Historische Blicke auf die Nachkriegszeit

Der historische Blickwinkel ist bei der Untersuchung der Deutschen Nachkriegskinder von großer Bedeutung. Psychologische Diagnosen, Methoden und Begrifflichkeiten haben ihrerseits eine Geschichte, die sich im Laufe der Zeit verändert. Der Annales-Historiker Ariès, der eine Geschichte der Kindheit verfasst hat, zeigte beispielsweise auf, wie sich das Rollenverständnis von Kindheit über die Jahrhunderte verändert hat, vom „kleinen Erwachsenen“ zur eigenen Lebensphase.1 Eine Untersuchung über das Kindheitsbild der Nachkriegszeit ist nicht bekannt. Thematisch sehr passend ist das Buch von Svenja Gottesmann,2 die das Trauma-Konzept in der Psychiatrie der Nachkriegszeit am Beispiel der rückkehrenden Flüchtlinge und deren Krankenakten historisch untersucht. Menschen galten zu dieser Zeit prinzipiell als unbegrenzt belastbar. Sie zeigt auf, wie sich dieses Konzept des Nichtvorhandenseins von Traumata auf die Zuschreibung des Opferstatus und die damit verbundene fehlende Entschädigungen auswirkt. Auch die historische Rückübertragung des Begriffs Verdrängung kritisiert sie, da „Schweigen auch in hohem Maße eine Reaktion auf die ‚Marktbedingungen’ gewesen sei (es war kaum jemand interessiert), wie auch eine Folge auf die vielfach proklamierten Aufforderungen, zu vergessen“,3 (Goltermann zitiert ihrerseits Peter Novick). Bei der Lektüre der Krankenakten sollte man also Zuschreibungen von Diagnosen
oder auch Emotionen4 aus historischer Perspektive hinterfragen,5 weswegen eine historische Bearbeitung der Nachkriegskinder-Studie aus dieser Perspektive von hoher Bedeutung ist.
Der Geschichte der Nachkriegs- und Kriegskinder wird seit einigen Jahren von Seiten der Historiker mehr Aufmerksamkeit zuteil, sowohl im nationalen Rahmen,6 wie im internationalen.7 Zur Nachkriegszeit gibt es mehrere historische Einführungen.8

Quelle: Foerster, S. (2013). Von den „Deutschen Nachkriegskindern“ zu einer Längsschnittstudie der Entwicklung über die Lebensspanne. Evaluation der Methodologie einer Stichprobenreaktivierung (Diplomarbeit). Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, S. 12-13.

  1. Ariès, P. (2007). Geschichte der Kindheit. München: dtv.
    Erikson, E. H. (1999). Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.
  2. Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA.
  3. Goltermann, S. (2009). Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA. S.
    423
  4. Assmann, A., & Frevert, U. (1999). Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. München: DVA.
    Biess, F., & Moeller, R. G. (Hrsg.). (2010). Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe. Oxford (UK): Berghahn Books.
  5. Seidler, G., & Eckart, W. (Hrsg.). (2005). Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial.
  6. Ackermann, V. (2004). Das Schweigen der Flüchtlingskinder: Psychische Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung bei den Deutschen nach 1945. Geschichte und Gesellschaft, 3(30), 434–464.
    Seegers, L., & Reulecke, J. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“. Historische Hintergründe und Deutungen. Giessen: Psychosozial.
    Seegers, L. (2009). Die „Generation der Kriegskinder“ als Erinnerungsphänomen in Deutschland. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 14–25). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von http://www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0014-0025
  7. Maubach, F. (2009). Der Krieg im Spiel – Kindliche Aneignungen kriegerischer Gewalt 1939-1945. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 26–36). Moskau: Deutsches Historisches Institut.
    Satjukow, S. (2009). ,,Bankerte!” Verschwiegene Kinder des Krieges. In Kinder des Krieges. Materialien zum Workshop in Voronež. 11.-13. März 2008. Moskau 2009 (Bd. 3, S. 57–69). Moskau: Deutsches Historisches Institut. Abgerufen von www.perspectivia.net/content/publikationen/dhi-moskau-bulletin/2009-3/0057-0069
  8. Faulstich, W. (2002). Die Kultur der fünfziger Jahre. München: Fink.
    Faulstich, W. (2003). Die Kultur der sechziger Jahre. München: Fink.
    Naumann, K. (Hrsg.). (2001). Nachkrieg in Deutschland. Hamburger Edition.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1343

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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/

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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/

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Bloggen mit Kindern

Chardin - Die junge LehrerinIn meiner neuen Tätigkeit als Lernbegleiterin an einer Grundschule biete ich für dieses Schulhalbjahr die AG „Bloggen“ an. Es gibt – um solch ein Projekt zu starten, mehrere Voraussetzungen:

  1. Die Schulleitung und der Schulträger müssen einverstanden sein.
  2. Die Eltern der Kinder müssen ihr Einverständnis erklären.
  3. Man braucht eine Blog-Plattform.

Zum Glück finde ich von der Schulleitung volle Unterstützung, wäre dies nicht der Fall, könnte solch eine AG gar nicht angeboten werden. Außerdem gehe ich davon aus, dass die beteiligten Eltern ihr Einverständnis erklären. Sollte dies bei einzelnen Kindern nicht der Fall sein, würden individuelle Lösungen für diese Kinder gesucht werden, aber es würde dadurch nicht das ganze Projekt gekippt.

Bezüglich der Blog-Plattform hatte ich erst die Idee, mit dem Bloggen auf einer externen Plattform zu beginnen, denn eine hauseigene Installation macht Arbeit und wenn die Schüler – damit muss man immer rechnen – doch nicht so begeistert sind, wie ich mir das vorstelle – ist die Mühe vergebens. Blogger oder WordPress wären geeignete Plattformen gewesen. Doch bin ich bzw. die Schule, gemäß Artikel 6 des Bayerischen Datenschutzgesetzes verpflichtet, mit dem Plattformbetreiber einen Vertrag abzuschließen. Ich als Kunde und Unterzeichner von Geschäftsbedingungen lege dem Betreiber einen Vertrag vor, den er unterzeichnen soll. Schöne Idee, aber utopisch. Damit kann ich das Vorhaben, zunächst auf einer externen Plattform zu beginnen, begraben.

Also muss eine hausinterne Installation her. Ich denke, dass das möglich sein wird. Ich wollte sowieso nicht mit den Kindern sofort losbloggen. Sie müssen erstmal ein Gefühl dafür entwickeln, dass sie jetzt etwas ins Internet schreiben und nicht nur daraus Information holen. In Bayern gibt es von der Stiftung Medienpädagogik dafür ein Angebot, das ich nutzen werde. Die Kinder können zunächst den Medienführerschein machen. Gleichzeitig schreiben wir uns warm: Mit Schreibspielen lassen wir der Phantasie freien Lauf, werden locker und öffnen die Augen für das Finden eines geeigneten Themas.

Insgesamt liegen die Hürden für das Bloggen mit Schülern sehr hoch. An meiner Schule sind die Voraussetzungen wirklich günstig, aber das ist normalerweise nicht so. Da ist es dann auch kein Zufall, dass ich im Web nichts über das Bloggen von und mit (Grund-)Schülern gefunden habe.

Beispielsweise bin ich mir noch nicht sicher, wie wir den Autorennamen beim Bloggen angeben werden. Ich hätte vorgehabt, den Vornamen plus das Alter des Kindes zu nennen. Ist das zu gewagt? Oder sollten die Schüler besser unter einem Phantasienamen schreiben?

Natürlich müssen wir regelmäßig die Beiträge löschen, spätestens zum Ende des Schuljahres. Es geht hier für die Kinder um das Sammeln erster Erfahrungen mit dem Web 2.0 und die sollten ihnen später nicht peinlich sein.

Für Hinweise allgemeiner Art zum Thema und Informationen zu laufenden Projekten von Schulen oder Schülern wäre ich sehr dankbar.

 

Bild: Jean-Baptiste Siméon Chardin, Die junge Lehrerin, 1740/1750, London, National Gallery
Digitale Bildquelle: www.artigo.org

Quelle: http://games.hypotheses.org/1807

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(7) Krise zum Mitmachen – Von Nihal Kantekin

In meinem Beitrag „Krise zum Mitmachen“ gehe ich grundsätzlich davon aus, dass die Soziologie nicht in der Krise ist und es der Soziologie nicht möglich ist, den Anspruch der Verbesserung der Gesellschaft zu erfüllen. Dazu beschreibe ich Krisen anhand der … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7395

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(7) Krise zum Mitmachen – Von Nihal Kantekin

In meinem Beitrag „Krise zum Mitmachen“ gehe ich grundsätzlich davon aus, dass die Soziologie nicht in der Krise ist und es der Soziologie nicht möglich ist, den Anspruch der Verbesserung der Gesellschaft zu erfüllen. Dazu beschreibe ich Krisen anhand der … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7395

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SdK 78: Karl Fröschl über die Softwarekrise

Ende der 1960er Jahre trafen sich Programmierer bei zwei Nato-Konferenzen, in Garmisch-Partenkirchen und in Rom, um über Probleme bei der Herstellung von Software zu diskutieren. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass  sich das Verhältnis zwischen Software und Hardware wesentlich verändert hatte. Die erarbeiteten Lösungsansätze wirken sich bis heute auf die Softwareentwicklung und ihr Qualitätsmanagement aus. Nicht nur wurde bei den Treffen das Konzept von Software Engineering entworfen, sondern führte letztlich die Theoretisierung des Programmierens auch zur Entstehung der Informatik als akademisches Fach. Der Wirtschaftsinformatiker Karl Fröschl arbeitet an einem Projekt zur “Informatisierung Österreichs”, bei dem er zahlreiche ZeitzeugInnen der österreichischen Computergeschichte interviewt hat. Im Gespräch erläutert er die Gründe für die Softwarekrise und warum sie letztlich bis heute nicht überwunden ist.

Edsger Wybe Dijkstra.jpg
Edsger Wybe Dijkstra“ von Hamilton Richards – manuscripts of Edsger W. Dijkstra, University Texas at Austin. Lizenziert unter CC BY-SA 3.

[...]

Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk78

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SdK 78: Karl Fröschl über die Softwarekrise

Ende der 1960er Jahre trafen sich Programmierer bei zwei Nato-Konferenzen, in Garmisch-Partenkirchen und in Rom, um über Probleme bei der Herstellung von Software zu diskutieren. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sich das Verhältnis zwischen Software und Hardware wesentlich verändert hatte. Die erarbeiteten Lösungsansätze wirken sich bis heute auf die Softwareentwicklung und ihr Qualitätsmanagement aus. Nicht nur wurde bei den Treffen das Konzept von Software Engineering entworfen, sondern führte letztlich die Theoretisierung des Programmierens auch zur Entstehung der Informatik als akademisches Fach. Der Wirtschaftsinformatiker Karl Fröschl arbeitet an einem Projekt zur "Informatisierung Österreichs", bei dem er zahlreiche ZeitzeugInnen der österreichischen Computergeschichte interviewt hat. Im Gespräch erläutert er die Gründe für die Softwarekrise und warum sie letztlich bis heute nicht überwunden ist.

Quelle: http://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk78

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Frühneuzeit-Info 25 (2014)

Die aktuelle Nummer der Frühneuzeit-Info befasst sich mit “Kunstsammlungen in Österreich”. In der offenen Sektion findet sich ein interessanter Beitrag über “Normen und Praktiken der Eheschließung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe” von Iris Fleßenkämper.
Hier das Inhaltsverzeichnis inkl. den englischsprachigen Abstracts…


Quelle: http://ehenvorgericht.wordpress.com/2014/09/26/fruhneuzeit-info-25-2014/

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Neuland und die Jahrestagung des Deutschen Archäologen-Verbandes (DARV)

Original: Ausgrabungen Haltern am See. Quelle: LWL-Archäologie für WestfalenArchäologie und Politik – ein facettenreiches und spannendes Thema für die Jahrestagung des DARV im Juni in Münster. Ebenso vielfältig war das Programm. Über Beispiele für den Einfluss von Kriegen und Krisen auf die archäologie Arbeit wurde ebenso gesprochen, wie über Lobbyarbeit und Kommunikation mit und über Archäologie. Dabei ließ mich der Vortrag von Frank Marcinkowski, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster über die Folgen (!!) “dieses Internet” für die wissenschaftliche und Öffentlichkeitsarbeit sprachlos zurück – und auch sonst macht er sich in der Wissenschaftskommunikation nur wenig Freunde. Seine Thesen zeigen, gegen welche Vorurteile, einseitigen Annahmen und damit Hürden von Seiten der (Geistes-)Wissenschaft vor allem die digitale Kommunikation ankämpft.1

Vorschläge für ein besseres Verhältnis zwischen Archäologie, Politik und Kommunikation gab es schon beim Einführungsvortrag der Tagung: stärker über Fachgrenzen hinaus zu denken, den Mehrwert für die Gesellschaft zu formulieren und neue (gesellschaftliche) Aspekte einzubeziehen sollen Bestandteil der wissenschaftlichen Arbeit sein – sowohl in Bezug auf die Reflektion der eigenen Methodiken als auch des Selbstverständnisses des Faches – und sind notwendig, um in einen Dialog mit politischen Entscheidern und der Öffentlichkeit zu treten. Nur so kann ein Verständnis für die eigenen Bedürfnisse geweckt werden, das notwendig ist für jede Form der Unterstützung.

Neuland – ein Forschergenerationenproblem?

Neue Ideen, besonders in Bezug auf strukturelle Veränderungen bei Forschung und Kommunikation, werden häufig schon von Studenten abgetan. Einen perfekten Weg zum Erfolg in jeglicher Art von geisteswissenschaftlichen Fächern gibt es nicht, wohl aber viel Konkurrenz und hohen Druck. Den Weg zu gehen, der schon bei den Generationen zuvor funktioniert hat, scheint dabei am sichersten. Das gilt für den Umgang mit der Öffentlichkeit, die Qualitätssicherung und den Reputationsaufbau – Feststellungen, die von Seiten des Fachpublikums weitgehend benickt und noch einmal bestärkt wurden, als am Ende der Tagung die neuen Medien im speziellen thematisiert wurden.

Neuland – neue Medien, neue Öffentlichkeiten, neue Erwartungen

Genau hier, so zeigte sich im Abschlussvortrag von Marcinkowski, sitzt das Problem: Für die Kommunikation der Archäologie mit der Öffentlichkeit waren bis heute vor allem die archäologischen Museen zuständig und in geringerem Umfang die Presseabteilungen der Forschungseinrichtungen, die Wissenschaftler selbst wurden nur von Zeit zu Zeit von einem Journalisten zu einem bestimmten Projekt befragt.

Marcinkowski präsentierte in seinem Vortrag die Ergebnisse einer Studie über die Veränderungen des Umgangs der Wissenschaft mit der Öffentlichkeit, den Medien und der Politik, u.a. durch das Social Web. Hinter dieser Studie, bei der bis 2011 1.600 deutsche Wissenschaftler – und ausschließlich diese! – aus 16 akademischen Disziplinen befragt wurden, steht ein Projekt der Uni Münster zusammen mit dem Wissenschaftsforscher Hans-Peter Peters vom Forschungszentrum Jülich.2 Peters unterscheidet sich in seinem Grundtenor aber von der Interpretation Marcinkowskis, wie sie bei der Jahrestagung des DARV präsentiert wurde. Marcinkowskis Thesen im Wesentlichen:

  • Heute hat jeder, auch die Wissenschaft, das Gefühl, mehr öffentliche Aufmerksamkeit und bessere Kommunikation, vor allem im Netz, wären Lobbyarbeit und können Probleme wie fehlende Aufmerksamkeit, Anerkennung oder sinkende Fördergelder lösen
  • Aber Öffentlichkeit und Wissenschaft haben im Grunde keine Beziehung zueinander, es sind unterschiedliche Welten mit verschiedenen tradierten Verhaltensweisen, die sich weder überschneiden noch mehr als nötig einander annähern sollten
  • Kommunikation sorgt nicht für die Generierung von Wissen, sondern gefährdet im Gegenteil die Qualität von Forschung
  • Wissenschaftler sind genötigt, sich anders zu verhalten, wenn sie von außen beobachtet werden
  • Kommunikation im Netz zeigt keine Wirkung, Wissenschaftler sollen lieber ab und an mit Journalisten etablierter Medien wie dem Fernsehen oder der Zeitung sprechen3

Einige dieser Feststellungen sind sicher nicht gänzlich falsch. Mit mehr medialer Resonanz geht oft der Wunsch nach stärkerer Unterstützung einher. Das unterschiedliche Funktionieren der Sphären von Medien, Politik und Wissenschaft sorgt aber dafür, dass dem oft nicht so ist. So hatte die Petition gegen die Streichung der Finanzmittel der Denkmalpflege in NRW großes mediales Feedback und 27.000 Unterschriften hervorgebracht, an den Plänen der Landesregierung aber nichts geändert, weil die Entscheidungsfindung hier bereits stattgefunden hatte. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Beziehung zwischen der – sich wandelnden – Sphäre der medialen Kommunikation / der Öffentlichkeit und der Wissenschaft gäbe. Ihre Funktionsweise sollte die Archäologie als immer stärker privatisierte Zunft kennen, da sie bei  Ausgrabungen, aber auch der Bewahrung und Vermittlung von Denkmalen immer mehr von Unterstützung, privaten Geldern, touristischen Einnahmen und damit Aufmerksamkeit abhängig ist.

“Lassen Sie dieses Internet!”

Die von Marcinkoskwi vorgestellte Studie repräsentiert nur die Sicht der Wissenschaftler selbst. Eine nicht unwichtige Tatsache, um die Objektivität der Aussagen einer solchen wissenschaftlichen Untersuchungen einzuschätzen. Bei seiner Interpretation und Präsentation der Ergebnisse mangelte es aber am Versuch einer Objektivierung, beispielsweise durch eine Gegenüberstellung mit der Sicht der “Gegenseite”. Sein Ergebnis war denn, die Wissenschaft dürfe sich zugunsten ihrer Qualität nicht auf die Mediatisierung der Kommunikation und schon gar nicht auf das Internet einlassen, das nur von der eigentlichen Aufgabe, der Forschung ablenke, nicht aber die gewünschte Aufmerksamkeit bringe. Besser sei es, im Elfenbeinturm zu bleiben, anstatt einem “Forschungsmainstream” zu verfallen.

Nun sind wissenschaftliche Qualität und öffentliche Aufmerksamkeit natürlich nicht dasselbe. Das möchte auch niemand. Auch wird nicht erwartet, dass sich Forscher nur noch Themen aussuchen, die medientauglich sind – obwohl 16% das nach Marcinkowski bereits tun, Tendenz steigend. Vielmehr kann ein guter Kommunikator aus jedem Thema eine spannende Geschichte machen. Interessant ist an den Aussagen der Studie aber, dass die Anworten der Wissenschaftler die Vorstellung zeigen, gute, klassische, unbeeinflusste Forschungsfragen stünden schlechten, von aktuellen Entwicklungen beeinflussten gegenüber. Ist es nicht eher so, dass Forschung immer vom Zeitgeschehen beeinflusst war, dass die Aufgabe von Forschung auch darin besteht, Zeitgeschehen aus dem Blickwinkel der Disziplin zu beleuchten oder ihr neue Aspekte eröffnet, ohne dass dies den Verlust der fachinternen Qualitätsstandards bedeutet. Dies scheint eine Angst bei Forschern aller Hierarchieebenen zu sein, wie sich auch bei der Diskussion um Open Access und Social Media während des Historikertages zeigte.

Auch Marcinkowski sieht hier das Problem. Auf Blogs oder in Online-Zeitschriften können Ergebnisse ohne Begutachtung veröffentlicht werden, ebenso wie Informationen über gescheiterte Projekte, die der Reputation schaden. Lobbyarbeit hingegen könne man damit nicht betreiben. Dabei ist auch die Gleichsetzung von Lobby und Öffentlichkeit und beider Kommunikationswegen vereinfacht. Verschiedene Zielgruppen brauchen verschiedene Kommunikationswege, natürlich lässt sich durch einen Blogbeitrag – ebenso wie durch einen Zeitungsartikel – allein keine Lobby aufbauen. Dafür braucht es gute persönliche Kontakte, die das Internet nicht ersetzen kann oder soll, die hier aber aufgebaut und gepflegt werden können.

Vereinfachung, Dramatisierung, Überhöhung

Auch bei der Kommunikation von wissenschaftlichen Inhalten über etablierte Medien gibt es oft Vorbehalte. Sie betreffen vor allem die Art, wie Ergebnisse dort präsentiert werden: um den Kontext zum Heute herzustellen und mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, vereinfachen, dramatisieren und überhöhen Journalisten. Kommunikation im Internet aber braucht Journalisten als Instanzen des “Übersetzens” nur noch bedingt. Vielmehr können Fachleute dort verstärkt selbst zu Wort kommen. Damit kann auch auf ein zunehmendes Interesse von Seiten der Öffentlichkeit an der Wissenschaft selbst reagiert und mit interessierten Laien in Dialog getreten werden. Zugleich lässt sich besser kontrollieren, welches Image eines Faches, Projektes oder Wissenschaftlers selbst vermittelt wird.

Der Artikel von Peters zur Studie macht ein weiteres Problem deutlich, das von Marcinkowski unerwähnt blieb. Wissenschaftliche communities möchten oft nicht in Dialog nach außen treten. 34% sehen ihre Disziplin und ihr Fachwissen nicht als Teil der Allgemeinbildung und trauen der Öffentlichkeit nicht zu, mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen. Sie möchten es auch nicht, weil solche Gespräche den wissenschaftlichen Standards nicht entsprechen. Diese sind innerhalb der Wissenschaft aber auch Bemessungsgrundlage für den Wert einer Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Anders steht es um die digitale Kommunikation mit Fachlaien – in der Archäologie zum Beispiel freiwilligen Denkmalpflegern oder Reenactorn. Die Möglichkeit, im Netz Communities zu speziellen Themen zu bilden, wird begrüßt, die Allgemeinheit damit aber wieder ausgeschlossen. Zugleich wird angenommen, eine besser gebildete Öffentlichkeit habe einen positiven Einfluss auf die Wertschätzung und Finanzierung von Wissenschaft. Die mögliche Einflussnahme von Laien auf Forschungsprozesse und Forschungspolitik wird aber negativ bewertet. Das Dilemma ist deutlich.

“Gehet hin und lehret!”

Trotz Marcinkowskis abschreckendem Vortrag machte gerade das Thema der Jahrestagung, “Archäologie und Politik”, in verschiedensten Vorträgen deutlich, warum Archäologen kommunizieren sollten: weil Archäologie noch immer ein politisches Machtmittel ist. Archäologen betreiben Ausgrabungen nicht mehr als Landnahme in Fortsetzung des Kolonialismus. Stattdessen muss man vielmehr auch Diplomat sein, mit Behörden und Einheimischen gleichermaßen auf Augenhöhe kommunizieren, die eigenen Bedürfnisse ebenso vermitteln, wie die Interessen des anderen verstehen können. Eine Übersetzungsarbeit also, die jener gegenüber den Medien nicht unähnlich ist.

So vermittelt die Orientabteilung des DAI, wie Margarete von Ess berichtete, im Irak den Einheimischen die Grundlagen wissenschaftlicher Dokumentation und die Bedeutung von Funden und Fundstätten, unabhängig von Religion oder staatlicher Ideologie. In Rumänien kämpfen Archäologen gegen die Zerstörung des historischen Bergbaugebietes Rosia Montana und damit auch gegen ein von der Regierung unterstütztes Großunternehmen. Erfolgreiche öffentliche Kommunikation führte hier dazu, dass ein Großteil der Bevölkerung sich hinter die Archäologen stellte, sodass das Projekt zumindest auf Eis gelegt wurde.

Zwar hat eine ähnliche Form der Aktivierung aller Kommunikationskanäle beim Beispiel NRW nicht funktioniert, hierbei spielten aber die verschiedenen Zeitmechanismen von Politik und Medien eine Rolle. Dauerhafte konstanteKommunikation, Memopolitik oder das Aufzeigen der Ursprünge und Hintergründe hinter neuen Errungenschaften (man denke an Suchmaschinen und die Erkenntnisse der Linguistik und Philologien) können aber dabei helfen, dass Themen nicht erst kurzfristig und spät auf die mediale und politische Agenda kommen, sondern unterschwellig präsent, Grundlagenwissen und Verständnis vorhanden sind. Dieser Rückschluss wurde bei der Jahrestagung des DARV nur bedingt gezogen. Notwendig ist dafür nicht, Forschungsthemen zu ändern oder fachliche Qualität aufzugeben. Manchmal reicht ein neuer Blick auf das eigene Fach unabhängig von innerfachlicher Konkurrenz, interuniversitärem Wettkampf oder “collateral damage of publicity”. Ich war noch nie Freund von Kriegsmetaphern.

                                                                                                            

Nach einem ähnlichen Vortrag von Marcinkowski, gemeinsam mit seinem Kollegen Matthias Kohring, mit dem Titel “Wie schädlich ist Wissenschaftskommunikation?” beim Workshop der VolkswagenStiftung “Image statt Inhalt? – Warum wir eine bessere Wissenschaftskommunikation brauchen” hat auch Jens Rehländer seine Thesen einer kritischen Betrachtung unterzogen.

2 Die Ergebnisse wurden u.a. publiziert in Hans-Peter Peters, Gap between science and media revisited: Scientists as public communicators, in PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America), 110/ 2013, Suppl 3. Der gesamte Artikel kann hier gelesen werden.

3 Vgl. hier die kürzliche Aufforderung – nicht von Marcinkowski -  Wissenschaftler auf Twitter sollten lieber an Fachpublikationen arbeiten.

Quelle: http://kristinoswald.hypotheses.org/1372

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