Ausschreibung der Europäischen Sommeruniversität in Digitalen Geisteswissenschaften “Kulturen & Technologien”

“Kulturen & Technologien” – Europäische Sommeruniversität in Digitalen Geisteswissenschaften 28. Juli bis 07. August 2015, Universität Leipzig  http://www.culingtec.uni-leipzig.de/ESU_C_T/

Wir freuen uns, mitteilen zu können, dass Interessierte sich schon einen Account bei ConfTool einrichten können und dass die Phase der Bewerbung um einen Platz bei der Sommeruniversität in Digitalen Geisteswissenschaften “Kulturen & Technologien” am 28. Februar 2015 beginnt.

Die Sommeruniversität wird dieses Jahr zusammen mit CLARIN-D, einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Infrastrukturprojekt für die Geisteswissenschaften, und dem Humboldt Chair in Digital Humanities der Universität Leipzig ausgerichtet.

Nicht nur der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) unterstützt die Teilnahme an der Europäischen Sommeruniversität großzügig mit Stipendien, sondern auch die Universität Leipzig, die über ihr Akademisches Auslandsamt Stipendien für Mitglieder ihrer osteuropäischen Partneruniversitäten zur Verfügung stellt, und das Electronic Textual Cultures Lab der University of Victoria (etcl), das zusammen mit dem Digital Humanities Summer Institute  die Teilnahmegebühren für bis zu 5 TeilnehmerInnen übernimmt (vgl. http://www.culingtec.uni-leipzig.de/ESU_C_T/node/480).

Die Sommeruniversität richtet sich an 60 TeilnehmerInnen aus ganz Europa und darüber hinaus. Sie will Studierende, DoktorandInnen und (Nachwuchs-) WissenschaftlerInnen aus den Geisteswissenschaften, den Bibliothekswissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Ingenieurwissenschaften und der Informatik als gleichwertige PartnerInnen zu einem wirklich interdisziplinären Wissens- und Erfahrungsaustausch in einem mehrsprachigen und mehrkulturellen Kontext zusammenführen und so die Voraussetzungen für künftige projektorientierte Kooperationen und Netzwerkbildungen über die Grenzen der Disziplinen, Länder und Kulturen hinweg schaffen.

Die Sommeruniversität will einen Raum zum Diskutieren, Erwerben und Ausbauen von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Methoden und Technologien schaffen, die im Bereich des Humanities Computing eine zentrale Rolle spielen und immer mehr die Arbeit in den Geistes- und Kulturwissenschaften, in Verlagen, Bibliotheken, Archiven, Museen und ähnlichen Bereichen bestimmen. Die Beschäftigung mit diesen Methoden und Technologien will sie in den größeren Kontext der Digital Humanities stellen, die nach den Konsequenzen und Implikationen der Anwendung computationeller Methoden und Tools auf Artefakten aller Art fragen.

Bei all dem setzt sich die Sommeruniversität auch das Ziel, dem sogenannten Gender Divide zu begegnen, das heißt der Unterrepräsentation von Frauen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in Deutschland und Europa. Statt aber die Hard Sciences als solche zu stärken, indem sie wie so viele Maßnahmen die sogenannten MINT-Fächer fokusiert und versucht, Mädchen und Frauen von der Attraktivität und Bedeutung der Informatik oder der Ingenieurwissenschaften zu überzeugen, setzt die Sommeruniversität auf die Herausforderung, die die Geisteswissenschaften im weitesten Sinne mit ihren überaus komplexen Daten und ihrem Reichtum an Frauen für die Informatik und die Ingenieurwissenschaften und deren Weiterentwicklung bieten, auf die Überwindung der Grenzen zwischen den sogenannten Hard und Soft Sciences sowie auf die Integration von Geisteswissenschaften, Informatik und Ingenieurwissenschaften.

Die Sommeruniversität dauert volle 11 Tage. Ihr intensives Programm setzt sich aus Workshops, hochschulöffentlichen Vorlesungen, regelmäßig stattfindenden Projektpräsentationen, einer Postersession und einer Podiumsdiskussion zusammen. Was spezifisch das Workshop-Programm betrifft, so werden die folgenden parallel laufenden Kurse angeboten:

  • XML-TEI encoding, structuring and rendering
  • Methods and Tools for the Corpus Annotation of Historical and Contemporary Written Texts
  • Comparing Corpora
  • Spoken Language and Multimodal Corpora
  • Python
  • Basic Statistics and Visualization with R
  • Stylometry
  • Open Greek and Latin
  • Digital Editions and Editorial Theory: Historical Texts and Documents
  • Spatial Analysis in the Humanities
  • Building Thematic Research Collections with Drupal
  • Introduction to Project Management

Jeder Workshop umfasst insgesamt 16 Sitzungen oder 32 SWS. Die Zahl der TeilnehmerInnen eines Workshops ist auf 10 begrenzt. Die Workshops sind so strukturiert, dass entweder beide Blöcke eines Workshops oder zwei Blöcke verschiedener Workshops besucht werden können.

Informationen zur Bewerbung um einen Platz in einem oder zwei Workshops sind unter http://www.culingtec.uni-leipzig.de/ESU_C_T/ zu finden.

Bevorzugt werden Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen, die ein Technologie-gestütztes Forschungsprojekt planen bzw. schon an einem solchen Projekt arbeiten und dieses qualifiziert beschreiben. Von den InteressentInnen aus den Ingenieurwissenschaften und der Informatik wird erwartet, dass sie ihre (bisherigen) Schwerpunkte und Interessen so beschreiben, dass auch Fachfremde sie verstehen, und dass sie ihre Erwartungen an die Sommeruniversität begründet darlegen.

Bewerbungen werden nach ihrem Eingang berücksichtigt. Die Bewerbungen werden vom wissenschaftlichen Komitee und den Workshop-LeiterInnen begutachtet.

Die Teilnahmegebühren sind die gleichen wie 2014.

Alle wichtigen Informationen sind im Web-Portal der Europäischen Sommeruniversität in Digitalen Geisteswissenschaften “Kulturen & Technologien” http://www.culingtec.uni-leipzig.de/ESU_C_T/ zu finden. Das Portal wird fortwährend aktualisiert und mit weiteren Informationen angereichert.

Elisabeth Burr

Prof. Dr. Elisabeth Burr
Französische / frankophone und italienische Sprachwissenschaft
Institut für Romanistik
Universität Leipzig
Beethovenstr. 15
D-04107 Leipzig
http://www.uni-leipzig.de/~burr

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4766

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Resilienz als diskursive Formation: Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte

Ein Versprechen geht um in den Korridoren zwischen den akademischen Disziplinen: Resilienz. Geschlüpft Anfang der 1970er Jahre bei den Ökologen, wenig später aufgenommen, gehegt und gepflegt bei den Entwicklungspsychologen und dann still und heimlich aufgebrochen zu den Sozialwissenschaftlern (vgl. Endreß/Maurer 2015). Resilienz: ein „buzzword“ (Walker 2013), das Natur- und Gesellschaftsforscher zusammenbringen, den Elfenbeinturm öffnen und der Wissenschaft dabei zugleich helfen soll, das zu bekommen, was man gerade selbst untersucht. Das Lateinwörterbuch bietet für „resilire“ drei sinnvolle Übersetzungen an: abspringen, schrumpfen und zurückprallen. Im Englischen ist daraus „resilience“ geworden (Belastbarkeit, Elastizität, Durchhaltevermögen). Kleinster gemeinsamer Nenner: etwas ohne Schaden überstehen können. Ganz folgerichtig steht Resilienz längst in den Lebenshilfe-Regalen (vgl. Berndt 2013), gleich daneben in der Abteilung mit den großen Welterklärern (vgl. Zolli/Healy 2013) und inzwischen hin und wieder auch in den Leitmedien, obwohl Latein dort eigentlich tabu ist.

„Ein neues Wort“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2013. Unter dieser Überschrift ging es dann aber nicht um irgendeine Sprachschöpfung, sondern um Resilienz als Alternative zum Konzept der Nachhaltigkeit. Achtung, Kursänderung: Nicht mehr den Status quo erhalten wollen, sondern mit dem Scheitern rechnen und mit dem Unerwarteten. „Gefährdungen und Verlustängste“ thematisieren und so „alle Bürger“ aktivieren (und nicht nur „wenige Ordnungshüter“). „Was, wenn es für ‚Nachhaltigkeit‘ schon zu spät ist?“ FAZ-Autor Robert Kaltenbrunner sprach von einem „Zauberwort“ und einer „Art Modebegriff“ und lieferte gleich eine eigene Übersetzung mit. Resilienz bedeute „so viel wie Unverwüstlichkeit, Zuverlässigkeit und Widerstandsfähigkeit“ – alles Dinge, die jeder haben möchte und kaum jemand schlechten finden kann. Kaltenbrunner erzählte dann vom Flughafen München, der Anfang 2010 kollabierte, als ein Reisender mit Laptop träumend durch die Sicherheitskontrolle lief, von Bienenvölkern, die „im Zuge der Evolution“ gelernt hätten, „dank ausgeklügelter Arbeitsteilung“ zu überleben, und von der „Überschwemmungskultur“ im vormodernen Europa, in der große Wassermengen „eher Alltag als Ausnahmezustand“ gewesen seien. Resilienz: Lernt von den Bienen und von Menschen, die sich im Zustand der Bedrohung eingerichtet haben. Baut mehr „Sicherheitsstufen“ ein. Übersteht „antizipierte Schäden“ – indem ihr „schnell wieder den Ursprungszustand“ erreicht („Stehauf-Strategie“) oder weil ihr in der Lage seid, „interne Strukturen zu verändern und einen konstanten Zustand der Anpassungsfähigkeit zu kultivieren“ (Kaltenbrunner 2013).

Bienenvölker, das Leben am Fluss, Mobilität: Resilienz ist erwachsen geworden und könnte eine Universalmedizin werden – eine Reaktion auf die Erfahrung, dass das Prinzip Nachhaltigkeit nach ein paar Jahrzehnten Gebrauch an Strahlkraft verloren hat und dass es eine Illusion ist, den Ist-Zustand bewahren zu wollen und nicht mehr zu verbrauchen als nachwächst oder wieder bereitgestellt werden kann (die ursprüngliche Bedeutung von Nachhaltigkeit, vgl. Grunewald/Kopfmüller 2006). Sich ändern, um zu überleben: Was passt besser in eine Welt, in der alles mit allem zusammenzuhängen zu scheint und niemand wirklich weiß, was der nächste Tag bringt?

Wie Nachhaltigkeit und jeder andere Begriff, mit dem man Gesellschaft beschreiben, untersuchen oder sogar Ziele vorgeben kann, hat allerdings auch Resilienz Implikationen (das ist die erste These dieses Beitrags), die man sich bewusst machen sollte und die weit über den Vorwurf hinausgehen, man dürfe Konzepte aus den Naturwissenschaften nicht einfach auf soziale Phänomene übertragen (Cannon/Müller-Hahn 2010: 623). Diese Implikationen reichen von der Absage an die Idee, menschliches Zusammenleben sei plan- oder steuerbar, über eine Tendenz zur Stabilität und einen Optimierungsfetischismus bis hin zu normativen Entscheidungen: Was genau bedroht eine soziale Einheit (ein Individuum, eine Organisation, eine Gemeinschaft, ein Funktionssystem) und welche Funktionen dieser Einheit sind es wert, in jedem Fall erhalten zu werden? Dass es sich lohnt, solche Implikationen der diskursiven Formation Resilienz zu diskutieren, hat einen einfachen Grund, der zur zweiten These dieses Beitrags führt: Die Befunde der Resilienzforschung sind stets Werbung für die Wissenschaft. Anders ausgedrückt: Wissenschaft hat ein starkes Interesse, Resilienz tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Leitbegriff zu machen. Dies hätte, so lässt sich dieser Beitrag zusammenfassen, Folgen nicht nur für die Wissenschaft (für ihren Blick auf Gesellschaft genauso wie für ihre Methoden), sondern auch für die Politik. In der Entwicklungspsychologie zum Beispiel hat der Siegeszug des Resilienzkonzepts sowohl die Prävention als auch die Behandlung von Heranwachsenden erheblich verändert und der „Positiven Psychologie“ den Rang eines Alternativ-Paradigmas beschert (vgl. Masten 2001: 34f.).

Implikationen des Resilienzbegriffs

Egal welches der drei Herkunftsgebiete man sich anschaut: Resilienz beschreibt die Fähigkeit, unter widrigen äußeren Bedingungen oder in Krisenzeiten stabil zu bleiben und die jeweilige Funktionalität zu erhalten. Das gilt in der Werkstoffphysik für Materialien, die man ohne Folgen zusammendrücken oder dehnen kann (etwa Gummi), in der Umweltwissenschaft für Ökosysteme und in der Psychologie für Menschen (vgl. Maier 2014, Folke et al. 2010, Masten 2001). Um dies nur mit sechs wichtigen Definitionen zu belegen (vgl. Brand/Jax 2007):

  • „measure of the persistence of systems and their ability to absorb change and disturbance and still maintain the same relationships between populations or state variables“ (Holling 1973: 14);
  • the „capacity of a system to absorb disturbance and re-organize while undergoing change so as to still retain essentially the same function, structure, identity and feedbacks“ (Walker et al. 2004: 4);
  • „the ability of groups or communities to cope with external stresses and disturbances as a result of social, political, and environmental change” (Adger 2000: 347);
  • „the ability of the system to withstand either market or environmental shocks without losing the capacity to allocate resources efficiently“ (Perrings 2006: 418);
  • „the ability of a social system (society, community, organization) to react and adapt to abrupt challenges (internal or external) and/or to avoid gradually drifting along destructive slippery slopes“ (institutional resilience, Aligica/Tarko 2014: 56);
  • „the capacity of a system, enterprise, or a person to maintain its core purpose and integrity in the face of dramatically changed circumstances“ (Zolli/Healy 2013: 7).

Natürlich: Wie die jüngeren Definitionen zeigen, sind nicht einmal die Ökologen bei der Ausgangsformel von Crawford Holling (1973) stehengeblieben. Hollings Persistenz wurde durch Anpassung und Transformation ergänzt („adaptive cycle“, Keck/Sakdapolrak 2013: 7) – eine Folge der Übertragung des Begriffs auf soziale Systeme und seines Potenzials, die Norm Nachhaltigkeit abzulösen. Für diese Ausweitung stehen die vielen Adjektive, die in Verbindung mit Resilienz inzwischen verwendet werden (etwa: personal, organisational, institutionell, sozial), und eine Debatte, in der eine klare Trennung gefordert wird – ein operationalisierbarer Begriff für die Umweltwissenschaft auf der einen Seite („descriptive concept“) und ein Kommunikationsmittel für den interdisziplinären Dialog sowie für den Austausch zwischen Forschung und Praxis auf der anderen („boundary object“, vgl. Brand/Jax 2007).

Trotzdem: Am Kern des Begriffs ist nicht gerüttelt worden. Wer von Resilienz spricht, hat erstens eine Bedrohung im Sinn. Diese Bedrohung kann von außen kommen, von innen oder aus beiden Richtungen gleichzeitig, sie kann sich langsam entwickeln oder plötzlich (als Schock), man kann vorher von ihr gewusst haben oder überrascht worden sein: Es wird immer eine Bedrohung vorausgesetzt sowie die Notwendigkeit, darauf reagieren zu können. Damit unterscheidet sich Resilienz grundsätzlich von Konzepten sozialen Wandels, die den Zielzustand entweder kennen (Revolution) oder sogar irgendwo auf der Welt schon gefunden haben (in den 1960er Jahren zum Beispiel Modernisierung für Afrika und Asien sowie in den 1990ern Transformation für Osteuropa) und damit wie Nachhaltigkeit einen komplexen Bewertungsmaßstab mitliefern (so sollte die Welt aussehen oder so sieht sie schon aus). Zugespitzt formuliert: Wird Resilienz zum Leitgedanken gesellschaftlicher Entwicklung, dann ist (anders als bei Revolution, Transformation oder Modernisierung) jede Ankunft ausgeschlossen. Zum einen weiß man nicht, wann und wie sich die Umstände ändern (nur dass sie sich ändern, scheint unausweichlich), und zum anderen können Personen oder soziale Systeme gegenüber manchen Bedrohungen resilient sein und gegenüber anderen nicht. Möglicherweise führt sogar die Stärkung des einen Bereichs zur Schwächung eines anderen (vgl. Walker 2013).

Für die Forschung bedeutet das zweitens: Man muss zunächst die Funktion(en) bestimmen, die (zum Beispiel) ein soziales Funktionssystem für die Gesellschaft hat oder ein Unternehmen für seine Mitarbeiter, für eine Region, für den Wirtschaftszweig, für die Volkswirtschaft oder für andere Systeme, dann nach Schwachstellen von System oder Unternehmen suchen und dort schließlich nachbessern: „identifying its potential sources of vulnerability, determining the directonality of ist feedback loops, mapping ist critical thresholds, and understanding, as best as we can, the consequences of breaching them“ (Zolli/Healy 2013: 260).

Wer nach Verwundbarkeit fragt, nach Schwellenwerten und nach den Folgen des Überschreitens, der verliert den Alltag und die ‚Normalität‘ aus dem Blick. Um das am Beispiel des Systems Massenmedien zu illustrieren: Resilienzforschung würde hier und heute sicher Alternativen zur Werbefinanzierung vorschlagen (etwa: Crowdfunding, Stiftungsmodelle, Bürgerreporter, Social Media) sowie Einrichtungen, die Vielfalt, Offenheit und Partizipation sichern, aber nicht mehr die aktuelle Berichterstattung untersuchen und vermutlich auch nicht die Beziehungen zwischen Medien, Politik und Wirtschaft. Wichtig wäre nur noch, dass das System weiter existiert und zur Meinungs- und Willensbildung beitragen kann (wenn das denn die Funktion ist), und nicht, wie genau dieser Beitrag eigentlich aussieht. Resilienzforschung beginnt mit der Annahme, dass die jeweilige soziale Einheit ihre Funktion(en) im Moment erfüllt, und möchte, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Nimmt man die Punkte eins und zwei zusammen (die Bedrohung von außen und die Suche nach Schwachstellen, die auch in eine Betonung der Stärken umschlagen kann), dann konzentriert sich Resilienzforschung (wie gerade schon angedeutet) drittens auf Systemerhalt und Überleben. Brian Walker (2013), einer der Pioniere im Feld und Chef der einflussreichen Resilience Alliance in Stockholm, behauptet zwar, das Konzept sei für sich genommen weder „gut“ noch „schlecht“, aber das ist erkennbar Taktik, weil natürlich auch Diktaturen oder Salzlandschaften resilient sein können (das sind die beiden Beispiele, die Walker nennt). Sein Vorschlag, die Resilienz solcher Systeme zu verringern, geht am Problem vorbei. Die Literatur zeigt, dass Resilienzforschung sehr wohl von Krankheitserregern, Kriminellen oder Terroristen lernt (zum Beispiel von Netzwerken, denen ein einziger großer Anschlag genügt hat, um den Feind jahrelang in Atem zu halten, und die sich manchmal sogar darauf beschränken können, eine Aktion anzukündigen, vgl. Zolli/Healy 2013). Und: Wer wollte entscheiden, welche sozialen Einheiten wertvoll sind und welche nicht? Das Resilienzkonzept weiß damit doch, was gut ist und was schlecht, und konzentriert sich auf das, was beim Überleben hilft. Selbst Katastrophen sieht man durch diese Brille nicht mehr schwarz, sondern als Gelegenheit zum Lernen (vgl. Keck/ Sakdapolrak 2013: 9).

Eine Bedrohung ausmachen oder antizipieren, Schwächen schwächer und Stärken stärker machen und so die Existenz sichern: Alle oben genannten Definitionen zielen auf Verbesserung und damit (das ist eine vierte Implikation des Begriffs) auf Messbarkeit, egal ob es um allgemeine Resilienz geht (die Fähigkeit eines Systems, sehr verschiedene Bedrohungen auszuhalten und trotzdem in allen Aspekten weiter zu funktionieren, Walker 2013) oder sehr konkrete Bedrohungen. Bei Holling (1973: 14) wird diese Implikation nicht verschleiert („measure“), aber auch „ability“ oder „capacity“ rufen nach Quantifizierung. Die Frage nach der Resilienz einer sozialen Einheit erlaubt keine philosophische Antwort und offenkundig nicht einmal eine, die sich auf Material stützt, das mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden erhoben wurde. „There are no absolutes in resilience, no binaries, just measures of more or less” (Zolli/Healy 2013: 260). Dieser Fokus auf Zählen und Rechnen lässt sich leicht über die Herkunftsdisziplinen erklären. Quantifizierung wird sowohl bei Ingenieuren groß geschrieben, die sich mit Materialeigenschaften beschäftigen, als auch bei Ökologen und Psychologen. Kein Text zur Resilienz, der nicht Crawford Holling nennt oder Brian Walker. Zieht das Konzept in die Sozial- und Geisteswissenschaften ein, stärkt dies neben den drei Ursprungsdisziplinen zugleich die Position der Naturwissenschaften und ihres Wissenschaftsideals.

Bevor es soweit kommt, hat qualitative Forschung Konjunktur. Wer sonst soll die Grenzen von sozialen Einheiten bestimmen, ihre Funktionen ausmachen (sowohl empirisch als auch normativ) und (vorhandene oder potentielle) Bedrohungen ermitteln? Um zum Beispiel Mediensystem zurückzukommen: Die Debatte über ‚Entgrenzung‘ läuft hier längst (vgl. Neuberger 2009, Karidi 2014). Heißt das soziale Funktionssystem Journalismus, Publizistik oder Öffentlichkeit? Was ist mit Public Relations und was mit den sozialen Medien? Und bedrohlich sind keineswegs nur das Ende des herkömmlichen Werbemarkts, das vollkommen veränderte Nutzungsverhalten oder die Gegenöffentlichkeiten im Internet und auf der Straße (Stichwort Medienkrise). Der Erfolg der Handlungslogik, nach der die Massenmedien arbeiten („Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit“, Meyen 2015), frisst das System – von außen, weil der Ausbau und die Professionalisierung von PR und Medientraining in nahezu allen sozialen Funktionssystemen auch mit Medienpersonal vorangetrieben werden, und von innen, weil Medialisierung so die Recherchemöglichkeiten verändert, die Ressourcen, den Arbeitsalltag sowie das Selbstverständnis von Journalisten und damit letztlich die Möglichkeiten zur Meinungs- und Willensbildung (vgl. Meyen 2014). Resilienzforschung identifiziert hier zunächst System(e), Funktion(en) und Bedrohung(en) und bereitet so nicht nur den Boden für Anpassung und Transformation (aus dem System selbst oder politisch angestoßen), sondern möglicherweise auch für ‚Messungen‘ der Resilienz.

Resilienz als Werbung für die Wissenschaft

Natürlich könnte man sagen: Für die Wissenschaft insgesamt wäre mehr Naturwissenschaft doch gar nicht schlecht. Fakten, Fakten, Fakten. Das, was eine datenhungrige Tempo-Gesellschaft verlangt. Eindeutige Antworten auf die Angst vor Bedrohungen aller Art. Selbst als Fernziel hilft das Resilienzkonzept der Wissenschaft. Das beginnt mit dem Begriff selbst. Während sich jede Hausfrau etwas unter Nachhaltigkeit vorstellen konnte, braucht sie für Resilienz in der Regel einen Übersetzer. Wissenschaft kann nicht nur Begriffe erklären, sondern auch Bedrohungen benennen. Worauf genau Politiker, Führungskräfte oder wir selbst uns vorbereiten werden und was wir glauben, dabei verändern zu müssen, hängt davon ab, was im Diskurs als Bedrohung und Systemfunktion ausgemacht wird. Das wertet wissenschaftliches Wissen gegenüber anderen Wissensformen auf (etwa: Religion, Tradition). Wissen ist Macht, vor allem wenn es Resilienz verspricht.

Das wichtigste Argument für den Ausbau wissenschaftlicher Forschung (an Universitäten und darüber hinaus) ist das, was bisher herausgekommen ist auf der Suche nach der Resilienz, auch wenn sich die Befunde auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. So heißt es bei Andrew Zolli und Ann Marie Healy (2013) nach einem Gewaltritt durch die Literatur:  Was in einer Organisation funktioniere, könne in einer anderen schief gehen (S. 259), und wo ein System als dezentrales Netzwerk mit Einheiten, die sich selbst koordinieren, gute Erfahrungen mache, könne ein anderes genau das Gegenteil erleben – positive Clustereffekte (S. 93). Einen Imperativ gibt es im Schlusswort dann aber doch (S. 261): „Surprisingly few communities or organizations have any kind of structure in place to think broadly and proactively about the fragilities and potential disruptions that confront them. This has to change.”

Breit und kritisch denken, Wissen gegen den Strich bürsten, dabei in Bereiche vordringen, die keinen schnellen Gewinn bringen, und Dinge vorwegnehmen, die heute noch niemand sieht: Wer wäre dafür prädestiniert, wenn nicht die Wissenschaft? Armin Reller und Heike Holdinghausen (2014), die an eine Zukunft „nach dem Öl“ glauben und dafür Stoffgeschichten aufgeschrieben haben (etwa: Raps und Lein, Weizen und Holz, Eisen, Gallium und Abfall), legitimieren ihr Buch damit, dass man leichter an „resilienten Technologien und Verhaltensweisen“ arbeiten könne, wenn man die „Geschenke des Planeten“ kenne (S. 8, 17). Wissen für die Zukunft. Und wenn Bernd Sommer und Harald Welzer (2014) „Transformationsdesign“ sagen, meinen sie eigentlich: Jemand muss sagen, wo es hingehen soll, wenn der Überfluss zu Ende ist und auch der Letzte begriffen hat, dass wir in „struktureller Nicht-Nachhaltigkeit“ leben („Klima, Krisen und Katastrophen“, S. 27-37). Transformation besser „by design“ als „by disaster“ (S. 11). Wissenschaft als „Mittel zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Widerstandsfähigkeit“ und als „Resilienzgenerator“ (S. 116). Resilienz: Das heißt auch, die Dinge in die Hand zu nehmen und nicht auf den Zusammenbruch zu warten. Wissenschaft ist ein Resilienzgewinner und wird dieses Konzept schon deshalb vorantreiben.

Literaturangaben

  • Neil Adger: Social and ecological resilience: Are they related? In: Progress in Human Geography Vol. 24 (2000), S. 347-364.
  • Paul Dragos Aligica, Vlad Tarko: Institutional resilience and economic systems: Lessons from Elinor Ostrom’s work. In: Comparative Economic Studies Vol. 56 (2014), S. 52-76.
  • Christina Berndt: Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2013.
  • Fridolin Simon Brand, Kurt Jax: Focusing the meanings of resilience: Resilience as a descriptive concept and a boundary object. In: Ecology and Society (online) Vol. 12(1) (2007): 23.
  • Terry Cannon, Detlef Müller-Hahn: Vulnerability, resilience and development discourses in context of climate change. In: Natural Hazards Vol. 55 (2010), S. 621-635.
  • Martin Endreß, Andrea Maurer: Resilienz im Sozialen. Wiesbaden: VS-Verlag 2015.
  • Carl Folke et al.: Resilience thinking: Integrating resilience, adaptability and transformability. Ecology and Society (online) Vol. 15(4) (2010): 20.
  • Armin Grunewald, Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit. Frankfurt am Main: Campus 2006.
  • Crawford Holling: Resilience and stability of ecological systems. In: Annual Review of Ecology and Systematics Vol. 4 (1973), S. 1-23.
  • Robert Kaltenbrunner: Ein neues Wort: „Resilienz“. Was, wenn es für „Nachhaltigkeit“ schon zu spät ist? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258 vom 6. November 2013, S. N3.
  • Maria Karidi: Dinosaurier, Journalismus und Resilienz. In: Resilienz (online) 2014. http://resilienz.hypotheses.org/239 (12. Januar 2015).
  • Markus Keck, Patrick Sakdapolrak: What is social resilience? Lessons learned and ways forward. In: Erdkunde Vol. 67(1) (2013), S. 5-19.
  • Simone Maier: Der Resilienzbegriff in der Wirtschaftskommunikation. Masterarbeit. Universität München: Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung 2014.
  • Ann S. Masten: Ordinary Magic. Resilience Processes in Development. In: American Psychologist Vol. 56(3) (2001), S. 227-238.
  • Michael Meyen: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 62. Jg. (2014), S. 377-394.
  • Michael Meyen: Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit. Eine qualitative Inhaltsanalyse zur Handlungslogik der Massenmedien. In: Publizistik 60. Jg. (2015), Nr. 1 (im Druck).
  • Christoph Neuberger: Internet, Journalismus und Öffentlichkeit. Analyse des Medienumbruchs. In: Christoph Neuberger, Christian Nuernbergk, Melanie Rischke, Melanie (Hrsg.): Journalismus im Internet: Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 19-105.
  • Charles Perrings: Resilience and sustainable development. In: Environment and Development Economics Vol. 11 (2006), S. 417-427.
  • Armin Reller, Heike Holdinghausen: Der geschenkte Planet. Nach dem Öl beginnt die Zukunft. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2014.
  • Bernd Sommer, Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom verlag 2014.
  • Brian Walker: What is Resilience? Project Syndicate, 5. Juli 2013. (7. Januar 2015).
  • Brian Walker, Crawford Holling, Stephen Carpenter, and Ann Kinzig: Resilience, adaptability and transformability in social-ecological systems. In: Ecology and Society (online) Vol. 9(2) (2004): 5
  • Andrew Zolli, Ann Marie Healy: Resilience: Why Things Bounce Back. New York: Simon & Schuster Paperbacks 2013.

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Resilienz als diskursive Formation. Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte. In: Resilienz (online) 2015. http://resilienz.hypotheses.org/365 (Datum des Zugriffs)

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/365

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Sponsorenaufruf Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 8/II

Anfang kommendes Jahr soll Band 8/II des monumentalen Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus erscheinen, mit einem Umfang der Lemmata von links/rechts bis Maschinenstürmer. Wer will, kann dessen Erscheinen mit einer Spende für eine Seite (100 € für Verdienende, 50 € für Studierende/geringe Einkommen) unterstützen.

Spendenkonto:

Berliner Institut für kritische Theorie e.V.

KSK Esslingen-Nürtingen
IBAN DE53 6115 0020 0007 4123 09
BIC ESSLDE66XXX
Betrifft: Sponsor HKWM 8/II

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022377337/

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Sade im Sumpf

Sehr schön, der morgige Sumpf (FM4, 30.11.2014, 21:00-23:00) widmet sich Sade:

Was bleibt von Marquis De Sade?
Ein Sumpf-Spezial zum 200. Todestag

Das 20. Jahrhundert war von ihm fasziniert. Guillaume Apollinaire nannte ihn göttlich, Adorno und Horkheimer erkannten ihn seinem Werk die schwarze Seite der Aufklärung, Pasolini machten aus seinen "120 Tagen von Sodom" eine Parabel über den Faschismus, und Feministinnen wollten seine Werke verbannen. Heute ist es stiller geworden um den vielleicht skandalösesten Autors der Moderne.
- außer in Frankreich. Eine aktuelle Ausstellung in Paris über De Sade und die Kunst trägt den Titel "Die Sonne angreifen".

Die Beiträge zum Sade-Sumpf:

ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal
eine Rückschau auf den Einfluss von De Sade auf die Popmusik und
einer neuen Ausgabe unserer zweiwöchentlichen Elektronikmesse "Die Unordnung der Dinge".

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022374492/

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Vortragsreihe zu “Digital Humanities – Theorie und Methodik” gestartet

mitgeteilt von Prof. Dr. Elisabeth Burr, Universität Leipzig.

An der Universität Leipzig gibt es ab sofort eine Vortragsreihe zu “Digital Humanities – Theorie und Methodik”.

Die Vortragsreihe soll den Begriff “Digital Humanities” mit Inhalten füllen, indem Fragen ihrer Theorie und Methodik einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Die Vortragsreihe wird mit den folgenden Vorträgen eröffnet:

Montag, 10. November 2014, 15:15-16:45 und 17:15-18:45
Prof. Dr. Elena Pierazzo (Université Stendhal-Grenoble 3): “Modelling Texts, Modelling Editions, Modelling Documents”

Dienstag, 11. November 2014, 17:15-18:45
Dr. Evelyn Gius (Universität Hamburg): “Textanalyse in Zeiten der Digital Humanities. Zur Annotation und Auswertung geisteswissenschaftlicher Textdaten mit CATMA”

Informationen zu den Vorträgen und den beiden Referentinnen können unter http://db.uni-leipzig.de/~ifabdez5/_veranstaltungen/data/dokumente/php20141031020528.pdf abgerufen werden.

Die Vorträge finden im Vortragsraum der Bibliotheca Albertina, Beethovenstr. 6, Leipzig statt. Die Vorträge  sind öffentlich. Alle interessierten Studierenden und Kolleg_innen aus nah und fern sind herzlich willkommen.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4234

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Zweites Treffen des DARIAH-DE Stakeholdergremiums “Wissenschaftliche Sammlungen” in Göttingen

Am 17.10.2014 fand an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen das zweite Treffen des Stakeholdergremiums „Wissenschaftliche Sammlungen“ statt.

Das Expertengremium dient als regelmäßiges Plenum des Austausches zwischen Geistes- und KulturwissenschaftlerInnen, BibliothekarInnen, ArchivarInnen und InformationswissenschaftlerInnen, um fachwissenschaftliche Anforderungen an digitale wissenschaftliche Sammlungen zu artikulieren.

Die beim ersten Treffen im JuIi diskutierten theoretischen, methodischen und begrifflichen Themenkomplexe wurden als Ausgangspunkt genutzt, von dem aus konkrete Pläne entwickelt werden konnten, dieses wichtige Thema auch über den kleinen Kreis der Fachleute hinaus zu akzentuieren und grundlegende Strategien zu entwickeln. Das beim ersten Treffen erarbeitete Arbeitskonzept „Sammlung“ wurde in der Runde finalisiert und konkrete Schritte zur Erhöhung der Sichtbarkeit von Sammlungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften beschlossen. Mehr…

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4217

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“Eine schöne Nebenbeschäftigung”? Perspektiven einer altertumskundlich-mediävistischen Wissenschaftsgeschichte 2.0

Nach der kürzlichen Veröffentlichung eines kleinen E-Books zur “Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/fluechtigkeit-der-information) möchte ich – aus meiner Perspektive als literaturwissenschaftlicher Mediävist – an dieser Stelle einige Aspekte der Publikation perspektivieren und damit zur weiterführenden Diskussion einladen. Meine Überlegungen verstehe ich als Positionsbestimmung in einer disziplinübergreifenden Wissenschaftslandschaft und als Versuch einer konstruktiven Zusammenführung aktueller Diskussionspotenziale zwischen historisch arbeitenden Disziplinen und den Digital Humanities. Hingewiesen sei nicht zuletzt auch auf weitere Bände der neuen Reihe “Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter” (https://verlag-ripperger-kremers.de/ebook-reihe/transformationen-des-wissens).

Es ist eine Klage, die sich durch Jahrzehnte zurückverfolgen lässt: der zunehmende Orientierungsverlust der Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgabe – Orientierungslosigkeit als “Signum der Gegenwartsphilosophie” (K. W. Zeidler). Verschiedene Gründe werden ins Feld geführt: wachsende Dominanz diffus so bezeichneter ‘Kulturwissenschaften’, vermeintlicher Verfall wissenschaftlicher Werte und Traditionen angesichts von digital turn und open access… Man ist bisweilen erstaunt, wie mühelos kausallogische Zusammenhänge konstruiert werden. Interessanter erscheint die implizite Prämisse, diese Geisteswissenschaften könnten überhaupt eine Orientierungsleistung erbringen. Es geht dann nicht allein um Fragen der Methode, sondern um Zwecke und Ziele, unter denen solche Wissenschaften sich konstituieren. Fragen also, die sich als ungemein stimulierend erweisen können, doch zugleich einer Vielzahl an Meinungen Tür und Tor öffnen, die immer noch regelmäßig im erklärten Niedergang ‘der’ Geisteswissenschaften gipfeln.

Man kann diesen Fragenkomplex als Aufgabe der Fach-Philosophen von sich weisen. Oder sich der vermeintlich unverfänglichen Pflege etablierter Fronten von ‘Theorie’ und ‘Praxis’ widmen, wie sie sich im digitalen Zeitalter wieder verschärft zu haben scheinen. Eine solche Haltung muss aber zumindest in zweifacher Hinsicht verwundern. Zum ersten sind diese Fragen, wie gesagt, bereits seit Jahren, teils Jahrzehnten gestellt, sodass weder Geisteswissenschaften noch Wissenschaftsverlage heute, 2014, unvermittelt vor eine unerwartete Herausforderung gestellt sind, wie manche Diskussion indes suggeriert.[1] Zum zweiten ist die Reflexion von Bedingungen, unter denen Forschung und Theoriebildung sich vollziehen, doch seit jeher Voraussetzung einer fortwährenden Teilhabe an Wissenschaft. Anders gesagt: Die Geisteswissenschaften sind in ihrem Wesen reflexiv und damit gleichsam angewiesen auf Krisen, die dieses Bewusstsein gegenüber dogmatischer Erstarrung schärfen.

Desinteresse und Pessimismus angesichts sich vollziehender Transformationsprozesse mögen auch darauf beruhen, dass der Terminus ‘Wissenschaftsgeschichte’ im 20. Jahrhundert vielfältige Positionen befördert hat, die in ihren Relationen oft schwerlich überschaubar sind. Dahinter steht auch ein generelles terminologisches Problem, angesichts einer Vielzahl so genannter Schlüsselbegriffe, die in Fach- wie Alltagssprache in diversen Varianten verwendet und damit nicht selten zur assoziativen Auslegungsfrage werden. Wenn in den letzten Jahren Tendenzen einer verstärkten Wiederaufnahme und Weiterentwicklung begriffshistoriographischer Fragestellungen zu verzeichnen ist,[2] so sollte man dies zum Anlass nehmen, die Debatte auf breiterer Front wieder zu etablieren.

Das umrissene Desiderat betrifft auch die interdisziplinären Fachbereiche der Germanischen Altertumskunde und Mediävistik, denen die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine besondere Aufgabe gestellt hat.[3] Das Erfordernis einer wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion präsentiert sich weiterhin als Herausforderung, zumal mit Fokus auf Entwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte;[4] gerade die 1980er Jahre kristallisieren sich als Zeitraum eines beschleunigten Orientierungswandels heraus.[5] So sollte man auch in altertumskundlich-mediävistischen Disziplinen (ich ziehe hier bewusst keine scharfen Grenzen) den Versuch wagen, Wissenschaftsgeschichte nicht allein als Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter zu verfolgen, sondern sie als jüngere und – Stichwort: digital – jüngste Geschichte einzelner Disziplinen fruchtbar zu machen, zwischen Positionen zu vermitteln.

Damit ist die Frage der Perspektive gestellt, gibt ‘Wissenschaftsgeschichte’ doch kein verbindliches, gleichsam abzuarbeitendes Methodenspektrum an die Hand. Hier ist eine intensivierte Diskussion gefordert. So hat, um einen Ansatzpunkt zu nennen, Otto Gerhard Oexle in den letzten zwei Jahrzehnten das Konzept der ‘Problemgeschichte(n)’ in der Mediävistik befördert, im Sinne einer Orientierung an transdisziplinär zu bearbeitenden Fragestellungen.[6] Über Disziplingrenzen hinaus sind seine Vorschläge bisher aber – soweit ich sehe – allenfalls punktuell rezipiert worden. Zugleich wird daran beispielhaft deutlich, dass die historisch-systematische Hinterfragung disziplinärer Potenziale für ein Bewähren dieses zunehmend verkündeten, aber immer noch vagen Forschungsprinzips ‘Transdisziplinarität’ – in dem an erster Stelle zu lösende Probleme das Verbindende sein sollen – unerlässlich ist. Doch müssen solche ‘Probleme’ als wissenschaftliche (Re-)Konstruktionen in ihrer Geltung begründet sein.

Es kann der Wissenschaftshistoriographie ja nicht einfach um den Nachvollzug einer linear abstrahierten Genese von Wissen und Wissenschaft, eine “Autobiographie der eigenen Vernunft” (J. Mittelstraß) gehen, die dogmatisch am Status quo einer Disziplin orientiert wäre. Es geht um den Nachvollzug von Argumentationen, die darauf gründen, zweckmäßig und zielorientiert zu sein. Erst in der aktualisierenden Verhandlung solcher Argumentationsstrukturen kann Wissen konstituiert und somit relevant werden. Aber wo beginnt und wo endet Argumentation? Es sind ja dynamische Prozesse angesprochen, bei deren Erfassung vielfach mit den Begriffen ‘Innovation’ und ‘Tradition’ operiert wird, einerseits also Potenziale zur Diskussion stehen, andererseits die Unhintergehbarkeit von Wirkungsgeschichten mitgedacht ist. Der Hermeneutik sind beide Begriffe inhärent. Doch ist die Forderung nach hermeneutischer Reflexion vielfach Gemeinplatz geworden: Hermeneutik muss als reproblematisierendes Diskussionsfeld einzelner Disziplinen wieder kultiviert werden![7]

Die Digital Humanities versprechen einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma, erheben sie doch selbstbewusst den Anspruch, eine zukunftsträchtige Form der Geisteswissenschaften zu etablieren.[8] Aber was ist damit gemeint? Wenn regelhaft ‘überprüfbare Antworten’ zum Ziel erklärt werden, so rückt die bekannte Frage der praktischen Relevanz der Geisteswissenschaften in den Fokus, in Orientierung an den so genannten exakten Wissenschaften. Wie verhält sich dieser Anspruch der ‘Exaktheit’ zur angedeuteten philosophischen Dimension der Aufgabe? Ein ‘Antwortenkönnen’ funktioniert in den Geisteswissenschaften ja allein im kulturellen Kontext, setzt dort also weiterhin eine hermeneutische Kompetenz voraus, die sich nicht in Ja/Nein-Entscheidungen erschöpft  – ‘Wissen’ ist dort eben doch noch etwas anderes als in den Naturwissenschaften.[9] Die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge liegt aber in Prozessen, die nach eben diesem binären Prinzip automatisiert sind. Einen praktischen Nutzen von Suchfunktionen und Datenbanken wird andererseits niemand in Frage stellen wollen, der diese Leistungsfähigkeit erfahren hat. Doch ist mit der Selektion und Strukturierung abstrakter Daten zu Informationen nicht automatisch ein ‘Wissen’ generiert, um dessen zukunftsträchtige Bewahrung und Aktualisierung es in der Wissenschaft doch gehen soll. Es wird deutlich, dass künftig stärker der Dialog aller Beteiligten zu suchen ist, um etablierte Fronten zu entspannen. Es steht zu hoffen, dass zunehmende – und zunehmend ernst genommene – Blog-Diskussionen dazu ihren Beitrag leisten werden.

In der vorgestellten Publikation konkretisiere ich die vorausgehenden Überlegungen am Beispiel des “Reallexikons der Germanischen Altertumskunde” sowie der vor einigen Jahren daraus hervorgegangenen “Germanischen Altertumskunde Online”.[10] In diesem rund 50.000 Druckseiten umfassenden Großprojekt finden Archäologie, Geschichtswissenschaft, Philologie und Religionswissenschaft zusammen; die Frage der kulturwissenschaftlichen Inter- und Transdisziplinarität ist umso dringlicher gestellt. Waren unlängst aber noch voluminöse Registerbände vonnöten, um Fragestellungen auf einer Metaebene zu verknüpfen, so erscheint die Kombination leistungsfähiger Datenbanken und Suchfunktionen mit digitalen Darstellungsmöglichkeiten (die über bloße Listen ja längst hinausführen) als künftige Option, Problemstellungen der Wissensgenerierung und ‑tradierung visuell zu ‘materialisieren’ – und an einer solchen Darstellung neue Fragen zu entwickeln.

Wo ansetzen? Im Nachvollzug disziplinärer und überdisziplinärer Entwicklungsprozesse treten als Kristallisationspunkte von Diskursen Begriffe hervor, die weiterhin zum konstruktiven Ausgangspunkt einer Untersuchung von ‘Problemen’ gereichen könnten. Es ginge aber nicht darum, weiterhin in enzyklopädischer Weise unter ausgewählten Lemmata disziplinäre Positionen zu versammeln. Es ginge darum, über die Leistungsfähigkeit digitaler Werkzeuge semantische Netze zu generieren, deren Strukturen nach Wirkungszusammenhängen fragen lassen. Die Plausibilität gesetzter ‘Probleme’ wäre dann nicht zuletzt zu bemessen an deren Potenzial, neue ‘Probleme’ zu erschließen; Wissenschaft verwirklicht sich im fortdauernden Prozess. Einer strikten Hierarchie von Fragestellungen und Thesen (und damit schließlich von Disziplinen) wären Netze potenzieller Problemrelationen entgegengestellt, die schließlich auch ‘Unerwartetes’[11] hervorbringen könnten – und damit nicht nur jene curiositas stimulieren, sondern auch der Forderung nach Transdisziplinarität Rechnung tragen würden.

Die Möglichkeiten des digitalen Mediums stehen zu ‘traditioneller’ Wissenschaft somit keinesfalls konträr. Es ist aber an der Zeit, “daß die Theoretiker ihre Überheblichkeit und die Praktiker ihre Ignoranz ablegen”,[12] um programmatischen Bekenntnissen aktive Zusammenarbeit folgen zu lassen. “Das freundliche Ende der Geisteswissenschaften”, das Hans Ulrich Gumbrecht unlängst in der F.A.Z. proklamierte – Geisteswissenschaften als schöne Nebenbeschäftigung (amenity) –,[13] sehe ich noch nicht eingeläutet. Solange indes Bescheidenheit[14] den (‘traditionellen’) geisteswissenschaftlichen Betrieb bestimmt, wird man Gumbrechts Formulierung von einem “Über-Leben auf Gnade und an der intellektuellen Peripherie” zustimmen müssen. Gefordert ist keine neue Form der Geisteswissenschaften. Gefordert ist ein neues Selbstbewusstsein ihrer Vertreterinnen und Vertreter, die sich der Reflexionsform und der Orientierungsfunktion ihrer Tätigkeit – über Fachgrenzen hinaus – wieder bewusst werden und unter den Bedingungen und Möglichkeiten des frühen 21. Jahrhunderts stellen.

Jan Alexander van Nahl 2014: Die Flüchtigkeit der Information. Wissenschaftsgeschichte im digitalen Zeitalter. (Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter 3.) Ripperger & Kremers, Berlin.



[1] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2014: Odyssee 2.0? Wege und Irrwege digitaler Publikationen in den Geisteswissenschaften. In: Ulrich Seelbach (Hg.), Zwischen Skylla und Charybdis? Forschung, Wissenschaftsverlage und Web 2.0, S. 129–136. Bern.

[2] Vgl. Eggers, Michael/Matthias Rothe (Hg.) 2009: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Wetzlar.

[3] Vgl. Zernack, Julia 2005: Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Klaus Böldl/Miriam Kauko (Hg.), Kontinuität in der Kritik. Zum 50jährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts. Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik, S. 47–72. Freiburg.

[4] Vgl. meine exemplarischen Bemerkungen zu “Walter Baetke” in: Germanischen Altertumskunde Online 01/2014 (s.u.). Abrufbar unter: http://www.degruyter.com/view/GAO/GAO_32 [20.10.2014].

[5] Vgl. van Nahl, Jan Alexander 2013: Verwehter Traum? Ältere Skandinavistik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Hartmut Bleumer et al. (Hg.), Turn, Turn, Turn? – Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende?, S. 139–142. Siegen.

[6] Vgl. u.a. Oexle, Otto Gerhard 2007: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, S. 11–116. Göttingen.

[7] Vgl. auch meine Diskussion zu “Veröffentlichungsformen der Zukunft” mit Christian Schwaderer und Jan Keupp unter http://mittelalter.hypotheses.org/3893 [20.10.2014].

[8] Vgl. Thaller, Manfred 2011: Digitale Geisteswissenschaften. Abrufbar unter: http://www.cceh.uni-koeln.de/Dokumente/BroschuereWeb.pdf [20.10.2014]. Es seien an dieser Stelle die Vertreterinnen und Vertreter der Mediävistik daran erinnert, dass Manfred Thaller bereits seit den späten 1970er Jahren (!) zu grundlegenden Fragen einer digitalen Geschichtswissenschaft arbeitet.

[9] Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg 2004: Wozu Wissenschaftsgeschichte? In: Rudolf Seising/Menso Folkerts/Ulf Hashagen (Hg.), Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, S. 51–62. Stuttgart.

[10] http://www.degruyter.com/view/db/gao [20.10.2014].

[11] Rheinberger, Hans-Jörg 2007: Man weiß nicht genau, was man nicht weiß. Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen. In: Neuer Zürcher Zeitung 05.05.2007. Abrufbar unter: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleELG88-1.354487 [20.10.2014].

[12] Peckhaus, Volker 1999: Chancen kontextueller Disziplingeschichtsschreibung in der Mathematik. In: Volker Peckhaus/Christian Thiel (Hg.), Disziplinen im Kontext. Perspektiven der Disziplingeschichtsschreibung, S. 77–95. (Erlanger Beiträge zur Wissenschaftsforschung.) München, hier: S. 92.

[13] Gumbrecht, Hans Ulrich 2013: Ein freundliches Ende der Geisteswissenschaften? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Digital/Pausen 04.10.2013 Abrufbar unter: http://blogs.faz.net/digital/2013/10/04/freundliches-ende-geisteswissenschaften-379 [20.10.2014].

[14] Vgl. Heidbrink, Ludger/Harald Welzer (Hg.) 2007: Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften. München.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4170

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