China im Kartenbild: Exacta et accurata delineatio (1595)

Jan Huygen van Linschoten (1563-1611) hatte in seiner Zeit als Sekretär des João Vicente da Fonseca (um 1530-c.1530 -1587), des Erzbischofs von Goa, auch Zugang zu Kartenmaterial und Informationen über die portugiesischen Handelswege in Asien. Nach seiner Rückkehr nach Europa verkaufte er die Informationen dem Amsterdamer verleger Cornelis Claesz, der sie 1596 unter dem Titel  Itinerario: Voyage ofte schipvaert van Jan Huyghen van Linschoten naar Oost ofte Portugaels Indien … 1579-1592[1] veröffentlichte. Das Werk, das einen wesentlichen Beitrag zur kolonialen Expansion der Niederlande in Asien bildete,, war reich illustriert.

Eine der Karten, die für Jan Huygen van Linschotens Itinerario  angefertigt wurde, war ein Blatt, das Südostasien, einen Teil Chinas, Japan und Korea zeigt – und bald auch separat verkauft wurde.

Diese Exacta et accurata delineatio[2] zeigt – wie der Titel sagt – die Küsten Chinas und Südostasiens, Teile des Malaischen Archipels sowie Japan Korea.

Die geostete Karte zeigt von China die Provinzen

  • “Nanqvii” (Nanjing 南京)
  • “Cheqviam” (Zhejiang 浙江)
  • “Foqviem” (Fujian 福建)
  • “Cantam” (Guangdong 廣東)
  • “Qvancii” (Guangxi 廣西)
  • “Qvichev” (Guizhou 貴州)
  • “Ivnna” (Yunnan 雲南)
  • “Svchvan” (Sichuan 四川)
  • “Honao” (Henan 河南)

Die Küstenlinien im Süden sind detailliert ausgestaltet, je weiter nördlich man kommt, umso unklarer wird das Bild. Im Landesinneren sind nur wenige Punkte namentlich bezeichnet (meist mit portugiesischen Namen) und nur bei ganz wenigen finden sich zusätzliche Anmerkungen, wie z.B. bei der Stadt Guangzhou 廣州, wo es heißt: “Cantaõ. Jesuitar[um] Ecclesiæ” oder bei der Stadt Nanjing, wo Varianten angegeben werden: “Nanquin ali: Nanchin”.

Im Bereich der Provinz “Qvichv” sind ein Elefant und ein Kamel eingefügt, in “Ivnna” ein Rhinozeros und in “Qvancii” eine Giraffe.

Bemerkenswert erscheint, dass Macao [Aomen 澳門] auf der ‘falschen’ Seite der Mündung des Zhujiang 珠江 (der in der Karte als “Rio de Cantaon” bezeichet wird) eingezeichnet ist – und das auf einer Karte, die auf portugiesischen Quellen beruht.

Der Novus Atlas Sinensis des Martino Martini SJ (1614-1661)  brachte um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erstmals ein genaueres (Karten-)Bild von China nach Europa. Das Werk, das als Meilenstein gilt, zeigt das China der späten Ming-/frühen Qing-Zeit. Die Karten in diesem Atlas prägten  die Vorstellungen der Europäer von dem Reich am anderen Ende der eurasischen Landmasse.[3]

 Blaeu/Martini/Goius Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: [Amsterdam], [1655]

Blaeu, Willem Janszoon; Blaeu, Joan ; Blaeu, Joan [Hrsg.]; Martini, Martino [Hrsg.]; Golius, Jacobus [Hrsg.]: Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: Mit schönen newen außführlichen Land-Taffeln in Kupffer gestochen, vnd an den Tag gegeben: Novus Atlas Sinensis Das ist ausfuhrliche Beschreibung des grossen Reichs Sina [Amsterdam], [1655]
Quelle: UB Heidelberg

Diese Übersichtskarte[4], die den Beginn der ‘modernen’ China-Karten bildet, steht zugleich am Ende einer langen Reihe von Chinakarten, die mit dem heute geläufigen Bild von China wenig gemein haben: ungewohnte Projektionen, Verzerrungen, ‘merkwürdige’ Namen etc.

China im Kartenbild vor 1655 betrachtet kartographische Darstellungen von China und notiert Beobachtungen zum aus diesen Darstellungen ablesbaren Chinabild. Dabei geht es ausdrücklich nicht um kartographiegeschichtliche Fragen oder technische Fragen zur Erstellung und Herstellung der Karten, sondern um das in den Karten abgebildete Wissen um China: um Namen für das Land, für Teile des Landes (Provinzen, Städte, Flüsse, Seen, Gebirgszüge etc.) und um die Grenzen. Berücksichtigt werden dabei sowohl Karten, die quasi als Illustration anderen Werken beigegeben sind, als auch Einzelkarten.

 

  1. Linschoten, Jan Huygen van: Itinerario: Voyage ofte Schipvaert, van Ian Hughen van Linschoten naer Oost ofte Portugaels Indien, inhoudende een corte beschryvinge der selver Landen ende Zeecusten… Beschryvinghe van de gansche Custe van Guinea, Manicongo, Angola, Monomotapa, ende tegen over de Cabo de S. Augustiin in Brasilien, de eyghenschappen des gheheelen Oceanische Zees; midtsgaders harer Eylanden, als daer zijn S. Thome S. Helena, ‘t Eyland Ascencion… Reys gheschrift vande Navigatien der Portugaloysers in Orienten… uyt die Portugaloyseche ende Spaensche in onse ghemeene Nederlandtsche tale ghetranslateert ende overgheset, door Ian Huyghen van Linschoten. (Amstelredam : Cornelis Claesz, 1596) – Digitalisate (auch zu diversen Übersetzungen) → Bibliotheca Sinica 2.0.
  2. Exacta et accurata delineatio cum orarum maritimarum tum etiam locotum terrestrium quae in regionibus China, Cauchinchina, Camboja sive Champa, Syao, Malacca, Arracan et Pegu, una cum omnium vicinarum insularum descriptione, ut sunt Sumatra, Java utraque, Timora, Moluccae, Philippinae, Luconia et de Lequeos, nec non insulae Japan et Corea… / Henricus F. ab Langren, sculpsit a° 1595 ; Arnoldus F. a Langren, delineavit ([La Haye]: apud A. Elsevirum 1599). Digitalisate (u.a.): gallica, SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, UCM Biblioteca Complutense.
  3. Der Text, der diese Karten ergänzt, wird – abgesehen von den ewig gleichen Verweisen auf die ‘erste’ Erwähnung von X, Y und Z – von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt.
  4. Das verlinkte Digitalisat der UB Heidelberg gehört zu den eher schlichter ausgestatteten – manche (wie etwa das Exemplar der Universitätsbibliothek Wien wirken als wären die Grenzen mit Textmarkern in Neongelb, Neongrün/blau und Neonpink) gezogen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1546

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Herbert List als Industriefotograf

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Als Industriefotograf ist uns Herbert List (1903-1975) praktisch nicht geläufig. Wir kennen seine hervorragenden Porträtfotografien, so von den Malern Chagall, Braque, Miró und Picasso, seine journalistischen und künstlerischen Arbeiten wie „Licht über Hellas“ und viele Aufnahmen für die Bildagentur „Magnum“.

Industrieaufträge im engeren Sinne sind nur für die Phoenix-Gummiwerke in Hamburg und die August Thyssen-Hütte (ATH) nachgewiesen. In vier Kampagnen hat List 1954 bis 1959 in Duisburg-Hamborn dieses Werk fotografiert. Jetzt hat das ThyssenKrupp Konzernarchiv diesen exzeptionellen Fundus wiederentdeckt und zeigt ihn bis 31. Juli 2014 in einer Ausstellung im Foyer der Hauptverwaltung von ThyssenKrupp Steel Europe in Duisburg.

Im Werkverzeichnis Lists sind die Duisburger Kampagnen nur am Rande erwähnt.[1] Eigentlich sollte der Fotograf und enge Freund Lists, Max Scheler (1928-2003), den Auftrag bekommen. Obwohl dieser 1953 schon einige Aufnahmen gemacht hatte und sich mit der Leitung der Öffentlichkeitsarbeit bei Thyssen prinzipiell einig war, musste Scheler wegen eines anderen Auftrags absagen. Herbert List sprang kurzfristig ein.

In den Jahren 1954 bis 1959 verbrachte Herbert List jeweils zwischen zwei bis drei Wochen auf der August Thyssen-Hütte. Das Unternehmen hatte dabei klare Vorstellungen von den Bildinhalten: List sollte das Werk, das in den 1930er-Jahren eines der modernsten in Europa gewesen, im Krieg schwer beschädigt und 1953 neu begründet worden war,[2] in seiner Leistungsfähigkeit dokumentieren und die neu entstehenden Ofenanlagen und die verschiedenen Fertigungsstraßen fotografieren. Gewünscht waren Außenaufnahmen, die Dokumentation der aktuellen Baumaßnahmen bzw. Anlagen und die Präsentation der Fertigungsprozesse. Erst die beiden letzten Serien richteten den Fokus auch auf den arbeitenden Stahlwerker.

Blasender Konverter im Thomas-Stahlwerk, März 1954, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Blasender Konverter im Thomas-Stahlwerk, März 1954, Fotograf: Herbert
List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Das Unternehmen wollte dabei frei über die Aufnahmen verfügen und für seine Zwecke nutzen. Daher kaufte es Positive wie Negative an. Die Aufnahmen Lists fanden letztlich Eingang in Werbebroschüren, Messepräsentationen, Geschäftsberichte, repräsentative Fotoalben für Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder und in die interne und externe Öffentlichkeitsarbeit; große Abzüge wurden auf Hauptversammlungen gezeigt. Einige List-Bilder zierten die Büros von Vorständen des Unternehmens. Auch bei der Weltausstellung in Brüssel 1958 griff Thyssen bei seiner Ausstellung im Deutschen Pavillon auf Fotografien Lists zurück.

Im ThyssenKrupp Konzernarchiv sind 255 Schwarz-Weiß-Aufnahmen Lists, 248 Negative und 15 Farbabzüge überliefert. Angekauft wurden aber deutlich mehr Fotografien. Vermutlich gingen rund 20 Prozent der Schwarz-Weiß- und wohl rund 80 Prozent der Farbaufnahmen verloren. In einer Parallelüberlieferung, im Nachlass Lists im Münchner Fotomuseum, sind nur Kontaktabzüge vorhanden.

Was den Bestand besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass im ThyssenKrupp Konzernarchiv zu dem Auftrag Lists ein breiter Schriftwechsel vorliegt,[3] der für die Kontextualisierung der Kampagnen enorm wichtig ist. Aus ihm lassen sich viele Details ablesen, z.B. über die Vorbereitungen für die Aufnahmen, ihre Bewertung durch den Thyssen-Konzern, ihre Verwendung und finanzielle Honorierung.

Und die Fotografien? Sie sind – entsprechend der Zeit und den Intentionen des Auftraggebers – optimistische Aufnahmen aus den bundesdeutschen Wiederaufbaujahren. Aus den Trümmern des zerstörten alten Werksgeländes erwachsen neue, moderne Industrieanlagen gigantischen Umfangs mit den klassischen Bildmotiven der Stahlindustrie: Außenaufnahmen der August Thyssen-Hütte, blasende Konverter, Hochofenabstich, Rohstahl auf dem Weg vom Ofen zur Blockbramme, fröhliche Auszubildende sowie kompetent und zuverlässig arbeitende Stahlwerker. Wer sich die Industriefotografien genauer ansieht, wird feststellen, dass List sich in der Bildregie treu bleibt. Zwar ist es nicht immer das Spiel mit dem Licht, das er so gekonnt in dem Hellas-Buch inszeniert hat. List führt aber den Betrachter oft direkt in das Bild hinein. Dazu benutzt er Eisenbahnschienen, gestikulierende Arbeiter oder Krananlagen. Mein Lieblingsbild: Der Schmelzer Heinrich Kirschner, 1955.

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955,
Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen. Er beschreibt in mehreren Aufsätzen Herbert List, sein Werk und seine Hamborner Aufnahmen. Eine Reihe von Fotografien zur August Thyssen-Hütte ist im Katalog seitenfüllend abgebildet. Die Dokumentation der weiteren Schwarz-Weiß-Fotografien ist allerdings nur in einem Kleinstformat abgedruckt.

Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau
4. April – 31. Juli 2014
ThyssenKrupp Steel Europe AG
Foyer der Hauptverwaltung
Kaiser-Wilhelm Straße 100
47166 Duisburg
[Von Dezember 2014 bis April 2015 im LWL-Industriemuseum Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur in Hattingen.]

Ausstellungskatalog
LWL-Industriemuseum/Robert Laube/Manfred Rasch (Hrsg.), Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau, 190 Seiten, zahlr. teils farb. Abb., Hardcover, 19,95 €, Klartext Verlag Essen 2014, ISBN: 978-3-8375-1148-2

 


[1] Max Scheler/Matthias Harder (Hrsg.), Herbert List. Die Monographie, München 2000, S. 309.

[2] Vgl. Astrid Dörnemann, „Wesentlich scheint mir auch bei Industriephotos die Wiedergabe der Atmosphäre und der Bewegung.“ Herbert List und die August Thyssen-Hütte, in: LWL-Industriemuseum/Manfred Rasch/Robert Laube (Hrsg.), Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau, Essen 2014, S. 27-50, hier S. 29.

[3] ThyssenKrupp Konzernarchiv, A/45654; vgl. den Beitrag von Dörnemann (Anm. 2).

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/06/23/herbert-list-als-industriefotograf/

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Datenbank der in der NS-Zeit verbannten und verbotenen Autoren und Bücher

In der Auftaktveranstaltung von Coding da Vinci wurde auch die Datenbank der vom NS-Regime verbannten und verbotenen Bücher — im NS-Jargon ›Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums‹ — vorgestellt. Man kann diese Liste frei herunterladen, als strukturierte Datenbank (im mittlerweile recht gebräuchlichen JSON-Format). Das mag etwas gewöhnungsbedürftig sein, ist aber angemessen, lassen sich doch maschinenlesbar strukturierte Daten gut analysieren und weiterverarbeiten.

NS-Liste verbotener Bücher (DARIAH-DE Geo-Browser)

Erscheinungsorte der durch die NS-Liste(n) verbotenen Bücher im Zeitverlauf (DARIAH-DE Geo-Browser)

Die Liste enthält beinahe 6.000 Einträge (5885). Mehr als tausend der Bücher waren in Berlin erschienen (1071). Die frühesten Bücher, kaum zu glauben, stammen aus den 1840er Jahren (1843). Ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen waren also diese Texte für bürgerliche Freiheit und Frauenemanzipation, gegen Zensur, wieder ›gefährlich‹ geworden. Das letzte Buch wurde noch im Jahr 1944 verboten.

Zum Datensatz gibt es einen online recherchierbaren Katalog sowie Hintergrundinformationen zu den NS-Listen.  Lizenz (CC-BY) und  Datenbankschema klärt die Metadatenseite. Im Web findet sich übrigens auch noch eine weitere Fassung als Allegro-Datenbank, und es lohnt sich, den informativen Wikipedia-Artikel Liste verbotener Autoren während der Zeit des Nationalsozialismus zu Rate zu ziehen.

"Sämtliche Schriften"  verboten

Datensatz zu Salomo Friedlaender: »Sämtliche Schriften« von »Mynona« verboten

Werfen wir einen Blick in die Datenbank: ein durchaus typischer Datensatz, hier zu Salomo Friedlaender, ist nebenstehend abgebildet (JSON wurde hier mittels BaseX nach XML konvertiert). Alles, was Salomo Friedlaender je verfasst hatte — nun war es verboten. (Friedlaender war übrigens bekannter unter seinem Pseudonym »Mynona« — was sich auch auch rückwärts lesen lässt. Er war wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen oft Gast im Essener Rabbinerhaus, heute Standort des Steinheim-Instituts, und eine »Groteske« von ihm, Jakob Hankes Erlösung findet sich in Kalonymos online als PDF).

Beinahe 1000 Einträge enthalten dieses pauschale Verbot, das in hohem Maß jüdische Autoren traf: »sämtliche Schriften« heißt es auch bei Arnold und Stefan1 Zweig. Autoren wie Ferdinand Lassale, Karl Marx, Karl Liebknecht oder die Schriftstellerfamilie »Mann« traf das Verdikt »Sämtliche Schriften von und über …« Auch die Erinnerung an Rosa Luxemburg, sie wurde 1919 ermordet, suchte man so völlig auszuradieren. Und wenn die Bücher nur ein Vorwort eines verbannten Autors enthielten, wurden sie aus dem Verkehr gezogen. Ebenso pauschal konnte die »Gesamtproduktion« eines Verlages betroffen sein, oder etwa die »Forum-Bücher« der Exilverlage.

Das bedeutet natürlich auch, dass ein Großteil der betroffenen Bücher in der Liste gar nicht explizit genannt wird — spurlos verdrängt. Bezogen auf die einzelnen Buchtitel sieht man hier tatsächlich also nur die »Spitze des Eisbergs«. Gerade diese Unübersichtlichkeit und Heterogenität der Daten ist eine Herausforderung, verlangt nach einer »Statistik der Abwesenden«, wie es Heinrich Silbergleit in einem anderen Zusammenhang formulierte.

Was an Schrifttum ist durch die NS-Verfolgung bis heute untergegangen ? Sind Titel in OPACs nachgewiesen oder gar als Digitalisate verfügbar ? Lassen sich die gerissenen Lücken sichtbar machen ? Kann man eine Übersicht über die Gesamtheit dieser Werke, durch Verknüpfung mit anderen Datenbanken, herstellen ? (Wie) lässt sich das Ausmaß erfassen, begreifbar machen, vielleicht visualisieren ? Sind die Regale je wieder aufgefüllt worden ? Neuausgaben erschienen ? Oder sind die Autoren doch meist vergessen ? Was war ihr Schicksal ? Solche und andere Fragen wurden lebhaft diskutiert bei der Präsentation der Datenbank. Das rege Interesse sieht man an den Aktivitäten im sogenannten Hackdash von Coding da Vinci und auf die Ergebnisse des »Hackathons« darf man gespannt sein. @LebendigeListe ist eines der Projekte — ihr kann man schon jetzt auf Twitter folgen.

Bibliografische Daten sind Forschungsdaten! Importiert man die Liste in den DARIAH-DE Geo-Browser (die »Spitze des Eisbergs« erinnernd), lassen sich die ca. 4500 Datensätze erstaunlich leicht überblicken, erkennt man auf einen Blick den zeitlichen Schwerpunkt: ein Großteil der Verbote betrifft Literatur, die in den 1930er Jahren erschienen war. Vor 1918 sind Bücher in deutlich geringerer Zahl betroffen, mit Beginn der Weimarer Republik steigen die Zahlen an. Ebenso klar erkennbar ist, dass oppositionelle Literatur zunehmend weiter auf Deutsch, aber im Ausland erschien, insbesondere auch in der Schweiz. Und damit einhergehend wird natürlich auch die radikal verlaufende ›Gleichschaltung‹ in Deutschland grafisch sichtbar. Zusammenhänge, die man kennt, die aber durch  die interaktive Analyse und Visualisierung  erheblich an Präsenz gewinnen. Um so mehr würde es Sinn machen, das umfangreiche Schrifttum, das von den Pauschalverboten betroffen war, auch in eine solche Datenbank zu integrieren und dadurch sichtbar zu machen.

 

  1. In der Liste falsch »Stephan«

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/296

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Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 1


Von Stefan Sasse

Romulus und Remus werden von der Wölfin gesäugt
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto weniger können wir auf das zurückgreifen, was Historiker die "Multiperspektivität von Quellen" nennen. Das heißt, wir haben weniger Quellen - Schriftstücke, Statuen, Bilder - die aus verschiedenen Perspektiven geschrieben wurden. Besonders auffällig ist dies bei der römischen Geschichte, für die wir in weiten Strecken auf römische Quellen angewiesen sind. Was auf den ersten Blick logisch erscheinen mag stellt den Historiker jedoch schnell vor Probleme. In einem Zeitalter ohne freie Meinungsäußerung und publizierte Öffentlichkeit sind viele Geschichtsschreibungen entweder reine Geschichten zur Unterhaltung oder Propagandastücke. Oder beides. Die Sagen und Legenden von ohnedem wörtlich zu nehmen ist daher ein sicherer Weg, der Selbstdarstellung der Römer auf den Leim zu gehen oder ihre Absichten misszuverstehen. 

So ist eine unserer besten Quellen zur frühen römischen Geschichte Livius, der in seiner Reihe "Ab Urbe Condita" die römische Geschichte niederschrieb. Nur lebte Livius 59 v. Chr. bis 17 n. Chr. und konnte seinerseits nur auf Geschichten und Legenden zurückgreifen und diese wiedergeben. Zudem musste er aufpassen, nicht den Kaiser zu verärgern, der ein scharfes Auge für Public Relations hatte. Seine Berichte sind daher mit großer Vorsicht zu genießen. Auch Polybios' Darstellungen der Punischen Kriege sind nicht gerade unparteiisch - er war immerhin ein enger Freund Scipio Africanus des Jüngeren, der Karthago dem Erdboden gleichmachte. Doch selbst die Römer wussten über ihre Frühzeit praktisch nichts. Sie verlor sich bereits für sie in Legenden, deren Wahrheitsgehalt sie anzweifelten (kaum ein gebildeter Römer glaubte wirklich, eine Wölfin habe Romulus und Remus gesäugt). 

Entdeckung von Romulus und Remus
In den Legenden, die sie von der römischen Königszeit übertragen haben, können wir jedoch einige interessante Erkenntnisse vergraben finden. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die Legenden beiseite zu schieben und hinter den sagenhaften römischen Königen zu erkennen, warum diese Geschichten erzählt wurden und welche Wahrheit sich dahinter verbergen könnte. Die Legenden selbst sollen im Folgenden in Kürze wiedergegeben werden, bevor sie einer ausführlicheren Dekonstruktion unterzogen werden.

Der erste römische König war der Stammvater Roms: Romulus, einer von zwei Zwillingen, die ihre Herkunft auf Aeneas zurückführen konnten (einen Troja-Flüchtling) und deren Vater angeblich Mars persönlich war, der ihre Mutter vergewaltigt hatte. Die Kinder wurden auf dem Tiber ausgesetzt, überlebten aber und wurden von einer Wölfin gesäugt, ehe ein Hirte sie aufzog. Sie erfuhren später von ihrer Herkunft, befreiten einen von bösen Mächten gefangen gehaltenen König Alba Longas und durften zum Dank Land am Tiber besiedeln, wo sie eine Stadt gründeten. In einem Streit über die Stadtmauern erschlug Romulus im Zorn seinen Bruder Remus. Romulus füllte seine neue, kleine Stadt mit dem Abschaum der näheren Umgebung, indem er jedem einen neuen Anfang versprach. Unter diesen Elementen befanden sich wenig Frauen, und die umgebenden Gemeinschaften wollten ihre Töchter nicht mit den Römern verheiraten. 

Raub der Sabinerinnen
Romulus griff daraufhin zu einer List, indem er zu einem gewaltigen Fest einlud. Auf diesem Fest entführten die Römer die Frauen des benachbarten Sabinerstamms und machten sich mit ihnen davon. Der folgende Krieg zwischen Römern und Sabinern wurde dadurch beendet, dass sich die Sabinerinnen zwischen die Kämpfenden warfen und baten, bei den Römern bleiben zu dürfen, weil sie nicht wollten, dass ihre Verwandten starben (Brüder und Väter bei den Sabinern, Männer und Kinder bei den Römern). Sabiner und Römer vereinten sich daraufhin zu einer Doppelherrschaft von Romulus und Sabinerkönig Titus Tatius, die Romulus nach Titus' Tod jedoch an sich riss. Romulus regierte für insgesamt 38 Jahre, die voller Krieg und Kampf gegen die umliegenden Stämme waren, bei denen sich die Römer holten, was sie brauchten, ehe er von den Göttern auf einer Heerschau auf dem Marsfeld entrückt wurde. 

Romulus zeigt deutlich, dass die Römer bestrebt waren, eine heroische "Origin Story" auf die Beine zu stellen. So stammen sie nicht nur von den Trojanern ab, einer gewaltigen und mystifizierten Kultur (über Aenas, den Gründer Alba Longas) sondern auch von Mars persönlich, dem Kriegsgott, der die reinste mögliche Person als Mutter auswählte: eine Vestalin. Die unbefleckte Empfängnis ist also ebenfalls im Paket der römischen Gründungsgeschichte enthalten. Dazu kommt noch ein Hauch von ödipeischem Schicksal, natürlich ohne den Inzest, und Kampf gegen übermächtige Gewalten. Der Aufstieg Roms liegt also im Willen der Götter (Mars' Zeugungsakt), der Geschichte (Abkunft von Aeneas) und dem Charakter der Römer (bodenständige Kämpfer) begründet. Zumindest ist es das, was die Römer glauben wollten und als Gründungsgeschichte kolportierten.

Romulus kehrt siegreich aus dem Krieg zurück
Doch auch Romulus' tatsächliche Regierungszeit ist interessant. Sie ist zum einen mit 38 Jahren extrem lang. Diese Länge ist aus der Notwendigkeit gespeist, die Zeit von 753 v. Chr. und dem offiziellen Gründungsdatum der Republik (das mit Sicherheit auch falsch ist) von 510 v. Chr. mit nur sieben Königen zu füllen. Wir werden dem Phänomen bei den anderen Königen wieder begegnen. Romulus nun herrschte als ein Kriegerkönig. Seine Herrschaft ist wenig vergleichbar mit der mittelalterlicher Könige. So finden wir weder ein Lehenssystem noch eine Bindung seines Volks durch Schwüre. Stattdessen war es seine kriegerische Fähigkeit, die über allem stand, und die Römer führten viele unprovozierte Kriege.

Die Ehrlichkeit in diesem Teil des Gründungsmythos ist überraschend. Nicht nur sind Romulus und Remus uneheliche Kinder (wenngleich mit göttlichem Vater). Rom selbst ist auch eine Stadt des Abschaums der Region, die ihr Überleben nur durch einen Bruch des Gastrechts und Massenvergewaltigungen sichert. Dass die Römer eine solche Herkunftsgeschichte nicht als ehrabschneidend betrachteten, sondern sie stattdessen mit Stolz erzählten, spricht Bände über ihr Selbstverständnis. Doch ein Staat war Rom noch nicht. Vielmehr muss man es sich als ein großes Militärcamp vorstellen, das seinen Nachbarn ein ziemlich großer Dorn im Auge war und mit dem nicht verhandeln konnte, weil es offensichtlich keine Konventionen einhielt. Besonders kultiviert waren die Römer auch nicht. Das stieß ihren Nachkommen sauer auf, aber da Romulus nicht alle guten Taten vollbracht haben konnte, brauchte es einen weiteren mystischen Urvater: Numa Ompilius.

Porträt Numas
Der zweite römische König Numa Pompilia war ein Sabiner und lebte mit seiner Frau in aller Ruhe auf einem bescheidenen Landgut im Sabinerland. Sein Ruf war tadellos, denn nach Romulus' Entrückung beriefen ihn die Römer auf den Thron, eine Ehre und Pflicht, die er nicht wollte und ablehnte. Erst auf Drängen seiner Familie nahm er schließlich an. Als König schaffte er die Leibgarde ab, da nichts so sehr schützt wie die Liebe des eigenen Volkes, und legte den Streit zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen in Rom bei, indem er die bisherigen Stammesstrukturen auflöste und an ihre Stelle Stadtbezirke (paci) und Gilden setzte. Er förderte das Gewerbe, besonders aber die Landwirtschaft (bisher konnte Rom sich nicht ernähren und stellte nichts her, was die Plünderei zum einzigen regelmäßigen Erwerb machte). Die so gewalttätigen Römer wurden unter seiner Herrschaft pazifiziert. Nicht nur legten sie die Schwerter zugunsten der Pflugscharen beiseite. Sie wurden auch gottesfürchtig: Numa schuf die Priesterklasse, legte den Vestallinen das Keuschheitsgelübde auf und errichtete zahllose Tempel. Auch die Einteilung des Jahres in 12 Monate (die erst Cäsar verändern würde) geht auf ihn zurück. Während seiner Regierungszeit von sage und schreibe 46 Jahren wurde Rom nicht ein einziges Mal angegriffen - die Nachbarn hielten sich aus Respekt vor Numa zurück und riefen ihn umgekehrt häufig als Schiedsrichter bei ihren eigenen Streitigkeiten an. Als er starb, war die ganze Region in Trauer.

Mit Numa beginnt, was sich später als dauerhafte Tradition römischer Intellektueller erweisen sollte: die Glorifizierung der Vergangenheit. Die Gestalten sind titanisch, von reiner Gesinnung und überbordender Weisheit. Sie sind Verkörperungen des virtus, der unübersetzbaren römischen Tugend. So weist Numas Geschichte einige Züge auf, die die Römer in ihren Herrschern sehen wollten: das Pflichtbewusstsein und das Zögern der Annahme der Herrschaft. Nie sollte die Macht um ihrer selbst willen erstrebt werden, sondern stets als Ausdruck des Pflichtgefühls gegenüber dem Staat verstanden werden. So sind die römischen Könige auch nicht miteinander verwandt; sie werden als "beste Männer" berufen. Zahlreiche republikanische Politiker würden später vorgeben, diesem Ideal zu folgen, und selbst die Kaiser inszenierten sich zu Zeiten als selbstlose Diener des Staates. Seinen neuzeitlichen Ausdruck findet es dann etwa in Friedrich dem Großen, der ebenfalls gerne die Illusion aufrecht erhielt, bescheidener Staatsdiener Nummer 1 zu sein.

Ein Augur erklärt Numa zum König
Mindestens ebenso wichtig wie dieser Verhaltenskodex aber war die Berufung der Römer auf die Götter und das Einhalten von Schwüren, auf das Numa sie verpflichtete. Die Römer selbst sahen dies als den Akt ihrer Domestizierung: von den gewissenlosen Halsabschneidern der Romulus-Ära wurden sie nun, wenigstens im Umgang mit Ihresgleichen, zu Ehrenmännern. Die Ehre eines Römers hieß, seinen Schwüren Folge zu leisten. Da die Annahme der Grundlage des späteren römischen Rechtssystems - die Zwölf Tafeln - ebenfalls von religiöser Mystik begleitet war, kann dieses Fakt gar nicht hoch genug bewertet werden. Ohne die römische Ehrfurcht vor dem geleisteten Schwur wäre ihr Rechtssystem kaum möglich gewesen, hätte der Grundpfeiler ihrer Zivilisation keinen Bestand. Kein Wunder, dass sie ihn auf einen schier heiligen König zurückführten, der ihnen diese Segnungen überbrachte.

Der letzte Aspekt Numas - die Pazifizierung der Römer und ihre Umwandlung in eine Gesellschaft von Bauern - hatte offensichtlich keinen Bestand. Bereits unter Numas Nachfolger, Tullus Hostilius, werden die Römer wieder fleißig Kriege führen. Wichtig ist diese Episode vor allem für den zunehmenden Zivilisationsgrad der jungen Gemeinde: nicht nur wandelt sie sich langsam in den "melting pot", der sie auch später sein würde und in dem die zahlreichen italischen Volksstämme "Römer" wurden. Die Landwirtschaft behielt in der römischen Mentalität immer einen besonderen Stellenwert: der Patrizier von Rang besaß eine Farm in Italien, von der er seinen Lebensunterhalt bezog. Der Stand eines Bürgers bemaß sich am Landbesitz. Und der Ruf nach einer Rückkehr zu den Wurzeln (sprichwörtlich) war in der römischen politischen Kultur nie fehl am Platz. Wann immer es in der Hauptstadt turbulent und dekadent zuging, wandte man sich sehnsüchtig an die Agrargesellschaft "von einst", die so wohl nie bestanden hatte, aber ein steter Fixpunkt im öffentlichen Bewusstsein war.

Sie findet sich etwa auch bei Tacitus wieder, der ein komplettes Buch "Über die Landwirtschaft" verfasst hat, das sich weniger in konkreten Techniken ergötzt (obwohl auch diese natürlich eine Rolle spielen), sondern vielmehr die Bedeutung der Landwirtschaft für das römische Seelenleben unterstreichen. Die Soldaten der frühen römischen Legionen waren allesamt Bauern, die nach dem Feldzug auf ihre Scholle zurückkehrten. Nach der Heeresreform des Marius war das Ende der Dienstzeit eines Soldaten mit einem Stückchen Land verbunden, und die Veteranen verlangten natürlich nach Land in Italien - das gar nicht zur Verfügung stand, weil die Patrizier es in erträgliche Latifundien verwandelt hatten. Eine der größten Krisen der Republik, der Aufstieg und Fall der Gebrüder Gracchus, wurde über die populistische Forderung einer Aufteilung des Landes unter die Armen vom Zaun gebrochen. Es verwundert daher nicht, dass spätere Generationen diese Fixierung auf die Landwirtschaft in der Mystik der römischen Frühgeschichte suchen würden - auch wenn dies der Erfindung eines weisen Friedensfürsten bedurfte, der den Namen Numa Pompeius trug.

Buchhinweise:
Klaus Bringmann - Römische Geschichte - Von den Anfängen bis zur Spätantike
Alfred Heuss - Römische Geschichte
Simon Baker - Rom - Aufstieg und Untergang einer Weltmacht
Martin Jehne - Die römische Republik - Von der Gründung bis Caesar
Guy de la Bedoyere - Die Römer für Dummies

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/06/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Gesellschaftliche Innovationen: Wissenstransfer Universität – Gesellschaft

Wissenschaft hat strenge Regeln und die unterscheiden sich auch noch von Disziplin zu Disziplin. Zumeist werden die Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlicht und diskutiert. Ob und wie sie im konkreten gesellschaftlichen Umfeld realisiert werden, welchen Einfluss sie auf Entwicklung und Veränderung haben – das zeigt sich in den meisten Fällen nur in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Anwendungen. Gentechnik und Nanotechnologie, Elektromobilität oder Laseranwendungen – das sind Themenfelder, die z.T. als Fortschritt bejubelt, z.T. aber auch verteufelt und bekämpft werden.

Was aber ist mit sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung? Wie finden deren Ergebnisse ihren Weg in die Gesellschaft? Kann man von “sozialen Innovationen” sprechen? Ist solch ein Wandel wissenschaftlich induziert oder untersucht umgekehrt die Wissenschaft Ursachen, Hintergründe und Folgen von sozialen Veränderungen?

In der LMU werden diese und andere Fragen am 14. und 15. Juli diskutiert. Nicht nur interessante Vorträge und Präsentationen, auch Workshops werden angeboten und erlauben es, die eigenen Fragen und Überzeugungen im kleineren Kreise einzubringen.

 

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/177

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Eine Blase ist geplatzt: Der Aufruhr von 2011 (Teil 1) von Carlos Resmerk

Der Artikel blickt zurück auf die Geschehnisse des „Protestjahrs“ 2011, als spontane Mobilisierungen in ganz verschiedenen Ländern aufeinander folgten und die „Macht von unten“ für einen Moment mehr als ein schwer greifbares Schlagwort wurde. Die erstaunlichen Ähnlichkeiten in Dynamik, Ausdrucks- … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6798

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25. Fußball-Zeit oder Die Welt ist rund

Ins Innere des Rundenfußball

Seit Wochen schon ist der Blick fixiert auf die Kugel, in der Hoffnung, sie möge ihr Geheimnis preisgeben, sie möge Einsicht gewähren, in die Dinge, die da kommen werden, und sie möge Antwort geben auf die Frage, die alle umtreibt: Wer wird’s? Dummerweise ist die Kugel nicht aus Glas, auch nicht mehr aus Leder (selbst wenn sie etwas traditionsverbunden-metaphorisch immer noch so bezeichnet wird), sondern aus irgendeiner hochgezüchteten Kunststoffmischung, zu deren Entwicklung wahrscheinlich Summen aufgewendet wurden, für die man mancherorts ganze staatliche Sozialversorgungssysteme aufpäppeln könnte. Die Welt starrt auf den Fußball und versucht das Unmögliche, nämlich in die Zukunft zu blicken, um heute schon zu wissen, was morgen passieren wird und welche Mannschaft in einigen Wochen den Pokal in die Höhe heben darf. (Nur nebenbei: Warum ist es eigentlich nicht möglich, einmal einen ästhetisch ansprechenden Pokal zu entwerfen? Warum immer diese hässlichen Dinger? Die Fußball-WM-Statue ist noch nicht einmal das Schlimmste: Man sehe sich nur einmal den Pokal der Handball-Champions-League an. Sieht aus wie die Resteverwertung einer Zombie-Amputation.)

Eine nicht ganz unwesentliche Schwierigkeit besteht ja darin, dass hier etwas recht Einfaches und etwas recht Kompliziertes aufeinandertreffen. Während die Regeln des Fußballspiels im Prinzip noch einigermaßen überschaubar sind, macht der hohe Kontingenzfaktor (Physis und Psyche der Spieler, Taktik, Schiedsrichter, Publikum, Wetter …) schon die Prognose eines jeden Spiels zu einer unsicheren Angelegenheit, von der Vorhersage eines ganzen Turniers ganz zu schweigen. Da aber in allen Medien wesentlich mehr Zeit dafür aufgewendet wird, über den Fußball zu reden und zu schreiben als ihn tatsächlich spielen zu lassen, ergeht sich derzeit die halbe Welt in Prognosen, Spekulationen und Prophezeiungen. Da alle wesentlichen Erkenntnisse zum Fußballspiel bereits vom ehemaligen Reichs- beziehungsweise Bundestrainer Sepp Herberger formuliert worden sind, kann man sich seither entweder in hochspezialisierten Diskussionen oder in der Reproduktion von Leerformeln ergehen.

Die Dauer des Spiels

Nun verrät die Art und Weise, wie im Fußball mit Zeit umgegangen wird, einiges über das allgemeine kulturelle Verständnis von Zeit. Wie wird mit Hoffnungen und Ängsten, mit harten Fakten und vagen Vermutungen in einer Umgebung umgegangen, bei der die Anzahl der gesellschaftlichen Spielregeln sich noch einigermaßen überschauen lässt, bei der die soziale Praxis aber so viele Variationsmöglichkeiten bietet, dass der Verlauf hinreichend unsicher und damit hinreichend spannend bleibt? Beim Fußball und insbesondere bei der von einem mafiösen Männerbund organisierten Fußballweltmeisterschaft kann man Kulturen wie in einer Laborsituation dabei zusehen, wie sie sich temporal zu organisieren versuchen – und wie vielfältig die zur Verfügung stehenden Temporalitäten sind.

Das Prognostizieren wird unversehens zu einem Massenphänomen. Millionen von Menschen versuchen sich in der Vorhersage eines ausschnitthaften Geschehens für die kommenden vier Wochen, Tippgemeinschaften schießen wie Pilze aus dem Boden, Geld wird in Wettbüros investiert. Wissenschaft und Technik stehen dabei nicht an der Seitenlinie, sondern formieren die Schaltzentale im Mittelfeld. Die Intuition, der die meisten Fußballfans folgen würden, nämlich die Qualität und die bisherigen Erfolge der Mannschaften unter die Lupe zu nehmen, wird hierbei weitestgehend systematisiert. Alle nur denkbaren Faktoren werden in mehr oder minder komplexe Software-Programme eingespeist: Fifa-Weltranglistenplatz, Spielerdaten, Marktwert des Teams, bisherige Spiele gegen die jeweiligen Gegner, undsoweiter undsofort. Auf dieser Basis kann man Hochleistungsrechner dann beispielsweise alle möglichen Spiele des Turniers einige tausend Mal durchexerzieren lassen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das die Kinder aus der Grundschule um die Ecke auch ohne diesen Aufwand schon kannten: dass nämlich entweder Brasilien oder Spanien oder Argentinien oder Deutschland Weltmeister wird. Oder auch nicht.

Hier feiert er also fröhliche Urständ, der alte Grundsatz der historia magistra vitae, wonach man aus der Lehren der Vergangenheit ohne Schaden klug werden kann, um in der Gegenwart das Richtige zu tun. Allerdings wird dieser Grundsatz zur Perfektion getrieben, weil es ja nicht nur um allgemeine Handlungsanweisungen geht, sondern um historische Gesetzmäßigkeiten. Auch wenn durch die Computersimulation nicht endgültige, sondern nur wahrscheinliche Sicherheiten prognostiziert werden, operiert dieses Vorgehen trotzdem nomothetisch. Man könnte also von vornherein nur diese vier Mannschaften zu einer dreitägigen Veranstaltung einladen, um unter ihnen den Titel ausspielen zu lassen. Aus irgendeinem Grund verzichtet die Fifa aber auf diese Variante …

Zugleich weiß jeder, dass solche Gesetzmäßigkeiten nichts wert sind. Denn wenn sie tatsächlich zuträfen, hätte Spanien beispielsweise nie irgendeinen Pokal gewinnen dürfen – weil sie über Jahrzehnte hinweg nie irgendetwas gewonnen haben, ergo in solchen Berechnungsmodellen auch nie auftauchten. Bis 2008. Und da kommt die zweite Form semi-rationaler/semi-magischer Zukunftsberechnungen – wortwörtlich – „ins Spiel“, nämlich die Banalstatistik, in der Fußballsprache auch „Serie“ genannt. Aus solchen Serien werden zumindest implizit gesetzmäßige Schlussfolgerungen für die Zukunft gezogen. Wenn ein Team 13-mal nicht verloren hat, bei sieben Turnieren hintereinander nie über das Achtelfinale hinausgekommen ist, immer als Favorit gehandelt wurde, aber nie geliefert hat, dann … Ja, was dann? Kann man irgendwelche Rückschlüsse daraus ziehen? Vielleicht diejenige, dass eine solche Serie und die damit einhergehende Regel genauso lange Gültigkeit besitzt, bis sie unterbrochen wird, damit eine andere Serie beginnen kann.

Der nächste Gegner

Auf einer noch wackligeren Datenbasis steht die Prognose, die man insbesondere in Deutschland immer wieder mal hören kann, dass man nämlich „jetzt mal wieder dran“ sei. Dahinter steht die angenommene Gesetzmäßigkeit, dass die deutsche Nationalmannschaft in einem gewissen Rhythmus einen internationalen Titel zu gewinnen habe und dass das nächste Intervall dieser Rhythmisierung nun schon überfällig sei. Damit verbinden sich nicht selten bestimmte Ideen von historischen Verlaufsmodellen, die sich im Prinzip nicht sehr von religiösen Geschichtsmodellierungen entfernt haben. Bestimmte Länder oder Städte wähnen „ihre“ Mannschaft beispielsweise auf einer göttlichen Mission, die unweigerlich im sportlichen Himmelreich enden müsse. Für die Anhänger des 1. FC Köln kann es beispielsweise immer nur nach oben gehen. Kaum ist der Aufstieg in die 1. Liga geschafft, wartet dort auch schon Meisterschale. Und selbst der nächste Abstieg wird unweigerlich als Zeichen gedeutet, dass es jetzt ja nur noch aufwärts gehen und der nächste Triumph nicht mehr fern sein könne. Fußballgeschichte als Heilsgeschichte – mit einem unweigerlich positiven Ausgang. Besonnene Gemüter (und gebürtige Düsseldorfer) müssen da zuweilen zur Ruhe mahnen. Das Gegenbeispiel wäre die portugiesische Nationalmannschaft, deren Auftreten regelmäßig mit dem Fado in Verbindung gebracht wird: schönes Spiel mit traurigem Ausgang. Portugal hat es sogar geschafft, mit einer hervorragenden Mannschaft im eigenen Land 2004 das Endspiel zu verlieren – gegen Griechenland! Und zwar nachdem man schon das Eröffnungsspiel verloren hat – gegen Griechenland! Wer wollte da noch am Wirken höherer Mächte zweifeln?

Niemand! Weshalb man am besten gleich versuchen sollte, sich auf die Seite dieser Mächte zu stellen. Denn mindestens ebenso populär und ernst genommen wie hochgezüchtete und hochtechnisierte Computerberechnungsmodelle sind die mehr oder minder magischen Formen der Zukunftsvorhersage. Zu internationalem Ruhm ist Krake Paul gelangt, der mit schlafwandlerischer Sicherheit die Spiele der Weltmeisterschaft 2010 „vorhergesagt“ hat – selbst wenn nüchterne Beobachter den Eindruck haben konnten, dass er einfach nur hungrig war. Inzwischen verfügt gefühlt jeder zweite Zoo beziehungsweise Tierbesitzer über ein Lebewesen mit entsprechenden seherischen Gaben. Elche, Gürteltiere, Pinguine, Möpse und, man höre und staune, sogar Kraken kommen allenthalben zum Einsatz. Das soll irgendwie witzig sein, auch wenn es gerade so komisch ist wie ein Scherz, der zum tausendsten Mal wiederholt wird. Selbst die Deutsche Bahn ist auf dieses Geschäftsmodell eingestiegen und preist irgendwelche Bahncards an, bei denen man den künftigen Weltmeister orakeln darf.

Auf welche überirdischen Mächte diese Orakel sich verlassen (vielleicht auf den Fußballgott?), ist in diesen semi-säkularisierten Zeiten nicht ganz sicher. Zumindest befleißigen sie sich anders als die Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht des Rückbezugs auf vergangene Zeiten. Der Ort der magischen Weisheit liegt im nebligen Irgendwo. Vielleicht auch nur in der Magengrube eines Tieres. Und selbst wenn man am Ende des Tages feststellen sollte, dass Magier und Rationalisten sowohl ein paar Treffer gelandet haben als auch mal wieder ganz ordentlich daneben lagen, dann bleiben vielleicht doch noch ein paar Einsichten zurück: dass wir uns aus Gründen der temporalen Orientierung irgendwie zu den ungreifbaren Zeiten namens Vergangenheit und Zukunft verhalten müssen; dass diese Formen der Verzeitung nicht nur variantenreich sind, sondern vor allem einigen Aufschluss über die verzeitenden Kulturen geben; und dass wir zwar nicht mehr aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können, dass wir aber auch nichts anderes haben als die Vergangenheit, von dem wir lernen können.

Und damit ist in puncto Weltmeisterschaft eigentlich mehr oder minder klar, was passieren wird. Einer der Favoriten wird Weltmeister. Oder einer der sogenannten Geheimfavoriten macht es, die so geheim sind, dass alle ihre Namen kennen. Es sei denn natürlich, die Kontingenz des Historischen schlägt mal wieder gnadenlos zu, und alles kommt anders als alle sich das vorher ausgedacht haben. Soll schon vorgekommen sein, siehe Griechenland gegen Portugal oder die dänische Europameisterschaft 1992. Aber auch dafür gibt es dann ja wieder historische Gesetzmäßigkeiten, die man anführen kann: Zufall! Unglaublich! Wahnsinn!


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/06/21/25-fusball-zeit-oder-die-welt-ist-rund/

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30. Nachtflug nach Lissabon

Scharl gesprochen, Charles geschrieben, ist der Name, der mir zweimal begegnete auf meiner kurzen Reise in das schöne Lissabon. Wer diesen Namen verliehen bekommt, der steht bereits a priori in einer Reihe mit den Großen Europas. Der Vater unseres mittelalterlich-westlichen Kontinents, der Große, trug ihn und auch der französische General und Präsident. Manch ein Karl oder Karol kickt in den Gassen Jenas oder Warschaus den Fußball zu ehren seiner Vorfahren und zur Hoffnung seiner Großtanten. Als die Benennung des Pariser Flughafens, in dem ich nun zweimal umsteigen musste, anstand, gab es deshalb keine andere Möglichkeit, als ihn Charles zu nennen, de Gaulle, mit Bezug zur eigenen Geschichte, Paris vorne dran. – Ich habe mir deshalb ein Hemd angezogen und Lederschuhe, um in der Stadt der Städte nicht negativ aufzufallen, nicht unhöflich zu sein gegenüber den Reisenden, die aus St. Tropez kommen und weiter nach Las Vegas und Moskau fliegen. Ich war vorbereitet auf Jetset und hatte mir bereits die philosophischen Argumente für Mäßigung und gegen Gewinn- und Luxussucht zurechtgelegt, als ich mit der Wahrheit konfrontiert wurde.

Anspruch und Wahrheit divergieren nämlich an diesem Ort so weit voneinander, dass ich mich wundere, ob Einsteins Relativitätstheorie hier nicht eher als soziale Theorie Anwendung finden sollte. Die Kategorie der Relation zum Beispiel wird soweit gedehnt, dass sie eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielen kann. Sie möchten z. B. eine Kleinigkeit essen, weil Sie noch lange auf Ihren Weiterflug warten müssen? Suchen Sie sich ruhig etwas aus. Egal was. Es wird Sie einen Phantasiepreis kosten und auf keinen Fall satt machen ggf. auch so trocken sein, dass Ihnen danach die Kehle brennt. Und klar. Wer so viel für plastikables Nichts zahlt, der ist so was vom im Trend, dass er seinen nachhaltigen Pappbecher auch direkt selbst nachhaltig an die Theke zurückbringen kann. Kosten-Nutzen 2.0. Aber stopp, denn freie Marktwirtschaft gibt es hier ja auch. Wenn Sie nämlich in den nächsten Laden gehen, können Sie gleich erkennen, wie die Konkurrenz um Kunden den Preis gesenkt hat – könnte man denken, wenn Sie nicht auch hier wieder einen Phantasiepreis vorfinden würden. Aber Sekunde mal, denn das Gute an diesem Konzept ist nicht nur, dass man sich immer noch als teuerste Stadt der Welt behaupten zu können glaubt, sondern auch, dass die Einnahmen zu Feenstaub und Regenbogenfarbe verpuffen. Jedenfalls gibt es auch hier keine Korrelation (wohlgemerkt -relation) zwischen diesen und der Ausstattung sowie dem Knowhow, das man antrifft. Gangway, um aus dem Flugzeug steigen zu können? „Später“. Klo? „Benutzen Sie bitte das Damenklo, da dieses hier nun eine Stunde lang gereinigt wird.“ Boarding? „Ja, stellen Sie sich einfach auch in den Weg, damit hier niemand mehr durch kommt, weil wir das Terminal zu eng konzipiert haben.“ Flug nach Lissabon? „Klar, aber erst wenn der Streik vorbei ist, der genau so lange andauert wie das französische Fußballspiel.“ Jetzt Flug nach Lissabon? „Klar, benutzen Sie einfach denselben Eingang wie diejenige, die nach Malaga fliegen, aber ganz hinten bitte dann in das richtige Flugzeug steigen, hihihi.“ Hahahaha. „Hihihihi.“ Wo sind eigentlich die Franzosen, die die Concorde und so etwas vor 40 Jahren konzipiert haben? „…“.

Scharl, ich glaube, du warst der Grund dafür, dass es einmal eine Theorie des gerechten Preises gegeben hat, der richtigen Relation zwischen Waren. Erinnern Sie sich an die aristotelische Mitte? Nicht zu viel, nicht zu wenig, dann sind Sie tugendhaft? Es scheint im Mittelalter ein Konzept des Preises gegeben zu haben, das sich an dieser Idee ausgerichtet hat und die Preiskatastrophe des Pariser Flughafens vielleicht hätte abwenden können. Preisvariation gab es. Aber irgendwie konnte man wohl sagen: „Junge, ein Haus in Saint-Denis kostet etwa so viel wie Einhunderttausend kleine Salate mit Dressing.“ Und alle sagten: „Ja, irgendwie schon, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger, aber diese Relation stimmt schon, wenn wir gerade kein königliches Salatverbot oder so haben.“ Und nicht: „Ein Haus kostet genau so viel wie ein Salat, ein kleiner Salat ohne Dressing.“

Jetzt ist es so, dass diese Theorie des gerechten Preises wohl kaum erforscht ist. Und außerdem ist es so, dass jeder Ökonom mir an die Gurgel springen würde, da es diese genaue Relationsbestimmung zwischen Objekten nicht geben kann. Schließlich gibt es kein genaues und festes Maß, mit dem man messen kann. Außerdem macht das ja, wenn überhaupt, die „Invisible Hand“ schon. Hier am Flughafen herrschen nämlich, deshalb funktioniert es ja “ausnahmsweise” nicht, keine idealen Bedingungen etc., fünf gegen einen und so.

Aber dennoch ergibt sich irgendwie ein Gefühl in uns, das Unbehagen gegen ungerechte Preise verlautbart. Und damit meine ich nicht die immerwährende Abneigung, etwas vom eigenen Hab und Gut rauszugeben. Sondern ich meine die moralische Abwägung des Wertes von Gütern. Medikamentenpreise müssen doch einer anderen Bewertungsgrundlage standhalten als Luxusprodukte. Es gibt also schon einen gewissen Unterschied in der Bewertung des Preises verschiedener Waren, der nicht nur von der Nachfrage und dem Angebot abhängig ist, oder? Liebe Ökonomen, rettet mich vor diesem Flughafen und erklärt mir etwas über diese mittelalterliche Theorie des gerechten Preises, ohne Thomas von Aquin oder Benvenuto Olivieri oder wer sich damit beschäftigt hat, gleich zum Gespenst in Europa zu machen.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/339

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Erstausgabe RIDE – Review Journal for Digital Editions

Das Institut für Dokumentologie und Editorik (IDE) freut sich, die Publikation der ersten Ausgabe einer neuen Rezensionszeitschrift, RIDE, bekannt zu geben. RIDE ist digitalen Editionen und Ressourcen gewidmet und will ein kritisches Forum zur Besprechung digitaler Editionen schaffen. Es soll helfen, die gängige Praxis zu verbessern und die zukünftige Entwicklung voranzutreiben. RIDE-Rezensenten sind deshalb angehalten, nicht nur die traditionellen Leistungen und Probleme von Editionen im Allgemeinen zu besprechen, sondern auch die sich weiter entwickelnde Methodologie und ihre technischen Implikationen zu berücksichtigen.

Bereits die soeben veröffentlichte erste Ausgabe enthält Besprechungen aus verschiedenen Fachbereichen, z.B. Philosophie, Kunstgeschichte, Philologie, die für Sie interessant sein könnten. Neben den ausführlichen Rezensionen bietet jeweils ein Factsheet einen schnellen Einblick in die besprochene Digitale Eidtion.

Alle Rezensionen und weitere Informationen finden Sie hier: http://ride.i-d-e.de

Mehr zu RIDE, unseren Zielen und unserer Vorgehensweise, finden Sie im Editorial: http://ride.i-d-e.de/about/editorial/

Wir freuen uns außerdem über Beiträge für die nächsten Ausgaben. Alle Informationen finden Sie hier: http://ride.i-d-e.de/reviewers/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3662

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Erschließung von Beziehungsgeflechten mit MidosaXML – Teil 1: Einleitung

Vorbemerkung

Dieser Text entspricht weitgehend den neuen Erschließungsrichtlinien des Universitätsarchivs Bayreuth, deren Erarbeitung im Juni dieses Jahres vorläufig abgeschlossen wurde. Sie sind den konkreten Umständen geschuldet, die die Praxis im Universitätsarchiv beeinflussen und können sicher nicht ohne Weiteres auf die Verhältnisse anderer Archive unverändert übertragen werden. Das Universitätsarchiv in Bayreuth ist sehr jung, das vierzigjährige Jubiläum der Universität steht 2015 ins Haus und will gefeiert werden, die laufenden Aussonderungen sind jeweils die ersten überhaupt und der Personalbestand, aus dessen Reichtum die damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen sind, ließe sich aus medizinisch-anatomischen Gründen kaum noch reduzieren. Das Provisorium des Leistbaren auf eine solide und strategisch zielorientierte methodisch einwandfreie Basis zu stellen, war die große Herausforderung der vergangenen sechzehn Monate, und das insbesondere hinsichtlich des Gebiets der archivischen Erschließung. Mit einem gewissen Stolz konnte das Archiv Anfang Mai bekannt geben, dass mit Ausnahme der ältesten Bestände das gesamte Archiv, also alle Zugänge seit seiner Errichtung, mit Hilfe von Online-Findmitteln recherchier- und benutzbar ist. Dies war nur dadurch möglich, dass das Archiv mit einem parallelen Findmittelsystem arbeitet, das sich in Archivrepertorien und Akzessionsverzeichnisse unterteilt, wobei beide akkurat und für die Öffentlichkeit bestimmt geführt werden. Auf diese Weise konnte das Universitätsarchiv mittels eines umfassenden Akzessionsverzeichnisses und eines zusätzlichen vorläufigen Findbuchs für die Verwaltungsbestände den Zugriff auf alle Bereiche seines Magazins innerhalb kürzester Zeit ermöglichen. Die Findmittel befinden sich auf der Internetpräsenz des Universitätsarchivs www.uni-bayreuth.de/universitaetsarchiv und im Archivportal Europa (www.archivesportaleurope.net).
Da im Universitätsarchiv aus mehreren stichhaltigen Gründen bislang keines der großen Archivinformationssysteme eingeführt wurde, muss es sich bei der Erschließung mit einer Übergangslösung behelfen. MidosaXML heißt das „Zauberwort“, das diese Not zur Tugend werden ließ. Dutzende von Archiven haben in den letzten beiden Jahrzehnten diese für kleinere und mittlere finanzschwache Archive entwickelte und modernen Erschließungsstandards als Minimallösung weitgehend entsprechende Software bei sich eingeführt. Im Universitätsarchiv Bayreuth wurde nun ein Versuch unternommen, die eigenen Ansprüche an eine moderne Methode der Erschließung mit den Möglichkeiten einer weitverbreiteten, allein auf die Erschließungstätigkeit fokussierten Standardsoftware in Einklang zu bringen. Natürlich konnte das Ergebnis nur ein Kompromiss sein. Die Ergebnisse aus der Anwendung dieses Kompromisses sind so angelegt, dass sie von Software mit umfassenderen Möglichkeiten auf der Grundlage erprobter Austauschformate nachnutzbar sind und weiter vervollkommnet werden können.

A. Einleitung

Die Grundlage für die Erschließung im Universitätsarchiv Bayreuth ist ein Metadatenmodell, das auf der obersten Ebene aus den Entitäten „Akteure“, „Funktionen“, „Archivgut“ und „Repositorium“ besteht. Für jede der Entitäten hat der Internationale Archivrat (ICA) Beschreibungsstandards veröffentlicht. Sie bilden den Orientierungsrahmen für die Erschließungsrichtlinien.

 

Institutionelles Provenienzprinzip

Mit der ISAD(G)-konformen oder an diesen Standard angelehnt normierten Erschließungspraxis wird Archivgut in Kontextkategorien beschrieben und präsentiert. Traditionell bildet die Erschließung primär den Kontext der körperschaftlichen Provenienz ab, indem die Abgrenzung und Gliederung der Archiveinheiten der unterschiedlichen Verzeichnungsstufen von der Absicht bestimmt ist, die Einheit und Struktur von Schrifgutbildnern im Archiv und in den Findmitteln zu spiegeln. Auf diese Weise verfolgt die Erschließung das Ziel, den Entstehungszusammenhang von Archivgut transparent und methodisch einfach nachvollziehbar zu machen, woraus sich für den Nutzer eindeutige Kriterien für eine erfolgreiche Recherche ableiten lassen.

Durch die Integration von Angaben zu Vorprovenienzen in die Verzeichnung nähert sich die Erschließung einer weiteren Kontextbeschreibung. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Dokumentation der historischen Entwicklung des ursprünglichen Gebrauchs der Unterlagen, bevor sie ins Archiv gelangten. So geben die Informationen über Provenienzen Auskunft über die Entstehung und Nutzungsgeschichte des Archivguts.

Funktionen im Findmittelsystem

Fragt man danach, wofür Archivgut ursprünglich gebraucht wurde, so fragt man nach Funktionen und Aufgaben der Schriftgutbildner, deren Wahrnehmung die Entstehung von Unterlagen verursacht hat. Johannes Papritz forderte, dass die archivische Titelaufnahme „allein auf Erkenntnis und Wiedergabe des Entstehungszweckes ausgehen“ dürfe.[1] Diese Form der Verzeichnung kommt der Beantwortung der Frage schon sehr nahe. Indem bei der Verzeichnung der Betreff einer Archiv- oder Archivalieneinheit wiedergegeben wird, spiegeln sich dabei idealerweise die Funktionen, die der Schriftgutbildner im Einzelnen wahrgenommen hat, und zwar unabhängig davon, ob er dazu ein Mandat hatte oder nicht. Funktionen und Mandate bilden einen Kontextbereich, den zu kennen für das Verständnis von Archivgut essentiell ist. Auf seine Darstellung und Recherchierbarkeit muss die archivische Erschließung daher besonderen Wert legen. Eine Annäherung in der Formulierung der Titel reicht dafür nicht aus. Die Funktion muss klar und einheitlich an einer dafür bestimmten Stelle im Findmittel(system) benannt werden. Um sie übergreifend recherchierbar zu machen, muss ihre Bezeichnung und Beschreibung in standardisierter Weise erfolgen. Die traditionelle Erschließung sieht das nicht vor.[2] Auch ISAD(G) beinhaltet außerhalb des weiten Sektors der Verwaltungsgeschichte (Abschnitt 3.2.2) keinen klar definierten Bereich für die Aufnahme von Funktionen. Im derzeitigen EAD-Profil der Software MidosaXML ist seit einiger Zeit ein „Kompetenzenindex“ verfügbar, der in XML als <function> kodiert wird. Im APEx-Projekt wird die Integration von Funktionen ins Findmittelsystem diskutiert. Ein EAC(CPF)-Profil, das derzeit für das Archivportal Europa erarbeitet wird, beinhaltet demnächst ebenfalls ein <function>-Feld. Jedoch hat sich die parallele Erschließung von Archivgut in EAD- und Beschreibung von Schriftgutbildnern in EAC-Normdateien in Deutschland bislang nicht ansatzweise durchgesetzt. Als Instrumentarium müsste demnach zur Beschreibung jenes Kontextbereichs bis auf Weiteres eine geeignete Stelle innerhalb des klassischen Findbuchs dienen, möglicherweise in einer Art, die der derzeitigen Lösung in MidosaXML ähnelt oder entspricht.

Die skizzierten und in gegenseitiger Wechselwirkung stehenden Kontextbereiche „Entstehung“, „Gebrauch“, „Funktionen“ werden bei der traditionellen Erschließung in der Findbucheinleitung dargestellt. Die Entstehungs- oder Verwaltungsgeschichte (bei Nachlässen die Biographie), die Bestandsgeschichte sowie der Abschnitt über die Ordnung des Bestands sind die dafür einschlägigen Kapitel.

Den Hauptteil des klassischen Findbuchs bildet die Titelliste oder das Inhaltsverzeichnis eines Bestands. Durch seine klassischerweise hierarchische Strukturierung priorisiert es bestimmte Kontextkategorien gegenüber anderen. Ist der Bestand nach solcher Manier äußerlich durch die Gemeinsamkeit der institutionellen Provenienz abgegrenzt, so wird er nach innen gewöhnlich entweder nach oder in Orientierung an dem Registratur- oder dem Fondsprinzip gegliedert.

Bestand als beziehungsbegründetes Konzept

Ob zuerst der Auftragsnehmer oder der Auftrag existierten, ist so unerheblich wie der gleichartige Streit über die Existenz von Henne und Ei, wenn es darum geht, Bestandsabgrenzungskriterien zu formulieren. Immerhin ist es nicht vorstellbar, dass Archivgut nicht aus der Wahrnehmung einer definierbaren Aufgabe oder Funktion entstanden ist. Genauso unvorstellbar ist es, dass bei der Entstehung des Archivguts – und damit bei der Ausübung einer entstehungsursächlichen Funktion – kein Akteur beteiligt gewesen sei. Die Abgrenzung eines Bestands nach institutioneller oder funktionaler Provenienz sollte demnach zwei gleichberechtigte, sich gegenseitig ergänzende Alternativen für die Tektonik eines Archivs bedeuten. Indem diese Gleichberechtigung anerkannt wird, wird offenbar, dass es letztlich Beziehungen und Beziehungsformen sind, die einen Bestand als solchen abgrenzen und definieren. Die vielseitigen Entstehungs- und Nutzungskontexte eröffnen aber eine Vielzahl weiterer provenienzbegründeter Kontextkategorien, so dass die Tatsache, dass ein Archivale einer kaum begrenzbaren Zahl von Beziehungsgemeinschaften angehören kann, zur Kausalität dafür wird, dass der Bestandsbegriff ein konzeptualer ist, nicht aber eine fixe physische Aggregation von Archivgut meint. Es ist nicht zwingend nötig, seitens des Archivs bestimmte Kontextkategorien durch die Bildung von Tektonikstrukturen zu priorisieren. Sofern die technischen Voraussetzungen gegeben sind, kann die Generierung von Textoniken, von Beständen und Bestandsstrukturen auf der Grundlage von nutzungsvorhabensspezifischen Beziehungspriorisierungen weitgehend oder ganz dem Nutzer überlassen werden.[3] Bis auf weiteres wird das Universitätsarchiv aber Tektoniken erzeugen und sie als (Einstiegs-)Angebote zur Verfügung stellen.

Indexierung und Charakter der Verzeichnungsstufen

Um Beziehungsgemeinschaften visualisierbar mit Hilfe einfacher Erschließungswerkzeuge zu erfassen, kann man sich mit einer umfänglicheren Indexierung behelfen. So sollte jede Verzeichnungseinheit mindestens mit Angaben zu End- und zu Vorprovenienzen sowie zu Funktionen, Subfunktionen und Aufgaben, die für die Entstehung des Archivale ursächlich waren, versehen werden. Damit wird gewährleistet, dass eine virtuelle Ordnung des Bestands wenigstens nach Funktionen und Provenienzen auch bestandsübergreifend und auf der Basis der Verzeichnungsdaten jedes einzelnen Archivale (und nicht nur auf der Grundlage von Verzeichnungsdaten auf der Ebene des Bestands) ermöglicht werden kann. Auch ist das die Basis dafür, dass die Archivalien in ein Recherchesystem eines Conceptual Reference Model (CRM) sinnvoll einbezogen werden können, was bei der Bereitstellung der Erschließungsdaten in Portalanwendungen eine Rolle spielen kann. Um Archivgut zahlreichen Relationen eindeutig und darstellbar zuordnen zu können, ist es wichtig, die Verzeichnungseinheiten nicht zu weitläufig abzugrenzen, sondern eine Definition in eher kleineren Einheiten vorzunehmen, ggf. mit Untereinheiten wie File und Subfile oder Akt und Vorgang zu arbeiten. Es sollte bedacht werden, dass die Einrichtung einer Klasse oder Gliederungsstufe nach Möglichkeit nicht den Rang einer Serie einnimmt, sondern dass sie der angewandten Seriendefinition gerade nicht entspricht. Während eine Serie als archivalische Kompositionsstufe eine genuine Archivalien- oder Archivguteinheit darstellt, ist die Klasse oder Gliederungsstufe eine sekundär definierte Archiveinheit. Wird eine Registraturtektonik als Bestandstektonik übernommen, ist zu prüfen, ob die dadurch entstehenden Klassifikationseinheiten den Rang von Archivgutkompositionen haben. Dann sollen sie wie Kompositionsstufen behandelt und ggf. als Serien verzeichnet werden. Andernfalls dienen sie der Erhellung des weiteren Nutzungskontexts und spiegeln die Verwaltung und Organisation des Records Management und seine Grundsätze.[4] Als solche sind sie keine Kompostionsstufen von Archivgut, sondern Kontextinformation zur Bestandsgeschichte, die der Erläuterung der ursprünglichen Ordnung und Nutzung dient. Sie werden bei der Verzeichnung als Altsignaturen mit den dazu gehörenden Erläuterungen und in den Verweisen auf Registraturschemata festgehalten. Sobald der Archivar demnach eine Einheit zu verzeichnen hat, die als Ganze eine Komposition darstellt, die selbst als Archivale (und nicht als Tektonikeinheit) verstanden werden soll bzw. muss, soll er in MidosaXML mit den Verzeichnungsstufen Serie, Akt und Vorgang arbeiten und Klasse und Teilbestand nicht verwenden. Die Klassifikation aus Tektonikeinheiten des Archivs bzw. der Registratur soll sich im Index und in den Sortierfeldern befinden (analog einer externen Klassifikation, wie sie teilweise in anderen Softwareprodukten üblich ist; vgl. das frühere MidosaOnline).

Kleinste funktionale Einheit als kleinste Identifikationseinheit

Als nächstes gilt es abzuwägen, ob das Verhältnis von Serie und Akt oder von Akt und Vorgang jeweils besser geeignet ist, um dem Ziel der Verzeichnung im Einzelfall zu entsprechen. Dabei muss man sich von der Vorstellung lösen, dass die deutsche Bezeichnung dieser drei Verzeichnungsstufen mit den gleichnamigen Kompositionsstufen von Archivgut identisch sein müsse. Besser entsprechen die englischen Begriffe Series, File und Subfile einer neutralen Terminologie der Verzeichnungsstufen. In der Praxis werden die für Signaturen vorgegebenen Einstellungen der benützten Erschließungssoftware Einfluss auf diese Entscheidung haben. Daher sollte man sich mit seinem Softwareanbieter abstimmen, ob Signaturfelder auf den Ebenen Serie, Akte und Vorgang vorhanden sind und ob sie – idealerweise – optional aktiviert oder deaktiviert werden können. Die Vergabe von Signaturen ist geeignet, ein Archivale im Findmittelsystem als nicht mehr weiter aufzuspaltende Einheit zu konstituieren. Das kann Folgen für die Zuordnungen von Funktionen und Beziehungen haben. Sie können für tiefere Kompositionsebenen des mit einer Signatur versehenen Archivale nicht mehr mit eindeutig identifizierbarem Archivgut verknüpft werden. In der digitalen Archivierung ist dies bei der Abgrenzung der AIPs zu bedenken. Geht man von der Annahme aus, dass es das Wesen von Akten (records) sei, einzelne Handlungen (transactions) oder bloße Informationsfixierungen (documents) in eine inhaltliche und zielgerichtete Beziehung zueinander zu setzen, ja dass dadurch erst Akten entstehen und als solche bezeichnet werden können, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit, als kleinste unteilbare archivalische Einheit den Umfang vorgangs- oder gar nur dokumentenartigen Niederschlags zu identifizieren (und demzufolge mit einem Identifikator zu versehen), der vollständig aus der Wahrnehmung je einer von potentiell gleichzeitig beliebig vielen ebenso zutreffenden Funktionen (oder Subfunktionen) entstanden ist. Die Vielzahl der möglichen Relationen, die auf eine solche Archivalieneinheit zugreifen, ergeben die Vielzahl der „archival bonds“, in denen sie steht, und damit die Vielzahl konzeptualer Akten (records), die die Handlungen und Handlungskontexte der sich darin findenden Akteure greifbar machen.[5] Diese Zusammenhänge der Identifizierung von Archivalien- und Archiveinheiten lassen sich auch auf andere Kompositions- und Verzeichnungsstufen übertragen. Die Identifikation von kleinsten funktional bestimmten Kompositionsformen und die Identifikation ihrer archival bonds können als die beiden Pfeiler gelten, die die Praxis der archivischen Erschließung bestimmen sollen. Archivische Erschließung schafft auf diese Weise die Voraussetzungen für ein endnutzerorientiertes digitales Informationsmanagement. Hier werden pragmatische Kompromisse einzugehen sein, so dass diese Wegweiser eher strategischen oder Grundsatzcharakter hinsichtlich der Formulierung der Richtlinienspezifikationen für die jeweiligen Erschließungsvorhaben beweisen werden.

Instrumente für die Erschließungspraxis

Um archivische Erschließung in der Praxis (bereits kurzfristig) ausführen zu können, werden folgende Instrumente benötigt:

  1. Identifikation von Funktionen:
    Die Funktionen und Subfunktionen des Schriftgutbildners müssen ermittelt und beschrieben werden. Es muss festgelegt werden, mit welchem Begriff oder Sigel sie einheitlich in der Archivgutbeschreibung zitiert werden, zum Beispiel bei der Indizierung. Die Beschreibungen der Funktionen dienen als Normdatensätze. Deshalb ist es wichtig, den Prozess der Funktionsidentifikation mit gleichartigen Archiven oder Repositorien ähnlicher Schriftgutbildner zusammen anzugehen und die so entstandenen Normdateien übergreifend verfügbar zu machen (linked open data, ISDF).
  2. Identifikation von Akteuren und Akteursgruppen:
    Vor und während der Archivgutverzeichnung sind Akteure zu kennzeichnen, die in Normdatensätzen beschrieben und mit dem Archivgut verknüpft werden sollen. Die ausgewählten Akteure werden Beschreibungsobjekte des Findmittelsystems, indem ihre Beziehungen zu Funktionen und Archivgut ebenfalls beschrieben werden.
  3. Relationenkatalog:
    Zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Funktionen, Akteuren und Archivgut untereinander und innerhalb der eigenen Gruppe ist ein Katalog von Eigenschaften und Handlungen vonnöten. Zahlreiche Ansätze dafür sind in den traditionellen Findmitteln bereits in anderer Gestalt enthalten. So bedeutet die Inbeziehungsetzung von Provenienzstelle und Archivgut beispielsweise, dass eine Institution bei der Ausübung einer Funktion das Archivgut erzeugt hat. Wird hier die betreffende Funktion in den Kompetenzenindex aufgenommen, so sind die wichtigsten Aussagen über das Verhältnis zwischen einem Akteurs, einer Funktion und einem Archivale getroffen. Komplizierter wird es bei einer ebensolchen Beschreibung für einen Akteur, der nicht Schriftgutbildner ist und damit in die klassischen, den traditionellen Findmitteln inhärenten konkludenten Beziehungsmodelle nicht hineinpasst. Spätesten hier erscheint es sinnvoll, RDF-Komponenten in die Erschließungspraxis zu übernehmen.

Um mit der Erschließung im dargelegten Sinne kurzfristig beginnen zu können, kann zunächst auf den Relationenkatalog verzichtet und die wichtigsten Relationen über die Nutzung der üblichen Indextypen und Felder zur Provenienzangabe festgehalten werden. Insofern kann der Relationenkatalog zunächst mit einem Thesaurus der möglichen Indexbegriffe kompensiert werden.

[1] „Für die archivische Titelaufnahme bedeutet das, daß sie im Sinne des Provenienzprinzips und der sich daraus ergebenden Konsequenzen allein auf die Erkenntnis und Wiedergabe des Entstehungszweckes ausgehen darf. Entsprechen alte Titel ausnahmsweise dieser Forderung nicht, so müssen sie entsprechend verändert oder ergänzt werden.“ (Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3, Marburg, 2. Aufl., 1983, S. 265 (Nachdruck von 1998 = Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 3).

[2] Dies ist angesichts der großen Bedeutung, die den Funktionen Im Rahmen der Archivgutbeschreibung in der Archivwissenschaft seit langem zugemessen wird, umso erstaunlicher (vgl. u.a. bereits Jenkinson, Scott und viele andere).

[3] Vgl. hierzu den Hinweis Greg Bak’s (Continuous classification: capturing dynamic relationships among information resources, Archival Science (2012) 12:287-318; hier: S. 308)  auf die Rekonzeptualisierung von Provenienz in Chris Hurley’s Theorie von der parallelen Provenienz („parallel provenance“), nachzulesen u.a. in: Hurley, Parallel provenance (if these are your records, where are your stories?). – Online-Publikation des Autors, 2005: http://infotech.monash.edu/research/groups/rcrg/publications/parallel-provenance-combined.pdf.

[4] Peter Horsman bezeichnet die beiden Kontextbereiche als „Documenting“ einerseits und „Recordkeeping System“ andererseits und weist auf ihre gegenseitige Nähe und Verschränkung hin (Horsman, Wrapping Records in Narratives. Representing Context through Archival Description. – Bad Arolsen, 2011: https://www.its-arolsen.org/fileadmin/user_upload/Dateien/Archivtagung/Horsman_text.pdf).

[5] Vgl. Luciana Duranti: „Documents that are expressions of a transaction are not records until they are put into relation with other records, while documents that are not expressions of a transaction become records at the moment when they acquire an archival bond with other documents participating in the same activity.“ Die Generierung konzeptualer Akten findet sich bereits 1996 in der Argumentation von David Bearman, der forderte, dass Akten in elektronischen Dokumentenmanagementsystemen (DMS) erst auf eine spezifische Anfrage hin aus den einzelnen Dokumenten zusammengesetzt werden sollten (Bearman, Item level control and electronic recordkeeping. Arch Mus Info 10(3): 195-243). Clive Smith beschrieb den digitalen „virtual file“ bereits 1995: „In such an electronic environment, the correspondence file or dossier takes on a new dimension. It no longer exists physically, but only as a collection of electronic documents that are assembled through some search criteria, and it exists only as long as the search is maintained. A single document may participate in several such virtual files.” (Smith, The Australian series system. Archivaria 40:86-93; hier: S. 92). Dazu ist zu ergänzen, dass es entscheidend für die Aussagekraft des „virtual file“ ist, dass den von Smith erwähnten „search criteria“ geeignete und bei den „search“-Vorgängen fortzuschreibende Metadaten zugrunde liegen. In ähnlicher Tradition vertrat zuletzt u.a. Greg Bak die Ansicht, elektronischem Records Management und digitaler Archivierung entspräche wesensmäßig ein “item-level management” am besten (Bak, Continuous classification: capturing dynamic relationships among information resources, Archival Science 12.2012, S. 287-318).

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1758

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