Günter Hack: Der Aufstieg des Datenproletariats

Keine leichte Kost zum schnell mal drüber Lesen, dafür umso erkenntnisbringendere Lektüre: Günter Hack veröffentlichte gestern auf Zeit Online den Essay Der Aufstieg des Datenproletariats; besonders erfreulich, dass es sich dabei nicht nur um eine nüchterne Analyse der gegenwärtigen medialen Lage handelt, sondern dass zugleich leicht optimistische Zukunftsperspektiven angedeutet werden, womit sich der Essay wohltuend von den sonstigen per teutonischem Schwurbel-Feuilleton verbreiteten Bocksgesängen à la Morozov, Lanier oder Byung-Chul Han absetzt:

Das Datenproletariat kann sich mehr Freiraum erarbeiten, wenn es seine vielfältigen Abhängigkeiten erkennt, sie nicht einfach akzeptiert, und die Akteure ihre individuellen Möglichkeiten bündeln, sei es über das Netz oder lokal, sei es mit Hilfe des Staates oder ohne. Statt der einen großen Revolution wird es Millionen kleinster Kämpfe geben. Und manche davon können auch die richtigen Leute gewinnen.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/985928865/

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Wien Geschichte Wiki

Sehr schön, das Wien Geschichte Wiki wurde heute präsentiert: Es nimmt für sich in Anspruch, das größte Stadtwiki zu sein und basiert auf dem monumentalen, sechsbändigen Historischen Lexikon Wien von Felix Czeike. Mitarbeit, Korrekturen und Ergänzungen sind erwünscht, auch werden weitere Ressourcen laufend eingearbeitet; auch technische Verbesserungen sind vorgesehen, noch dieses Jahr soll die Fußnotenextension zur Verfügung stehen.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/985928862/

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Wissenschaft. Und der Rest der Welt

Naturwissenschaft – so scheint der Konsens in Deutschland zu lauten – ist gleichzusetzen mit “Wissenschaft”. Die im Englischen übliche Differenzierung von Science und Humanities scheint also vollständig in die deutsche Sprache und Wissenschaftskultur eingesickert zu sein.

In den vergangenen drei Tagen besuchte ich die Summerschool “Wissenschaft kommunizieren” im Haus der Wissenschaft in Braunschweig. Um es kurz zu machen: Als Geisteswissenschaftlerin fühlte ich mich dort völlig deplatziert — aber warum?

Im Nachhinein – man ist zu diesem Zeitpunkt gemeinhin schlauer! – bin ich ziemlich blauäugig an die ganze Sache herangegangen. Ich bin Wissenschaftlerin mit hoher Web 2.0-Affinität, ich befasse mich gerne und oft mit Sprache, Kommunikation fand ich schon immer super und ich habe in der Vergangenheit schon einige PR-Projekte erfolgreich umgesetzt. Dies waren meine Kriterien, den Claim “Wissenschaft kommunizieren” als direkt als auf meine Person maßgeschneidertes Angebot wahrzunehmen.

Braunschweiger Löwe

Brüllt einsam. Braunschweiger Löwe (Kopie der Bronze aus dem späten 12. Jh.)

Diese Annahme wurde eigentlich sofort enttäuscht und es liegt weder primär an den ReferentInnen, noch an den OrganisatorInnen und nicht einmal an den TeilnehmerInnen. Nein.  Es handelt sich, wie ich denke, um ein strukturelles Problem. Die Naturwissenschaften mit ihrem nachgeordneten unmittelbaren Nutzen für verschiedene Industriezweige, angefangen von der Pharmazie bis hin zur Weltraumtechnik, die bekanntlich auch Innovationen wie Thermos-Kannen und Klettverschlüsse ins tägliche Leben bringt:  sie alle bewegen mehr Kapital. Es fließen höhere Fördersummen, weil ein Output erwartet wird, der sich langfristig quantifizierbar im Bruttosozialprodukt niederschlägt. Die Politik hat hieran ein höheres Interesse und fördert “Wissenschaftskommunikation”, wie man an den Geldgebern und Kooperationspartnern des Veranstalters , wissenschaft-im-dialog ersehen kann. Nicht zuletzt fand die Veranstaltung an einem Technologiestandort statt.

Schon, wenn ich das schreibe, komme ich mir wie ein lebendes Fossil vor. Welche Relevanz hat das, was ich tue für die Welt? Wenig bis gar keine?

Dabei wird es komplizierter: Mit meinem Weggang von Österreich bin ich nun von der Kunstgeschichte in den Fachbereich “Kunstwissenschaften und Medientheorie” gewechselt. Kunstwissenschaft lässt sich nicht ins Englische übertragen: “Science of Art” oder “Art Science” sind undenkbare Sprachkonstrukte. Einer der Pioniere, welche die Kunstgeschichte aus der Historiographie heraus näher heran an die empirisch operierenden Fächer rücken wollten, war aber Hans Sedlmayr. Sedlmayr favorisierte einen datenbasierten ahistorischen Zugang. Er scheiterte, das Verfahren ist problematisch. Valide Daten und harte Fakten, das sind Werte, die mir beispielsweise per se Wahrheit suggerieren. Auch ich würde gerne nur mit reinen Fakten operieren, aber ich werde gleich schildern, warum das nicht geht.

Daten  sind, wie ich meine allesamt – und das schließt meines Erachtens auch die Naturwissenschaften mit ein – abhängig von den Parametern, in denen sie generiert werden sowie ihrer jeweiligen Interpretation. Die Objektivität ist oft eine vermeintliche. Es ist allerdings ein philosophisches Problem zu definieren, ab wann wahre Aussagen produziert werden, darauf möchte ich mich jetzt gar nicht einlassen, weil das auch zu weit führt.

Wissenschaftskommunikation und auch Wissenschaftsjournalismus , so mein Eindruck, betrifft in der Regel naturwissenschaftliche Inhalte. Die Geisteswissenschaften finden im Feuilleton statt. Daher auch der Eindruck meiner KollegInnen (VertreterInnen der dominanten Gruppe, nämlich aus den Naturwissenschaften stammend), nur in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur würde “gerecht”, also objektiv (!) berichtet werden, während man sich nur in der “Wissenschaft” mit dieser fiesen Ökonomie der Aufmerksamkeit herumzuschlagen habe.

Ich sage es an dieser Stelle frei heraus:

Das “Wissenschaft” in der Öffentlichkeit und in der Community so derartig einseitig definiert wird, ist nicht hinnehmbar!

Hier muss man sofort ansetzen und Lobbyarbeit seitens der Dachverbände der Disziplinen starten, um zu kommunizieren, dass es uns gibt, wer wir sind und was wir warum wie machen.

Ich habe drei Tage lang meine eigene Relevanz befragt und kann daher Einiges dazu sagen:

Ich versuche zu verstehen, wie die Kultur in der wir leben, funktioniert. Dafür habe ich mir als konkretes Untersuchungsobjekt eine Person ausgesucht, die einerseits die Kunstgeschichte als Disziplin mitgeprägt hat, andererseits aber auch die öffentliche Meinung über das was Kunst ist und sein kann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. “Verlust der Mitte” wird von der Generation der kulturinteressierten 60-Jährigen in Deutschland gekannt. Das Buch transportiert aber nicht nur die persönliche Meinung seines Autors, sondern einen Diskurs, also eine gewisse Menge an Meinungen. Als Diskurs bezeichnen wir – mit Foucault – die Art und Weise wie Wissen produziert und tradiert wird. Diese Struktur ist nicht offensichtlich, sondern sie kann durch Analysen offengelegt werden. Foucault kann deshalb als Poststrukturalist bezeichnet werden, weil er Strukturen dekonstruiert, indem er sie offenlegt, aufzeigt, transparent macht. Ich will zeigen, wann dieser modernekritische Diskurs entstanden ist, wie er sich bei Sedlmayr manifestiert und auf welche Art und Weise er bis heute existiert. Das ist ein unbequemes Thema, weil ich zeigen kann, dass Paradigmen in der Kunstgeschichte und darüber hinaus im Kunstdiskurs herumgeistern, die längst überwunden geglaubte totalitaristische Ressentiments weiter transportieren. Ich hoffe, damit einen Beitrag zur Selbstreflexion der Gesellschaft insgesamt zu leisten. Als Einzelperson muss ich mich auf einen relativ kleinen Bereich konzentrieren – aber das ist in den meisten naturwissenschaftlichen Studien auch so.

In meiner Summerschool, in der ich zunehmend eine Verweigerungshaltung entwickelte, habe ich mir überlegt, diesen Blogartikel zu verfassen. Ich habe einige Ideen, für weitere Blogartikel in petto und ich habe mir vorgenommen, Twitter wieder stärker zu nutzen. Mir ist ein großes Defizit bewusst geworden, denn es besteht in der Wissenschaft und insbesondere in den Geisteswissenschaften eine große Kommunikationsskepsis. Selbstermächtigung – eigenes, unautorisiertes, wildes Publizieren wird nicht oder selten goutiert.

Die Chance für einen Dialog zwischen den Wissenschaftskulturen wurde in Braunschweig versäumt. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, frontal unterrichtet zu werden. Dass sich außerhalb der Kaffeepause keiner der überwiegend männlichen Referenten für die zu 90% weiblich Teilnehmerschaft und ihre Motivation, ihnen zuzuhören, interessiert, bin ich im postgradualen Feld in dieser Form nicht mehr gewöhnt. In Arbeitsgruppen eingeteilt wurde ich zuletzt … ja wann eigentlich? Im Kindergarten? Dem einschränkend ist hinzuzufügen, dass ich mit dieser Meinung eine Einzelposition vertrete, die dominante Gruppe, auf die das Ganze zugeschnitten war, übte positives Feedback. Mir persönlich bleiben aber zu wenig greifbare Facts auf viel Unbehagen. Das ist nicht schlimm, es ist oft der erste Schritt in etwas Neues.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/558

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Neue Bucherscheinung: “14-18, une guerre des images. France-Allemagne”

Aus Anlass des Ersche81h3nJBH6ILinens Ihres Buches 14-18, une guerre des images. France-Allemagne (La Martinière/AFP/DPA, 2014)  haben  Dr. Arndt Weinrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Zeitgeschichte am DHIP, und Benjamin Gilles, Verwalter der Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine (BDIC), dem Online-Magazin “slate.fr” ein Interview gegeben. Hier geht es zum besagten Artikel.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1794

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Thinking about Competency-oriented Learning. New Realism or ‘Old’ Pragmatics?

 

Over the last few years, different competency models have prevailed and are now competing against each other. However, …

 

English

 

Over the last few years, different competency models have prevailed and are now competing against each other. However, competency orientation is not fundamentally questioned, even though it tends – provocatively worded – to dogmatics. Indeed, there is a lot to discuss and to criticise, for example, the artificial separation of knowledge and competencies, or the danger of arbitrariness arising from the central importance of multi-perspectivity.

 

Constructivism – a nasty word?

I claim that competency models are based on constructivist approaches. So-called truths are questioned, and it is assumed that the view of the world is determined by a subjective process. Therefore, competency models are often accused of postmodern arbitrariness – in particular in the didactics of history and civic education because of the current preference to deconstruct historical and political narratives. The role that these narratives play for identity building is often neglected. The criticism leveled at the constructivism experience has now reached a new climax: under the heading of “new realism,” several philosophers – among others Markus Gabriel und Maurizio Ferraris – are heralding the end of postmodernism. This seems to me to be a good reason to reflect on the hegemony of constructivism in the didactics of history and civic education … and perhaps to challenge it.

New realism and the truth

In Markus Gabriel’s popular-psychological book “Why the world does not exist,” three figures consider Mount Vesuv from different vantage points: “Astrid,” the author, and the reader. Therefore, not only one single Vesuv exists, as is commonly assumed, but actually three others. This sounds like – a moderate version of – constructivism. But could one Vesuv be “truer” than the others? Transferred to civic education, for example, we could safely say, and conclusively argue, that all cultures are dynamic and not static. This means that in democratic societies, which are increasingly characterized by migration, intercultural processes and cultural changes need to be accepted in order to resolve social and political problems. Any policy aimed at perpetuating a cultural status quo will not only fail but also lead to marginalisation, xenophobia, and possibly to violence. Admittedly, this is only one possible perspective, one which does not allow any other alternative. This perspective could thus be called “realistic.”

True, but not objectively

Both constructivism and “new realism” have one thing in common: they refuse the claim to objectivity. Although the new realism neither relativises nor can be accused of arbitrariness, it defines itself as a countermovement against hegemonic discourses, including populism and easy solutions for complex and multicausal problems. Ideologies, also called “isms,” cannot be ruled out. However, under certain conditions, such as democracy, some “isms” are “truer” than others. This is already evident in Maurizio Ferraris’s plea for new realism entitled “Manifesto of New Realism,” inspired by Karl Marx and Friedrich Engels’s “The Communist Manifesto,” which created a political counterforce, or by André Breton’s “Manifesto of Surrealism,” which initiated a new art movement.

I doubt, and ask questions …

New realism raises various key questions: are there any historical and political narratives which – within a set of democratic values – do not allow alternatives? Are teachers in fact only moderators or will they continue to be instructors? Has only the learner the right to design historical and political narratives? Is therefore the teacher condemned to silence? Is it possible that master narratives still continue to exist? Are there any limits for multi-perspectivity? Must we vehemently oppose certain political positions, for example, populist and xenophobic notions, even if these ideas are supported by political parties which are democratically elected? Is it not true that educational materials and teaching methods often point in a single direction, in spite of the fact that they should enable learners to take different perspectives? All these questions make me feel insecure, nor do have any readymade answers. It is still unthinkable for me to concede some of my previous didactical principles. Nevertheless, we should promotea dispassionate discussion of these issues.

Literature

  • Maurizio Ferraris, Manifest des Neuen Realismus, (Recht als Kultur, vol. 6) (Frankfurt a. M., 2014
  • Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 7th ed. (Berlin: Ullstein, 2013).
  • Markus Gabriel, Der Neue Realismus (Berlin: Suhrkamp, 2014).

External Links

 

Image credits
© Rainer Sturm  / pixelio.de.

Recommended citation
Hellmuth, Thomas: Thinking about Competency-oriented Learning. New Realism or ‘Old’ Pragmatics? In: Public History Weekly 2 (2014) 30, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2477.

Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

 

 

Deutsch

 

In den letzten Jahren haben sich in der Didaktik der Geschichte und politischen Bildung verschiedene Kompetenzmodelle durchgesetzt und sich gegenseitig mehr oder weniger Konkurrenz gemacht. Unbestritten ist aber die Kompetenzorientierung, die als solche – provokant formuliert – gar ein wenig dogmatisch geworden ist. Tatsächlich gibt es viel daran zu diskutieren und zu kritisieren, etwa die künstliche Trennung von “Wissen” und “Kompetenzen” oder die Gefahr der Beliebigkeit infolge der zentralen Bedeutung der Multiperspektivität.

 

 

“Konstruktivismus” – ein garstig’ Wort?

Hinter den Kompetenzmodellen stecken – das behaupte ich hier zumindest – konstruktivistische Überlegungen. “Wahrheiten”, also die Dinge, wie sie angeblich sind, werden infrage gestellt und die Betrachtung der Welt als subjektiv definiert. Damit einher geht freilich auch der Vorwurf der Beliebigkeit, zum Beispiel in der Didaktik der Geschichte und politischen Bildung nicht zuletzt auch durch einen zunehmenden Hang, historische und politische Erzählungen vor allem zu dekonstruieren und deren Konstruktion, obwohl für die Identitätsbildung von zentraler Bedeutung, zu vernachlässigen. Nun wird daher wieder zum “Halali” gegen den Konstruktivismus geblasen. Unter dem Schlagwort des “Neuen Realismus” erfolgt – angeführt von Markus Gabriel und Maurizio Ferraris – der Abgesang auf die Postmoderne und damit auch auf den Konstruktivismus. Damit scheint mir auch für die Didaktik der Geschichte und politischen Bildung ein Grund gegeben, über die hegemoniale Position des Konstruktivismus nachzudenken … und diese vielleicht auch infrage zu stellen.

Der “Neue Realismus” und die “Wahrheit”

In Markus Gabriels populär-philosophischen Buch “Warum es die Welt nicht gibt” betrachten “Astrid”, der Autor und der Leser bzw. die Leserin von verschiedenen Orten aus den Vesuv. Es existieren daher nicht nur ein Vesuv, sozusagen “der” Vesuv, sondern noch drei andere – je nach Blickwinkel. Das klingt nach – zumindest gemäßigtem – Konstruktivismus. Aber: Kann ein Vesuv “wahrer” sein? Umgelegt etwa auf die politische Bildung lässt sich zum Beispiel sehr wohl behaupten und wohl auch schlüssig argumentieren, dass etwa Kultur dynamisch und nicht statisch ist, d.h. dass in demokratischen Gesellschaften, die zunehmend von Migration geprägt sind, interkulturelle Prozesse und kultureller Wandel als notwendig akzeptiert und auch gestaltet werden müssen, um damit verbundene soziale und politische Probleme zu lösen. Jede Politik, die auf kulturellen Status quo ausgerichtet ist, wird scheitern und führt letztlich zu Ausgrenzung, die sich in Ausländerfeindlichkeit und möglicherweise auch in Gewalt niederschlägt. Damit ist freilich nur eine Perspektive auf Migrationsgesellschaften beschrieben, die aber unter demokratischen Voraussetzungen kaum eine bessere Alternative zulässt – “realistisch” lässt sie sich durchaus nennen.

“Wahr” und doch nicht “objektiv”

Beide, Konstruktivismus und Neuer Realismus, haben eines gemeinsam: Sie wenden sich gegen jedweden Objektivitätsanspruch. Der Neue Realismus relativiert zwar letztlich nicht und setzt sich damit nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit aus, er begreift sich aber als eine Gegenbewegung gegen hegemoniale Diskurse, unter anderem gegen Populismus und einfache Lösungen in einer komplexen Welt. “Ismen” sind also nicht ausgeschlossen, manche “Ismen” aber – unter bestimmten Voraussetzungen wie einer demokratischen Gesellschaft – “wahrer”. Allein an Maurizio Ferraris’ Plädoyer für den Neuen Realismus, das den Titel “Manifest des  Neuen Realismus” trägt, lässt sich dies unschwer erkennen. Haben doch schon Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrem “Manifest der kommunistischen Partei” eine politische Gegenmacht aufgebaut oder André Breton mit seinem “Manifest des Surrealismus” einer neuen, durchaus politisch orientierten Kunstbewegung den Weg gewiesen.

Ich zweifle und frage …

Für die Didaktik der Geschichte und politischen Bildung stellen sich im Zusammenhang mit dem Neuen Realismus mehrere Fragen: Gibt es nicht historische und politische Erzählungen, die unter der Voraussetzung eines demokratischen Werterahmens kaum Alternativen besitzen? Ist die Lehrperson tatsächlich nur ModeratorIn, wie zunehmend behauptet wird, oder ist sie trotz alledem auch LehrmeisterIn? Besitzt nur der/die Lernende das Recht, seine Erzählungen zu konstruieren? Ist der/die Lehrende daher letztlich zum Schweigen verurteilt? Oder gibt es doch noch “Meistererzählungen”, die erzählt werden müssen? Hat die Multiperspektivität ihre Grenzen? Ist bestimmten politischen, etwa populistischen Positionen, auch wenn diese von Parteien vertreten werden, die als demokratisch gelten, nicht eindeutig entgegenzutreten? Sind nicht oftmals die von den Lehrenden gewählten Materialien und Methoden, auch wenn sie Multiperspektivität beanspruchen und den Lernenden die Konstruktion eigener Erzählungen ermöglichen sollen, doch in eine bestimmte Richtung weisend? Alles Fragen, die zumindest mich zunehmend verunsichern. Antworten habe ich darauf (noch) keine, undenkbar ist es mir noch immer, vielleicht einen Teil davon aufzugeben, was meine fachdidaktischen Überzeugungen bisher ausgemacht hat. Dennoch sollten wir über diese Fragen sachlich diskutieren.

Literatur

  • Ferraris, Maurizio: Manifest des Neuen Realismus, Frankfurt a. M. 2014 (Recht als Kultur, Bd. 6).
  • Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt, 7. Auflage, Berlin 2013.
  • Gabriel, Markus: Der Neue Realismus, Berlin 2014.

 

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
© Rainer Sturm  / pixelio.de.

Empfohlene Zitierweise

Hellmuth, Thomas: Nachdenken über Kompetenzorientierung. Neuer Realismus statt ‘alter’ Pragmatik? In: Public History Weekly 2 (2014) 30, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2477.

Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

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Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 3

Von Stefan Sasse

Dies ist der dritte Teil der Artikelserie. Im ersten Teil besprachen wir die ersten beiden mythischen Könige Roms, Romulus und Numa. Im zweiten Teil besprachen wir die folgenden beiden Könige, Hostilius und Marcius. In dieser Folge widmen wir uns den zwei nächsten Königen, Tullius und Priscus.

Lucius Tarquinius Priscus
Der vierte König Roms, Ancus Marcius, hatte zwei Söhne. Da sich in der römischen Gesellschaft jener Tage das Erbschaftsprinzip noch nicht durchgesetzt hatte, leitete sich daraus auch kein Herrschaftsanspruch ab. Da beide Söhne bei Marcius' Tod nicht in der Stadt waren, hatte es der fünfte König, der etruskische Adelige Lucius Tarquinius Priscus, leicht, den Senat von der Eignung seiner eigenen Wahl zu überzeugen. Tarquinius Priscus war aus Etruria gekommen, wo er wegen seiner griechischen Wurzeln von einer politischen Laufbahn ausgeschlossen war. Bei seiner Ankunft in Rom hatte ein Adler ihm die Mütze weggenommen und wieder auf den Kopf gesetzt, ein Zeichen künftiger Größe, das Ancus Marcius dazu gebracht hatte, ihn zum Vormund seiner Kinder zu ernennen. Tarquinius vergrößerte den Senat (unter anderem um die Familie der Octavii, aus denen Augustus hervorgehen würde), führte Krieg gegen die Latiner und Sabiner, in deren Rahmen er die Zahl der equites verdoppelte, und brachte die Kriege mit Landgewinn für Rom zum Abschluss. In Rom selbst baute er den Circus Maximus, begann den Bau des Jupitertempels auf dem Kapitol und errichtete die Cloaka Maxima, um das Problem der Abwässer und Versumpfung in den Griff zu bekommen. Auf seine Herrschaft gehen außerdem viele römische Symbole zurück, etwa das Purpur als Königsfarbe oder der herrschaftliche, von vier Pferden gezogene Streitwagen. 


Es scheint, als ob wir mit Lucius Tarquinius Priscus langsam das Gelände der Mythen und Sagen verlassen und in belastbareres Territorium vorstoßen. Rom war in seiner Gründerzeit immer noch politisch von den Etruskern abhängig, so dass ein etruskischer Adeliger als römischer König durchaus Sinn macht. Tarquinius Priscus erwirbt auch gleich die notwendigen legitimatorischen Zeichen, die römische Herrscher sich später noch oft zusprechen würden: eine Prophezeiung (der Adler mit der Mütze), die den Herrscher als göttergewollt betrachtet, und militärischer Erfolg. Tarquinius Priscus besiegte Sabiner und Latiner und eroberte diverse Städte, was den Griff Roms auf das Umland festigte, und kehrte im Triumphzug nach Rom zurück, eine Praxis, die auch später die höchste Ehrung der Stadt sein und in der Kaiserzeit ausschließlich den Kaisern vorbehalten sein würde. Auf diese Art und Weise hatte er die Referenzen beisammen, die einen großen Römer in den Augen der Zeitgenossen ausmachten. Es fällt auf, die mundän diese Tätigkeiten sind. Die Sabiner und Latiner werden nicht entscheidend geschlagen, und einige Städte werden erobert - ein Erfolg, gewiss, aber nicht mehr legendär wie frühere Könige.

Cirus Maximus in einem Modell
Interessanter sind da seine politischen Reformen. Die Vergrößerung des Senats brachte eine Welle neuer, ihm getreuer Gefolgsleute in Roms Legislative, eine Taktik, die auch spätere Generationen gerne anwenden werden. Er verdoppelte außerdem die Ränge der equites, was eine deutliche Vergrößerung der Armee mit sich brachte, deren Ränge sich in jener Zeit noch aus den Besitzenden rekrutierten. Gleichzeitig verschaffte es Roms Mittelschicht eine breitere Basis, was für das spätere Wachstum der Stadt bedeutsam sein dürfte. Interessant sind auch seine baulichen Maßnahmen: der Circus Maximus, eines der Wahrzeichen der Stadt, wird auf ihn zurückgeführt und erlaubt das aristrokratische Vergnügen der Wagenrennen. Livius vermerkt in seinen Darstellungen, dass Patrizier und Senatoren sich im Circus eigene, erhöhte Logen bauten, was den legitimatorischen Charakter des Bauwerks unterstreicht, indem es Besuchern deutlich die Rangunterschiede zeigt. Gleiches gilt für den Bau des Jupitertempels, mit dem sich Tarquinius Priscus als legitimer König zeigt, der den Göttern huldigt. 

Der Bau der Cloaka Maxima schließlich ist für Rom von kaum zu überschätzender Bedeutung, da er das Problem von Seuchen reduziert und große Gebiete für den Bau von Gebäuden befreit, so dass auch das Gebiet zwischen den sieben Hügeln Roms bewohnbar wurde. Die Bedeutung des Königs liegt daher in einer Konsolidierung Roms, weniger in seiner Erweiterung. In Tarquinius Priscus' angeblicher Herrschaft wurden die Grundlagen gelegt, die es später zu einer Metropole und zur Herrscherin des Mittelmeers machten. Wie immer ist die tatsächliche Existenz sehr fraglich: Priscus regierte angeblich 38 Jahre lang, bevor er in einer Revolte ermordet wurde, und die vielen Bauvorhaben sind für einen Mann trotz dieser Länge beachtlich. Nichtsdestotrotz erreichen wir ein Stadium der römischen Geschichte, das glaubhafter erscheint als das vorhergehende. 

Servius Tullius
Die angesprochene Revolte war laut Livius eine Intrige der Söhne Ancus Marcius', um Tarquinius Priscus zu ermorden und selbst die Herrschaft zu übernehmen. Tarquinius Frau Tanaquil aber behauptete, der König sei nur verwundet und nutzte die Zeit, um Servius Tullius als Regenten zu proklamieren. Danach wurde der Tod Priscus' bestätigt und Tullius als neuer König ausgerufen. Weder Marcius' Söhne noch die Priscus' wurden so neue Könige - das Erbschaftsprinzip wurde ein letztes Mal abgewendet. Es bleibt unklar, ob Roms letzter König - Tarquinius Superbus - ein Sohn oder Enkel Tarquinius Priscus' war. So oder so würde zuerst Servius Tullius für, wir ahnen es, eine Periode von rund 40 Jahren herrschen.

Bereits sein Herrschaftsantritt ist von Unklarheiten überschattet: war er der erste König, der direkt vom Volk ausgerufen und vom Senat nicht bestätigt wurde, oder wurde er vom Senat gewählt, ohne dass das Volk gefragt wurde? So oder so war seine Wahl die erste ihrer Art. Wie so häufig umgibt auch ihn eine Prophezeiung: laut Livius erschien ein Feuerring um Tullius' Kopf, der zu seiner Königswahl führte. Niemand anderes als Kaiser Claudius erklärte dies später für Unsinn und erklärte ihn zu einem etruskischen Söldner. Servius' Herrschaft beginnt, wie könnte es anders sein, mit Krieg gegen Veiji und die Etrusker, was zu diesem Zeitpunkt als eine Art Mannbarkeitsprobe für römische Herrscher angesehen werden kann. Wie bereits bei Tarquinius Priscus ist das Resultat dieser Konflikte wenig relevant; bedeutsam ist, dass die militärischen Siege Tullius die notwendige Legitimität in den Augen der Römer verschafften. 

SPQR-Standarte
Bedeutsam aber sind die so genannten Servianischen Reformen, die Roms Entwicklung zu einer Republik zementierten. Unter Tullius erhielten wesentlich größere Teile der Bevölkerung das Wahlrecht, als dies bisher der Fall gewesen war. Das Wahlrecht wurde außerdem formalisiert (indem die Bevölkerung entsprechend ihres Vermögens und ihrer Steuerleistung in Klassen eingeteilt wurde, deren Stimmen unterschiedlich viel Gewicht besaßen, die so genannten Zenturien) und gleichzeitig das Gerichtswesen auf eine deutlich rechtsstaatlichere Grundlage gestellt, als dies bisher der Fall gewesen war - Grundlage des späteren Siegeszugs römischen Rechts. Unter Tullius wurden zudem die verbliebenen, bisher unerschlossenen drei der sieben römischen Hügel (besiedelt und die Stadt damit deutlich vergrößert (was gleichzeitig auch die Gruppe der Wahlberechtigten, die durch die Reformen bereits vergrößert worden war, noch einmal explodieren ließ). Für das einfache Volk und die Armen, die er mit einigen Sozialprogrammen bedachte, wurde Servius Tullius damit zu einem großen Helden und zum wohl beliebtesten Politiker seiner Zeit. Tullius machte sich damit allerdings viele Feinde. Tarquinius Superbus hatte eine seiner Töchter geheiratet, mit der konspirierte und Tullius auf den Stufen des Senats ermorderte, um selbst die Herrschaft anzutreten.

Auch die Herrschaft des Servius Tullius passt etwas zu gut in den römischen Gründungsmythos, um wahr zu sein, aber die Details seiner Herrschaft selbst lassen den Schluss zu, dass sie vergleichsweise akkurat sind. Die weitere Besiedlung Roms auf einen speziellen Herrscher festzuschreiben macht wenig Sinn, dürfte aber erst mit der städtischen Infrastruktur Tarquinius Priscus' wirklich möglich geworden sein. Gleichzeitig sind die Servianischen Reformen geradezu das Anlegen einer Straße zur Republik, auf die die späteren Gründer um Brutus nur zurückgreifen mussten. Die Republik konnte sich somit effektiv mit dem Willen des letzten "guten" König Roms legitimieren, was einfach zu günstig ist, um blanker Zufall zu sein. Die Aufteilung des römischen Elektorats durch Tullius würde für eine sehr lange Zeit die konstitutionelle Grundlage Roms bilden, ebenso das von ihm eingeführte Zensuswahlrecht und die "rule of law", die auf ihn zurückgeht. Letztere ist von gewaltiger Bedeutung und ohne die durch die Legende des Numa von der Schwurtreue der Römer auch nicht vorstellbar; die Königslegenden greifen hier also direkt ineinander über. Ohne dass die Römer die Gesetze kodifizieren und einhalten ist das Funktionieren einer Republik nicht vorstellbar, würde sie unter dem Ansturm skrupelloser, ambitionierter Männer zerbrechen - wie es denn auch im 1. Jahrhundert vor Christus geschah.

Neuzeitliche Darstellung einer Senatssitzung (Cicero vs. Catalina)
Es ist auch interessant, dass nun bereits zwei römische Könige ermordet wurden. Die Umstände verweisen dabei jedes Mal auf ambitionierte Männer, die selbst an die Macht kommen wollen, und dabei auch noch Verwandte oder enge Berater des jeweils letzten Königs. Die Machtmechanismen der späteren Republik aber waren so gestaltet, dass gerade solche Szenarien verhindert werden: der Cursus Honorum, also die Ämterabfolge (Ädile, Prästoren, Tribune, Konsuln und so weiter), die mit ihren Mindestabständen (meist zehn Jahre) und Mindestaltern kometenhafte Aufstiege verhinderte, die Wahlen, die Nepotismus erschwerten, weil die direkte Abstammung weniger zählte als der Ruf des jeweiligen Aristokraten, die kurze Amtsdauer und das Kollegialitätsprinzip - alle diese Mechanismen scheinen geradezu mit der Blaupause der römischen Könige im Kopf gestaltet worden zu sein. Oder aber natürlich, die römischen Königslegenden wurden genauso geschrieben, dass sie ein abschreckendes Beispiel darstellten, um Kritiker an der etwas schwerfälligen republikanischen Regierungswechselei schnell abfertigen zu können. Hier zeigt sich die legitimatorische Wirkmacht der historischen Legenden.

So oder so dienen die ersten sechs römischen Könige allesamt als Sagen, anhand derer zum einen die Entwicklung Roms als auch die klassischen römischen Tugenden - Treue, Tapferkeit, (politische) Ambition, Führungsstärke, Entschlossenheit - illustriert werden konnten. Die Könige sind überlebensgroße Figuren, oftmals durch göttliche Fügung limitiert und mit langen Regierungszeiten gesegnet, die aber gleichzeitig stets durch andere ambitionierte Männer unter Druck geraten. Was also passiert, wenn diese Männer kein Ventil für ihre Ambitionen finden, und wenn der König selbst nicht ein weiser, fähiger Mann, sondern stattdessen ein hochmütiger Tyrann ist? Nun, dann wird es wohl Zeit, eine Republik zu gründen, nicht wahr?

Bildhinweise: 
Tarquinius Priscus - Guillaume Rouille (Public Domain)
Modell Roms - Pradigue (CC-BY-SA 3.0)
Servius Tullius - Guillaume Rouille (Public Domain)
SPQR-Standarte - Bascavia10 (CC-BY-SA 3.0)
Senatssitzung - Cesare Maccari (Public Domain)

Buchhinweise:

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/09/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Das Sachsenross im Wappen der Welfen: Das lange Leben einer Legende

Als im Jahre 1995 die Ausstellung „Tapfrer Heinrich, sei willkommen!“ im Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Dom und Landesmuseum in Braunschweig eröffnete, schrieb Rolf Michaelis in der Einleitung eines Artikels der Tageszeitung DIE ZEIT (Nº 34/1995) über Heinrich den Löwen und eben jene Ausstellung folgendes: „Verwirrung total. ‚Der Löwe’ ist Ehrenname des Mannes, dessen persönliches Wappentier jedoch ein goldenes Pferd ist (das springende weiße Niedersachsenroß bis heute)“. Es scheint an dieser Stelle, als habe der Autor des Artikels eine Annahme gemacht, die sich seit dem 15. Jahrhundert standhaft hält, historisch aber nicht belegbar ist. Gemeint ist die Aussage, dass Heinrich der Löwe und das gesamte welfische Geschlecht als Träger jenes Wappentiers bezeichnet werden, das wir heute noch aus dem Wappen des Landes Niedersachsen und in abgeänderter Form in vielen weiteren Wappen – nicht nur auf Deutschland begrenzt – finden (u.a. NRW, Kent [UK]). Historische Belege für das Sachsenross – literarische und heraldische Quellen Crantz (1448-1517) schreibt z.B. in seiner Saxonia von ca. 1500, dass Heinrich der Löwe, nach seiner Rückkehr aus England, zwei Löwen im Wappenschild und das Sachsenross in der Helmzier trug[1]. Crantz beschreibt, dass Heinrich die zwei Löwen bevorzugte (praeferere), nachdem er aus dem Exil zurückgekehrt war. Das Sachsenross wurde von ihm […]

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/1396

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Auf der Suche nach dem Lokalen

Der Sammelband Environmental Imaginaries of the Middle East and North Africa (2011) enthält es einen interessanten Beitrag von Leila M. Harris. Er basiert auf Feldstudien, hauptsächlich ausführlichen Interviews mit der lokalen Bevölkerung im Südosten der Türkei, in jenem Gebiet, das im Rahmen des umstrittene “South-Eastern Anatolia Programme” (GAP, Great Anatolia Project, in Turkish: Güneydoðu Anadolu Projesi) “entwickelt” werden soll. Dieses größte Entwicklungsprojekt der Türkei soll unter anderem 22 Staudämme umfassen. Jenseits der kontroversen Diskussionen um das Projekt ergeben sich aus den Interviews, die Harris mit der lokal ansässigen Bevölkerung geführt hat, zwei interessante Aspekte:

Aber die interviewten Kleinbauern teilen gerade nicht die kritische Perspektive, die Umweltaktivisten, aber auch liberale Intellektuelle auf die “Entwicklung” des Gebietes und der damit verbundenen Modernisierung der Landwirtschaft haben. Sie sind vielmehr mehrheitlich der Überzeugung, dass die Probleme, die die technischen Neuerungen bisher hervorgerufen haben (etwa die Versalzung des Bodens) das Streben nach technischem “Fortschritt” nicht in Frage stellen:

“narratives reveal that farmers and state agents engage the evidence of environmental degradation to argue for more technoscience, and more state intervention, not less.” (204, Hervorhebung im Org.)

Ein Ergebnis, das Harris unter anderem auf die geradezu mythische Aufladung des Entwicklungsbegriffes zurückführt. Technischer Fortschritt in der Landwirtschaft wird als “point of entry for other possibilies wahrgenommen, perhaps even viewed as an opening for broader associations with modernity and wealth” (206). Die Moderne ist, zumindest im Südosten der Türkei, offenbar immer noch ein Versprechen.

Zweitens stellt Harris klar, dass sich, im Gegensatz zu anderen Arbeiten, die die “lokale” Perspektive dem “scientific or state knowledge” strikt entgegensetzen (193), diese beiden Kategorien in ihrer Untersuchung nicht trennen lassen. Sie vermischen sich stattdessen in Form eines “hybridized knowdedge” vermischen (200). Die Interviewten interpretieren ihre Situation nicht aus einer lokalen Perspektive heraus,

“[they] connect their local practices (e.g., crop choice or pesticide use) to state practices, as well as to scales and notions of national belongings (e.g., the idea of benefiting the national economy through cotton production) […] offering a challenge to what is meant by ‘local knowledges’.” (202)

Dies führt mich zurück zum Problem des Lokalen, dass sich bereits bei der Konzeption meiner Arbeit aufgetan hat. Das ‘Lokale’ ist, wo post-strukturalistische Ansätze in den Geisteswissenschaften vorherrschen, zu einem umworbenen Terrain geworden: Man möchte die spezifisch lokale Perspektive herausarbeiten, die Praktiken auf der lokalen Ebene, die Sichtweisen und Handlungen der lokalen (und damit in vielen Fällen subalternen) Akteure zeigen. Dies entspringt häufig dem lobenswerten Anspruch, Akteure zu Wort kommen zu lassen oder ins Bild zu rücken, die historische oder gesellschaftliche Analysen bisher vernachlässigt oder übergangen haben. Aber es führt, jenseits von praktischen Problemen (etwa bei der Analyse lokaler oder subalterner historischer Praktiken durch die Brille hegemonialer Überlieferung) zu einer Essentialisierung des Lokalen, die sich wenig mit den dekonstruktivistischen Ansprüchen decken, die die Arbeiten eigentlich verfolgen. Theoretisch und empirische Arbeiten haben in den letzten Jahren gezeigt, wie problematisch der unkritische Bezug auf das Lokale, so etwa Arjun Appadurai in Modernity at large oder die Arbeiten, die Akhil Gupta and James Ferguson in Anthropological Locations versammelt haben. Ulrike Freitag stellt in der Einleitung zum Sammelband Translocality fest:

“[T]he notion of the ‘local’ remains a critical one. Criticism of the earliert view of places, communities and cultures as counded and fixed localities sparked numerous debates. It has become mostly accepted by now the locality is “produced” socially and culturally, often in contexts of heightened mobility of different scales, and of transgression of boundaries, which were already noted to be central to translocal perspectives on localities.” (9).

Diese Erkenntnis ändert wenig daran, dass die Attraktivität des ‘Lokalen’ ungebrochen hoch ist. “Für uns ist vor allem eine lokale Perspektive interessant”, wurde mir mehrfach gesagt, als ich zu Beginn meiner Arbeit erste Gespräche führte. Oder: “Das lässt sich doch gut einander gegenüberstellen: die lokale und die globale Perspektive auf den Wald.” Und ich kann nicht leugnen, dass auch ich implizit davon ausging, durch die Einbeziehung der ‘lokalen’ Akteure eine Perspektive einbringen zu können, die kritischer, authentischer, ja, irgendwie anders als die westlich-globalisierte war.
Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die so begonnen haben – und deren Ergebnis dann unter anderem war, dass das lokale viel weniger lokal war als zunächst angenommen. Aber auch wenn das ‘Lokale’ im Laufe der Arbeit dann de-konstruiert wird, stellt sich, gerade zu Beginn einer Arbeit die Frage, wie man diese Dichotomie auch konzeptionell umgehen kann. Wenn das ‘Lokale’ problematisch ist, wenn das Lokale immer auch globalisiert ist, was setzt man ihnen entgegen, den vereinheitlichten und vereinheitlichenden Diskurse und Praktiken einer hergestellten Globalität? Wie kann man es bezeichnen und definieren? Oder welche Pespektive lässt sich einnehmen, die diese Dichotomien umgeht oder gar überwindet?

Zitierte LIteratur:

Appadurai, Arjun (1996): Modernity at large. Cultural dimensions of globalization. Minneapolis, Minn: University of Minnesota Press (Public worlds, v. 1).

Harris, Leila M.: Salts, Soils and (Un)Sustainibilites? Analyzing Narratives of Environmental Change in Southeastern Turkey. In: Davis, Diana K.; Burke, Edmund (Hg.) (2013): Environmental imaginaries of the middle east and north africa. Athens: Ohio University Press, S. 192-218.

Gupta, Akhil; Ferguson, James (1997): Anthropological locations. Boundaries and grounds of a field science. Berkeley: University of California Press.

Freitag, Ulrike; Oppen, Achim von (2010): Introduction “Translocality”. An approach to connection and transfer in area studies. In: Ulrike Freitag und Achim von Oppen (Hg.): Translocality. The study of globalising processes from a southern perspective. Leiden [The Netherlands], Boston: BRILL (Studies in global social history, v. 4), S. 1–21.

Quelle: http://gclf.hypotheses.org/48

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Workshop zu korpuslinguistischen Methoden am 7./8. Oktober in Berlin

Die Forschung mit korpuslinguistischen Methoden innerhalb geisteswissenschaftlicher Disziplinen stellt neben der Erstellung der Ressourcen auch Aufgaben hinsichtlich der Datenverarbeitung und Konvertierung, deren Analyse, Speicherung und des Zugriffs.

Das LAUDATIO-Projekt gibt zu diesen Themen einen Workshop vom 07.10.-08.10.2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin ausgerichtet vom Computer- und Medienservice und dem Lehrstuhl für Korpuslinguistik und Morphologie. Der Workshop richtet sich an Anwender und Entwickler von korpuslinguistischen Methoden, Werkzeugen und Software. Wir stellen u.a. das LAUDATIO-Repository, das Such- und Visualisierungstool ANNIS und das Konverter-Framework SaltNPepper vor.

Der Workshop ist auf 45 Teilnehmer begrenzt und ist anmeldepflichtig. Für die Pausenverpflegung erheben wir eine kleine Teilnehmergebühr von 16,33 €.

Alle Informationen zum Workshop und zur Registrierung finden Sie auf

http://www.laudatio-repository.org/laudatio/workshop-2014/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4033

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Herzogenburg: Von Editionen und Nachlässen

Eine kuriose Geschichte hat sich vor kurzem im Archiv des Augustiner Chorherrenstiftes Herzogenburg im unteren Traisental zugetragen: Im Vorjahr erschien in der Reihe der Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung die Edition der Kalendernotizen des Propstes Hieronymus Übelbacher (1710–1740), der maßgeblich für die Barockisierung des Stifts Dürnstein in der Wachau verantwortlich war. Die Publikation wurde herausgegeben und kommentiert von Helga Penz, die nicht nur Leiterin des Referats für die Kulturgüter der Orden sondern auch Archivarin im Stift Herzogenburg ist, wo sich heute das Archiv des aufgehobenen Stifts Dürnstein befindet. Die Präsentation der Edition im Oktober 2013 hatte in Dürnstein in festlichem Rahmen stattgefunden.

Dürnstein Editionspräsentation

Präsentation der Edition im Oktober 2013 im Stift Dürnstein

Einer der Schreibkalender des Propstes Hieronymus war jahrzehntelang verschollen und stand deshalb für die Edition nicht zur Verfügung. Nun aber – nicht einmal ein Jahr nach Erscheinen derselben – ist dieser verloren geglaubte Band in einem Nachlass aufgetaucht und an das Stift Herzogenburg zurückgegeben worden. Ein entsprechender Bericht findet sich auf der Facebook-Seite des Klosters.

Herzogenburg Übelbacher

Es bleibt zu hoffen, dass die Edition in irgendeiner Form einen Nachtrag erhalten wird können – zumal möglicherweise durch das nun wiedergefundene Diarium neue Erkenntnisse über das theologische Programm des Dürnsteiner Kirchturms gewonnen werden könnten.

Quelle: http://schotten.hypotheses.org/392

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