“Per Brettspiel in die Vergangenheit”. Historische Realität in Spielwelten
Computerspiele als Vermittlungsinstanzen von Geschichte und Medien der Geschichtskultur sind Untersuchungsfelder, mit denen sich die Geschichtsdidaktik schon seit Längerem befasst. Die Geschichtswissenschaft hat dieses Forschungsfeld ebenfalls seit ein paar Jahren für sich entdeckt.1 Die Frage nach der Modellierung von Geschichte im Brettspiel, dem kleinen “analogen Bruder“ der Computerspiele, wurde dagegen bislang kaum gestellt. Gibt es auch beim guten alten Brettspiel Spezifika in der Darstellung historischer Phänomene?
“German Games” in der Geschichte
Deutschland hat die weltweit größte Brettspielgemeinde, jährlich erscheinen etwa 400 bis 500 neue Spiele auf dem Markt. In der Spielebranche sind deutsche Brettspiele in den letzten Jahren zu Exportschlagern geworden. Ein knappes Fünftel der Spiele, die seit 1979 mit dem Kritikerpreis “Spiel des Jahres” ausgezeichnet wurden, weist ein historisches Setting auf. Beim “Deutschen Spielpreis”, einem seit 1990 verliehenen Publikumspreis, liegt die Quote in der Kategorie “bestes Familien- und Erwachsenenspiel” mit 19 von 23 prämierten Spielen noch deutlich höher. Die meisten dieser Spiele gehören in die Kategorie Strategiespiel, bei denen durch elegante Spielmechanismen versucht wird, das Glückselement einzuschränken. Da die AutorInnen überwiegend aus Deutschland stammen, werden diese Spiele häufig als “German Games” bezeichnet. Auch aus diesem Grund hat sich auf dem Brettspielemarkt eine ethische Übereinkunft etabliert, im Unterschied zu Computerspielen auf kriegerische Aspekte und Thementableaus zu verzichten.2 Stattdessen rangieren historisch anmutende Spielszenarien aus dem Mittelalter auf dem ersten Platz, gefolgt von Antike und Früher Neuzeit.
Vergangenheit als übersichtlicher “Spiel-Raum”
Anders als Computerspiele stellen Brettspiele ihre “Gemachtheit” offen aus. Das Spielfeld ist dabei der zentrale Verständnishintergrund, der für die Spieler in der Vogelperspektive den Handlungsraum konstituiert, lokalisiert und gleichzeitig die Bewegungsmöglichkeiten einschränkt. In konsequenter Reduktion repräsentiert dabei das Spielfeld das “Ganze” der möglichen Spielzüge. Die Überschaubarkeit gewährleistet nicht der Computer, sondern muss von allen SpielerInnen bewältigt werden können. Damit wird durch die Spiellogik des Brettspiels Geschichte als Abfolge einer gewissen Regelhaftigkeit präfiguriert. Gleichzeitig konstituiert das Spielfeld in seiner Begrenzung einen Spielraum, der Möglichkeiten und Alternativen der Akteure bereithält und in kontrafaktischen Szenarien Geschichte ergebnisoffen hält. Die Beschränkung der Anzahl der Spieler auf in der Regel zwei bis vier Personen limitiert den Kreis historischer Akteure.
Geschichte als Transmissionsriemen
Historische Settings sorgen im Brettspiel nicht nur für die Identifikation des Spielers mit der spezifischen Spielwelt. Sie fungieren als Transmissionsriemen für die Akzeptanz von als stimmig empfundenen Regelwerken. Geschichte als Folge von Entscheidungssituationen und die Unterbrechung von Geschichtsabläufen von regelkonformen Katastrophen, Zufällen und Überraschungen verleihen dem Spiel Plausibilität. Spiellust und Spielfluss präfigurieren dabei eine hohe Ereignisdichte und das lange Offenhalten möglichst ähnlicher Aktionsradien und Handlungsspielräume für alle SpielerInnen. Die überwiegende Situierung der Spielszenarien in traditionelle Gesellschaften mit Aufgabenstellungen wie etwa Handel mit Ressourcen und Aufbau von Infrastrukturen, korreliert dabei in besonderer Weise mit der regelhaften Zuweisung verschiedener Handlungsmöglichkeiten und Aktionsradien. Die Abbildung von historischer Realität spielt also im Brettspiel eine noch viel untergeordnetere Rolle als in Computerspielen. Für beide ist aber die Frage nach deren Wirkung auf Geschichtsvorstellungen ein Forschungsdesiderat.
“Geschichte” und Spiel: Ein Aushandlungsprozess?
Für Brettspiele sei daher eine erste These gewagt: Die SpielerInnen schätzen insbesondere den reduzierten Glücksfaktor der Autorenspiele, bei denen das gemeinsame Studieren und Anwenden des oft komplexen Regelwerks selbst Teil des Spiels ist. Damit wird im Brettspiel eine Vorstellung von Geschichte als eine Abfolge personeller Entscheidungen und Aushandlungen gefördert, die in überschaubarer Spielzeit und Personenanzahl regelbasiert zum Erfolg führen und einen eindeutigen Sieger hervorbringen. Zugleich wird mit dem Spielende auch ein Ende der Geschichte definiert, das dem “Sieger” überdies die Anerkennung der Mitspieler sichert – ein schönes Gefühl bis zur nächsten Partie.
Literatur
- Bernhardt, Markus: Das Spiel im Geschichtsunterricht. 2. Auflage, Schwalbach/Ts. 2010.
- Deterding, Sebastian: Wohnzimmerkriege. Vom Brettspiel zum Computerspiel. In: Nohr, Rolf F. / Wiemer, Serjoscha (Hrsg.): Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels. Münster u.a. 2008, S. 87-113.
- Scheuerl, Hans: Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. 12. Auflage, Weinheim / Berlin 1994.
Externe Links
- Vereinigung der deutschsprachigen Spieleautoren: http://www.spieleautorenzunft.de/saz-tv.html (zuletzt am 01.07.2014).
- Datenbank von Brettspielen (mit Abbildungen und Regeln): http://www.boardgamegeek.com/ (zuletzt am 01.07.2014).
- Praktisches Unterrichtsbeispiel: SchülerInnen entwickeln ein Brettspiel zum Leben in der mittelalterlichen Stadt: http://afl.lakk.bildung.hessen.de/fortbildung/kolleg/Prozessmodell_Stadt_U_Beispiel.pdf (zuletzt am 01.07.2014).
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Abbildungsnachweis
© Johannes Dennhöfer (Studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg).
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Bühl-Gramer, Charlotte: “Per Brettspiel in die Vergangenheit”. Historische Realität in Spielwelten. In: Public History Weekly 2 (2014) 25, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2253.
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Sprachverwirrung. Was ist ein geschichtsdidaktisches Medium?
Medien gelten als unangefochtene Kategorie bei der Planung von Geschichtsunterricht und in der geschichtsdidaktischen Handbuchliteratur. Kaum ein anderes Feld wird in der geschichtsdidaktischen Forschung so intensiv beackert. Über den Medienbegriff des Geschichtslernens wird allerdings wenig diskutiert, seit sich in den 1980er Jahren Hans-Jürgen Pandel mit seiner Einteilung in Quellen, Darstellungen und Fiktionen durchgesetzt hat. Es ist zwar keine neue Debatte der Geschichtsdidaktik, ob zu den Medien nicht nur (Lern-)Objekte, sondern im eigentlichen Wortsinn auch Mittler, also Informationsträger zählen. Der zurzeit viel diskutierte digitale Medienwandel ruft die Frage erneut auf den Plan – und führt den hybriden Begriff der Medien des Geschichtslernens an seine Grenze.
Holz, Säge, Nietzsche
Ein Brett soll zersägt werden. Als Material benötigt man Holz, als Werkzeug eine Säge. Einen sinnhaften Oberbegriff für Holz und Säge gibt es nicht. Anders beim Geschichtslernen: Alles, was den Lernprozess (außer den beteiligten Menschen) umgibt und unterstützt, wird in der Unterrichtspraxis diffus als Medien bezeichnet. Das Schulbuch ist genauso Medium wie die darin enthaltenen Texte und Bilder, digitale Geräte genauso wie die multimedialen Inhalte des Internets oder dessen neue Möglichkeiten zur Kommunikation. Die begriffliche “Medienlandschaft” ist ein schwer durchdringbares Gelände – nicht nur, weil Medien im Alltagssprachgebrauch allerlei Bedeutungen zugesprochen werden (so meint z.B. “Fernsehen” entweder ein Gerät, eine Tätigkeit oder ein System konkurrierender Sender), sondern auch, weil der Begriff in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen ganz unterschiedlich und teils konträr aufgefasst wird. Die Unübersichtlichkeit steigert sich in der Differenzierung, aber auch dem Zusammenwirken verschiedener Wahrnehmungskanäle (vornehmlich Sehen und Hören) und der Kodalität von Medien (Sprache, Zeichensysteme, Bilder, Filme, Musik usw.). Kurzum: Medien scheinen gut auf Nietzsches Feststellung zu passen: “Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen”.1
Quellenwert oder Funktionalität?
Die Geschichtsdidaktik hat sich angesichts des hybriden Medienbegriffs bisher elegant aus der Affäre gezogen. Der weithin etablierte Medienbegriff Pandels beschränkt sich auf (Lern-)Objekte, also auf das “Material” des Geschichtslernens.2 Kennzeichnend für dieses Medienverständnis ist die fachspezifisch notwendige Kategorisierung in Quelle und Darstellung je nach Entstehungszeit des Mediums. Ob allerdings Authentizität zur Differenzierung in “reale” und “fiktive” Geschichtsdarstellungen als triftige Kategorie gelten kann, hat zuletzt Jan Hodel bezweifelt, der hier ein grundsätzliches “Spannungsverhältnis zur Prämisse des Konstruktcharakters von Geschichte”3 ausmacht. Auf der Kölner Tagung “Geschichtsdidaktische Medienverständnisse”4 im April 2014 hat Hilke Günther-Arndt vorgeschlagen, Geschichtsdarstellungen nicht anhand ihrer Authentizität, sondern nach ihrer geschichtswissenschaftlichen und geschichtskulturellen Bedeutung zu differenzieren.5 Bereits in den 1980er Jahren stritt Horst Gies mit Pandel darüber, Medien des Geschichtslernens nicht nur im Sinne von Objekten als Mittel, sondern als Werkzeuge und damit als Mittler aufzufassen.6 Seinerzeit ging es beispielsweise um die (aus der Rückschau spitzfindige) Frage, welchen Unterschied es mache, ob Bilder gedruckt oder mittels Folie projiziert werden. Wenn heute im entgrenzten Internet per Knopfdruck auf eine Fülle von Texten, Bildern und Filmen zugegriffen werden kann, wenn verschiedene Mediengattungen multi- und intermedial verschnitten oder historische Narrative durch neue Kommunikationstools anders ausgehandelt werden können, stellt sich die Frage drängender, ob und wie durch Mittler historische Lern- und Denkprozesse berührt werden.7
Den Medienbegriff einfangen?
Um den wachsenden Anforderungen an den Medienbegriff des Geschichtslernens Rechnung zu tragen, bieten sich prinzipiell zwei Möglichkeiten an. Die erste: Man kann versuchen, den Begriff zu öffnen und damit einzufangen. Ein integrativer Medienbegriff, der sowohl Material als auch Werkzeuge historischen Lernens umfasst, wurde 2012 von Daniel Bernsen, Alexander König und Thomas Spahn vorgeschlagen. Demnach könne “an” – “mit” – “über” und “in” Medien gelernt werden.8 Einen anderen Weg beschreitet Jan Hodel in seiner Dissertation: Angelehnt an neuere Ansätze zur Mediengeschichte erklärt Hodel Medien in toto als “kulturelle Praktiken”, die ein “prägendes Element des Gegenstandes von Geschichte an sich”9 sind. So verstanden bilden Medien nicht nur Vergangenheit und Geschichte ab, sondern können selbst zum Motor historischer Entwicklung werden. Beide Konzepte weisen Anker zum historischen Denken auf, kritisch lässt sich aber zuspitzen: Wenn alles Medien sind, dann ist nichts nicht ein Medium. Die notwendige Konkretion kann nur gelingen, wenn für einzelne Aspekte der Verwendung von Medien in Lernprozessen ein zugrundeliegender Medienbegriff jeweils ausbuchstabiert würde – was auch einem pluralistischen Wissenschaftsverständnis entgegenkäme, in dem es den Medienbegriff nicht mehr gäbe.
Weg von dem Medienbegriff – hin zu …
Was einer pluralistisch verfassten Wissenschaftsdisziplin gefallen mag, lässt außer Acht, dass die PraktikerInnen des Geschichtslernens orientierungslos zurückbleiben – ähnlich wie bei der Diskussion um historische Kompetenzmodelle, die inzwischen zu einem spürbaren Verdruss geführt hat. Eine zweite Möglichkeit, den hybriden Medienbegriff für das Geschichtslernen (be-)greifbar zu machen, wäre, nicht mehr vorrangig von den Medien zu sprechen, sondern stattdessen Begriffe aus der zweiten Reihe vorzuziehen. Für das Material des Geschichtslernens müssten Begriffe wie historische Objekte oder Lernobjekte hervorgehoben werden. Hier behielte die Differenzierung von Quelle und Darstellung ihre Triftigkeit. Davon abgegrenzt bilden Werkzeuge des Geschichtslernens als Mittler oder Lernmittler eine eigene Kategorie, die einen entscheidenden (und im digitalen Wandel wachsenden) Einfluss auf die Entstehung historischer Narrative haben. Zu guter Letzt fehlt bislang auch eine begriffliche Ausschärfung der Wechselwirkungen zwischen Lernenden, historischen Objekten und Mittlern. Wasser an sich ist kein Medium – aber für den Fisch, der in ihm schwimmt.
Literatur
- Bernsen, Daniel / König, Alexander / Spahn, Thomas: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften, Nr. 1 (2012), online unter: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/294/358 (zuletzt am 11.6.2014)
- Hodel, Jan: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden, Bern 2013; hier insbesondere das Kapitel: Geschichte – Medien – Lernen, S. 82-126.
- Pandel, Hans-Jürgen: Das geschichtsdidaktische Medium zwischen Quelle und Geschichtsdarstellung. In: ders. / Schneider, Gerhard (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Düsseldorf 1985, S. 11-27.
Externer Link
- Tagung „Geschichtsdidaktische Medienbegriffe“ am 26./26.4.14 an der Universität zu Köln auf der Homepage des Arbeitskreises Geschichtsdidaktik und digitaler Wandel (zuletzt am 3.7.2014).
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© By Ricardo Liberato (All Gizah Pyramids) [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons, bearbeitet vom Autor
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Pallaske, Christoph: Sprachverwirrung. Was ist ein geschichtsdidaktisches Medium? In: Public History Weekly 2 (2014) 25, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2311.
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[Video] Das 20. Jahrhundert & der Erste Weltkrieg: Ulrike Jureit – „Staat als Lebensform“. Raumkonzepte für eine geordnete Moderne
Dr. Ulrike Jureit ist Gastwissenschaftlerin der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Das 20. Jahrhundert & der Erste Weltkrieg: Ulrike Jureit – Staat als Lebensform from maxweberstiftung on Vimeo.
Promotionskolleg „Geschichte linker Politik in Deutschland jenseits von Sozialdemokratie…
Fundstück: Briefgedicht für Melanchthon
Die Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt hat bei der Erschließung des Nachlasses des Wittenberger Theologen Paul Eber (1511-1569) in ihrem Besitz ein bisher unbekanntes gedrucktes griechisches Briefgedicht aus der Feder des Pädagogen, Theologen und Grammatikers Johannes Clajus (1535-1592) an den Reformator Philipp Melanchthon (1497-1560) entdeckt. Weitere Informationen und eine Edition des Briefes können jetzt auf der Webseite der Studienstätte Protestantismus online eingesehen werden.
FBG, Ilf II 8° 2931, Bl. P3r-4r. @ Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt
Akten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde“
Die Monumenta Germaniae Historica wurden zum 1.4.1935 mit Zustimmung des Vorsitzenden der Zentraldirektion, Paul Fridolin Kehr, unter Beseitigung der seit 1875 bestehenden bisherigen Organisationsform in ein „Reichsinstitut für altere deutsche Geschichtskunde“ umgewandelt. Mit Abschaffung der Zentraldirektion wurde auf Grundlage des ‚Führerprinzips‘ der Vorsitzende zum faktischen Leiter und später Präsidenten aufgewertet, der nicht nur sämtliche Geschichts- und Altertumsvereine überwachen sollte, sondern auch dem ehemaligen Preußischen Historischen Institut in Rom vorstand. Vonseiten des NS-Regimes war es als eine Schwesterinstitution zum ebenfalls 1935 begründeten „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ von Walter Frank konzipiert.
Der ca. 100 Faszikel umfassende, faktisch unversehrt gebliebene Aktenbestand des Reichsinstituts wurde bis zum 28.2.2014 in Eigenleistung teilerschlossen: Etwa die Hälfte der Archivalien konnte bearbeitet werden und steht über die Homepage des MGH-Archivs zur Verfügung.
Der Aktenbestand bildet die Basis für die noch ausstehende Erforschung der Geschichte der Monumenta während der Zeit des ‚Dritten Reichs‘. Er dokumentiert ihre Einbindung in die wissenschaftlichen Strukturen und Netzwerke, die Entwicklung des Faches mittelalterliche Geschichte und verwandter Disziplinen sowie die intensiven Verflechtungen mit dem Reichswissenschaftsministerium und verschiedenen wissenschaftslenkenden Einrichtungen des NS-Staates. Zu den Korrespondenten zählen renommierte deutschsprachige und ausländische Geisteswissenschaftler, sowie Universitäten, Verlage, Archive und Bibliotheken, Akademien und kulturpolitische Einrichtungen des nationalsozialistischen Regimes in den besetzten Gebieten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Akten geben Aufschluss über wissenschaftliche und (wissenschafts-)politische Aspekte des Wirkens der Leiter bzw. Präsidenten Paul Fridolin Kehr, Wilhelm Engel, Edmund Ernst Stengel und Theodor Mayer sowie weiterer Mitarbeiter und mit den Monumenta verbundener bedeutender Gelehrter wie Karl Brandi. Nicht zuletzt wird die wissenschaftliche Geschichte der Monumenta selbst mit ihren Editionen (MGH-Reihen), der Zeitschrift „Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters“ und weiteren Reihen und Projekten sichtbar.
Die Archivalien ermöglichen Erkenntnisse zu verschiedenen Themenkomplexen der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit, wie etwa dem Monopolanspruch der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem versuchten Gewinn einer ‚Deutungshoheit‘ in Europa und ihrem Verhältnis zum Regime, der Organisation der Geisteswissenschaften (z.B. das Verhältnis der Reichinstitute zu landesgeschichtlichen Institutionen), der Interpretation der deutschen Geschichte aus Sicht der NS-Ideologie, der ideellen Unterstützung der deutschen Kriegsführung (‚Kriegseinsatz Geisteswissenschaften’) oder der Geschichtswissenschaft in Österreich und im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Sie leisten darüber hinaus Beiträge zur Biographieforschung, einschließlich der Verdrängung und des Ausschlusses von Wissenschaftlern mit unerwünschter Abstammung oder missliebiger politischer Orientierung.
Einige Beispiele sollen im Folgenden vorgestellt werden:
- Faszikel B 543 enthält Korrespondenzen zum „Kunst-, Bibliotheks- und Archivschutz“ während des 2. Weltkriegs in Frankreich und den Beneluxstaaten. Sie dokumentieren die Beteiligung des Reichsinstituts an der umfangreichen Fotokopierung von in zeitgenössischer Diktion dem Deutschen Reich ‚entfremdeten‘ Archivalien und Handschriften. Die Akten stammen aus dem Zeitraum zwischen 1940 und 1943 und machen besonders das Engagement des Präsidenten Edmund Ernst Stengel für die Tätigkeiten der „Gruppe Archivwesen“ deutlich. Der Kommissar für Archivschutz, Ernst Zipfel, bat Stengel bereits kurz nach seiner Ernennung um Mitwirkung bei der „Sicherung“ von Archivgut (Brief vom 28.06.1940). Bereits im Ersten Weltkrieg hatte es vonseiten der Monumenta Bestrebungen zur „Herausgabe der in den napoleonischen Kriegen entfremdeten Archivalien und Handschriften deutscher Herkunft“ gegeben (Vgl. den Brief von Stengel an die Witwe von Michael Tangl, 24.06.1940). Stengel sagte Zipfel die Hilfe des Reichsinstituts bei der „Betreuung“ der holländischen, belgischen und französischen Archive zu, legte den Schwerpunkt dann aber deutlich auf die Erstellung von Fotokopien (Brief vom 11.07.1940). Bereits am 03.07.1940 hatte er offensichtlich aus eigener Initiative ein Rundschreiben an Institutsmitglieder und Fachkollegen mit der bitte um Mitteilung von mittelalterlichen Archivalien bzw. nichtarchivalischen Handschriften für die laufenden amtlichen Erhebungen über dem Deutschen Reich ‚entfremdete‘ und nach Frankreich und Belgien ‚verschleppte‘ Kulturgüter verschickt. Auch darin betonte er die Bedeutung der möglichst umfassenden Fotokopierung für die Arbeiten des Reichsinstituts. Sein Rundschreiben stieß bei amtlichen Stellen auf wenig Gegenliebe, am 25.09.1940 wurde ihm vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nahegelegt, eigenmächtige Aktionen zukünftig zu unterlassen. Die Akten enthalten Zusammenstellungen der aufgrund von Stengels Umfrage ermittelten Handschriften zur Vervielfältigung.
- Beziehungen des Reichsinstituts unter Wilhelm Engel und Edmund Ernst Stengel zu wissenschaftlichen Einrichtungen wie etwa dem „Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschland“ spiegeln Akten in den Faszikeln B 546 und B 563 wider. Vorbehalte Stengels gegenüber Walter Frank, seine Ablehnung einer räumlichen Vereinigung beider Reichsinstitute, aber auch die offizielle Wahrung gegenseitiger guter Beziehungen und praktische Zusammenarbeit werden hier deutlich. In einer Niederschrift vom Dezember 1937 in B 546 berichtet Stengel über ein Gespräch mit Frank, in dem dieser eine Zusammenarbeit anbot unter der Bedingung, dass Karl August Eckhardt nicht die Leitung der Leges-Abteilung erhalte. Aus Franks Worten geht dabei hervor, dass er Stengel für einen Gegner des Nationalsozialismus hielt und seine Ernennung zum Präsidenten nicht befürwortet hatte. Korrespondenzen in B 563, die aus der Zeit zwischen 1935 und 1940 stammen, dokumentieren den gegenseitigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Austausch, etwa durch die Erstellung von Gutachten. Thematisiert wird z.B. auch die Entfernung von Wilhelm Mommsen aus der Redaktion von „Vergangenheit und Gegenwart“ 1936 in der Amtszeit von Stengels Vorgänger Wilhelm Engel.
- Zahlreiche Briefwechsel zeigen die Verbindungen des Reichsinstituts zur europäischen Geschichtswissenschaft in den gegnerischen, befreundeten und neutralen Staaten. Faszikel B 545-1 dokumentiert Kontakte des Reichsinstituts von 1942 bis 1943 mit der Schweiz in Form einer Vortragsreise von Präsident Theodor Mayer. Unter den Korrespondenten finden sich die Schweizerische Botschaft Berlin, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Person von Herbert, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Auswärtige Amt, das Deutsche Studienwerk für Ausländer sowie die Schweizer Historiker Richard Feller und Anton Lagiadèr. Thematisiert werden die Lage der Schweizer Mediävistik, die Propaganda der „Feindmächte“ in dem neutralen Land, Absichten zur Errichtung einer ständigen Stelle eines Schweizer Mitarbeiters beim Reichsinstitut (mit Einladung der Stipendiaten Adolf Reinle und Eugen Bürgisser) und insgesamt der Versuch, eine Einflussnahme auf die Schweizer Geschichtswissenschaft zu erreichen. Faszikel B 577 enthält Materialien zu einer weiteren Vortragsreise von Mayer nach Rumänien und Briefwechsel mit rumänischen Wissenschaftlern wie z.B. Alexandru Marcu.
- Geschichtspolitik im Sinne der NS-Ideologie in besetzten Gebieten offenbaren Akten von 1939 bis 1941 in Faszikel B 556 zur von Stengel geplanten Edition der deutschen Überarbeitung der alttschechischen Chronik des sogenannten „Dalimil“. Die Aufnahme auch der tschechischen Fassung in die MGH wird dabei angesichts der politischen Umstände nach der Eingliederung des Sudetenlandes und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ als ‚nationale Pflicht‘ angesehen. Die Korrespondenzpartner Stengels sind der Volkstumsforscher Bruno Schier, die Slawisten Ferdinand Liewehr und Max Vasmer, der Historiker Wilhelm Wostry sowie die Gruppe Unterricht und Kultus beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Der Editionsauftrag wurde an Liewehrs Schüler Karl Rösler übertragen. Die politische Brisanz des Projekts wird in den Bedenken des Reichsprotekorats, die Berücksichtigung des tschechischen Texts könne bei den Deustcehn Ärger erregen, deutlich. In Faszikel B 557 befinden sich Korrespondenzen von 1941 bis 1942 zur ebenfalls von Stengel beabsichtigten Herausgabe der Miniaturen des „Brünner Schöffenbuchs“ mit rechtsikonographischen Ausführungen der österreichischen Historikerin Gertrud Schubart-Fikentscher. Stengel warb bei Adolf Hitler persönlich um finanzielle Unterstützung in Hinblick auf die Werbewirkung des Werks für ‚deutsches Wesen‘ in Böhmen.
Es ist Deine Pflicht zu benutzen, was du weißt!
Man muss nicht lange suchen, um glänzende Beispiele skandinavischer Arbeiterliteratur in den Bücherregalen der Bibliotheken zu finden: Ivar Lo-Johansson, Martin Andersen Nexø, Ture Nerman und Moa Martinson sind nur einige Namen, die jedem Literaturfreund auch ohne ein spezielles Interesse für Arbeiterliteratur bekannt sein sollten. Sucht man jedoch nach norwegischen Vertretern, wird man nicht so schnell fündig. Gab es etwa in Norwegen keine Arbeiterliteratur? Konsultiert man norwegische oder skandinavische Literaturgeschichten müsste man diese Frage schnell mit einem „nicht wirklich“ beantworten. Doch kann es sein, dass die norwegische Arbeiterbewegung als mit Abstand radikalste und dynamischste in Nordeuropa keine spezifisch proletarische Literatur hervorgebracht hat?
Diesen Fragen wird im nun vorliegenden Buch nachgegangen, in dem systematisch die proletarische Literaturdebatte analysiert wird und ein zeitgenössisches Literaturverständnis rekonstruiert wird, das den Blick weg vom literarischen Werk und dessen Autorinnen und Autoren, hin zu den mit Literatur in Verbindung stehenden Praktiken lenkt. Denn weniger das literarische Werk stand im Fokus des Interesses, sondern was und wie mit Literatur gehandelt wurde. Literatur sollte dabei nicht unterhalten und um ihrer selbst willen geschrieben, gelesen, vorgetragen oder aufgeführt werden. Ihr Hauptzweck war es zu bilden.
Die Arbeit ist im Rahmen des von 2010 bis 2013 durchgeführten und am Institut für Skandinavistik/Fennistik der Uni Köln und dem Skandinavischen Seminar der Uni Freiburg angesiedelten DFG-Projekts “Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900″ entstanden. Im Projekt wurden akteurorientierte Praktiken wie die Autorenlesung, medienorientierte Praktiken wie Literaturverfilmungen und milieuorientierte Praktiken wie die der Arbeiterbewegung untersucht.
Die Erschließung von teilweise bisher ungesichtetem Material brachte eine norwegische Arbeiterliteratur ans Licht, die erst aus der praxeologischen Perspektive sichtbar wird. Welche Rolle spielte belletristische Literatur im weit reichenden Bildungsbetrieb der norwegischen Arbeiterbewegung? Wie sollte Literatur produziert und rezipiert werden? Wie wurde sie produziert und rezipiert? Und warum findet man in heutigen Literaturgeschichten so wenig zum Thema?
Das Buch stellt eine Bestandsaufnahme der rekonstruierbaren literarischen Praxis der norwegischen Arbeiterbewegung dar und entwickelt dabei mit einem kontrastiven Seitenblick auf Schweden eine Erklärung für die bisherige Absenz der norwegischen Arbeiterliteratur nicht nur in der Forschung.
Christian Berrenberg: »Es ist deine Pflicht zu benutzen, was du weißt!« Literatur und literarische Praktiken in der norwegischen Arbeiterbewegung 1900-1931
Erschienen bei Ergon, 2014 (= Literarische Praktiken in Skandinavien; Band 3), 476 Seiten, ISBN: 978-3-95650-031-2
Weitere Informationen zum Forschungsprojekt, inkl. Abschlussbericht unter http://www.skanlitprax.de
CfP: EVA Berlin 2014
von Susanne Hauer, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Bereits zum 21. Mal wird vom 5. – 7. November 2014 die EVA Berlin Konferenz zum Thema „Elektronische Medien & Kunst, Kultur und Historie“ im Kunstgewerbemuseum Berlin am Kulturforum Potsdamer Platz (Matthäikirchplatz 8, 10785 Berlin) stattfinden.
Im Rahmen der Vorbereitung laden die Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD Interessierte ein, sich aktiv zu beteiligen.
Beiträge können zu folgenden Schwerpunkten und Themen eingereicht werden (s. Flyer für weitere Informationen):
- 3D-Scanning: Dokumentation und Präsentation
- Sound und Video: digitale Reproduktionstechniken
- Big Data: Innovation und Kontrolle
- Online-Portale: Attraktivität, Resonanz, Portfolio Management
- Semantic Web: Open Linked Data
- Partizipation, Social Web und Shareconomy
- Augmented Reality: Museum als Schau- und Hörraum
- Europeana und Deutsche Digitale Bibliothek
Weiterführende Informationen zu der Konferenz und dem Call for Papers können Sie dem Flyer und der EVA Berlin Webseite entnehmen.
Die EVA Konferenz bietet zu diesen aktuellen Themen ein praxisnahes Diskussionsforum. Sie fordert den Austausch der Gedächtnisinstitutionen mit Technologieanbietern, Informationswissenschaftlern und öffentlichen Verwaltungen. Es werden innovative Beitrage für die Konferenz und Vorschläge für anwendungsorientierte Workshops erwartet. Konkrete Verfahren, Techniken, Projekte und Produkte können zeitgleich zur Konferenz ausgestellt werden.
Termine:
14.07.2014 Einreichen von Beiträgen
11.08.2014 Mitteilung über die Annahme von Beiträgen
03.10.2014 Eingang der Manuskripte für den Konferenzband
Beiträge bitten wir elektronisch über die Webseite oder unter folgendem Kontakt einzureichen:
Constanze Fuhrmann
Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD
Fraunhoferstr. 5
64283 Darmstadt, Germany
T + 49 6151 155-620
F + 49 6151 155-139
constanze.fuhrmann@igd.fraunhofer.de
www.igd.fraunhofer.de
Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3762
Zusammen sind wir trotzdem noch allein

Finding Vivian Maier
USA 2013, Drehbuch & Regie: John Maloof, Charlie Siskel, Kamera: John Maloof
Kairos ist ein Nebendarsteller im olympischen Spektakel griechischer Mythologie. Er ist der „Gott des glücklichen Moments“. Dargestellt mit einer unübersehbaren Stirnlocke, die es zu ergreifen gilt in dem einen, dem richtigen Moment.
Diesem jüngsten Sohn des Zeus begegnete der Immobilienmakler und Hobbyhistoriker John Maloof im Jahr 2007. Und er traf die richtige Entscheidung im unwiederbringlich richtigen Moment. Für den Preis von 380 Dollar ersteigerte er in einem Chicagoer Auktionshaus mehrere Kartons voller Negative. Erhofft hatte er sich Bilder über sein Chicagoer Stadtviertel Portage Park für eine Chronik dieses Teils der Stadt, an der er gerade arbeitete. Gefunden hat er Fotografien aus den Jahren 1950 bis weit in die 1990er-Jahre von einer ihm unbekannten Fotografin: Vivian Maier.
Maloof konnte, nachdem er festgestellt hatte, dass die Negative für seinen Zweck nicht brauchbar waren, zunächst nichts mit den Kisten anfangen. Er versuchte dennoch, die Fotografin ausfindig zu machen. Aufgrund der Professionalität der Fotos ging er davon aus, dass es sich um eine Journalistin oder eine Fotografin handeln müsse. Seine Suche blieb erfolglos, was ihn in höchstes Erstaunen versetzte: Offenbar gibt es Menschen, die in unserer durchgescannten Welt keine Spuren hinterlassen. Selbst der von ihm engagierte Genealoge fand nur dünne Einträge in Geburten- und Sterberegistern. Erst 2009 brachte ihn die Anzeige ihres Todes schließlich auf die kaum sichtbaren Spuren, die sie hinterlassen hat. Von nun an sollte der Immobilienmakler John Maloof zum obsessiven Nachlassverwalter einer völlig unbekannten Frau werden, von der lediglich Kisten voller Negative überliefert waren.
Von der akribischen Suche nach der Fotografin Vivian Maier erzählt die Dokumentation „Finding Vivian Maier“, die Maloof gemeinsam mit seinem Mitstreiter Charlie Siskel im Jahr 2013 produzierte.
Maier, die 1926 in New York geboren wurde, hatte eine französische Mutter und einen österreichischen Vater, der die Familie jedoch früh verließ. Sie sprach fließend Französisch, da es bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr immer wieder längere Aufenthalte in Frankreich gab. Dort lebte sie mit ihrer Mutter in jenem Ort, aus dem die Familie stammte: Saint-Bonnet-en Champsaur im Südosten des Landes. So malerisch das 250-Seelen-Dorf im Film auch erscheint, in ihrer Familiengeschichte spiegelt sich dies nicht. Die Familienmitglieder hatten keinen Kontakt untereinander. Maiers Tante vererbte ihr kleines Vermögen einer Freundin, und keinem der Verwandten, mit den testamentarisch verbrieften Worten, dass alle sicher wüssten, warum sie dies täte.
Im Jahr 1940 kehrte die Familie endgültig in die USA zurück. Maier musste früh zum Lebensunterhalt der Familie beitragen und tat dies zunächst in den kleinen Hinterhoffabriken Chicagos. Da sie jedoch das Eingesperrtsein in den stickigen Räumen der Manufakturen hasste, begann sie als junge Frau in den Mittelklassevororten der Stadt als Kindermädchen zu arbeiten – eigentlich viel zu intelligent für die Arbeit in der Küche und im Kinderzimmer. Zumindest zeitweise jedoch liebte Maier ihre Arbeit. Sie konnte sich mit den Kindern relativ frei bewegen und war, wie die nun Erwachsenen sich noch immer entnervt erinnern, immer draußen, den ganzen Tag. Wenn nicht in der Natur, so in den heruntergekommenen Vierteln der Stadt, um das zu tun, was sie, nach Aussage der Kinder, immer tat: fotografieren.
Die von ihr betreuten ehemaligen Schützlinge kommen im Film zu Wort, mit durchaus widerstreitenden Meinungen über ihre extrem eigensinnige Nanny. Die Erinnerungen reichen hier von einer Person, die, trotz aller Strenge, eine Atmosphäre von Abenteuer, Lebenslust und Freiheit verbreitete, bis hin zu jenen, die von, wenn auch zeitgemäßer, tiefschwarzer Pädagogik sprechen.
Was wir dank der leidenschaftlichen, nahezu manischen Recherche Maloofs sicher wissen, ist, dass Vivian Maier kaum je ohne Kamera anzutreffen war. Lange Zeit war dies eine Rolleiflex, mit der es gelang, bei geringstmöglicher Aufmerksamkeit der Porträtierten nah und unauffällig an ihre Objekte heranzukommen. Die „Rollei“ ermöglichte eine Form der Fotoarbeit, die heute nicht mehr vorstellbar ist: Die Fotografin schaut nach unten in das Objektiv, schaut somit nicht direkt auf den Bildausschnitt, auf die Person, die sie fotografieren will, und hat keine Kamera vor dem Gesicht. So kommt zum einen die starke Untersicht vieler ihrer Porträts zustande, zum andern lässt sich so auch die Unbefangenheit der Porträtierten erklären.
Vivian Maier selbst sorgte mit großer Energie dafür, dass sie kaum Spuren hinterließ. So verleugnete sie nicht selten ihren Namen oder änderte ständig dessen Schreibweise. Sie wechselte häufiger ihre Stelle als Kindermädchen. Mag sein, dass dies üblich war. Ihre Arbeitgeber berichten jedoch auch von ihrem exzentrischen Wesen. Davon, dass sie mit ihren Fotoboxen, von denen niemand wusste, dass es sich um Fotoboxen handelte, ganze Garagen zustellte, dass sie schwere Schlösser an ihre Privaträume anbringen ließ und sie zu verbotenen Zonen erklärte, dass sie Tonnen von Zeitungen hortete – dass sie ein Messie war. Offenbar wussten wohl meist nur die Kinder, dass sie fotografierte und dass sie dies ständig tat.
Der Film zeigt, wie viel Maloof daran liegt, die Person Maiers zu entschlüsseln, derjenige zu sein, dem es gelingt, und sei es postum, die Frau kennenzulernen, die nach Meinung einiger Kunstkritiker zu den ganz Großen der Street Photography gehört. In zum Teil atemberaubenden Schnitten stellt Maloof Arbeitgeber und Bekannte Maiers mit völlig widersprüchlichen Erzählungen zu ihrer Person gegenüber. So beschämt uns beispielsweise die Arroganz des Linguisten, bei dem Maier Abendkurse besuchte, wenn er behauptet, Maier hätte ihren französischen Akzent nur gefakt. Andere erklären, Maier sei mindestens zwei Meter groß gewesen, sie hätte sich gekleidet, wie es in den zwanziger Jahren Mode war, und den Stechschritt eines „german nazi“ gehabt. Mit Wärme sprach kaum jemand über sie, mit Respekt ihrer Exzentrik und Eigenheit gegenüber alle. Einig war man sich darin, dass sie ein unfassbar einsamer Mensch gewesen sein muss. Einsam meint: keine Freunde, keine Verwandten, keinen Liebhaber, kein Kind – keinen Anruf.
Von den Einsamen geht eine Faszination aus, vor allem dann, wenn diese Einsamkeit frei gewählt und mit Vehemenz verteidigt wird – diese Faszination steigert sich ins Mythische, wenn die Einsamen ein Werk hinterlassen, das uns staunen lässt. So wie es die Bilder Maiers tun. Die Sammlung ihrer Werke, die Maloof sukzessive aufgekauft hat, umfasst schätzungsweise 100.000 Negative, 20.000 Farbdias, 3000 Abzüge, Film- und Tonaufnahmen.[1]
Ausstellung der Werke Vivian Maiers in München, 2011 (Foto: Thomas Leuthard/flickr)
Wenn heute von ihren Arbeiten die Rede ist, fällt regelmäßig der Name Cartier-Bresson und sein Credo vom „richtigen Moment“. Denn das ist es, was Maiers Bilder so besonders macht und sie in eine Reihe mit Helen Levitt, Diane Arbus, Alfred Eisenstaedt oder Elliott Erwitt stellt, die Fähigkeit den richtigen Moment zu erwischen.[2]
Der Film von Maloof und Siskel ist, wie Bert Rebhandel in der FAZ[3] treffend feststellte, nicht der richtige Ort, um über den Rang und die Bedeutung der Fotografin Vivian Maier zu urteilen. Die Bilder laufen zu ungestüm über den Bildschirm, es bleibt kaum Zeit, sie zu betrachten. Aber dass Vivian Maier eine begnadete Fotografin war, deren Unsichtbarkeit weitaus umfassender war als nur ein verheimlichter Name und ein verschlossenes Zimmer, dies wird im Film sehr deutlich.
Sieht man sich ihre Bilder genauer an – der von Maloof im Jahr 2011 herausgegebene Bildband[4] macht dies möglich –, erkennt man zunächst, dass sie in der Tat das war, was der Kunsthistoriker im Film behauptet: „She was a genuine shooter“ und „She had a great eye“. Auf den zweiten Blick erkennt man ein imaginäres Wasserzeichen auf fast jedem ihrer Bilder. Der Subtext dieses Zeichens lautet: Egal wie groß die Stadt ist, in der wir uns bewegen, egal wie viele Menschen neben uns sind, selbst wenn jemand unsere Hand nimmt – es nützt nichts, der Mensch ist ein einsames Tier.
Finding Vivian Maier
USA 2013, Drehbuch & Regie: John Maloof, Charlie Siskel, Kamera: John Maloof,
100 Minuten, Farbe & Schwarz-Weiß
[1] Christoph Gunkel, Das Kindermädchen mit der Kamera, in: Spiegel-online, 25.1.2011 (30.6.2014).
[2] Andrea Diener, Von ihrem Leben blieb nur ihr Blick auf die Welt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.2010, Nr. 187, S. Z3 (Bilder und Zeiten).
[3] Bert Rebhandel, Das Kindermädchen mit der Kamera. Der Regisseur John Maloof kauft auf dem Flohmarkt eine Schachtel Negative, macht sich auf die Suche nach der Fotografin und findet Vivian Maier: eine Frau, die noch immer Rätsel aufgibt, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.4.2014, Nr. 25, S. 42.
[4] John Maloof, Vivian Maier. Street Photographer, München 2011.
Quelle: http://www.visual-history.de/2014/07/08/zusammen-sind-wir-trotzdem-noch-allein/