von Karsten Kühnel
Der folgende Beitrag soll die Anwendbarkeit und mögliche Ausrichtung eines Archivierungs- und Dokumentationsprofils für das Universitätsarchiv Bayreuth reflektieren. Der Autor würde sich über eine rege Diskussion und konstruktive Kommentare in diesem Blog freuen.
„Hochschularchive sind wesentlich mehr als nur Materialsammlungen für die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Träger. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bildung der von einer zivilisierten Gesellschaft benötigten historischen Überlieferung.“ So beginnt die Einleitung zum 2009 von einem Autorenteam vorgelegten und von der Universität des Saarlandes herausgegebenen „Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen“.[1] Und Bezug nehmend auf die typische Situation der Personen, die die Überlieferung tatsächlich formieren, findet sich wenige Zeilen weiter der Satz, dass typischerweise unter anderem der Umstand die Situation im Hochschularchiv charakterisiere, dass die „Archivarin oder der Archivar […] sehr weitgehend eigenverantwortlich“ arbeite. Einer der Autoren schreibt kurz darauf in einer ausführlichen Kommentierung des Profils in der Zeitschrift „Der Archivar“ darüber: „Das Dokumentationsprofil versteht sich […] als Handreichung, nicht als Vorschrift, und es ist an vielen Stellen offen für individuelle Lösungen.“[2]
Das Ziel eines Dokumentationsprofils für ein Archiv ist es, ein Profil vorzugeben, an dem sich die Auswahl und der Erwerb von Archivgut messen lassen können. Die Kriterien, auf denen das Profil beruht, können unterschiedlicher Art sein. Ihm können inhaltliche Aspekte und formale Aspekte aus wiederum unterschiedlichen Sichtweisen zugrunde liegen. Ein Dokumentationsprofil zu akzeptieren ist eine Entscheidung für bestimmte zu erwartende und gegen bestimmte ebenfalls zu erwartende Informationen, deren Erhalt einerseits gewünscht und deren Verlust andererseits akzeptiert wird. Das Dokumentationsprofil ist die Grundlage für die Bewertung, das heißt für die Entscheidung über Archivierung oder Vernichtung von Unterlagen.
Ein Dokumentationsprofil bestimmt nicht nur das Profil des materiellen Archivs, das auf seiner Grundlage anwächst. Es spiegelt auch das Profil des Archivs als Institution. Dem Selbstverständnis einer Institution „Archiv“ entfließt ganz wesentlich dessen Auffassung darüber, was zu archivieren ist und wie das Profil der Überlieferungsbildung aussehen soll. Nicht ohne Grund ist die erste Stufe der archivischen Erschließung die eigene Beschreibung des Archivs als archivischer Institution. Die überblicksartige Beschreibung der Archivbestände ist bereits die zweite Erschließungsstufe. Denn das Profil des Archivs als Institution lässt bereits entscheidende Rückschlüsse auf die Inhalte seiner Bestände zu, und seine Beschreibung gibt dem potentiellen Nutzer den ersten Anhaltspunkt, ob dieses Archiv für seine Forschung überhaupt von Bedeutung sein kann.
„Archivalien konservieren Spuren und Überreste vergangener Zeit.“ So schreibt Alf Lüdtke in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung von Arlette Farge’s Le goût de l’archive.[3] Die Autorin selbst schreibt an einer Stelle über das Archiv: „Unter dem Archiv organisiert sich das Relief, man muss es nur zu lesen wissen – und sehen, dass es an eben diesem Ort eine Produktion von Sinn gibt, an einem Ort, an dem die Leben, ohne es sich ausgesucht zu haben, auf die Macht stoßen.“[4] Farge schreibt diesen Satz angesichts von Archivalien aus dem 18. Jahrhundert. Und doch ist die reliefartige Überlieferungsbildung ein Thema, das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der sich allmählich bildenden Archivwissenschaft bis heute eine bedeutende Rolle spielt. Heinrich Otto Meisners „Schutz und Pflege des staatlichen Archivguts mit besonderer Berücksichtigung des Kassationsproblems“ von 1939 wird noch heute als Meilenstein in der Bewertungsdiskussion zitiert.[5] Im Jahr 1965 legte die Staatliche Archivverwaltung der Deutschen Demokratischen Republik unter dem Titel „Grundsätze der Wertermittlung ein ausführliches schriftliches Profil für die archivische Überlieferungsbildung unter marxistisch-leninistischen Leitlinien vor, das sie 1984 noch einmal überarbeitete.[6]
In Westdeutschland war es Hans Booms, der 1972 die Überlieferungsbildung auf der Grundlage eines Dokumentationsprofils vorschlug und damit auf großen Widerstand und Ablehnung im Kreis seiner Kollegen stieß.[7] Angelika Menne-Haritz beleuchtete in ihrem Vortrag auf dem ersten Archivwissenschaftlichen Kolloquium der Archivschule Marburg, das am 28. und 29. Juni 1994 unter dem Leitthema „Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung“ stand, terminologische Unschärfen im Zusammenhang mit der Bewertung. Dabei analysiert sie die Verwendung der Begriffe des „Archivierens“ und des „Dokumentierens“ im Rahmen der Überlieferungsbildung und kommt zu der bemerkenswerten Aussage: „Dokumentation gesellschaftlicher Phänomene interessiert sich nicht für Evidenz. Sie läuft Gefahr, Kontexte zu zerstören, ohne zu wissen, was sie tut, da sie nur ihre subjektiven Inhaltsfragen sieht. Dann wird Geschichte zerstört, weil Evidenz vernichtet wird und die Interpretationskontexte für Fakten fehlen.“ Und sie gipfelt in der Warnung vor einem Paradigmenwechsel in der Kultur der Geschichte tradierenden Institutionen: „Wenn Archive sich als Dokumentationsstellen verstehen, besteht die Gefahr, daß sie sich zu rückwärtsgewandten Dokumentenmuseen entwickeln und vom lebendigen, zukunftsorientierten Zusammenspiel mit der Exekutive abgeschnitten werden.“[8]
Die Gegner von Dokumentationsprofilen stellten ihnen den Anspruch an die Bewertung gegenüber, eine nicht auf bestimmte, inhaltlich orientierte und somit vorhersehbare Fragestellungen ausgerichtete, sondern eine nach Möglichkeit für alle Fragestellungen offene Überlieferung zu bilden, die die Kontexte ihrer ursprünglichen Entstehung bewahrt. Infolge dieser Ausrichtung machte sich die Bewertung an Maßgaben wie Zuständigkeiten, Federführung, Verwaltungshierarchie und Aktenplänen fest und mündete in Bewertungsmodelle, die den Grat zwischen horizontalen und vertikalen Bezügen unter Überlieferungsbildnern gangbar machte. Retrospektiv kann man von einer Etablierung einer anderen Art von Dokumentationsprofilen sprechen, die mehr auf formale Bezüge ausgerichtet waren und noch sind, die aber die inhaltlichen Aspekte auch nicht außer Acht ließen.
Damit einher ging das nur zaghafte Aufgeben der Tradition der engen Bindung an den eigenen Träger bzw. an die Behörden in der Sprengelhoheit eines Archivs. Archive waren dazu da, die Überlieferung derjenigen Einrichtungen zu archivieren, für die sie explizit als zuständig deklariert worden waren. Je mehr sich die historische Forschung der ganzen Breite gesamtgesellschaftlicher Überlieferung und Dokumentation zuwandte, desto mehr wurden die Archive aus dem Mittelpunkt des Interesses der Historiker bei der Suche nach authentischen Quellen verdrängt. Die Bildung von Ergänzungsüberlieferung in Form von Sammlungen und Nachlässen wird heute zu den Kernaufgaben eines Archivs gerechnet, was durchaus nicht immer selbstverständlich gewesen war.[9] Diese Selbstverständlichkeit zeigt aber exemplarisch, wie sich das Selbstverständnis der Archive in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise verändert hat. Das Bewusstsein, in einem Archiv immer nur Ausschnitte der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abbilden zu können, rückte wieder die Frage nach den Inhalten in den Vordergrund: Was oder welche Entwicklungsstränge sollen abgebildet werden? „In diesem Szenario kann das Ziel der Bewertung einzelner Überlieferungen nicht darin bestehen, die Tätigkeit einer Provenienzstelle abzubilden, sondern möglichst aussagekräftige Spuren aus der jeweils berührten Lebenswirklichkeit zu bewahren“, ist die Antwort, die Robert Kretzschmar in seiner Einführung in das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA zur archivischen Überlieferungsbildung gibt.[10] Wie nebenbei wurde der Dokumentationscharakter archivarischer Tätigkeit terminologisch salonfähig. Max Plassmann ging auf das terminologische Unbehagen in seinem 2004 veröffentlichten Aufsatz „Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung“ noch ein, wenn er schreibt: „Wer etwa aus standespolitischen Erwägungen heraus Unbehagen verspürt, den Begriff ‚Dokumentation‘ zu nutzen, der mag auch auf ‚Festlegung inhaltlicher Ziele der Überlieferungsbildung‘ oder etwas anderes ausweichen.“[11]
Das Positionspapier des Arbeitskreises Archivische Bewertung von 2004 rät zu Abstimmungen zwischen Archiven unterschiedlicher Träger bei Überschneidungen und Berührungen und empfiehlt die Methode der horizontalen und vertikalen Bewertung zur archivübergreifenden Überlieferungsbildung. Gleichzeitig wird vor dieser Bewertungsmethode gewarnt, sofern keine verlässlich strukturierte Akten- und Registraturführung vorliegt. Somit kommt das Modell für weite Bereiche universitärer Überlieferung nicht in Frage. Das Thema blieb aktuell und mündete in die Forderung, Überlieferung im Verbund zu gestalten. Im Jahr 2011 folgte vom gleichen Arbeitskreis ein Positionspapier zur „Überlieferungsbildung im Verbund“, das an das Papier von 2004 anknüpfte.[12] Was Überlieferung im Verbund ist, definieren die Autoren wie folgt: „Überlieferungsbildung im Verbund bedeutet, dass sich Archive unterschiedlicher Trägerschaft in einem definierten, beide Seiten berührenden Zuständigkeitsbereich bei der Überlieferungsbildung austauschen und abstimmen. Das Ziel des Abstimmungsprozesses zwischen den beteiligten Archiven sind langfristig verlässliche Absprachen, die darauf abzielen, eine qualitätsvolle, sich ergänzende und Redundanzen vermeidende Überlieferung bei gleichzeitiger grundsätzlicher Wahrung des Provenienzprinzips und der Sprengelzuständigkeit zu schaffen.“[13] Berührungspunkte mehrerer Universitätsarchive können sich beispielsweise bei Professorennachlässen ergeben. Hier könnten gemeinsame Richtlinien vereinbart werden, nach denen bestimmte Konstellationen einem bestimmten Universitätsarchiv den Vortritt einräumen. Hinsichtlich der Überlieferung studentischer Initiativen wäre beispielsweise mit dem jeweiligen Stadtarchiv zu klären, wer sich dafür zuständig fühlen soll.
Überlieferungsbildung im Verbund ist aber nach dem Papier des Arbeitskreises deutlich mehr, ja wohl sogar eigentlich etwas anderes als Verabredungen über den besten Verwahrungsort für Bestände. Sie bezieht sich auf Abreden hinsichtlich der zu überliefernden Inhalte und basiert demnach auf gemeinsam vereinbarten Dokumentationsprofilen, Festlegungen inhaltlicher Ziele oder Bewertungsmodellen. Ist bereits die Festlegung inhaltlicher Dokumentationsziele innerhalb eines einzelnen Archivs eine strategische Entscheidung enormer Reichweite, so ist sie es umso mehr im Kreis von Überlieferungsverbünden.
Destruktiv wäre es, die Ergebnisse der Bewertungsdiskussion der 1990er Jahre einfach über Bord zu werfen, und den Informationswert von Unterlagen als das einzig Wahre für die Bestimmung der Ziele einer Überlieferungsbildung und von Bewertungskriterien anzusehen. Man würde dadurch um Jahrzehnte zurückfallen und sich zudem einer historischen Mindermeinung anschließen. Frank M. Bischoff brachte in seinem Vortrag über „Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung“ auf einem Workshop der Archivschule Marburg im November 2004 im Zusammenhang mit der Vielfalt von Bewertungsansätzen, die die Archivwissenschaft kannte und noch kennt, den in den 1990er Jahren in Deutschland wirkungsvoll von Angelika Menne-Haritz propagierten Schellenbergschen Ansatz erneut ins Bewusstsein der Archivare.[14] Er betonte dabei, dass die Diskussion der 90er Jahre zu einer Polarisierung im Archivarsstand und letztlich zu einer übermäßigen Betonung des Evidenzwertes als Bewertungskriterium geführt habe, dass aber Schellenberg mit dem Evidenzwert auch den Informationswert verknüpft habe. Der Hinweis Bischoffs kann als Aufforderung verstanden werden, Dokumentationsprofile nicht nur inhalts- oder informationswertorientiert auszurichten, sondern auch mit den Elementen der Evidenzdokumentation synergetisch zu verbinden.
Bemerkenswert ist, dass sich das bereits erwähnte Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen von 2009 nach Aussage Max Plassmanns in seiner ebenfalls bereits genannten Kommentierung im Archivar an den „Hauptaufgaben von Universitäten – Forschung und Lehre“ orientiert, dass in der Einleitung des Dokumentationsproifls selbst aber stets nur von Inhalten die Rede ist, an denen man sich orientiere: „Das Dokumentationsprofil orientiert sich vorrangig an den in Hochschularchiven zur Bewertung anstehenden Inhalten und setzt sich dabei mit typischen Schriftgutsorten auseinander. Die Überlieferungssituation an Hochschulen ist oft so unübersichtlich, dass eine vorrangig nach Organisationsstrukturen gegliederte Darstellung die weniger sinnvolle Alternative wäre.“[15] In beiden Texten ist von Funktionen einer Universität als Orientierungskriterien nicht die Rede, obwohl doch einiges darauf hindeutet, dass die Intention der Autoren in etwa in diese Richtung ging. Es zeigt sich jedoch bei anderen Dokumentationsprofilen der letzten Jahre, dass Funktionsorientierung offenbar insgesamt keine herausragende Rolle spielte. In ihrer „Arbeitshilfe zur Erstellung eines Dokumentationsprofils für Kommunalarchive – Einführung in das Konzept der BKK zur Überlieferungsbildung und Textabdruck“ lässt Irmgard Christa Becker eine sehr starke inhaltsbezogene Orientierung erkennen, die Aufgaben- und Funktionsbezogenheit in den Hintergrund zu stellen scheint.[16]
Die amerikanische Archivarin und Bibliothekarin Helen Willa Samuels veröffentlichte 1998 unter dem Titel „Varsity Letters“ ein Buch über die Dokumentation von Universitäten und ebnete darin den Weg zur Erstellung eines auf Funktionen basierenden Dokumentationsprofils. Sie stellt bereits im einleitenden „Rationale“ prägnant fest, dass Funktionen von Organisationsstrukturen gelöst zu betrachten sind und zitiert dazu David Baerman und Richard Lytle: „Functions are independent of organizational structures, more closely related to the significance of documentation than organizational structures, and both finite in number and linguistically simple.“[17] Die Funktionen, die sie für Hochschulen herausarbeitet, sind gegründet auf eine Analyse dessen, was diese Institution tut. Damit unterscheidet sich ihre Herangehensweise von der Beschreibung zugewiesener Funktionen und blickt stattdessen auf die in Vergangenheit und Gegenwart tatsächlich wahrgenommenen Funktionen. Sie unterscheidet sich damit auch vom Funktionsbegriff des ISDF-Standards des Internationalen Archivrats, der eine Funktion wie folgt definiert: „Any high level purpose, responsibility or task assigned to the accountability agenda of a corporate body by legislation, policy or mandate. Functions may be decomposed into sets of co-ordinated operations such as subfunctions, business processes, activities, tasks or transactions.”[18] Dabei ist es ihr ein Anliegen, von der Betrachtung der einzelnen Akte oder der einzelnen Büros bei der Bewertung loszukommen und den Bewertungsvorgang mit der Analyse des konzeptualen Kontexts der Unterlagen einer Universität vorzubereiten. Mit Terry Cook befürwortet sie einen Perspektivenwechsel von der physischen Einheit zur intellektuellen, „from matter to mind“.[19] Samuels möchte bei der Funktionsanalyse die enge Sichtweise auf die Reflexion administrativer Prozesse aufgeben und in den Funktionen zwar auch die administrativen Aktivitäten, aber ebenso die anderer Akteure wie der Studenten, der Fakultäten, des Personals und von Personen und Körperschaften außerhalb der Universität einbeziehen.
Sie kommt schließlich zu sieben Hauptfunktionen einer modernen Hochschule:
- Ausstellen von Zeugnissen: beinhaltet den Prozess des Anwerbens, Auswählens und Zulassens von Studenten, die Vergabe finanzieller Unterstützung und akademischer Beratung sowie die Graduierung der Studierenden.
- Transport von Wissen: beinhaltet die Gestaltung der Curricula und die Lernprozesse.
- Förderung der Sozialisation: beinhaltet die informellen Lernvorgänge außerhalb der Vorlesungen und Seminare in organisierter und nicht organisierter Form im häuslichen Leben, in extracurricularen Aktivitäten und in persönlicher Beratung.
- Forschung und Ermöglichung von Forschung: beinhaltet Maßnahmen und Aktivitäten der Fakultäten und graduierten Studenten bei der Suche nach neuem Wissen und neuer Erkenntnis
- Verwaltung der Institution: beinhaltet die Aktivitäten, die für den reibungslosen Betrieb der Institution nötig sind (inkl. Leitung, Finanz- und Personalverwaltung, technische Anlagenverwaltung etc.).
- Dienstleistungen für die Öffentlichkeit: beinhaltet die Aktivitäten, die in erster Linie für externe Adressaten(gruppen) erfolgen (inkl. technische Supportdienstleistungen und Weiterbildungsangebote).
- Kulturelle Integration: bedeutet die Funktion der Institution als Vermittler von Kultur, z.B. durch die Unterhaltung von Sammlungen, Museen, Bibliotheken und Archiven.
Schwieriger wird es nun bei der Zuordnung von Aktivitäten zu Funktionen, und Samuels räumt selbst ein, dass ein und dieselbe Aktivität durchaus in unterschiedliche oder mehrere Funktionen eingereiht werden könnte. Es sei aber auch von ihr nicht beabsichtigt gewesen, Aktivitäten speziellen Funktionen zuzuordnen, sondern einen Ausgangspunkt für eine weitergehende Funktionsanalyse anzubieten und das Verständnis von Funktionen zu fördern.[20]
Es stehen nun vier Größen sowohl als Bestandsbildungs- als auch als mögliche Ordnungskriterien archivischer Überlieferung im Raum:
- Inhalte
- Strukturen
- Aufgaben
- Funktionen
Inhalte zu archivieren ist nichts anderes als das zu archivieren, was das Objekt der Archivierung überhaupt ist: Information. Bei der Überlieferungsbildung bedarf es demnach eines Konsenses darüber, welcher Wert einer Information innewohnen muss, um sie archivwürdig erscheinen zu lassen. Schellenberg nennt für die Analyse des Informationswerts drei Kriterien, die ihm dabei wichtig sind: den Unikatcharakter der Information, ihre Form und ihre Bedeutung für die historische Forschung. Zu finden ist Information in den Unterlagen, die prozessbezogen und ergebnishaft davon zeugen, mit welchen Angelegenheiten ein Schriftgutbildner zu tun hatte.[21] Doch wird man bei der Archivierung von Information letztlich nie um die parallele Evidenzwertermittlung herumkommen, die ebenfalls bereits bei Schellenberg die Informationswertermittlung gleichberechtigt begleitet.[22] Denn nur so lässt sich garantieren, dass Information nicht kontextdefizitär bewahrt wird. Kontexte sind durch Handlungen verursacht, die mit Zwecken und Aufgaben im Zusammenhang stehen. Insofern kann man davon ausgehen, dass eine primäre Konzentration auf kontextverursachende Kriterien eher zu seiner umfassend aussagekräftigen Überlieferung führt als eine primäre Konzentration auf Inhalte.
Strukturen unterliegen häufigen Veränderungen und müssen mit Aufgaben und Funktionen nicht deckungsgleich sein. Die Dokumentation von Organisationsstrukturen und ihrer historischen Entwicklung beinhaltet Aussagen zur Arbeitsweise der Einrichtung und hat einen hohen Wert für die Evidenzüberlieferung. Deshalb kann die Archivierung von Information über Strukturen nicht unterbleiben. Die Nutzung von Archivgut, das den Strukturen einer Einrichtung entsprechend in Findmitteln präsentiert wird, ist für den Nutzer dadurch erschwert, dass er für eine systematische Suche Kenntnisse über die Aufgaben und Funktionen der jeweiligen Organisationseinheiten und über chronologische Schnitte, an denen sich Aufgaben- und Funktionszuweisungen geändert haben, kennen muss. Ein intensives Studium der Schriftgutbildner und ihrer Geschichte muss der effizienten Archivgutrecherche vorausgehen.
Aufgaben werden zugewiesen. Die Zuweisung einer Aufgabe sagt jedoch noch nichts über den Grad und die Art ihrer tatsächlichen Erfüllung aus. Zudem versuchen Aufgabenzuweisungen, den Tätigkeitsrahmen und den Wirkungskreis einer Institution ex ante abzustecken. Das Fortwirken und das Feedback, das sich aus der Erfüllung von Aufgaben ergibt, ist in eine aufgabenbezogene Dokumentation nicht eingebunden. Gleichwohl basiert das Handeln und Funktionieren einer Einrichtung darauf, zugewiesene Aufgaben wahrzunehmen. Für die Recherche nach geeignetem Archivgut ist es für den Forscher wichtig, die Aufgaben eines Bestandsbildners zu kennen, um einschätzen zu können, ob dessen Überlieferung für sein Forschungsthema relevant sein kann. Die Orientierung an Schriftgutbildnern und an deren zugewiesenen Aufgaben ist ein grundlegendes Element des Provenienzprinzips.
Funktionen, verstanden als Zusammenfassung von Aufgaben, Handeln und Wirken einer Stelle, betrachten das Leben einer Einrichtung, ohne dabei eine fremdbestimmte Sichtweise einnehmen zu müssen. So ist es beispielsweise nicht mehr die Sicht des Aufgaben zuweisenden Staats auf eine seiner Behörden, die der Archivar für die Dokumentation, Archivierung oder Bewertung einnehmen muss, vielmehr ermöglicht die Bestandsbildung auf der Grundlage von Funktionen eine objektivere oder neutralere Sicht auf den Bestandsbildner. Funktionsorientierung vermeidet zudem eine Fragestellungen an das Archivgut vorwegnehmende inhaltsorientierte Bestandsbildung, weil sie keine Inhalte definiert, sondern neben Funktionen, die sich durch Aktivitätsbezeichnungen darstellen lassen und dann mit Aufgaben zusammenfallen, den Ausfluss des Handelns einer Stelle durch die beobachtete Wirkung als Funktionsbenennung kennt. Will man Funktionen nach diesem Verständnis als Bestandsbildungskriterien heranziehen, so steht man freilich vor der Situation, dass ihre Bezeichnung hinsichtlich des Zeitraums des Handelns einer Stelle erst ex post geschehen kann, weil erst dann eine Funktionsanalyse im Sinne einer Wirkungsanalyse möglich wird. Hier könnte ein Konfliktpotential mit den Grundsätzen des Provenienzprinzips bestehen, das sich aber als ein nur scheinbares erweist, wenn man auf die Ursache von Verwaltungshandeln als aus der Not, das Chaos im menschlichen Zusammenleben zu verhindern, geborene Tätigkeit sieht. Dann nämlich sind auch Aufgabenzuweisungen an öffentliche Stellen als Resultate der Erkenntnis über ein Handlungsvakuum zu verstehen und somit ebenfalls ex post definiert. Die Funktionsanalyse geht insofern weiter, als sie auf das täglich neu von einer öffentlichen Stelle zu erkennende und auszufüllende Handlungsvakuum rekurriert, das die Realität ihres Wirkens in all seiner Breite bestimmt. Sie nimmt insofern Bezug sowohl auf die Ursache als auch auf die Wirkung von Handlungen.
Der Standard ISDF sieht in der Beschreibung von Funktionen eine Möglichkeit, Archivgut mit höherer Sorgfalt in seinen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen zu präsentieren und Beziehungen zu anderen Teilen des Archivguts herauszuarbeiten.[23] Funktionsanalyse wird in ihm als mögliche Grundlage für die Ordnung, Klassifikation und Beschreibung, für die Bewertung und für die Recherche und Auswertung von Archivgut bezeichnet.[24] Außerdem ist die Beziehung zwischen Archivgut und den seine Entstehung verursachenden Funktionen eine mögliche Definition des Begriffs der Provenienz.[25]
Das Dokumentationsprofil des Universitätsarchivs Bayreuth ist die Grundlage seiner Bestandsbildung. Es orientiert sich an den Funktionen der Universität in ihrem Handeln und gesamtgesellschaftlichen Wirken und greift somit über die amtliche Überlieferung der Universität hinaus und bezieht externe und private Stellen in die Bestandsbildung mit ein. Dabei bleibt es dem Provenienzprinzip treu, indem es Funktionen als Ursachen für Entstehungsprozesse auffasst, beschreibt und bei der Bewertung der Archivwürdigkeit als maßgebende Kriterien mitwirken lässt.
[1] Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen / von Thomas Becker, Werner Moritz, Wolfgang Müller, Klaus Nippert und Max Plassmann, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2009; hier: S. 7-8.
[2] Max Plassmann, Das Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen. In: Der Archivar 62 (2009), S. 132-137; hier: S. 133.
[3] Arlette Farge, Der Geschmack des Archivs, aus dem Französischen von Jörn Etzold in Zusammenarbeit mit Alf Lüdtke, Göttingen, Wallstein Verlag, 2011; Nachwort von Alf Lüdtke, S. 115.
[5] In: Archivalische Zeitschrift, 45 (1939), S. 34-51.
[6] Grundsätze der Wertermittlung für die Aufbewahrung und Kassation von Schriftgut der sozialistischen Epoche in der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. v. d. Staatlichen Archivverwaltung im Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik, 1965, S. 14.
[7] Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung – zur Theorie archivarischer Quellenbewertung. In: Archivalische Zeitschrift, 68 (1972), S. 3-40. Der Beitrag wurde 1987 ins Englische übersetzt und in der kanadischen Zeitschrift „Archivaria“ (24) unter der Überschrift „Society and the Formation of a Documentary Heritage: Issues in the Appraisal of Archival Sources“ veröffentlicht. Booms nimmt erneut Bezug darauf in einer Neubetrachtung unter dem Titel „Überlieferungsbildung: Keeping Archives as a Social and Political Activity“ in Archivaria 33 (1991/92, S. 25-33), die erst 1999 in Deutschland unter „Überlieferungsbildung als eine soziale und politische Tätigkeit“ verbreiteter zugänglich wird (Archivistica docet. Beiträge zur Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären Umfelds. Hrsg. von Friedrich Beck, Wolfgang Hempel, Eckard Henning (Potsdamer Studien 9). Potsdam 1999. S. 77-89).
[8] Angelika Menne-Haritz, Archivierung oder Dokumentation – Terminologische Fallen in der archivischen Bewertung. In: Bilanz und Perpektiven archivischer Bewertung – Beiträge eines Archivwissenschaftlichen Kolloquiums, hg. v. Andrea Wettmann, Marburg, 1994 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 21), S. 232.
[9] Noch im März 2013 sah der Bayerische Archivtag die Notwendigkeit, dieses Selbstverständnis zu propagieren, indem er sein Motto in eine rhetorische Frage kleidete: Pflicht oder Kür? Nachlässe, Sammlungen, Verbandsschriftgut“.
[10] Robert Kretzschmar, Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare zur archivischen Überlieferungsbildung. In: Der Archivar 58 (2005), S. 88-94; hier: S. 90. Im Internet wurde das Positionspapier bereits im November 2004.
[11] Max Plassmann, Dokumentationsziele als Grundlage der Arbeit von Universitätsarchiven: Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung. In: Dokumentationsziele und Aspekte der Bewertung in Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Institutionen – Beiträge zur Frühjahrstagung der Fachgruppe 8 – Archivare an Hochschularchiven und Archiven wissenschaftlicher Insitutionen – des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare am 23. und 24. März 2006, hg. v. d. Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 2007 (= Universitätsreden, Bd. 73), S. 33-45; hier: S. 34.
[12] Abgedruckt in: Der Archivar 65 (2012), S. 6-11.
[14] Frank M. Bischoff, Bewertung als Gegenstand der Archivarsausbildung – Fragen aus Sicht der Archivschule Marburg. In: Neue Perspektiven archivischer Bewertung, hg. v. Frank M. Bischoff u. Robert Kretzschmar, Marburg, 2005, S. 119-144; hier v.a.: S. 140-141; Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. und hrsg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, 7).
[15] Dokumentationsprofil, S. 12.
[16] In: Der Archivar 62. 2009, S. 122-131.
[17] David Bearman und Richard Lytle, The Power of the Principle of Provenance. In: Archivaria 21 (Winter 1985-86), S. 22; zitiert aus: Helen Willa Samuels, Varsity Letters – Documenting Modern Colleges and Universities, Lanham, Md., und London, 1998, S. 4. Die gleiche Auffassung vertreten die Autoren des Standards ISDF: “Functions are recognised as generally being more stable than administrative structures, which are often amalgamated or devolved when restructuring takes place.“ (ISDF, Kap. 1.3).
[18] ISDF – International Standard for Describing Functions, First Edition, hg. v. International Council on Archives (ICA), 2007
[19] Samuels zitiert hier Terry Cook, Mind or Matter – Towards a New Theory of Archival Appraisal. In: Festschrift für Hugo Taylor, hg. v. d. Association of Canadian Archivists, 1992.; bei Samuels auf Seite 3.
[20] Samuels, Varsity Letters, S. 22-23.
[21] Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, übers. u. hg. v. Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröfffentlichungen der Archivschule Marburg, 17), S. 58-59.
[22] Vgl Schellenberg, aaO, S. 38 ff.
[25] ISDF, Kap. 3 „Glossary of Terms and Definitions“, s.v. “Provenance. […] Provenance is also the relationship between records and the functions which generated the need of the records.”
Quelle: http://archive20.hypotheses.org/693