Dozenten-Nähkästchen (II) – Seminarplanung

Im beginnenden Semester habe ich die Möglichkeit (wie hier berichtet), an Stelle eines meiner Pflichtkurse ein neu völlig zusammengestelltes Seminar anzubieten. Dazu ist zwar einiges an Organisation nötig, die man irgendwann vor Beginn des Semesters oder zumindest der ersten Vorlesungswoche (also vor heute) hinbekommen haben muss. Lustigerweise hatte Kathrin Passig heute auch die richtigen Tweets dazu:

 

Nachdem ich ein Thema gefunden und geändert, mir einen Zeitslot und einen Raum ausgesucht habe, bzw. mir habe zuweisen lassen (das war auch schon ohne Großbaustelle an der Uni Köln schwer genug, ist mir aber wider Erwarten doch einigermaßen schnell gelungen), konnte ich mich an die inhaltliche Planung setzen, in die ich hier einen kurzen Einblick geben will.

Der formale Rahmen einer Uni-Veranstaltung wird meist dadurch vorgegeben, dass man 16 Doppelstunden zur Verfügung hat, die man auf eine Art füllen muss, welche die Studierenden weder langweilen noch überfordern sollte. Und am Ende mit dem Gefühl zurücklässt, dass sie inhaltlich und methodisch etwas dazugelernt haben.

Als erstes braucht man ein Thema, das eine Klammer um das bildet, was man im Kurs beabsichtigt zu tun. Wie es aussieht, habe ich gerade einen Auftrag für unser Institut an Land gezogen, bei dem es genau um die Evaluierung unterschiedlicher Text-Mining-Methoden geht. Dieser ist noch nicht ganz in trockenen Tüchern, deswegen kann ich hier noch keine konkreten Angaben machen. Vage geht es darum, aus einem sehr großen Korpus relativ homogener Texte Informationen zu extrahieren, um diese in strukturierter Form (Datenbank) abzulegen. Die dort zu behandelnden Texte haben eine Art von Binnenstruktur, d.h. sie zerfallen in der Regel in drei Teile. Es ist einfacher, Informationen aus ihnen zu extrahieren, wenn man weiß, in welchem der drei Textteile man zu suchen hat. So bietet sich an, vor der Informationsextraktion eine Textklassifikation vorzunehmen, in der man versucht, diese Teile im Gesamttext auszumachen und zu labeln (Demnächst vielleicht mal etwas konkreter).

Nun ist es durchaus sinnvoll, die beiden Aufgaben – Projektbetreuung und Seminarangebot – miteinander zu verknüpfen, so dass beide Aufgaben davon profitieren können. In diesem Fall ist es auch durchaus legitim, da die von mir angebotene Übung zum Modulslot  ”Angewandte Sprachverarbeitung” wie die Faust aufs Auge passt. Es bleibt aber noch zu überlegen, wie das Seminar aufgebaut sein kann, so dass die Studierenden davon auch bestmöglich profitieren.

Einerseits braucht es natürlich eine Einführung in den Bereich Text Mining und seine Unterdisziplinen Information Extraction und Text Categorization. Dafür galt es einführende Literatur zu finden, an der ich mich im Unterricht orientieren kann und die damit von den Studierenden als Grundlage für meine Ausführungen herangezogen werden kann (ich könnte denen ja sonstwas erzählen). Es gibt inzwischen eine Reihe recht annehmbarer Lehrbücher zu den Themen, deswegen wurde ich dort relativ schnell fündig. Allerdings setzen die entsprechenden Kapitel meist eine gewisse Grundbildung in induktiver Statistik voraus, wenn man die angewendeten Methoden tatsächlich auch von Grund auf verstehen will. Für die Studierenden kann ich das nicht unbedingt voraussetzen weswegen ich noch eine Einführung in dieses Thema angesetzt habe. Ein dritter – in unserem Studiengang sehr wichtiger Bereich – betrifft die konkrete Umsetzung des Gelernten in einer Software-Lösung.

Zusammengefasst besteht das Seminar aus aus drei Oberthemen – dem konkreten Anwendungsfall (aus dem Bereich Text Mining), dem zugrundeliegenden Handwerkszeug (induktive Statistik) sowie der Art und Weise der Umsetzung (Software Implementierung). Nach dieser Grob-Strukturierung entschloss ich mich erst einmal eine Mind Map anzulegen1, welche speziellen Themen behandelt werden müssten und wie diese zusammenhängen. Das erste Resultat ist dieses hier gewesen:

Course-Text-Mining_37e2acb0

Diese Mind Map gibt mir einen Überblick darüber, was ich in den zur Verfügung stehenden 16 Semesterwochenstunden ansprechen sollte und hilft mir bei der Gliederung des Seminars und der Verteilung von Aufgaben, die durch die Studierenden in Form von Kurzreferaten übernommen werden können. Damit bin ich zwar noch nicht ganz durch, aber es bleiben ja auch noch ein paar Stunden Zeit bis zur ersten Sitzung…

1Hab ich mit Bubbl gemacht, ging erstaunlich problemlos online https://bubbl.us/

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1042

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Aby Warburg und die Bilder

Eva Schmidt (Hg.): Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, Heidelberg: Kehrer Verlag, 2012, 15,5 x 23 cm, 380 Seiten, broschiert, 192 Abb. in Farbe., Deutsch/Englisch, 36 Euro
Eva Schmidt (Hg.): Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, Heidelberg: Kehrer Verlag, 2012, 15,5 x 23 cm, 380 Seiten, broschiert, 192 Abb. in Farbe., Deutsch/Englisch, 36 Euro

Eva Schmidt (Hg.): Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, Heidelberg: Kehrer Verlag, 2012, 15,5 x 23 cm, 380 Seiten, broschiert, 192 Abb. in Farbe., Deutsch/Englisch, 36 Euro

 

Um die Frage nach Funktion und Rolle von Bildern für kollektive Gedächtnisse beantworten zu können, muss die Frage nach Bildtraditionen und deren Deutung gestellt werden. Aby Warburgs Theorie des sozialen Bildgedächtnisses gewann in der Visual History daher in den vergangenen Jahren an Bedeutung.

„Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?“, fragte eine Ausstellung im Sommer 2013 im Museum für Gegenwartskunst in Siegen. Im Dezember-Heft 2013 der  Zeitschrift Fotogeschichte beleuchtet eine Rezension den Begleitband zur Ausstellung.

 

 

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/04/07/aby-warburg-und-die-bilder/

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Frühe Stimmen über das Chinesische (VI): Orientalisch- und occidentalische[r] Sprachmeister (1748)

In den sogenannten Vaterunser-Sammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts wurde versucht,  Versionen des Gebets in möglichst vielen Sprachen zusammenzutragen. Zur Kompilation wurden häufig die von Missionaren gesammelten Sprachproben herangezogen, in einigen Fällen kommen dazu Bemerkungen zu den unterschiedlichsten Sprachen.[1]
Keine Ausnahme bildet dabei der Orientalisch- und occidentalische[r] Sprachmeister[2], in dem 100 Alphabete und das Vaterunser in 200 Sprachen und Dialekten zusammengetragen sind. Die für China angeführten Vaterunser-Versionen (S. 111 f.) sind teilweise der 1710 erschienen Sammlung Oratio dominica …[3] entnommen – inklusive der dort enthaltenen Quellenangaben (S. 6 (Transkription) und S. 11 (Schriftzeichen)).

Doch von den Vaterunser-Auflistungen abgesehen, finden sich im Sprachmeister einige Bildtafeln mit chinesischen Schrfitzeichen (die nur teilweise und mit viel Phantasie zu entziffern sind)

Orientalisch- und occidentalischer Sprachmeister

Orientalisch- und occidentalischer Sprachmeister (1748)
Internet Archive

Im Abschnitt “Das Sinesische Alphabet” (S.102) gibt es  kurze Bemerkungen – allerdings nach einer wenig verheißungsvollen Einleitung:

Sie [d.h. die chinesische Sprache] ist eben nicht nöthig zu lernen [...]
Bey dieser Sprache ist anzumerken, daß in dem weitläuffitigen Sinesischen Reiche selbst 20 Sprachen, welche aber alle voneinander unterschieden, gefunden werden, die Mandarinische aber hat vor andern einen Vorzug, welche in der Zierlichkeit und Gelehrsamkeit im gantzen Reiche gebraucht wird.[4]

Auch hier findet sich der Verweis auf den (vermeintlichen) Mangel and Wörtern und den Monosyllabismus:

Ob gleich die Sprache reich an ·Characteurs·, so leidet sie dennoch grossen Mangel an Wörtern [...]
Denn die Sprache hat kaum 1500 ·Vocabula·, und dieselben sind ·Monosyllaba· (ob gleich zwey oder dreysylbigte Wörter zzu sein scheinen, so sind selbige doch zusammen gesetzt) und endigen sich in einen ·Vocalem· oder in ·m· und ·n· (manchmahl auch ·ng·) niemahls aber anders. Daher denn die ·Homonymia· (vielfältige Bedeutung der Wörter) in der Sprache sehr stark vorhanden, dergestalt daß manchmahl ein Wort wohl 20 bis 30 ·diverse Significationes· in sich enthält und andeutet, welche manchmahl durch die ·Characteurs· und Aussprache ·distinguiret· ewerden. Denn die Sineser erheben bald die Stimme im Reden, bald aber lassen sie solche wieder fallen, und scheinet gleichsam als wenn sie singen. Weil nun sothane ·Pronunciation· denen Redenden nöthig ist, so hat ·P. Jacobus Pautoja· [sic] fünff Merckmahle, so in der Music bekannt sind, ·ut, re, mi, fa, sol,· erdacht, welche er Sinesisiche ·Accente· nennet, mit welchen er die Stimme, und wie der Klang gegeben werden müsse anzeigt, welches ·Kircherus in Chin. Illustr. p. 236·  referiret.[5]))

Hier vermischen sich – wie so oft – Fakten uund Phantasie:

  • “1500 Vocabula”: In der Modernen Chinesischen Hochsprache sind 1338 Sprachtonsilben realisiert (von etwa 1600 theoretisch) möglichen.[6]
  • “dieselben sind ·Monosyllaba·”: Jedes Schriftzeichen entspricht einer Silbe. Aber  – aber nicht jede Silbe ist gleich ein vollständiges Wort, die Zahl der zwei-, drei- und mehrsilbigen Wörter steigt im Laufe der Sprachgeschichte.[7]
  • “und endigen sich in einen ·Vocalem· oder in ·m· und ·n· (manchmahl auch ·ng·) niemahls aber anders”: In der Modernen chinesischen Hochsprache enden Silben auf einen Vokal (oder Diphthong) oder auf -n oder -ng. Endung auf -m existiert in der Modernen chinesischen Hochsprache nicht
  • “manchmahl ein Wort wohl 20 bis 30 ·diverse Significationes· in sich enthält und andeutet”: zu manchen Sprachtonsilben gibt es unzählige Schriftzeichen, die vollkommen unterschiedlich aussehen, vollkommen unterschiedliche Bedeutungen haben – aber eben alle gleich ausgesprochen werden.
  • “Denn die Sineser erheben bald die Stimme im Reden, bald aber lassen sie solche wieder fallen, und scheinet gleichsam als wenn sie singen.”: Die Töne sind bedeutungsdifferenzierend – das klassische Beispiel aus dem Anfängerlehrbuch.
    • 1. Ton: 媽 “Mutter”
    • 2. Ton: 麻 “Hand”
    • 3. Ton: 馬 “Pferd”
    • 4. Ton: mà 罵 “schimpfen”
    • neutraler Ton: ma 嗎 [Partikel zur Bildung von Fragesätzen]
  • “Weil nun sothane ·Pronunciation· denen Redenden nöthig ist, so hat ·P. Jacobus Pautoja· [sic] fünff Merckmahle, so in der Music bekannt sind, ·ut, re, mi, fa, sol,· erdacht, welche er Sinesisiche ·Accente· nennet, mit welchen er die Stimme, und wie der Klang gegeben werden müsse anzeigt,”: Wie oben gesagt, sind die Töne bedeutungsdifferenzieren. In der Transkription werden sie in der Regel durch diakritische Zeichen markiert, mitunter finden sich auch Hochzahlen = ma¹ etc.
  • “welches ·Kircherus in Chin. Illustr. p. 236·  referiret”: Gemeint ist hier Athanasius Kirchers China … illustrata[8] – dort findet sich auf Seite 236 tatsächlich der Hinweis auf die Bezeichnung der Töne wie Musiknoten und mit diakritischen Zeichen – allerdings einem “P.  Jacobus Pantoja” zugeschrieben. Gemeint ist wohl Diego de Pantoja/Diego Pantoja (1571-1618), einer der Begleiter Matteo Riccis[9]

Zum Schluss kommt noch einmal die eingangs geäußerte Skepsis zum Ausdruck, ob es sinnvoll ist, sich dem Studium dieser Sprache zu widmen:

Uebrigens kan kein sonderlicher Nutzen von dieser Sprache erlangt werden, wenn man nicht den Umgang dasigen Ortes mit ihnen hat.[10]

Bisherige Beiträge in der Reihe “Frühe Stimmen über das Chinesische”: I, II, III, IV, V.

  1. Vgl. dazu die Bemerkungen bei Georg Lehner, Der Druck chinesischer Zeichen in Europa. Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Wiesbaden: Harrassowitz 2004) 19.
  2. [Johann Friedrich Fritz/Benjamin Schultze:] Orientalisch- und occidentalischer Sprachmeister, welcher nicht allein hundert Alphabete nebst ihrer Aussprache, so bey denen meisten europäisch- asiatisch- africanisch- und americanischen Völckern und Nationen gebräuchlich sind, : auch einigen Tabulis Polyglottis verschiedener Sprachen und Zahlen vor Augen leget, : sondern auch das Gebet des Herrn, in 200 Sprachen und Mund-Arten mit dererselben Characteren und Lesung, nach einer geographischen Ordnung mittheilet. (Leipzig: Gessner 1748) – Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  3. Oratio dominica … plus centum linguis reddita   d.i. das Gebet des Herrn oder Vater Unser (Augspurg, editio novissima, 1710) VD18 14404427-001, Online: BSB / Google Books. – Die erste Auflage erschien 1700 in London, vgl. Lehner (2004) 19, Fußnote 96.
  4. Orientalisch- und occidentalische[r] Sprachmeister (1748), 101.
  5. ((Orientalisch- und occidentalische[r] Sprachmeister (1748), 102.
  6. Vgl. dazu den Abschnitt “Phonetik und Phonologie” in: Otto Ladstätter: “Sprache”, in Wolfgang Franke (ed.): China Handbuch (Düsseldorf: Bertelsmann 1974), 1274 f.
  7. S. dazu Endymion Wilkinson, Chinese History. A Manual (Harvard-Yenching Monograph Series 35, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 2000) 31 f: “Polysyllabic Words in Classical Chinese”.
  8. Athanasii Kircheri E Soc. Jesu China Monumentis, Qua Sacris quà Profanis, Nec non variis Naturæ & Artis Spectaculis, Aliarumque rerum memorabilium Argumentis Illustrata, auspiciis Leopold Primi, Roman, Imper. semper Augusti, Munificentißimi Mecænatis (Amstelodami : Janssonius a Waesberge ; Weyerstraet, 1667) – Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  9. Vgl. – auch zu den Transkriptionssystemen zur Zeit Riccis: Otto Zwartjes: Portuguese Missionary Grammars in Asia, Africa and Brazil, 1550-1800 (= Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science., Series III,, Studies in the history of the language sciences, v. 117; Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing, 2011), 287.
  10. Orientalisch- und occidentalische[r] Sprachmeister (1748), 102.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1230

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1864 und die Folgen, Teil 3 | 1864 – die vergessenen Brüder und Schwestern

Unter den zahlreichen Gedenktagen, die das Jahr 2014 zu bieten hat, fällt neben dem Beginn des Ersten Weltkrieges auch der 150. Jahrestag des Krieges von 1864 mit seinen Schlachten um Düppel und Alsen. Sind diese Ereignisse in Deutschland heute nahezu vergessen, so nahmen sie in Dänemark noch bis vor wenigen Jahren eine immanent wichtige Stellung in der Erinnerungskultur ein – die Brüder und Schwestern jenseits der neuen Grenze sollten nie vergessen werden, so das allgemeine Credo. Schaut man sich aber den Verlauf des Jahres 2014 bisher an, so liegen die Wertungen heuer an ganz anderer Stelle. Zwar diskutiert man auch heute noch über Deutschland, allerdings liegt das Interesse ganz woanders.

Diese Interessenverschiebung soll an der sogenannten Heuschreckendebatte, die in den letzten Wochen die Schlagzeilen der Zeitungen und das politische Leben beherrscht hat, verdeutlicht werden. Unter Heuschrecken versteht man z.Zt. in Dänemark generell EU-Ausländer, die “wie Heuschrecken über die nationalen, dänischen Sicherungssysteme herfallen”, d.h. Ausländer, die in Dänemark arbeiten, so Brian Mikkelsen von der Konservativen Folkeparti. Nachdem vor einigen Jahren ein Vorstoß, Gehaltszahlungen ins Ausland zu verbieten (dänisches Geld soll in Dänemark ausgegeben werden) im Sande verlaufen war, hatte die Regierung 2010 beschlossen, Ausländer, die weniger als 10 Jahre in Dänemark gelebt haben, vom Bezug des Kindergeldes auszuschließen. Nachdem diese Regelung jetzt vom Europäischen Gerichtshof gekippt wurde, gehen die Wogen hoch her, da 0,6 % aller dänischen Kindergeldausgaben nun an Ausländer gezahlt müssen, ein, da sind sich alle Parteien einig, unerträglicher Zustand.

Was hat diese Debatte mit 1864 zu tun? Nun, diese Debatte dreht sich zwar vordergründig um “Polakken” (das dänische Wort für Polen), trifft aber die dänische Minderheit in Schleswig umso schwerer. Und so war es denn auch ein deutscher Staatsangehöriger, der in Dänemark arbeitet, der zusammen mit der Region Sønderjylland vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt und Recht erhalten hatte. In der aufgeheizten nationalen Stimmung, die in zunehmendem Maße seit circa einem Jahrzehnt die dänische politische Landschaft beherrscht, wird Dänemark als nationale ethnische Einheit verstanden, die es abzuschotten gilt. Unter diesen Vorzeichen ist zum Beispiel der gescheiterte Neubau von Grenzsperranlagen an der deutsch-dänischen Grenze oder die Heuschreckendebatte zu verstehen. Für die Region Schleswig/Sønderjylland [Südjütland] bedeutet dieses, dass die dortige Problematik und die dort erreichten friedlichen Lösungen vollständig aus dem Blickfeld der Kopenhagener Öffentlichkeit entschwunden sind. So besitzen z.B. die Mitglieder der dänischen Minderheit die deutsche Staatsangehörigkeit und wohnen in Deutschland, wodurch man ihnen automatisch das Recht auf Kindergeld und Gehaltstransfer abschreiben wollte, sofern sie ihre Sprachkompetenz nutzen und im Mutterland arbeiten wollten.

Vor diesem Hintergrund haben die Hinweise auf die 1864-Feierlichkeiten ganz andere Voraussetzungen als noch 1964, als noch viele Veteranen des Abstimmungskampfes aus den 1920er Jahren zugegen waren. Wartete man 1964 mit Spannung auf das Eingreifen des Königs, der dann auch wirklich mit seiner Rede in Düppel den Dänen aus der nationalen Seele sprach, steht 2014 ein mediales Großereignis an. Der dänische Rundfunk Danmarks Radio hat sich in der teuersten Produktion in der dänischen Rundfunkgeschichte des Jahres 1864 für 170 Millionen dänische Kronen [~ 22,76 Millionen Euro] angenommen und wird die Ereignisse, eine Erzählung über Unschuld und Liebe – über Ignoranz und politischen Wahnsinn [en fortælling om uskyld og kærlighed – om ignorance og politisk dårskab], so DR selbst, in acht Teilen den Dänen näher bringen. Allerdings ist die Filmatisierung nicht rechtzeitig fertig geworden, so dass anstatt des 18. Aprils (des Jahrestages des Sturmes auf Düppel) nun der September als Ausstrahlungstermin ins Auge gefasst wird.

In dieser Serie, bei der ein Massenaufgebot an Soldaten im Kanonenrauch ihr Leben lassen sollte, geht es vor allem um Reenactment und mediale Aufarbeitung, so wie auch die Fregatte Jylland am 14. März mit einer Kanone eine Breitseite (sic!) der Schlacht von Helgoland 1864 nachgeschossen hat und man in Düppel den Krieg von 1864 hautnah und mit Kostümen nacherleben kann. Die heutigen Dänen sollen mit allen Sinnen die Ereignisse von 1864 nachempfinden, wieviel historisches Verstehen dabei allerdings vermittelt wird, bleibt abzuwarten. Und überhaupt ist 1864 im medialen Zeitalter angekommen: Auf der Seite http://1864.dk erhält man die neuesten News vom Schlachtgeschehen 1864 in Wort und Ton und kann die Ereignisse Tag für Tag verfolgen.

1864 ist bisher von den politischen Seiten der Zeitungen ins Feuilleton abgerutscht, die Besetzungsliste und die Finanzierung des 1864er Filmes war bisher wichtiger, als der eigentliche Inhalt – und in der politischen Debatte haben 1864 und Sønderjylland bisher keinen Platz. Natürlich gibt es auch ernsthafte Versuche, sich dieses Themas anzunehmen. Neben einigen Tagungen und Ausstellungen unterstreicht z.B. der NDR zusammen mit DR Süd das friedliche Nebeneinander von Deutschen und Dänen (150 Jahre nach deutsch-dänischem Krieg: Koproduktion von NDR 1 Welle Nord und Danmarks Radio P4 Syd) womit sie wohl Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisten. Bis nach Kopenhagen sind diese Bemühungen aber noch nicht vorgedrungen.

Und auch in der Forschung war es bisher verhältnismäßig still, vor allem, wenn man den Mediensturm betrachtet, den Tom Buk-Swientys beide Bände Schlachtbank Düppel im Jahr 2008 und Dommedag Als [Untergangstag in Alsen] aus dem Jahr 2010 ausgelöst haben. Diese beiden Bände waren zum ersten Mal eine Art Nabelschau des eigenen Verhaltens und haben erstmals an dem den Dänen seit 1900 bis heute unverändert in den Schulen gelehrten Weltbild zweifeln lassen. Für eine Aussage, inwieweit dieses Früchte tragen wird, ist es allerdings noch zu früh. Sollte man ein Fazit in den letzten Märztagen des Jahres 2014, vor dem Höhepunkt der eigentlichen Feierlichkeiten Ende April, ziehen, so liegt 1864 im Moment in sehr weiter Ferne. War 1964 Sønderjylland ein heißes, politisches Eisen und 1864 ein Teil der Gegenwartspolitik, so hat man heute die Dänen im Süden vergessen.

Und auch mit den Symbolen hat man seine Probleme. So kam die Mühle von Düppel, Symbol des Krieges von 1864 und des dänischen Verlustes par excellence, in solche Geldnot, dass die laufenden Renovierungskosten nicht mehr bezahlt werden konnten – und es fanden sich kaum Sponsoren. Dänemark ist im Moment so selbstzentriert, dass alles andere außerhalb der jetzigen Grenzen sehr weit weg zu sein scheint. Deutschland ist im Moment kein großes Feindbild, aber auch kein Zusammenarbeitspartner – Deutsche sind halt Ausländer.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2275

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Zum Buchbegriff in der Diskussion um das digitale Publizieren in den Geisteswissenschaften. Überlegungen auch aus linguistischer und mediävistischer Sicht

Entpolarisierung und Öffnung

Um es für den wissenschaftlichen Bereich vorwegzunehmen (für andere Bereiche, wie etwa die Belletristik, ist die Lage eine andere): Die mittelfristige Zukunft im Bereich des wissenschaftlichen Kommunizierens und Publizierens ist digital und Open Access. Dabei möchte ich die sogenannte analoge Publikation nicht als Gegenpol oder Ausschlusskriterium zum Digitalen (und vice versa) im aktuellen Zeitstrang sehen. Wir sollten die besten Wege für digitale Publikationskulturen unter Beteiligung aller Akteure vorbereiten und vor allem auch im gegenwärtigen Diskurs eine Entpolarisierung zwischen Gedrucktem und Digitalem vornehmen. Dieser Prozess impliziert einen Wandel bezüglich der Formen und der Vielfalt der Publikationsformate, Hand in Hand mit der Entwicklung von Evaluations- und Anerkennungsmechanismen, die die Qualität und Vielfalt von digitalen Publikationen im Open Access – genauso wie die der analogen – in Einvernehmen mit den grundlegenden Prinzipien geisteswissenschaftlicher Forschung garantieren.

Dieser vielschichtige Veränderungsprozess hat bereits begonnen hat (schon alleine die zahlreichen Workshops und Tagungen zu diesem Thema sind mehr als Symptom). Angemessene und faire Praktiken, auch in und zusammen mit dem gewerblichen Bereich, sollten angestrebt werden, bei denen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht in noch größerem Maße wie bislang die goldenen Melkkühe für die Veröffentlichungen der eigenen Aufsätze und Bücher werden. Ein solches Szenario würde in der Tat genau das Gegenteil des fundamentalen Selbstverständnisses geisteswissenschaftlicher Forschung bedeuten.

ESF Young Researchers Forum "Changing Publication Cultures"

ESF Young Researchers Forum “Changing Publication Cultures”

Das Young Researchers Forum der European Science Foundation hat in einem Positionspapier mit dem Titel “Changing Publication Cultures in the Humanities” die neue Situation, der wir zur Zeit gegenüberstehen, überzeugend zusammengefasst:

“A key aspect of the future publishing culture in the humanities is to develop new opportunities to catalyse positive change in prevalent modes of institutional authority. It is necessary to facilitate access to the scholarly community in order to democratise participation and collaboration between peers because innovative scientific work takes place in numerous contexts outside traditional scholarly genres”. (p.7)

Dieses “Reformieren” (im wörtlichen Sinne – “eine neue Form geben”) der wissenschaftlichen Publikationspraktiken wird als Folge auch einen Wandel der Rollen der darin partizipierenden Individuen und Institutionen haben, etwas der Bibliotheken und Archive. Und auch das Verlagswesen ist hier tiefgreifend gefordert, ich zitiere noch einmal das Young Researchers Forum:

“The role of publishers will change from providing content to providing services to the authors and users of scholarly information. As content will increasingly be available in raw open access form, the challenge for the publisher is to provide suitable access and flexibility, assisting scholars to find, select, enrich, recombine, and cite the work of others. The repositories themselves should be maintained by public institutions capable of guaranteeing open and equal long-term access to the results and resources of the scholarly work. The role of the scholars as a global community is to provide the source of new scholarly knowledge and a guarantee of its high intellectual quality.” (p.7).

Letzter Punkt ist dann auch der entscheidende: Der Geisteswissenschaftler bleibt – wie seit jeher –der Garant der hohen intellektuellen Qualität des produzierten Outputs. Diese Verantwortung können und sollen wir nicht abgeben – und der Anspruch auf diese Garantie existierte und existiert per se und ist letztendlich, so würde ich aus der Sicht der Handschriftenforscherin uns Sprachhistorikerin formulieren, unabhängig von der Medialität des Textträgers.

Wissenschaftliche Erzählformen, Buch und Medialität

Somit greifen solche Argumentationen zu kurz, die in der Debatte um das digitale Publizieren eine vermeintliche, toposhaft idealisierende Dichotomie von herkömmlich Gedrucktem (im Sinne von gedruckter Qualität) versus digitale Flüchtigkeit aufbauen. Der Historiker Martin Schulze Wessel hielt vor kurzem auf einer Veranstaltung in München zum Thema “Nachwuchswissenschaftler, Verlage, Bibliotheken & Open Access. Zeitgemäßes Publizieren in den Geisteswissenschaften” – bei feinfühlig differenzierender Argumentation – letztendlich an der traditionellen Sichtweise fest: “Die große Erzählung bedarf des gedruckten Buches, da bin ich ganz sicher”. Ihm ist gewiss hinsichtlich des Umstands zuzustimmen, dass die „große Erzählung“ weiterhin – im Gegensatz etwa zu Datenbanken, optischen Visualisierungen und anderen neuen Wissensrepräsentationen – im Fließtext am besten, und zwar auch mit hohem literarischem Anspruch darstellbar ist, und dieser Fließtext in Buchform gut vermittelbar ist, aber das muss heutzutage nicht mehr unbedingt oder ausschließlich auf Papier geschehen. Auch digitale Buch-Publikationen können prinzipiell und werden auch einen verdientermaßen gleichen qualitativen Anspruch im monographischen Bereich erfüllen.

Vor allem der Luzerner Mittelalterhistoriker Valentin Gröbner, der diese Art der Polarisierung inzwischen geradezu zu seinem Markenzeichen entwickelte, hat kürzlich in einem Gastbeitrag auf der Online-Zeitschrift Public History Weekly (13.02.2014) im Hinblick auf die neuen Publikationskulturen plakativ festgehalten:

“Lektion? Keine Erlösung durch die neuen Medien, und auch kein Weltuntergang. Die schnellen digitalen Übertragungskanäle mit ihrem ununterbrochenen Aufdatieren schaffen ihre langsamen analogen Vorgänger auf Papier nicht ab, im Gegenteil. Noch nie waren gedruckte Aufsätze und Bücher so notwendig wie heute, nämlich als Filter für stabile Resultate: Hochfrequente “heiße” Kommunikationsmedien – wie dieses hier – alimentieren und fördern “kühlere” Speicher mit längerer Haltbarkeit. Deswegen wird in den digitalen Formaten auch ununterbrochen auf Papierpublikationen verwiesen. Das gilt für wissenschaftliche Netzpublikationen ebenso wie für jeden brauchbaren Wikipedia-Eintrag. Und aus richtig guten Blogs werden – Bücher. Hallo, digitale Revolution, ist da jemand?”

Die Passage ist linguistisch interessant, denn sie baut metaphernreich einen Gegensatz auf, der eigentlich an fundamentalen Anachronismen scheitert: die Annahme, dass es Bücher offenbar nur in gedruckten Formen gibt bzw. geben darf – und dass nur das auf Papier Gedruckte offenbar das Filternde, das Stabile, das Elitäre und das letztendlich Qualitätsvolle darstellt.[1] Kurzum: die Argumentation müsste spätestens bei historischer Betrachtung wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, da sie die Jahrhunderte, ja Jahrtausende vor der Einführung des Buchdruckes in Europa (wohl bewusst) aus dem Blickfeld nimmt. Sie scheitert somit letztendlich auch an der Grunddefinition des Buches. Ein Buch ist nicht per se ein auf Papier gedrucktes Garant für stabile Wissensvermittlung – sonst würden ganze Jahrhunderte Wissenserzeugung, Wissensvernetzung und Wissensweitergabe über das Pergament oder anderer Schriftträger ausgeblendet, und zwar solche Schriftkulturen, die mittels eines Schriftmediums erfolgreich funktionierten und im Mittelalter etwa Bücher produzierten, die per se keine zwei identischen Kopien des gleichen Textes erlaubten. Diese Verfahren der Buchproduktion erzeugten kollaborative und vielfach dynamische Wissensspeicher, die erst die Voraussetzungen schufen für die wissenschaftlichen Großunternehmungen ab dem Humanismus aufwärts. Diese mittelalterlichen Pergamenthandschriften, ja es sind Bücher, aber keine gedruckten, lehren den, der sich die Zeit nimmt aus der Vogelperspektive unserer digitalen Welt hineinzuschauen, dass wir es mit seltsamen Wiedererkennungswerten zu tun haben – und somit letztendlich auch das papierne Buch in einer longue durée hier seinen Platz noch einnehmen muss, ohne das endgültige A und O aller Dinge zu sein.

Alte BücherFreilich muss man, wenn man wissenschaftlich arbeiten will, nicht alles lesen, was im Netz steht, um nochmals den Titel eines Beitrages von Valentin Gröbner zu zitieren,[2] aber diese Frage stellt sich letztendlich für alles (inklusive der sogenannten “grauen Literatur”) auf Papier Gedruckte und davor Geschriebene, und somit wären wir wieder bei der Frage der Quellenkunde und Heuristik, die nur durch eine ganz immaterielle, und zwar intellektuelle Arbeit vollzogen werden kann. Insgesamt sollten wir die Vielfalt der neuen Publikations- und Kommunikationsformen im Netz wahrnehmen, mit den (noch) vorhandenen analogen kombinieren, in unsere wissenschaftlichen Arbeitsweisen integrieren, und auch deren positive Potentiale erkennen, von wissenschaftlichen Blogs, Mikropublikationen bis hin zu Online-Zeitschriften und Monographien, die selbstverständlich auch qualitativ hochwertig online veröffentlicht werden können, um nur einige zu nennen.

Hybridität und Digitalität

Vielleicht würde es auch einfach gut tun, unsere jetzige Hybridität zwischen analogen und digitalen Publikationskulturen zu erkennen, und im Kontext einer allgemeinen Digitalität entspannter damit umzugehen. Auch ich stehe gerne vor einem Regal und ziehe genau das (gedruckte) Buch zu einer bestimmten mittelalterlichen Bibliothek heraus, um darin konzentriert zu lesen oder einfach nur zu stöbern, – ich freue mich aber auch, wenn das gleiche Buch (oder eins, das ich eben nicht zur Hand habe) zum orts- und zeitungebundenen Lesen oder zum gezielten Durchsuchen digital verfügbar, und sogar eventuell von mir annotier- und mit anderen Quellen verlinkbar ist. Nicht zu schweigen von all den mittelalterlichen Handschriften, von denen ich jeden Tag dankbar bin, dass ich sie inzwischen zu Tausenden in hochqualitativer Auflösung und zum Teil in ihrem ursprünglichen – heute vielfach nicht mehr in der analogen Welt vorhandenen – Überlieferungskontext mit anderen Codices zusammen im Netz aufsuchen und benutzen kann.

(Die Ausführungen gehen auf einen Vortrag zurück, der auf Einladung von Marko Demantowski und Béatrice Ziegler am 24. März 2014 des Basler Kolloquium zur Didaktik der Geschichte und Politik gehalten wurde. Merci an Mareike Koenig und Georg Schelbert für Anregungen und Hinweise.)

 

[1] Die ganze Debatte erinnert zum Teil an die Diskussion um die deutsche Rechtschreibreform und das von manchen noch heute (vielleicht etwa auch in elitärem Habitus) praktizierte Festklammern an der alten Orthographie, wobei auch deren Unzulänglichkeiten beflissentlich ausgeblendet bzw. systematisch verdrängt werden.

Quelle: http://annotatio.hypotheses.org/376

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26. Auf einen Espresso mit Kant

 

Phi: Herr Kant, Sie trinken keinen Espresso. Hat Ihnen der kategorische Imperativ geboten, sich so zu verhalten?

Kant: Nein. Ich trinke Espresso. Jedoch nur einmal am Tag und das morgens um sechs Uhr.

Phi: Also sind Sie der Meinung, dass der kategorische Imperativ hier keine Anwendung findet.

Kant: Sehen Sie, keinen Espresso nach 6 Uhr morgens zu trinken, ist für mich eine Entscheidung der Klugheit. Als ich jünger war, nannte ich sowas dem damaligen Modewort ensprechend “assertorisch” einen assertorischen Imperativ. Wenn ich nämlich Abends gut einschlafen möchte, sollte ich kein Koffein in mir haben. Die einzig kluge Entscheidung ist es deshalb, keinen Espresso nach sechs Uhr morgens mehr zu trinken. Sie kennen ja die Halbwertszeit von Koffein im Körper.

Phi: Das heißt, sie unterscheiden den bekannten kategorischen Imperativ von einem anderen Imperativ, den Sie manchmal assertorischen Imperativ nennen, indem der erstere dieser beiden “per se” geboten ist, ohne an die Auswirkungen dessen, was man tut, zu denken. Der zweite hingegen ist abhängig von den Zielen. Oder habe ich Sie da missverstanden?

Kant: Genau. Kategorisch ist zum Beispiel das Verbot zu lügen. Dabei darf man nicht auf die Konsequenzen gucken. Es ist einfach so.

Phi: Und was wäre ein assertorischer bzw. hypothetischer Imperativ?

Kant: Das Espressobeispiel war doch ganz gut, oder? Aber wenn Sie möchten, nenne ich Ihnen noch ein anderes. Wenn ich ein Bild an die Wand hängen möchte, dann muss ich beispielsweise einen Nagel in diese Wand schlagen. Ich muss also für das Ziel, das ich verfolge, den Nagel notwendig in die Wand schlagen. Wie beim Espresso verfolge ich ein Ziel. Der kategorische Imperativ hingegen wird nicht im Hinblick auf ein Ziel formuliert, sondern gilt eben unabhängig von allen Konsequenzen. Er gilt per se. Übrigens, der hypothetische Imperativ ist entweder assertorisch oder aber problematisch. Assertorisch ist nur die eine Variante. Problematisch ist hingegen die andere Variante des hypothetischen Imperativs, wenn ich mich richtig erinnere.

Phi: Viele Menschen denken sich, Kant sei ein Nörgler gewesen. Drei Ihrer Werke haben den Begriff “Kritik” im Titel. Haben diese Mensch damit Recht?

Kant: Der Begriff Kritik wird heute anders verstanden, als noch zu meiner Zeit, in der “assertorisch” eben, wie gesagt, auch ein modernes Wort gewesen ist, wie heute bei Ihnen “Laser” oder “Babo”. Ich hätte die Imperative heute wahrscheinlich Babo-Imperative genannt. (lacht). Kritik äußere ich heute lediglich an Ihren letzten Blog-Einträgen, die stark an Witz und Qualität nachgelassen haben. Kritik heißt heute nämlich nur, dass mir etwas nicht gefällt und ich dies äußere. In den Titeln meiner Untersuchungen benutze ich das Wort “Kritik” aber anders. Es bedeutet so viel wie “Beurteilung”, “Untersuchung”. Lassen Sie sich also nicht davon in die Irre führen.

Phi: Schön, dass überhaupt jemand unsere Blog-Einträge verfolgt!

Kant: Mit Kopfschütteln.

Phi: Hauptsache wir bewegen irgendetwas. – Aber Spaß bei Seite. Ein weiterer Kritikpunkt an Ihrer Philosophie wurde von Hegel geäußert. Er nannte Ihre Pflichtenethik, also die Ethik, die aus den Geboten des kathegorischen Imperativs folgt, eine Ethik, die zum “Blenden” anregt, weil man eigentlich nichts außer Anerkennung erhaschen wolle. Hat Hegel damit recht?

Kant: Wer ist Hegel? – Meine Meinung dazu ist folgende. Menschen streben nach Glück, ja. Aber das ist nicht, was wichtig ist. Ich widerspreche diesen antiken Denkern. Denn Glück will jedes Wesen erreichen, nicht nur der Mensch. Wir sind aber als Menschen Vernunftwesen. Damit können wir einsehen, was richtig und was falsch ist. Der kategorische Imperativ ist die Formel, die uns diese vernünftige Einsicht erlaubt. Was soll daran Blendertum sein?

Phi: Schwierig an Ihrem Ansatz ist eben diese rigorose Pflicht, die aus dem kategorischen Imperativ folgt, unabhängig von allen anderen Bedürfnissen. Wer würde schon das Lügenverbot durchziehen, wenn ein Freund in Gefahr wäre?

Kant: Ja, das Lügenverbot. Das habe ich nur deshalb formuliert, weil dort wirklich deutlich wird, was eine Pflicht bedeutet. Also nageln Sie mich nicht darauf fest. Schließlich kann man auch folgende Maxime durch den kategorischen Imperativ prüfen lassen: “Helfe einem Freund immer, wenn er in Not ist”.

Phi: Was würde dann dabei rauskommen?

Kant: Eine der fünf Formulierungen des kategorischen Imperativs lautet: “Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.” Kann es ein allgemeines Gesetz, also eins, das für alle Vernunftwesen immer gilt, werden, einem Freund nicht zu helfen? Natürlich nicht. Wir können nun eine Maxime formulieren, die so lautet: “Alle Maximen gelten nur, wenn sie konfliktfrei formuliert werden können”.

Phi: Lieber Herr Kant, wir haben heute also von Ihnen gelernt, dass der kategorische Imperativ ein Mittel ist, um Maximen, die man sich setzt, zu prüfen. Dabei ist die Konsequenz, die aus diesen Maximen folgt, unwichtig. Bei den hypothetischen Imperativen ist die Konsequenz hingegen zu beachten. Außerdem haben wir gelernt, dass die Suche nach Glück nicht durch die Imperative abgedeckt ist, sondern ihnen widersprechen kann. Herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Kant: Danke Ihnen auch, yolo.

 

 

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/282

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Tweetup #Shrigpin @Pinakotheken @davidshrigley @kulturkonsorten

Gestern Abend, gegen 18.15 Uhr habe ich beschwingt die Pinakothek der Moderne verlassen. Normalerweise bin ich, wenn ich so ein Haus verlasse, ganz schön k.o. von den vielen Eindrücken, dem Umhergehen und dem Betrachten. Ich habe dann dringend das Bedürfnis nach Erholung. Aber gestern war das anders. Ganz anders.

Denn gestern gab es in der Pinakothek der Moderne den Tweetup #Shrigpin zur Promotion der Ausstellung des Zeichners David Shrigley. Naja, Werbung halt, könnte man abwinkend sagen. Sicher, auf der einen Seite stimmt das. Auf der anderen Seite konnte ich an etwas teilhaben, dass nun wirklich nicht alltäglich ist:

Ca. 150 Personen dürfen die vom Künstler erstellte Skulptur sehen und dann zeichnen oder darüber twittern. Die wichtigste Regel: Niemand darf sie fotografieren. Noch vor der Ausstellungseröffnung am Donnerstag (10.4.) wird sie von Shrigley persönlich zerstört. Alles, was die Besucher dann noch von ihr sehen können, sind die Wahrnehmungen dieser etwa 150 Personen. Der Künstler spricht somit nur noch durch die Zeichnungen oder Texte (Tweets) Dritter. Das ist ein bisschen wie „Stille Post“. Er hat andere durch seine Skulptur, durch sein Werk inspiriert und sie zum Tun aufgerufen. Das Ursprungswerk des Künstlers dient als Mittel zum Zweck zur Inspiration der anderen. Nimmt man es weg – zerstört es – bleibt nur noch die Kommunikation darüber erhalten, die wiederum Auslöser für Inspiration der Besucher wird, die nur diese Kommunikation nicht aber das Kunstwerk selbst sehen. Sie werden angeregt, das Kunstwerk für sich selbst zu erschaffen und sich vorzustellen, wie es tatsächlich ausgesehen haben könnte. Und damit wird es wieder Auslöser für weitere Kommunikationsprozesse.

Tweet vs. Zeichnung

Vor Ort waren gestern 15 Twitterer und einige Zeichner. Zunächst war es im Raum recht ruhig. Der Künstler war anwesend.

Während die Zeichner auf ihr Medium festgelegt waren, wechselten nach einer Weile viele Twitterer vom Smartphone zu Papier und Stift; das Material lag für alle dort aus. Der Sprung von Twitter zur Zeichnung gelingt halt leichter, weil anders herum doch einige technische Voraussetzungen erfüllt werden müssen. Allmählich lockerte sich die Atmosphäre. Der Künstler wurde angesprochen, leise Gespräche geführt.

Und jetzt die Qual der Wahl: Zeichnen oder Twittern? Ich entschied mich für beides. Die Zeit verging dann gefühlt auch doppelt so schnell. Denn kaum hatte ich mit dem Zeichnen begonnen, fing die Ideenmaschine an zu arbeiten und ich hätte mindestens einen halben Tag dort zubringen können. So aber arbeitete mein Kopf nach dem Tweetup weiter. Und er arbeitet immer noch. Ich hoffe, den Kulturkonsorten (Christian Gries, Sybille Greisinger, Harald Link) geht es ähnlich ! :-)

So long! And many thanks to David Shrigley!

Tweets und Fotos wurden von Christian Gries zum Nachlesen hier als storify zusammengestellt.

#shrigpin

Quelle: http://games.hypotheses.org/1627

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Der Raum der Entgrenzung. Der Cyberspace als Sinnhorizont medialer Kommunikation- Von Udo Thiedeke (Teil 1)

Soll der Cyberspace als soziologischer Begriff für die Modellierung einer durch neue Medien beeinflussten Sozialität taugen, so ist zu beobachten, wie der Sinnhorizont der Kommunikation durch die Kommunikation mit neuen Medien verändert wird. Hierzu ist der Vorschlag zu machen, soziologisch … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6386

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