aventinus specialia Nr. 46 [21.12.2012]: Frohe Weihnachten und ein gutes Neues Jahr!
Vermeintliches Weltuntergangszitat doch nicht von Karl Kraus
"Wenn die Welt untergeht, dann gehe ich nach Wien. Dort passiert alles 10 Jahre später."
lässt sich weder in der digitalen Version seiner Werke noch der Fackel nachweisen. Weltuntergänge und Apokalypsen kommen darin allerdings gehäuft vor.
Joachim Gauck-Freiheits-Preis für Klaus Schroeder
Exilforschung
Exilforschung
Mind the gap(s): Raum und Zeit
Der visuelle Kanon, der ‘China’ und ‘Chinesisch-Sein’ markiert, ist äußerst langlebig. China-Bilder (im Wortsinn), die von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung längst überholt sind, bleiben lange im kollektiven Bewusstsein hängen, wie etwa die nebelverhangenen Bilder von den Schluchten des Changjiang 長江 (die durch den Drei-Schluchten-Staudamm überflutet wurden) und viele andere.
Ein Grund für die nur zögernde Aktualisierung dieser Bilder dürfte der Nimbus des Exotischen sein, der allem Chinesischen anzuhaften scheint und der unabhängig von der medialen Präsentationsform ist. Dieses rätselhafte China wird in Text und Bild dargestellt, in Dokumetationen ebenso wie in rein fiktionalen Darstellungen.
Fast alle ‘klassischen’ Comics-Serien haben zumindest eine China-Episode. [1], auch unter Les aventures de Tintin [dt. Tim & Struppi] gibt es mit Le lotus bleu [dt. Der blaue Lotus] einen China-Band. Le lotus bleu, das 5. Album der Reihe, erschien zunächst im Petit Vingtième, einer Beilage zur konservativen Zeitung Le Vingtième Siècle, in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Die einzelnen Abschnitte der Serie – unter dem Titel “Tintin en Extrême-Orient” – erschienen zwischen 9. August 1934 und 17. Oktober 1934. Als Album (in Farbe) erschien die Geschichte in stark überarbeiteter Form 1946.
Der blaue Lotus wird häufig als Wendepunkt in der Arbeit Herge’s bezeichnet – in mehrfacher Hinsicht: Häufig genannt wird die Abkehr von der Reproduktion populärer Vorurteile [2] und die Hinwendung zu einer differenzierteren Darstellung. Dieser Aspekt wird explizit thematisiert: In einer Szene rettet Tim einen chinesischen Jungen aus einem reißenden Fluss – und der Junge frage, warum Tim ihn gerettet habe.[3] Tim antwortet “Tous les blancs sont pas mauvais, mais les peuples se connaissent mal.” .[4]
Hergé greift ein Anfang der 1930er sehr aktuelles Thema – die Mandschurei-Krise – auf und ergreift für die chinesische Seite Partei. Das China, für das er Partei ergreift, ist allerdings nicht das China der 1930er, sondern das China der späten Qing-Zeit. Das China, das gezeigt wird, ist nicht das mondäne Shanghai der 1930er Jahre mit all seinen Widersprüchlichkeiten (das Mao Dun 矛盾 (1896-1981) in Ziye (1933, dt. “Shanghai im Zwielicht”) so einprägsam dargestellt hat), sondern ein sehr traditionelles/traditionalistisches China: Tim erwacht in traditionellen Gebäude [四合院 sìhéyuàn] mit Gitterwerk an den Fenstern und Rollbildern an den Wänden. Die Möbel sind vorwiegend an den Wänden entlang aufgestellt, zahlreiche ‘chinesische Vasen’ in allen Größen schmücken die Räume (Petit Vingtième n°47 du 22 novembre 1934/Album S. 18 f.). Sein Gastgeber, Wang Jen-Chie erscheint in der Kleidung eines chinesischen Gelehrten (Petit Vingtième n°48 du 29 novembre 1934/Album S. 19) – in einem knöchellangen Kleid, darüber eine ärmellose Weste mit Stehkragen und Knebelverschlüssen, das Haar unter einer kleinen schwarzen Kappe, weiße Socken und schwarze Stoffschuhe an den Füßen.
Die Shanghaier Straßenszenen, die Hergé entwirft, entsprechen dem Bild, das von frühen Bildpostkarten und frühen Fotografien vertraut ist – und diese Bilder sind durchaus langlebig: sehr belebte Straßen, von Läden gesäumt, die mit auffälligen Aufschriften und Fahnen Werbung machen, mächtige Stadtmauern mit wuchtigen Tortürmen, deren Dächer apotropäische Figuren (yánshòu 檐獸) tragen.
Quelle: http://fr.tintin.com/news/index/rub/100/id/3711/0/la-chine-lointaine-et-proche
Die elektrische Beleuchtung und die zahlreichen Strommasten und elektrischen Leitungen erscheint vor diesem Hintergrund besonders auffällig, gehörten aber seit den 1880ern zum Stadtbild in Shanghai. [5] In den 1930ern standen die Stadtmauern von Shanghai , die in Le Lotus Bleu immer wieder auftauchen,lange nicht mehr, diese waren 1912 unter Gouverneur Chen Qimei zerstört worden. [6]
Dass Hergé zwischen dem Modernen und dem Alten schwankt, erscheint wenig verwunderlich – hatte er doch nur eingeschränkt Zugang zu dokumentarischem Bildmaterial und musste mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand auskommen.
Umso verwunderlicher erscheint es, dass Versatzstücke aus Le Lotus Bleu fast siebzig Jahre später wieder verwendet werden. Der Kanadier Guy Delisle (*1966) verarbeitet in der Graphic Novel Shenzhen (2000, dt. 2006) seinen Aufenthalt in Shenzhen 深圳市. Delisle kam Ende 1997 für drei Monate in die Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, um für ein Trickfilmstudio Arbeiten zu überwachen. In tagebuchartigen Szenen beschreibt Delisle seine Wahrnehmung des ‘chinesischen Alltags’, den Umgang mit kulturellen Besonderheiten und interkulturellen Missverständnissen.
Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
Comic Salon Erlangen 2008 | Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
- Ausstellung: Guy Delisle – Lost in Translation
Copyright: Guy Delisle: Shenzhen. Seite 103 – Reprodukt
In einem ganzseitigen Panel (p. 103) werden Versatzstücke aus Le Lotus Bleu kombiniert zu einer Staßenszene: das Werbebanner und das Geschäftsschild aus dem oben besprochenen Panel [7], ein Rikschaläufer (vgl. Le Lotus Bleu Petit vingtième n°36 du 6 septembre 1934 [Panel unten rechts]/Album S. 7) und ein Lastenträger, der an einer langen Schulterstange schwere Lasten transportiert.
Die Banner über Geschäftseingängen gehören weiter zum Straßenbild [8], Rikschaläufer allerdings weniger und alte Männer in langen Gewändern sieht man ebenfalls selten …
Mind the gap(s) …
- wenn ein Comic der 1930er mit Elementen aus dem China der 1900er/1910er Jahre arbeitet und
- eine Graphic Novel im Jahr 2000 die Boomtown Shenzhen mit dem visuellen Vokabular der 1930er darstellen will.
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[1] Die große Ausnahme ist Asterix, der kleine Gallier kam nie nach China.
[2] Die ersten Bände, vor allem ‘Tim & Struppi. Im Kongo’ erzählen von rassistischen Vorurteilen geprägte Geschichten, die den westlichen Imperialismus und Kolonialismus positiv herausstreichen.
[3] Erstfassung: Le petit vingtième No. 22 du 30 mai 1935 und Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 44 f.
[4] Erstfassung: Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 45 f.
[5] S. dazu: Frank Dikötter, Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in China (Columbia University Press, 2007) 133 und 135.
[6] Heute steht nur ein kleiner Rest, der als Museum genutzt wird [Dàjìng Gé Pavillon 上海古城墙和大境阁).
[7] Der Bezug ist eindeutig, Form (farblich abesetzter Rand mit Bogenkante) und Aufschrift des Banners sind identisch.
Annäherungen an den Kulturbegriff im Chinesischen
Im modernen Chinesisch steht für den Begriff “Kultur” meist wenhua 文化 – daher also auch die Adresse dieses Blogs.
Während sich der Begriff wenhua erst im frühen 20. Jahrhundert durchzusetzen begann [1], stand der Begriff wen 文 seit dem Altertum für die Sphäre des Kulturellen und hier vor allem – ab der Späten Han-Zeit (1.-3. Jh. n. Chr.) für den Bereich der Literatur. [2] Ursprünglich hatte das Schriftzeichen, das geritzte und verschlungene Linien zeigt, die Bedeutung “kreuz und quer”, zu der sich später auch “gemustert”, “verziert” beziehungsweise “verfeinert” gesellten.
Ein Blick ins Wörterbuch zeigt die vielfältigen Bedeutungen, die das Schriftzeichen wen 文haben kann: “verschlungene Linien (eines Ornamentes), Striche, Linien, Adern, einfaches zusammengesetztes bildhaftes Schriftzeichen, Geschriebenes, Schrift, Schriftstück, Inschrift, Wortlaut, Text, geschriebene Sprache, Schriftsprache, Schrifttum, Literatur, literarischer Schmuck, Stil, Wissenschaft, Bildung, Kultur, kultiviert, verfeinert, gebildet, zivilisiert [...].” [3]
Einzelne Blüteperioden der Kultur Chinas fielen mitunter – wie etwa zur Zeit der “Nördlichen und Südlichen Dynastien” (3.-6. Jh.) oder während der Song-Dynastie (960-1279) in eine Zeit, in der China entweder politisch zerrissen war oder unter dem Eindruck nomadischer Invasoren stand. Wie es Erwin Rousselle (1890-1949) formuliert hatte, zeige die Geschichte Chinas “daß ihr ungeheuer reicher dramatischer Ablauf sehr oft Zeitalter durchmessen hat, in denen die beiden Kurven von Kultur und militärischer Macht, von ‘Wen und Wu’, sich durchaus nicht deckten.” [4]
Kam Louie und Louise Edwards machten sich dieses Gegensatzpaar von wen und wu 武 (“zivil” und “militärisch”) für ihren Versuch einer Konzeptualisierung chinesischer Männlichkeit(en) zunutze. Während yin 陰 und yang 陽 gemeinhin als Gegensatz zwischen Weiblichem und Männlichem interpretiert werden, manifestieren sich in wen und wu die unterschiedlichen Ausprägungen chinesischer Männlichkeit(en), die im Idealfall jedoch harmonieren sollten. [5]
Wuyingdian 武英殿 (Halle der Militärischen Tapferkeit), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner
Als Beispiel für die Harmonie zwischen wen und wu mag der Umstand gesehen werden, dass die Wuyingdian 武英殿 (“Halle der Militärischen Tapferkeit”) auf dem Gelände des Kaiserpalastes in Beijing ab dem 17. Jahrhundert als Druckerei genutzt wurde. Diese im Südwestteil der so genannten “Verbotenen Stadt” gelegene Halle korrespondierte von ihrer Lage her zudem mit der Wenhuadian 文華殿 (“Halle der Literarischen Blüte”) im Südostteil, womit das wen-wu-Paradigma auch in der kaiserlichen Residenz seinen Niederschlag gefunden hatte [6] .
Wenhuadian 文華殿 (Halle der Literarischen Blüte), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner
[1] Zur Entstehung des modernen chinesischen Kulturbegriffs vgl. Fang Weigui: Selbstreflexion in der Zeit des Erwachens und des Widerstands. Moderne chinesische Literatur 1919-1949 (Lun Wen. Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China 7; Wiesbaden 2006) 25-39 (1.2 Die Etablierung des neuen Kultur- und Zivilisationsbegriffs)
[2] Karl-Heinz Pohl: “Annäherungen an einen Literaturbegriff in China.” In: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (Berlin/New York 2009) 589.
[3] Werner Rüdenberg/Hans O. H. Stange (Hg.): Chinesisch-Deutsches Wörterbuch. 3., erw., völlig neubearb. Aufl. (Hamburg/Berlin 1963) 691 (Nr. 8441).
[4] Erwin Rousselle: “Vom Eigenwert der chinesischen Kultur.“ Sinica 8 (1933) 1-8, hier ebd., 1.
[5] Kam Louie, Louise Edwards: “Chinese Masculinity: Theorising ‘Wen’ and ‘Wu’” In: East Asian History 8 (Dec. 1994) 135-148, vor allem 139-142.
[6] Zur Lage der beiden Hallen vgl. “Major Structures of the Forbidden City”, National Geographic/Supplement to National Geographic Magazine, May 2008 (Special Issue: China. Inside the Dragon) beziehungsweise den Plan auf der Website des Palastmuseums Beijing.
Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/50
Amerika, Du hast es besser? Zur Lage der Postdoktoranden in den USA
Postdoktoranden sind wie Geister. So jedenfalls fasst Orfeu Buxton, Mitbegründer der National Postdoctoral Association, die Lage griffig zusammen. Rund 60.000 dieser Geister gibt es aktuell in den USA. Aus der gespenstischen Nicht-Sichtbarkeit der “tomorrow’s professors” entstand 2003 die landesweite Postdoctoral Association NPA.
Die Geschichte der Vereinigung lässt sich in einem lesenswerten Nature-Artikel von Karen Kaplan nachlesen. Neben Buxton kommt darin Alyson Reed, die erste Direktorin zu Wort. Außerhalb von Universitäten, so Reed, wüssten nur wenige, was Postdoktorand_innen eigentlich machen. Und auch auf dem Campus selbst ist die akademische Geselligkeit keine Selbstverständlichkeit. Auch für US-amerikanische Postdocs, selbst wenn sie einen wenig ihren Geisterstatus verlassen, gelten die Unsicherheiten des modernen akademischen Lebens. Max Webers “wilder Hasard” der wissenschaftlichen Laufbahn scheint auch hier selbstverständlich zu sein: Temporäre Absicherung, unklare Zukunftsperspektiven und schlechte Bezahlung gab und gibt es auch im US-amerikanischen System zuhauf.
Spannend ist vor diesem Hintergrund die grass roots-Gründung der NPA, die heute 2.700 Mitglieder hat. In Kaplans Artikel beginnt sie mit sieben Personen und einer Unterstützung der American Association for the Advancement of Science (AAAS). Zu den Herausforderungen der Vereinigung gehört neben den Finanzierungsfragen auch das permanente agenda setting in der Washingtoner Politikszene und an den Universitäten. Die Frage “Was ist ein Postdoc?” spielt dabei naturgemäß eine elementare Rolle, so dass 2007 eine entsprechende Definition geschaffen wurde, die sich heute auf der Homepage der NPA findet:
A postdoctoral scholar (“postdoc”) is an individual holding a doctoral degree who is engaged in a temporary period of mentored research and/or scholarly training for the purpose of acquiring the professional skills needed to pursue a career path of his or her choosing.
Zur Charakteristik von Postdoktoranden-Positionen gehört, dass sie temporäre Karriereschritte auf dem Weg zu einer permanenten Anstellung beinhalten, die meistens durch erfahrene Wissenschaftler_innen unterstützt werden. Dabei soll der hauptsächliche Ertrag die eigene wissenschaftliche Forschung und deren Publikation in der Förderzeit sein, auch wenn man an größeren Forschungsprojekten beteiligt ist. Postdocs sind für die NPA kein Beiwerk, sondern essenziell für die wissenschaftliche Stellung ihrer Mentoren und Heimatinstitutionen. Die Zeit als Postdoktorand_in sollte fünf Jahre nicht überschreiten.
Von der National Postdoctoral Association – die aktuell den Direktionsposten neu besetzt – lässt sich sicherlich auch für Europa und Deutschland einiges lernen. Mir fällt auf Anhieb keine Interessenvertretung ein, die Gleiches für die deutschsprachigen Kultur- und Geisteswissenschaften leisten würde. Das ist ob des spukhaften Charakters gerade hochmobiler Postdoktorand_innen zwar erklärbar, aber zugleich höchst unerfreulich. Immerhin wird die spezielle Situation im Templiner Manifest reflektiert. Dort heißt es kurz und richtig unter Punkt zwei:
Postdocs verlässliche Perspektiven geben
Promovierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Postdocs) müssen verlässliche berufliche Perspektiven haben: durch einen Tenure Track, der den dauerhaften Verbleib in Hochschule und Forschung ermöglicht – unabhängig davon, ob eine Berufung auf eine Professur erfolgt oder nicht. Voraussetzung dafür ist eine systematische Personalplanung und –entwicklung durch Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die Hochschullehrerlaufbahn muss über unterschiedliche Karrierewege erreichbar sein, die Habilitation ist dabei immer nur eine Möglichkeit.
Quelle: http://gab.hypotheses.org/494
Frühneuzeit-Info 2012: The Use of Court Records and Petitions as Historical Sources
Die neue Ausgabe der Frühneuzeit-Info vereint Beiträge zur historischen Kriminalitätsforschung aus unterschiedlichen europäischen Ländern. Zum Inhaltsverzeichnis