch über historische Prozesse zwischen HistorikerInnen und einer interessierten, digital aktiven Teilöffentlichkeit.

Einwände und Bedenken

Über die Nachteile von Twitter, ob mit oder ohne geschichtswissenschaftlichen Kontext, ist schon viel gesagt worden – auch zu @9Nov38 3. 140 Zeichen sind sehr wenig, um komplexe Sachverhalte darzustellen, Kontextualisierung, die sich die Historikerzunft als Markenkern zuschreibt, kann kaum erfolgen. Das Projekt muss man allerdings in seiner Gänze betrachten – es umfasst momentan 665 Tweets mit über 77.000 Zeichen. Dies entspricht 51 Normseiten – dazu werden auch noch weiterführende Blogeinträge und Quellen veröffentlicht. Wer unser Projekt aufmerksam verfolgt, liest also im nebenbei einen Text von der Länge eines wissenschaftlichen Aufsatzes. Ein weiterer Vorwurf, der angebracht wurde, war, dass wir Geschichte auf eine Abfolge von Einzelereignissen reduzieren, auf ein Auflisten dessen, wie es, frei nach Ranke, „eigentlich gewesen“ sei. Um dies zu vermeiden, richteten wir die Homepage4 ein, auf der wir das Projekt erklären, Zusatzinformationen und Kontext liefern sowie Originalquellen veröffentlichen. Sie diente der weiteren, kontextualisierenden Information.

Potenzial: Zeit als Raum

Neben der leichteren Partizipation bietet Twitter ein mediales Wesenselement, das es von anderen Vermittlungsformen unterscheidet: Die Zeit als Raum der historisierenden Nachzeichnung. Während Bücher und Aufsätze genau in jener Zeit erfahren werden, die sich der Leser nimmt, müssen Filmproduktionen eine Handlung in die Länge der Sendung einpassen. Fiktive Realzeitformate wie die TV-Serie ‚24‘ bilden dort eine Ausnahme, die auf Dokumentationen bisher nicht angewendet wurde. Twitter und dementsprechend auch ‚Heute vor 75 Jahren‘ war mehrere Tage rund um die Uhr aktiv. Seine Wirkung entfacht diese Zeitlichkeit in erster Linie durch die Frequenz: Viele Leser teilten später mit, in der Nacht von Samstag auf Sonntag nicht ins Bett gegangen zu sein, weil sich der Abstand zwischen einzelnen Tweets derart verkürzt hatte, dass sich ein Eindruck der zeiträumlichen Dimension der reichsweiten Pogrome einstellte:

PHW HJS - Diagramm Kopie

Dieses Mittel, über Tage und Wochen in verschiedenen Veröffentlichungsfrequenzen zu arbeiten, ist natürlich problematisch. Noch mehr als andere Inhalte stellt es eine nachträgliche, inszenierende Konstruktion dar, die bei der Konzeption stets zu hinterfragen ist. Uns bot sich allerdings so die Gelegenheit, die Ereignisse über einen längeren Zeitraum inklusive Vor- und Nachgeschichte zu schildern, eine zeitliche Verkürzung hingegen wäre unangebracht gewesen. Sie hätte auch unserem Anspruch, wissenschaftlich korrekt zu arbeiten, widersprochen. Im Dezember werden wir jeden Tweet mit einer Quellenangabe aus der Forschungsliteratur belegen. Durch die Aufnahme von @9Nov38 in das Dossier einer internationalen Nachrichtenagentur wurde das Projekt zu einem medialen Teil des offiziellen deutschen Gedenkens.

Twitter-Chancen

Twitter kann also – mit derselben Sorgfalt und kritischen Distanz wie jedes andere nichtwissenschaftliche Medium eingesetzt – eine wertvolle Ergänzung zur bisherigen populären Geschichtsvermittlung sein. Es erreicht andere Teilöffentlichkeiten als Fernsehen und Printmedien und lädt mehr als jedes andere Instrument zur Partizipation ein. Hieraus ergibt sich für die Vermittlung, aber auch die Analyse aktueller Geschichtskultur die Notwendigkeit, dass sich Public Historians mit Twitter auseinandersetzen, und es gleichermaßen als Werkzeug wie als Quelle begreifen.

 Vgl. Charlotte Bühl-Gramer mit ihrer Außenperspektive

 

Literatur

  • Mounier, Pierre: Die Werkstatt öffnen. Geschichtsschreibung in Blogs und Sozialen Medien. In: Haber, Peter / Pflanzelter, Eva (Hrsg.): historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften, München 2013, S. 51-60. [DOI= http://dx.doi.org/10.1524/9783486755732.51 ]

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
Screenshot von @9Nov38 (22.11.13, 12.30 Uhr) mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen.

Empfohlene Zitierweise
Hoffmann, Moritz / Jahnz, Charlotte / Schmalenstroer, Michael: Twitter – Medium der Geschichtskultur, zum Beispiel @9Nov38 (Akteursperspektive). In: Public History Weekly 1 (2013) 13, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-779.

Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

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Twitter – Medium der Geschichtskultur, z.B. @9Nov38 (Außenperspektive)

 

Hohe Resonanz in traditionellen wie neuen Medien und über 11000 Follower verzeichnete das Microblogging fünf junger HistorikerInnen zu den Novemberpogromen vor 75 Jahren. Ermöglicht zeitversetztes Tweeten wie das Projekt @9nov38 neue Brückenschläge in die Gegenwart? Einem ersten Kurzbeitrag der AutorInnen am 28.10.2013 folgten im November über 400 weitere Tweets, eine Abfolge aus Quellenauszügen und quellenbasierten Nachrichten. Der Wechsel des Slogans bei Twitter von „What are you doing?“ zu „What’s happening“ im Jahr 2009 bildete dabei die Voraussetzung, über aktuelle persönliche Befindlichkeiten und Tätigkeiten hinaus Kurzmeldungen und Kommentare zu posten und auszutauschen.1

 

Geschichte als Statusupdate?

Auf einige geschichtstheoretische Fehlschlüsse des neuen Medienformats zur Thematisierung von Geschichte wurde bereits hingewiesen: aufzählende Fragmentierung in Einzelereignisse anstelle historischer Narration, Simulation einer Kopräsenz durch die Illusion minutengenauen „Miterlebens“ „der“ Ereignisse, Gleichsetzung von Vergangenheit und Geschichte durch die Anwendung des historischen Präsens.2 „What happened?“ wäre also der geeignetere Slogan für Geschichts-Tweets. Zur medialen Eigenlogik von Twitter gehört schließlich nicht nur die Deutung durch Auswahl von 140 Zeichen kompatiblen Nachrichten, sondern auch durch die Festlegung einer zumutbaren bzw. rezipierbaren Nachrichtenfrequenz für die Follower. „Im Endeffekt würden … am Abend und in der Nacht des 9./10. Novembers tausende Ereignistweets durchlaufen, die keiner mehr lesen oder aufnehmen könnte. Die Auslassung ist also gewollt und nötig.“3 Dagegen haben sich die AutorInnen von @9nov38 dem Problem der fehlenden Kontextualisierung und mangelnder Kohärenzangebote gestellt: Die begleitende Website4 enthält Quellen, einen Blog sowie Links zu Reaktionen auf das Projekt. Nach dessen Abschluss sollen überdies die Inhalte aller Tweets in einer Datenbank mit Literaturverweisen belegt werden.

Medienspezifische Potenziale

Die über mehrere Wochen abgesetzten Tweets können die temporale Dynamik der Novemberpogrome als Terrorwoche mit ihrer Vor- und Nachgeschichte deutlich machen. Durch ihre simultane Taktung mit der Gegenwart des Nutzers erhalten sie möglicherweise einen erhöhten Aufmerksamkeitsstatus und Prägnanz. Die im öffentlichen Gedenken stattfindende Reduktion der Vorgänge auf eine „Pogromnacht“ wird aufgebrochen. Die ereignisgeschichtlich individualisierenden und personalisierenden Kurznachrichten zum Leid der Opfer rücken die Gewalt gegen Menschen stärker ins Bewusstsein als dies häufig in den öffentlichen Medien erfolgt. Denn dort werden vor allem auch auf visueller Ebene die Pogrome auf die materielle Zerstörung reduziert, den brennenden Synagogen und zerstörten Geschäften. Natürlich müssen auch Geschichts-Tweets erst einmal abonniert werden, setzen also Eigeninitiative voraus, die aber als niederschwellig anzusiedeln ist. Als virtuelle Stolpersteine können sie neue Zielgruppen ansprechen und Lernvorgänge in Gang setzen oder verstärken. Das zeigt zumindest das auch die AutorInnen überraschende hohe Interesse der Follower an den verlinkten Quellen. 

Geschichte auf der Timeline

Da die Tweets im persönlichen bunten Nachrichten-Mix der Nutzer landen, stellt sich natürlich auch hier die Frage nach Kohärenz und Stabilität der Sinnbildungen durch diese historischen Weckrufe.5 Möglicherweise fungiert aber dieses „barrierefreie“ Einbrechen der Tweets in die Normalität und Gegenwart des eigenen Alltags auch als ein weiterer Zugang jenseits der normativ gebotenen Trauer, weil der Nutzer bzw. die Nutzerin sich auch hier bewusst wird, dass er bzw. sie selbst gerade etwas tut, was für viele Juden in Europa nicht möglich gewesen ist.6 „Das Vergangene muß eine Art neuer Gegenwart erhalten, zu neuem Leben erweckt werden: zu einem ‚sekundären’ Leben, dessen Ort unser Bewußtsein ist”7. So beschrieb Rolf Schörken lange vor dem Web 2.0 Vergegenwärtigung als eine Form der historischen Bemühung um Aneignung von Geschichte in der Gegenwart. Ein kreativer Versuch, das Vorstellungsvermögen zu aktivieren und Ritualisierungen des Gedenkens aufzubrechen, ist das Projekt in jedem Fall.

Vgl. Autorenteam Hoffmann, Jahnz & Schmalenstroer mit ihrer Akteursperspektive

Literatur

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
Screenshot von @9Nov38 (22.11.13, 12.30 Uhr) mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen.

Empfohlene Zitierweise
Bühl-Gramer, Charlotte: Twitter – Medium der Geschichtskultur, z.
B. @9Nov38 (Außenperspektive). In: Public History Weekly 1 (2013) 13, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-798.

Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

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“Destroy this mad brute” | Woher kommt der Gorilla?


 

Das bekannte US-Propaganda-Plakat Destroy this mad brute von 1917 (verwendet im  heute veröffentlichten segu-Modul “Jeder Schuss ein Russ…” über Feind-”Bilder” des Ersten Weltkriegs, dies auch der Anlass für das Blogpost) zeigt einen Pickelhaube tragenden, zur Bestie stilisierten Gorilla, der vom zerstörten Europa kommend amerikanisches Festland betritt und eine wehrlose Frau im Arm hält. Das klassische King Kong-Motiv also – aber bereits im Jahr 1917? Die Figur des King Kong wurde erst 1933 “erfunden”.

Woher kommt also der Gorilla? Eine Nachfrage bei twitter (Dank an @ChristianBunnen, @eisenmed und @MschFr) brachte einige Antworten. Grundsätzlich waren tierische Motive auf Propaganda-Plakaten sowohl im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg beliebt. Das Bild vom monsterhaften Gorilla führt in die Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere zu Paul du Chaillu, der auf zwei Expeditionen 1859 und 1863-65 nach Westafrika als erster Naturforscher Gorillas begegnete und auch einige tote Exemplare mit nach Europa brachte. Seine Reiseberichte Explorations and adventures in Equatorial Africa von 1861 oder Stories of the Gorilla Country von 1871 wurden Bestseller – und hatten an der Verbreitung vom Bild des schrecklichen Gorillas als “some hellish dream creature” den wohl größten Anteil. Gorillas hatten Zoologen allerdings bereits in den 1840erer Jahren zu faszinieren begonnen; ihre offenbare Nähe zum Menschen und die Frage äffischer Intelligenz bewegte die Naturwissenschaft im Zeitalter Darwins. Das zweite Motiv sowohl des Plakats von 1917 als auch bei King Kong, die Frau in den Fängen des Gorillas, geht wohl auf die Skulptur Gorilla entführt eine Frau von Emmanuel Fremiet aus dem Jahr 1887 zurück. Seinerzeit löste das Kunstwerk einen Skandal aus, auch weil die naheliegende Frage heftig diskutiert wurde, ob der Gorilla die Frau verschleppt habe um sie später zu verspeisen. Das Motiv des Affenmenschen findet sich auch in anderer Form, z.B. ab 1912 in der Figur des Tarzan wieder. Das Bild von Frauen entführenden Bestien wiederholte sich später in diversen Filmen der 1950er Jahre (s. die Filmplakate in diesem Blogpost, dort auch eine interessante Interpretation; eine weitere hier).

Soweit eine kurze Synthese aus dem twitter-Chat. Sicher lassen sich noch Aspekte ergänzen, weiterentwickeln und ggf. korrigieren.

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): “Destroy this mad brute” | Woher kommt der Gorilla? In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 25.11.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/2245, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/2245

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Lesetipp | Der europäische Bildersaal | hrsg. von Michael Wobring und Susanne Popp

Welche Bilder finden sich am häufigsten in europäischen Schulgeschichtsbüchern? Der Auswahl von 14 Gemälden, Zeichnungen und Fotos, die in den Beiträgen des Sammelbandes Europäischer Bildersaal. Europa und seine Bilder (hrsg. von Michael Wobring und Susanne Popp, Schwalbach/Ts. 2013, Wochenschau-Verlag, 190 Seiten, 39,80 Euro) eingehend vorgestellt werden, liegt eine (aufwändige) Auswertung von Geschichtsbüchern aus 27 EU-Mitgliedsstaaten zugrunde.

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Die Beiträge folgen demselben Aufbau und legen eine umfassende historische und geschichtsdidaktische Einordnung vor: Werk und Urheber im Überblick – Das dargestellte Ereignis im historischen Kontext (mit Quellen hierzu) – Die Darstellung des Ereignisses im Bild – Das Bild als geschichtliche Quelle – Weg zur geschichtskulturellen Präsenz. Damit bieten sie umfangreiche Informationen für eine reflektierte Verwendung im Geschichtsunterricht (allerdings keine Didaktisierung im Sinne von Aufgabenformaten oder Beispielen für den konkreten Unterrichtseinsatz).

Die Bildauswahl: Amerikanische UnabhängigkeitserklärungBallhausschwurDie Erschießung der AufständischenWiener KongressMassaker von ChiosDie Freiheit führt das VolkProklamierung des Deutschen KaiserreichsEuropäischer Kongress zu BerlinLenin proklamiert die SowjetmachtUnterzeichnung des Versailler Vertrags - Picassos GuernicaKonferenz von JaltaSowjetische Fahne auf dem Dach des ReichstagsgebäudesFall der Berliner Mauer

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/2188

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Die Novemberpogrome 1938 und das Microblogging-Projekt @9nov38

Im vergangenen Jahr wagte sich der MDR an ein innovatives Format der Geschichtsvermittlung. In 244 zwischen dem 4. Oktober und dem 10. November verfassten Tweets auf dem Microblogging-Dienst Twitter sollte an die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze am 9. November 1989 erinnert werden. Diese Darstellung des aus den unterschiedlichsten Perspektiven (Journalist, DDR-Bürger, Grenzsoldat usw.) beleuchteten historischen Ereignis verfolgten mehrere hundert Follower.

#OberstleutnantJaeger Ich sehe jubelnde Menschen, die einfach in den Westen laufen. Schaue schweigend zu.

— 9Nov89live (@9Nov89live) November 9, 2012

Auf der Homepage des MDR sind bis heute zusätzliche Informationen zur Konzeption des Projekts, zu den historischen Hintergründen und den dargestellten Personen einsehbar.

Seit einigen Tagen erregt ein vergleichbares Projekt überregionales Aufsehen und wurde zuletzt im englischsprachigen Teil von SpiegelOnline und bei Tagesschau.de prominent besprochen. Unter dem Accountnamen “Heute vor 75 Jahren” @9nov38 bloggen fünf junge Historikerinnen und Historiker zu den Ereignissen rund um den 9. November 1938. Was zunächst wie eine Neuauflage der Idee des MDR anmutet, folgt jedoch einem anderen Ansatz. Auf der begleitenden Homepage wird der wissenschaftliche Ansatz betont, dem sich Macher verpflichtet fühlen und den sie beim letztjährigen Projekt vermissten. Alle Tweets orientieren sich an Quellen, sind nach wissenschaftlichen Maßstäben ausgewählt und aufbereitet worden und werden im Anschluss an das Projekt auf der Homepage durch die entsprechenden Quellennachweise und Literaturverweise belegt.

In Kassel werden gerade die Kultgegenstände der Synagoge in der Unteren Königsstraße auf dem Vorplatz zerstört und verbrannt.

— Heute vor 75 Jahren (@9Nov38) November 7, 2013

Ergänzt wird dieses Angebot durch selbstreflektierende Ausführungen zur Auswahl der Quellen, zur Gestaltung und zeitlichen Platzierung der Beiträge sowie durch kurze Darstellungstexte zu ausgewählten Themen wie der nationalsozialistischen Presselandschaft und der Propaganda.

Bemerkenswert an dem Projekt ist die Tatsache, dass es sich bei den fünf Autoren um junge Historikerinnen und Historiker handelt, die sich noch im Studium befinden oder jüngst ihren Abschluss erworben haben. Die Professionalität und das Engagement ist vorbildlich.

 

Quelle: http://zwopktnull.hypotheses.org/93

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Migration und Geschichtskultur – 40 Jahre Ford-Streik

 

Was wissen wir eigentlich über die Geschichtskultur von MigrantInnen? Welche historischen Inhalte erinnern sie in welcher Art und Weise? Welche generationellen Unterschiede kennzeichnen den Umgang mit historischen Ereignissen? Ein Blick auf die Veranstaltung „40 Jahre ‚Ford-Streik‘ in Köln – 1973 Ford grevi – kırk yıl sonra“ soll einige Hinweise darauf geben, wie türkische MigrantInnen mit „ihrer“ Geschichte als Teil der bundesrepublikanischen Geschichte umgehen. Ein wichtiger Eindruck war, dass es die Geschichtskultur der Migrantinnen nicht gibt, sondern zunächst mehrere geschichtskulturelle Umgangsweisen differenziert werden können. In diesem Sinne versteht sich dieser Blog auch als Aufruf an seine LeserInnen, weitere Beispiele für Geschichtskultur(en) von Migration zu kommunizieren.

 

Streik!

Im September 2013 fand in Köln-Kalk, einem Bezirk mit hohem Migrantenanteil an der Wohnbevölkerung, im dortigen Naturfreundehaus die zweitägige Veranstaltung „40 Jahre ‚Ford-Streik‘ in Köln – 1973 Ford grevi – kırk yıl sonra“ statt, an der viele Personen mit türkischem Migrationshintergrund als Mitgestalter und als Publikum partizipierten.  Worum ging es beim Ford-Streik? Am 24. August 1973 traten mehrere hundert Arbeiter bei Ford in Köln spontan in den Streik – die meisten davon waren Türken. Auslöser des Streiks waren die Kündigungen von 500 Kollegen, die verspätet aus dem Jahresurlaub zurückgekehrt waren – trotz der Vorlage von Attesten. Ziele des vier Tage andauernden Streiks, bei dem das Werk besetzt gehalten wurde, waren die Rücknahme der Kündigungen, sechs Wochen Urlaub am Stück sowie eine DM mehr Lohn pro Stunde, was dem Unterschied zur nächsten Tarifgruppe entsprach, in die die meisten deutschen Arbeiter eingeordnet waren. Am Streik hatten sich einige deutsche Kollegen beteiligt, die meisten aber hielten sich fern. Die Betriebsräte verhandelten mit der Werksleitung und versäumten die Kommunikation mit den Streikenden, die dann direkt verhandeln wollten. Die Werksleitung ließ den Streik mit einem Polizeieinsatz beenden.

Arbeitskampf oder Kulturangebot?

Was fällt bei einer Analyse der Erinnerungsveranstaltung unter der Perspektive Geschichtskultur auf? Zunächst einmal, dass diese Veranstaltung nicht von einer etablierten bundesrepublikanischen Geschichtsagentur, etwa einem Museum oder einer Hochschule veranstaltet wurde, sondern wie der Veranstaltungsflyer ankündigte von „KollegInnen von Ford, politische AktivistInnen von damals und heute“. Auf der Veranstaltung zeigten diese sich als ehemalige Beteiligte am Streik mit und ohne Migrationshintergrund und als junge politisch engagierte, eher linksgerichtete Studierende. Die ehemaligen Streikteilnehmer hatten sich teilweise schon früher als Zeitzeugen auf Veranstaltungen zur Verfügung gestellt (siehe Literaturhinweise). Die zweitägige Veranstaltung teilte sich in eine Abendveranstaltung, die auf das historische Ereignis bezogen war und einen darauf folgenden Veranstaltungstag, der neben einer inhaltlichen Ausweitung auf „Kämpfe in der europäischen Automobilindustrie“ unter Einbezug von aktiven ArbeiterInnen von z.B. Ford Genk (Belgien) auch einen gesellschaftlichen Ausklang bei Musik und Tanz bot. Im musikalischen Teil trat „Klaus der Geiger“ auf, der damals vor den Werktoren politische Lieder spielte. Hier fällt auf, dass es sich um ein „Gesamtangebot“ handelte, wobei das historische Kernthema sukzessive ausgeweitet, in einen aktuellen politischen Kontext gestellt, internationalisiert und mit emotionalen Zugängen versehen wurde. Meine Teilnahme beschränkte sich allerdings nur auf die Abendveranstaltung zum konkreten historischen Thema, so dass ich mich im Weiteren darauf beschränke.

Ford-Streik im Film

Der Ford-Streik wurde mithilfe eines Dokumentarfilms von 1982 in Etappen nachvollzogen. Deutsche Streikbeteiligte, die damals aus einem studentischen intellektuell linksgerichteten Milieu stammten, erzählten über die Ereignisse, stellten die Rolle des türkischen Streikführers, die Solidarität bei der Besetzung der Werkstore (sie wurden nach türkischen Städten benannt!) und das eine Community formende Streikleben mit Liedern und Tanz heraus. Ein türkischer ehemaliger Sozialarbeiter erzählte über die Lebensbedingungen der „Gastarbeiter“ in den Wohnheimen, ihre Sehnsucht nach dem Sommeraufenthalt bei ihren Familien sowie politisierte und weniger politisierte Arbeiter. Ein türkischer Streikbeteiligter sprach auf Türkisch ein eher allgemeines Statement, das auf Deutsch übersetzt wurde. Das den Raum gut füllende weibliche und männliche Publikum bestand aus sehr unterschiedlichen Generationen von Migranten und Nicht-Migranten. Durch die Einteilung der Ereignisse in überschaubare Phasen und die Ergänzung durch Zeitzeugenerzählungen, die teilweise sehr persönlich gefärbt waren, konnte der Veranstaltung gut gefolgt werden. Es kann also durchaus von einer didaktischen Aufbereitung für ein heterogenes Publikum, auch ein solches mit Verständnisschwierigkeiten in der deutschen und türkischen Sprache angesehen werden. Unter dem Publikum fielen junge Journalistinnen mit türkischem Migrationshintergrund auf, die für deutsche, aber auch vermutlich türkische oder Migrantensender in der Pause im Publikum sitzende Personen vor den im Raum präsentierten Streikfotos des Künstlers Gernot Huber interviewten.

Kommunikation in der Enkelgeneration

Die Enkelgeneration setzte hier ihr Sprachkenntnisse und ihre Partizipationsmöglichkeiten ein, um die Erinnerungen der ersten Generation zu kommunizieren. Die aufgebauten Stände verköstigten das Publikum mit türkischen Speisen, die politischen Auslagen auf deutsch und türkisch verwiesen auf linke Gruppierungen oder solche aus dem Gewerkschaftsumfeld. Bei der Rezeption im WDR1 zielte der engagierte autochthone Journalist auf die Interpretation des Streiks als Beginn der türkischen Community in Köln und auf die am peripheren Standort gezeigte Fotoausstellung, die die ignorante Geschichtspolitik der Stadt veranschauliche. Die Veranstaltung selbst wurde nicht erwähnt. Dass diese beschriebene Veranstaltung nur eine Form des geschichtskulturellen Umgangs von Migranten mit dem Ford-Streik war, zeigt die Veröffentlichung des von vielen Migrantinnen und Migranten getragenen Vereins “DOMiD/Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland”, die auf Deutsch den Streik historisch aufarbeitet und für ein größeres Publikum aufbereitet. Zusätzlich nutzte DOMiD die Social Media, um eine Woche lang täglich auf Facebook an den Streik zu erinnern. Gerade die unterschiedlichen Auseinandersetzungen mit dem Streik und das lebhafte Interesse an dem Jubiläumsdatum zeigen, dass dieser ein wichtiger Baustein in der Erinnerung der türkischen Migrantencommunity Kölns ist, der über die Generationen hinweg tradiert wird. Ich wünsche mir lebhafte Rückmeldungen mit vielen weiteren Beispielen und Analysen von Geschichtskultur(en) von MigrantInnen!

 

Literatur

  • Huwer, Jörg: „Gastarbeiter“ im Streik. Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973, Köln 2013.
  • Motte, Jan / Ohliger, Rainer (Hrsg.): Geschichte und Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004.
  • Oswalt, Vadim / Pandel, Hans-Jürgen (Hrsg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach/Ts. 2009.

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
Freundlicher Dank gilt dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., das der Abbildung des dort herausgegebenen Bandes gerne zustimmte. http://www.migrationsmuseum.de/de/domid

Empfohlene Zitierweise
Alavi, Bettina: Migration und Geschichtskultur – 40 Jahre Ford-Streik. In: Public History Weekly 1 (2013) 10, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-608.

Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

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Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/1-2013-10/migration-und-geschichtskultur-40-jahre-ford-streik/

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15. Gedenken auf Teufel komm raus

emaille-kalenderHistorisches Schlachtfest

Ein Jahr des Gedenkens geht allmählich zu Ende. 2013 war das Jahr, in dem wir den 300. Geburtstag von Denis Diderot feierten, den 250. Geburtstag von Jean Paul, den 200. Geburtstag von Georg Büchner, den 100. Geburtstag von Albert Camus und Claude Simon, an die Völkerschlacht bei Leipzig erinnerten und dem Jahr 1913 gedacht haben. In diesem Jahr 1913 ist genauso viel und genauso wenig geschehen wie in jedem anderen durchschnittlichen Jahr auch. Ein ‚herausragendes‘ Ereignis, das es in den Kanon des Geschichtsunterrichts geschafft hätte, ist nicht zu verzeichnen. Warum man ihm dann mit Büchern und Ausstellungen so ausgiebig gedenkt? Entweder weil es das letzte Jahr einer Zivilisation war, die im Ersten Weltkrieg untergehen sollte. Oder einfach weil es 100 Jahre her ist. Ich tippe auf letzteres.

Neben diesen Gedenktagen, die mit einer gehörigen medialen Breitenwirkung daherkamen, gab es natürlich noch eine ganze Reihe minderer Anlässe, den einen oder anderen Beitrag in die Welt zu schicken. So durfte beispielsweise nicht vergessen werden, dass vor 75 Jahren Superman erfunden wurde, vor 125 Jahren die erste Automobil-Fernfahrt startete oder vor 250 Jahren der Friede von Hubertusburg zum Abschluss kam (oder sollte das etwa niemand mitbekommen haben?). Wir gedenken, was die Annalen hergeben. Und kaum ist es mit dem Gedenken vorbei, verschwinden die entsprechenden Ereignisse und Personen auch wieder im Orkus der Nichtbeachtung, zumindest bis zum nächsten Gedenkjahr in 50 oder 100 Jahren. Vielleicht sollte man all diesen Personen und Ereignissen überhaupt kein Gedenkjahr wünschen, damit nach dem kurzen, kalendarisch bedingten Aufflackern der Aufmerksamkeit der Absturz ins Vergessen nicht gar so heftig ausfällt.

Der schrille Höhepunkt war natürlich die nachgestellte Völkerschlacht im Kleinformat (bei einiges tausend Hobbysoldaten von Kleinformat zu sprechen, mag zwar unangemessen erscheinen, bleibt aber angesichts der tatsächlich beteiligten 600.000 Soldaten trotz allem zutreffend). Da ging es dann nicht mehr nur um die Frage des historischen Gedächtnisses, sondern um den Zweck der Veranstaltung: Kriegsverherrlichung oder Friedensdienst? Dieses Dilemma wurde immer wieder verhandelt. Die Veranstalter der Schlachtimitation haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sie mit ihrer Aufführung zeigen wollten, wie unsinnig Kriege seien – als müsste man jemandem noch ernsthaft beibringen, dass Krieg irgendwie nicht so gut ist. Diese Lektion haben schon Kinder im Vorschulalter verstanden. Sollten wir demnächst auch ein KZ nachbauen, um deutlich zu machen, dass man Genozide besser unterlassen sollte?

Lange her und bedeutungslos

Wenn man Geschichte für möglichst viele Menschen möglichst unattraktiv machen will, wenn man der historischen Beschäftigung jede Sinnhaftigkeit entziehen möchte – dann nur weiter so. Denn welchen Eindruck von Geschichte muss man bekommen, wenn man das Radio einschaltet, die Zeitung aufschlägt oder den Fernseher anmacht und einem dort neben dem allseits präsenten Nationalsozialismus vor allem Gedenktage entgegenschlagen? Dass es sich bei Geschichte um etwas handelt, das einfach mehr oder weniger lange her ist und an das aufgrund runder Jahrestage pflichtschuldig zu erinnern ist. Aber ansonsten: long ago and far away – mit mir hat das nichts zu tun. Man gedenkt dieser Dinge nicht, weil sie uns heute vielleicht noch etwas zu sagen hätten, sondern weil sie in der Zeitleiste dran sind.

Unsere allseits präsente Gedenkkultur nervt. Die Beschäftigung mit Geschichte wird darauf reduziert, sich zum kalendarisch passenden Datum einem kleinen Schnipsel Vergangenheit zu widmen. Es ist wie mit Geburtstagen: Wir schenken unseren Mitmenschen dann gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn es das entsprechende Datum von uns verlangt – und auch nur weil es das entsprechende Datum verlangt.

Ein wagemutiger Gedanke könnte lauten, dass Geschichte vielleicht nicht der soundsovielte Jahrestag von irgendetwas sein sollte, sondern eine Form, sich mit unserer Gegenwart auseinanderzusetzen. Nicht das quizshowmäßige Fragen danach, was vor 100 oder 200 Jahren geschah, sondern die elementare Frage danach, was uns Hier und Heute unter den Nägeln brennt. Denn diese gegenwärtigen Probleme bedürfen eines Kontrastmittels, um auf Inhalt, Zusammensetzung und Lösungsmöglichkeiten überprüft zu werden. Nicht dass die Geschichte die einzige Möglichkeit ist, um eine solche Reibungsfläche zur Verfügung zu stellen – aber sie ist eine wichtige. Und nicht dass die Vergangenheit uns problemlos lehren könnte, wie wir es richtig zu machen hätten. Aber wir haben neben dem Lernen von den Anderen, also außer dem Blick über den Tellerrand zu anderen Kulturen, kaum eine bessere Möglichkeit als den Blick in die eigene Vergangenheit.

Überdrussproduktion

Selbstredend ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Zwar gibt es immer wieder kritische Stimmen zu unserem Gedenken auf Teufel komm raus, aber was sind sie gegen eine Praxis, die davon völlig unbeleckt weitermacht wie bisher. Nein, wenn man ernsthaft gegen das Dauergedenken vorgehen will, dann muss man Überdruss produzieren. Wenn wir unsere Geschichtskultur ernsthaft ändern und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gegenwart anregen wollen, sollten wir nicht nur einfach weitermachen wie bisher – wir sollten noch viel mehr machen als bisher. Noch mehr Gedenktage, noch mehr Feierlichkeiten, noch mehr Festreden, noch mehr Artikel und Sendungen, die vergangene Ereignisse nacherzählen.

Gerade das kommende Jahr wird dafür beste Gelegenheiten bieten. Denn auch 2014 wird es fröhlich weitergehen. Es wird sogar alles noch viel schlimmer als es in diesem Jahr schon war. Schließlich ist wieder Erster Weltkrieg! Mal sehen ob dann in Flandern auch Schlachten nachgestellt werden – natürlich aus Gründen der Friedenserziehung. Und es ist 25 Jahre Mauerfall! Wie wäre es mit einer historisch getreuen Restauration des antifaschistischen Schutzwalls? Beim Wiederaufbau des Berliner Schlosses fallen doch sicherlich ein paar Steinchen dafür ab. Aber dabei sollten wir es nicht belassen. Man könnte zumindest die runden Jahre in ihrer Gänze zu Gedenkjahren erklären und permanent an 1914, 1814, 1714, 1614, 1514, 1414 … erinnern.

Denn, meine Damen und Herren, wir haben noch jede Menge davon! In den Katakomben lagert noch eine Unmenge an Vergangenheit. Immer raus damit, schließlich hat jedes gewesene Jahr ein Recht darauf, dass seiner gedacht wird, auch völlig ohne Grund und Anlass. Gedenken wir was das Zeug hält, bis uns das Gedenken zu den Ohren herauskommt, bis wir vor lauter Gedenken keinen anderen Gedanken mehr fassen können. Vielleicht stellen wir uns dann endlich die Frage, wozu das alles gut sein soll.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/11/03/15-gedenken-auf-teufel-komm-raus/

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Mehr Denkmäler – weniger Gedenken?

 

Vor 25 Jahren entstand die Idee, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten. Weil dieses Denkmal ausschließlich den ermordeten Juden gewidmet wurde, erlebt die deutsche hauptstädtische Geschichtskultur seit einiger Zeit einen regelrechten Memorialboom. Als vorerst letzter Gedenkort wurde heute vor einem Jahr das von Dani Karavan gestaltete Denkmal für die während der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma eingeweiht. Was diese Denkmäler über das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft aussagen und welche Bedeutung sie für historische Lernprozesse haben, ist noch weitgehend unklar.

 

„Wir können wieder aufrecht gehen…“

Glaubt man Lea Rosh und Eberhard Jäckel, dann fassten sie den Entschluss, in Berlin ein Holocaust-Denkmal zu errichten, 1988 bei einem Besuch der „Allee der Gerechten“ in Yad Vashem. Schon dieser Entstehungskontext wirft Fragen auf, aber kritische Fragen und langwierige Debatten wollten Rosh und Jäckel am liebsten vermeiden. Trotzdem wurde über das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas bis zu seiner Einweihung im Mai 2005 mehr als fünfzehn Jahre lang heftig gestritten.1 Die Diskussion scheint inzwischen fast vergessen, doch manche Argumente sind auch heute noch so irritierend, dass sie historische Reflexionsprozesse vielleicht besser anstoßen könnten als das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld. Nicht selten war im Laufe der Debatte von Trost, Erleichterung, ja Erlösung die Rede. Doch Erlösung für wen eigentlich?  „In anderen Ländern“, so Eberhard Jäckel anlässlich des fünfjährigen Denkmaljubiläums am 5. Mai 2010, „beneiden manche die Deutschen um dieses Denkmal. Wir können wieder aufrecht gehen, weil wir aufrichtig waren. Das ist der Sinn des Denkmals, und das feiern wir.“2 Träfe das zu, ginge es nicht (nur) um die Opfer der NS-Verbrechen und um die historische Auseinandersetzung mit den Tätern. Es ginge um uns: Holocaust-Denkmäler als Medien nationaler Identitätsstiftung, auch wenn das in Zeiten multikultureller Gesellschaften längst anachronistisch anmutet.

Denkmalboom und geschichtskulturelle Imagepflege

Sicher – Jäckels Position war nur eine von vielen; insgesamt verlief die Diskussion deutlich reflektierter. Trotzdem wird sich der bis heute andauernde Denkmalboom wohl nur erklären lassen, wenn man in Rechnung stellt, dass Denkmäler zum Gedenken an die NS-Verbrechen auch zu Instrumenten geschichtskultureller Imagepflege geworden sind. Manchen konservativen ZeitgeistkritikerInnen im Gefolge Ernst Noltes, die des NS-Gedenkens längst überdrüssig waren, hat das zweifelsohne den Wind aus den Segeln genommen. Jedenfalls hat sich die Berliner Gedenklandschaft, in der mittlerweile auch der Weg für die Repräsentation anderer Schlüsselthemen deutscher Geschichte – Stichwort Flucht und Vertreibung, Einheit und Freiheit3 – frei ist, inzwischen  bemerkenswert differenziert. Im Mai 2008 wurde das Denkmal für die während der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen eingeweiht, heute vor einem Jahr folgte das Denkmal für Sinti und Roma, und im Herbst kommenden Jahres soll auch der Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde fertiggestellt sein.4 Von der vielfach befürchteten und beklagten Hierarchisierung der Opfer spricht öffentlich kaum noch jemand.

Bausteine deutscher Erinnerungskultur?

Insofern ist es auf den ersten Blick auch durchaus plausibel, dass von politischer Seite bei der Einweihung des Denkmals für Sinti und Roma wie so oft von einem „wichtigen Baustein der deutschen Erinnerungskultur“ die Rede war.5 Wie in einem großen Mosaik fügt sich offenbar alles harmonisch zusammen, Verdrängen und Vergessen scheinen zugleich gebannt. Wer genauer hinsieht, merkt, dass es anders ist. In den Leserforen großer deutscher Tageszeitungen beispielsweise finden Denkmäler wie das für Sinti und Roma zwar einerseits großen Zuspruch – man trifft aber auch auf heftige Polemik. Dann werden immer noch Opferzahlen gegeneinander aufgerechnet, die vermeintliche „Holocaustkeule“ wird zum Gegenstand ätzender Kritik, und der Ruf nach einem Schlussstrich lässt sich kaum überhören.6 LehrerInnen sollten solche Statements, obwohl oder gerade weil sie dem Gebot der political correctness widersprechen, von Zeit zu Zeit in ihren Unterricht integrieren. Sie tragen nämlich dazu bei, mit dem Prinzip der Multiperspektivität wirklich ernst zu machen, sie sind Teil des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft, und sie geben zugleich Aufschluss über informelle geschichtskulturelle Rezeptionsprozesse.

Historische Trauer?

Für die Geschichtsdidaktik wäre es interessant, solche Rezeptionsprozesse genauer zu untersuchen. Denn bislang wissen wir immer noch relativ wenig darüber, welche individuellen Reaktionen Denkmäler und Gedenkstätten (die ganze Bandbreite außerschulischer Lernorte überhaupt) auslösen und welche Bedeutung sie für historisches Lernen haben. Bezüglich des Berliner Holocaust-Denkmals gibt es immerhin erste aufschlussreiche Befunde. Einer qualitativen Studie zufolge fühlen sich SchülerInnen beim Besuch des Denkmals durchgehend mit der problematischen „Erwartung konfrontiert, Trauer und Schuld zu empfinden“. Darüber hinaus kommt es bei einigen von ihnen zu einer „Trauer ohne Gedenken“.7 Den angesichts des Holocaust-Denkmals empfundenen oder erzeugten Gefühlen fehlt dann aufgrund von Wissenslücken der notwendige historische Tatsachenbezug. Jörn Rüsens Konzept historischer Trauer hat unter solchen Umständen schlechte Chancen.

 

Literatur

  • Klein, Marion: Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012.
  • Pampel, Bert (Hrsg.): Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011.
  • Rüsen, Jörn: Historisch trauern – Idee einer Zumutung. In: Ders.: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, S. 301-324.

Externer Link

 

Abbildungsnachweis
Mahnmal für Sinti und Roma in Berlin-Tiergarten; Bild von Peter Kuley, 2013, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0.

Empfohlene Zitierweise
Thünemann, Holger: Mehr Denkmäler – weniger Gedenken. In: Public History Weekly 1 (2013) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-416.

Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

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14. Das Private wird historisch

FamilienbildEine eigene Geschichte

Einst lautete ein Sponti-Spruch der 68er: Das Private ist politisch. Ein Satz, der Hoffnung und Programm zugleich war. Die Belange der Vielen sollten zum Maßstab politischer Prozesse werden, Individuum und Familie sollten Ausgangs- und Zielpunkt politischer Entscheidungen sein, und nicht zuletzt sollte damit das Versprechen verbunden sein, dass die Einzelnen als aktiv Teilnehmende im Feld des Politischen einen Unterschied machen könnten.

Ein halbes Jahrhundert später kann man Zweifel hegen, ob das Private überhaupt noch politisch sein will. Eher hat sich eine andere Maxime etabliert: Das Private ist historisch. Man will nicht mehr einen Unterschied in politischen Entscheidungsprozessen machen, sondern in der zukünftigen Vergangenheit. I am history.

Für diese Entwicklung gibt es unterschiedliche Indizien. Die Ausweitung und Demokratisierung medialer Artikulationsmöglichkeiten gibt jeder und jedem die Mittel an die Hand, die „eigene Geschichte“ zu veröffentlichen und zu verewigen (je nachdem, wie lange eine solche Ewigkeit dauern mag). Gleichzeitig verlangt unser Mediensystem nach solchen „Geschichten“, schließlich will es gefüttert werden, so dass die Grenzen des Berichtenswerten beständig neu bestimmt werden.

So mag es Zeiten gegeben haben, in denen der Status des „Zeitzeugen“ noch mit der Aura des Besonderen umgeben war. Das waren nicht nur Menschen, die aufgrund glücklicher historischer und biologischer Umstände ein gewisses Alter erreicht hatten, sondern die in dieser Lebensspanne auch etwas erlebt hatten, das sie vor anderen auszeichnete. Dieser Typus des Zeitzeugen ist nicht nur dadurch entwertet worden, dass er in der einen oder anderen historischen Fernsehproduktion ein paar Mal zu oft auf der Mattscheibe zu sehen war [1], sondern dass ihm inzwischen jegliche Exklusivität abhandengekommen ist. Wir alle sind Zeitzeugen (von was auch immer)! Wir alle sind das „Gedächtnis der Nation“, dürfen in einen Bus steigen, der in ganz Deutschland herumfährt, um dort eine „spannende Geschichte zu erzählen“, die nicht „verloren gehen“ soll, sondern „nachfolgenden Generationen zur Verfügung“ gestellt wird – wenn diese Generationen denn vor lauter Erinnerungs- und Vergangenheitsaufarbeitung überhaupt noch zum Luftholen kommen.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ wäre ein weiteres, beliebig herausgegriffenes Beispiel. Auch sie ist auf den Nostalgiezug aufgesprungen und hat mit „Die Zeit der Leser“ eine eigene Seite aufgesetzt, in der das Privathistorische einmal an die große Öffentlichkeit gebracht werden darf. Dort wird dann aus Großvaters Notizbuch zitiert, werden Muttis Küchenrezepte zum Besten gegeben, werden Damals-und-Heute-Fotos gegenübergestellt und wird die gute alte Zeit häuslich-familiärer Eintracht besungen.

Als wäre „Ich“ nie gewesen

Mittels Privathistorisierung, so steht zu vermuten, soll die Schere zwischen Weltzeit und Lebenszeit geschlossen werden, sollen die überbordend komplexen Vorgänge, die wir als „Geschichte“ zu bezeichnen pflegen, mit der eigenen Biographie gekoppelt werden. [2] Schließlich geht es um das Ärgernis, dass die Welt nach dem sehr vorhersehbaren individuellen Ende weiterbestehen soll, dass „die Geschichte“ auch nach dem eigenen Dahinscheiden einfach so weitergehen wird, als sei nichts gewesen – und vor allem als sei „Ich“ nie gewesen. Es ist für so manchen historisch gesinnten Menschen wohl nur schwer erträglich, dass nach dem eigenen vergänglichen Leben noch so viel mehr Vergangenheit aufgehäuft werden wird, in der „Ich“ nicht vorkommt, dass dieser Zustand sofort geändert werden muss. Man versucht Vergangenheit zu hinterlassen, um postmortale Zukunft zu gewinnen.

Wenn ich dagegen Bedenken äußere, klingt das verdächtig nach beleidigtem Geschichtsprofessor, der sich seiner Interpretationshoheit über die Vergangenheit beraubt sieht. Auch wenn ich solche Reflexe gar nicht ausschließen möchte, meine ich doch an diversen (nicht-professoralen) Stellen ein gewisses Genervtsein über den einen oder anderen Auswuchs der Geschichtskultur des frühen 21. Jahrhunderts zu bemerken. Aber was nervt so daran? Warum will man nicht jede Familiengeschichte als Buch veröffentlicht sehen, nicht jedes Tagebuch im Internet lesen können, nicht jedes Alltagserlebnis in der Zeitung abgedruckt finden?

Weil es sich um eine Verwechselung von Relevanz und Referenz handelt. Fraglos sind diese Kindheitserlebnisse, Urlaubserinnerungen oder Familienschicksale bedeutsame Ereignisse. Aber nicht für jeden. Die Alltagshistoriker des eigenen Lebens, die aus jedem Wochenendausflug ein Ereignis zu machen versuchen, das der Welt nicht vorenthalten werden darf, wollen einen Unterschied machen, der nur durch andere gemacht werden kann.

Was an diesen Privatgeschichten zuweilen so peinlich wirkt und sogar zum Fremdschämen provoziert, ist die selbstherrliche Bedeutungszuschreibung. Wie kann man davon ausgehen, dass ausgerechnet das eigene Leben all den anderen etwas zu sagen hätte? Das Historische, das wir im Nachhinein über andere produzieren und das andere später irgendwann über uns produzieren werden, entsteht einerseits über Relationierung, soll heißen: Eine gegenwärtige Kultur stellt mit bestimmten Teilen der Vergangenheit Beziehungen her, von denen sie meint, dass sie wichtig für ihre eigene Selbstdeutung sind. Andererseits entsteht dieses Historische über eine sehr rigide Selektion, soll heißen: Nur ein verschwindend geringer Teil des Vergangenen übersteht diese Relevanzprüfung. Der Rest verschwindet im Orkus des Vergessens.

Womöglich ist es gerade diese Demütigung, die für einige nur schwer zu ertragen ist – die lastende Gewissheit, in nicht allzu ferner Zukunft niemandem mehr etwas zu sagen zu haben. Aber wir sind ein paar Milliarden. Wo kämen wir hin, wenn auf unabsehbare Zeit jeder allen etwas zu sagen hätte?

Vergangenheit ist nicht vorhersagbar

Bei alldem geht es nicht um die Frage, ob der Alltag der Vielen den Wert zugesprochen bekommt, „historisch“ zu sein oder nicht. Es ist nur zu begrüßen, wenn die Produktion von Geschichte demokratisiert wird und an Vielfalt gewinnt. Aber eitle Selbstdarstellung in Form von Möchtegern-Historisierung zählt nicht unbedingt dazu. Denn ansonsten verliert die Geschichte ihr kritisches Potential. [3]

Es ist nämlich ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Produktion von Geschichte dazu dienen soll, die Erinnerung zu bewahren, und zwar im besten Fall an alles und jeden. Die Historie hätte demnach im Idealfall die Aufgabe, eine naturgetreue Kopie alles Geschehenen anzufertigen. Eine solche totale Memoria ist nicht nur unmöglich, sondern würde auch zu weitgehenden Lähmungserscheinungen führen. In der Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ von Jorge Luis Borges besitzt die Hauptfigur Ireneo Funes diese totale Erinnerung – und muss genau deswegen eine Existenz führen, in der Handeln, Denken und Sinnhaftigkeit keinen Platz mehr haben, weil sie von der überwältigenden Vielfalt der erinnerten Einzelheiten überwuchert werden.[4]

Daher zum Mitmeißeln: Geschichtsschreibung betreibt keine Mumifizierung des Gewesenen, will nicht bewahren, um vor dem Vergessen zu retten. Im Gegenteil: Vergessen ist gut, Vergessen ist richtig, Vergessen ist überlebensnotwendig. Genauso wie das Erinnern. Aber wir erinnern uns nicht um des Erinnerns willen, sondern weil wir hier und heute Fragen haben, bei denen wir das Gestern für hilfreich halten.

Wir können durchaus versuchen, heute schon unsere eigenen Geschichten für morgen zu produzieren, unser Privates schon jetzt historisch aufzubereiten, jetzt schon Vergangenheit aufzuhäufen, um die zukünftige Geschichte bereits Hier und Heute zu schreiben. Es könnte aber sein, dass in künftigen Gegenwarten dieses Bemühen nur ein Stirnrunzeln hervorruft angesichts der Obsession, jeder Kleinigkeit den Wert des Historischen zumessen zu wollen. Denn die Vergangenheit ist genauso wenig vorhersagbar wie die Zukunft. Wir wissen nicht, was das Morgen bringen wird. Wir wissen aber auch nicht, was das Gestern uns noch bedeuten kann.

[1] Martin Sabrow/Norbert Frei: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012

[2] Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 2001

[3] Achim Landwehr: Die Kunst sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 61 (2012) 206-211

[4] Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944, 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1999, 95-104


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/10/23/14-das-private-wird-historisch/

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