Fragen und Austausch zu: Museen / Digitalisierung / Netzwelt

Fragen Museen und insbesondere Ausstellungen haben in den letzten Jahrzehnten geboomt. Darauf ausruhen können sie sich jedoch nicht, denn neue Herausforderungen warten und ob der Besucherzustrom anhält ist unsicher. Diesmal geht es nicht primär um schrumpfende Kulturetats, auch wenn die … Weiterlesen

Quelle: http://dss.hypotheses.org/1405

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“Daß auch in Preußen Akten manchmal verschwinden konnten” – Der preußische Kronprinzenprozess von 1740 bei Jürgen Kloosterhuis

Zum Dilemma der Aktenkunde gehört, dass es auf der einen Seite Lehrbücher gibt, auf der anderen eine Aufsatzliteratur, aber kaum vertiefende Spezialstudien im Format einer Monographie. Eine herausragende Ausnahme ist Jürgen Kloosterhuis’ Studie zum preußischen Kronprinzenprozess von 1740 und dem Todesurteil gegen Hans Hermann von Katte, den Fluchthelfer Friedrichs II. – herausragend schon deshalb, weil das historische Urteil hier direkt der aktenkundlichen Betrachtung der Quellen entspringt, wobei diese ihrerseits umfassend historisch eingebettet ist.

Die Geschichte um den gescheiterten Fluchtversuch Friedrichs des Großen, der sich als Kronprinz mit der Hilfe einiger Kameraden der Hand seines übermächtigen Vaters entziehen wollte, ist wohl bekannt. Historische Forschungen, populäre Darstellungen und künstlerische Adaptionen dieser Tragödie arbeiten sich bevorzugt an der Hinrichtung von Friedrichs Vertrauten, des Premierlieutenants beim Kürassierregiment Gens d’armes, Hans Hermann von Katte, ab. Den hatte das Kriegsgericht zu Festungshaft verurteilt, aber König Friedrich Wilhelm I. verschärfte das Urteil zur Hinrichtung, die vor den Augen des Kronprinzen vollstreckt wurde.

Die Brillanz von Kloosterhuis’ Studie liegt auch darin, dass der Aktenbefund, einmal sorgfältig präpariert und in den Kontext der preußischen Militärgeschichte gestellt, für sich spricht und die am weitesten hergeholten Interpretationen des Todesurteils, die bis in die Psychoanalyse ausgreifen, von selbst zerplatzen lässt. Kloosterhuis schärft das Auge für den Aufwand, den solide Archivarbeit wirklich erfordert. Das ist umso nötiger, wenn eine äußerlich solide wirkende Edition in bequemer Griffweite ist, die sich aber, wie in diesem Fall Hinrichs (1936), bei der Nachprüfung an den Archivalien als unzuverlässig erweist.

Der Angelpunkt der Untersuchung ist eine Feststellung, die der ungeschulte Leser banal finden mag: Das Todesurteil wechselt in der Mitte vom unpersönlichen in den Ich-Stil. Es fängt an mit

“Seine Königliche Majestät in Preußen, Unser allergnädigster Herr [...]“,

fährt fort mit

“Was aber den Lieutenant Katten [...] anbelanget, so seind Seine Königlich Majestät [...]“

und endet mit einem tröstlich gemeinten

“Wenn das Kriegesrecht dem Katten die Sentenz publiciret, so soll ihm gesagt werden, daß Seiner Königlichen Majestät es leid thäte [...]“,

dazwischen heißt es aber

“Dieser Katte ist nicht nur in Meinem Dienst Officier bei der Armée, sondern auch bei die Guarde Gens d’armes, und da bei der ganzen Armée alle Meine Officiers Mir getreu und hold sein müßen [...]“

(Kloosterhuis 2011: 97).

August Friedrich Eichel, der verantwortliche Kabinettssekretär, hatte ein Befehlsschreiben des Landesherrn an das in Köpenick tagende Kriegsgericht im “objektiven” Stil entworfen. In Anlehnung an die zeitgenössischen Bezeichnungen spricht die Aktenkunde von einem Dekretschreiben, genauer: von einem Kabinettsdekret(-schreiben), da im Kabinett des Königs entstanden.

Der auffällige und eklatant gegen die Kanzleiregeln verstoßende Stilbruch eines Sprungs in den Ich-Stil lässt sich nur so erklären, dass der König seinem Sekretär einen Zusatz als wörtlich zu übernehmenden Einschub in die Feder diktiert hat, der für sich genommen eine Kabinettsordre im Ich-Stil darstellen würde (Kloosterhuis 2011: 17).

Diese Art der Zuweisung von Aktenstücken an verschiedenen “Baupläne”, Stilformen genannt, also die Klassifizierung der Stücke, stellt den “systematischen” Zweig der Aktenkunde dar, der Einsteiger wegen der Fülle der Begriffsungetüme aus der Kanzleipraxis vergangener Tage leicht abschreckt. In der Tat kann Klassifizierungs-Bingo auch zum Selbstzweck degenerieren.

Kloosterhuis aber zeigt trefflich, wozu die “Systematik” gut ist: zum Erkennen von Stilbrüchen und formalen Widersprüchen, die in einer hinreichend reglementierten Kanzlei einen Grund haben mussten. Dieser Grund ist Teil des Aussagewerts einer historischen Quelle.

Nun möchte man nach Aktenlage wissen, was sich der König bei seinem Stibruch gedacht haben mag. So analysiert Kloosterhuis detailliert (aber lesbar – eine Kunst!) die Überlieferungslage im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dessen Direktor er ist. Was dem unvoreingenommenen Betrachter einfach als die Prozessakten erscheinen mag, erweist sich als “Pertinenzgemenge” (Kloosterhaus 2011: 18), in dem die eigentlichen Untersuchungsakten des Kabinetts mit den Handakten verschiedener beteiligter Beamter vermischt wurden.

Die gleiche Methodik hat übrigens Kretzschmar (2011) sehr instruktiv auf die ebenfalls zusammengestoppelte Überlieferung zu einem echten politischen Schauprozess des 18. Jhs., dem gegen Joseph Süß Oppenheimer, angewandt.

Nun fehlt in den Kabinettsakten zum Kronprinzenprozess ein Band (Nr. VIII), was bereits 1826 im Archiv festgestellt, aber von der Forschung (einschließlich der forschenden Archivare) übersehen wurde. Die Laufzeit dieses Bandes ist auf Oktober/November 1730 einzugrenzen. Just in diesem Band hätte man nach Unterlagen zur Entscheidungsfindung des Königs suchen können. Wie er abhanden gekommen ist, ob ihn vielleicht sogar Friedrich der Große hat verschwinden lassen, muss unklar bleiben (Kloosterhuis 2011: 28).

Im Folgenden füllt Kloosterhuis die “Küstriner Akten-Lücke” durch Kontextualisierung der rätselhaften Entscheidung im Zusammenhang der militärischen Kultur in Preußen und der diplomatischen Verwicklungen am Hof Friedrich Wilhelms. Der König habe gar nicht anders handeln können, als das Urteil zu verschärfen, so die Schlussfolgerung.

Dabei kommt noch die Abschrift eines früheren Entwurfs des Urteils ins Spiel, der ohne Stilbruch durchgängig als Kabinettsdekret verfasst worden war. Die Abschrift tauchte vor Jahrzehnten im Autografenhandel auf und verschwand wieder, das Geheime Staatsarchiv konnte sich aber eine Fotokopie sichern. Hier fehlt der vom König diktierte Einschub, der auf den Bruch des Fahneneids und damit des Treueverhältnisses zwischen Katte und dem König als Regimentschef der Gens d’armes abhebt. Das verweist auf der Suche nach den Entscheidungsgründen in das Militärstrafrecht und auf die Todesstrafe für Deserteure (Kloosterhuis 2008: 75 f.).

“So und nicht anders lagen die Fakten, so sprachen die Akten, das waren die Konsequenzen.”

Für einen Archivar und Aktenkundler ist Kloosterhuis’ (2011: 93) Schlusssatz eigentlich zu schön, um daran nur ein Jota zu verändern.

Will man es aber ganz genau nehmen, so müsste man das mittlere Satzglied aber doch ins Präsens setzen: So sprechen die Akten heute. Wie die vollständige Aktenlage zum König sprach, wissen wir ja nicht, wie Kloosterhuis gezeigt hat. Der methodologische und didaktische Wert dieser Studie liegt (nicht nur für Preußen-Historiker) in der meisterhaften Demonstration des aktenkundlichen Umgangs mit Aktenlücken.

Literatur

Hinrichs, Carl 1936. Der Kronprinzenprozeß. Friedrich und Katte. Hamburg.

Kloosterhuis, Jürgen 2011. Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer “facheusen” Geschichte. 2. Aufl. Berlin. (Vorschau)

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher und aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke/Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/256

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(4) Das Image der Soziologie und die Spirale wechselseitiger Nicht-Beachtung – Von Roland Walkow

Mein Vortrag auf dem DGS-Kongress 2014 wird die These entfalten, dass die Soziologie in einem double bind steckt. Für die Entwicklung meines Arguments werde ich auf drei verschiedene Theoriefiguren zurückgreifen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Soziologie den Anspruch hat, … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7287

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Stalin, Stalingrad, and the Politics of Historical Memory in Russia

 

Just recently Vladimir Putin suggested renaming Volgograd as Stalingrad, the most controversial figure in twentieth-century Russian history.

English

 

The past forms a significant part of the collective identity of modern Russians. The most controversial figure in twentieth-century Russian history is Joseph Stalin. The assessment of his era divides Russian society no less than the current actions of the Kremlin politicians. Their appeal to Stalin’s legacy has a pronounced ideological and propagandistic character.

 

Stalin and Stalingrad

During the last ten years, no issue in the public history of Russia has been debated more emotionally and more fiercely than Joseph Stalin and his times. The current political leaders are constantly highlighting how topical Stalin’s era remains. For example, President Vladimir Putin, during his visit to France on June 6, 2014, on the occasion of the anniversary of the Normandy landings, met with Russian war veterans and suggested renaming Volgograd as Stalingrad [2]. The intriguing aspect of Putin’s statement is that never before had he spoken explicitly about reinstating the city’s former name. In 2002, Putin had stated bluntly that changing the name “would not be to the benefit of all of us,” as it could raise suspicions about a return to Stalinism [1]. Indeed, such a statement might appear too odious given the devastating effects of the Stalinist era of Russian history, as well as the ambiguous assessment in contemporary Russian society of Stalin’s forced modernization during the 1920s and 30s. Many liberal-minded observers immediately interpreted Putin’s comment in Normandy as another step towards reviving the Soviet past. It is worth remembering that until 1925 the historical name of Volgograd was Tsaritsyn. Then the city was renamed for the first time in honor of Stalin and became Stalingrad. Stalingrad became Volgograd during the Khrushchev period, which sharply condemned Stalin’s crimes.

Stalin and collective memory

Collective historical memory in modern Russia has not established stable representations of Stalin as an authoritarian ruler who created a country with a defunct economic system, but with a widely ramified network of punitive institutions. Stalin’s atrocities became a public issue only for a very short period, namely, from 1987 to 1991. Importantly, political journalists rather than professional historians played a crucial role in discovering the truth about Stalinism. In this short period, Russian public history was healthy. In 1991, everything ended with the collapse of the Soviet Union and the beginning of liberal economic reforms. Public debate on the country’s history fell by the wayside. New assessments about the Stalinist period have had no time to strike root either in the teaching of history in schools and universities or in the public sphere. At the very least, this would require not only a generational change among historians and teachers but also continued public interest in reading (critical) newspapers and magazines. Since the early 1990s, however, the circulation of relevant publications has steadily declined. Nor has the public sphere of history had time to establish clear images of the Stalin era.

The difficulties of understanding

Consequently, since the early 1990s the Russian people have been too preoccupied with the country’s seismic changes to learn the historical lessons about Stalin, the tyrant who committed atrocious crimes against humanity. Russians have instead had to usher in a new revolutionary era associated with economic and political turmoil, and which has since climaxed in collective disappointment about Russia’s failed liberalization. Liberal ideology, moreover, has used the interpretation of the Stalin regime and the Stalinist state as a major reason to explain the misery and misfortunes of Russia in the previous era. In the 1990s, Russians realized that although Stalin and the Stalinist era were long gone, life in Russia had not improved. The system of history education has added new schizophrenic symptoms to the present public image of Stalin. The previously compulsory examinations in history were abolished In Russian schools in the early 1990s. Consequently, school-leavers were no longer obliged to engage with the history of the Soviet period and the Stalin era. With the decline of public knowledge about Stalin, his image has become blurred. He is not seen as the particularly fear-inspiring authoritarian dictator that he undoubtedly was.

Stalin and the renaming of Volgograd

Public opinion polls confirm the contradictory representations of Stalin in modern Russia. In March 2013, the Levada Center, the famous Russian Institute for Public Opinion Research, conducted a survey on the occasion of the sixtieth anniversary of Stalin’s death. Approximately 49–51 percent of respondents appraised Stalin’s role in history rather positively than negatively. About 30 percent assessed his role negatively. However, only 23 percent favored reinstating the historical name of Stalingrad over Volgograd [3]. It is obvious that whereas Russian public perception persists in the “shadow” of the Stalinist totalitarian regime, a return to that period is also ruled out.

The Sinless State

The present government attaches the greatest value to the state and its role in the history of Russia. In modern-day Russia, a gradual return of the idea of greatstateness began in 2001. The notion that the state has never make mistakes in Russian history has been carefully blended into public history. Therefore, Stalin has also been elevated to a positive hero of this state history. Many people in Russia remember the sensational history texts written by Alexander V. Filippov, in which Stalin was allegedly called an “effective manager.” Although these were not his exact words, Filippov positively evaluated Stalin’s role in the reforms during the 1920s and 30s, as well as his selection and placement of personnel in the 1940s [4]. Russian public history will remain affected by the Stalin syndrome for a long time.

 

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Literature

  • Sherlock, Thomas. Confronting the Stalinist Past: The Politics of Memory in Russia, Washington Quarterly. Spring 2011, vol.34, Issue 2, S.93-109.
  • Whitaker, Emily. Stalin’s resurrection, History Today. September 2012, Vol. 62 Issue 9, S.6-7.
  • Gill, Graeme. Symbols and Legitimacy in Soviet Politics, Cambridge University Press, 2011, 356 p.
  • Gill, Graeme. Symbolism and Regime Change in Russia, Cambridge University Press, 2013, 326 p.
  • Филиппов, А.В. Новейшая история России, 1945—2006 гг.: кн. для учителя / А.В. Филиппов. – М.: Просвещение, 2007. – 494.

External links

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[1] Novye Izvestiya. 9 June 2014, http://www.newizv.ru/lenta/2014-06-09/202979-slova-putina-o-pereimenovanii-volgograda-nepravilno-ponjali-peskov.html (Last access 11 September 2014).
[2] Putin predlozhil provesti referendum o vozvraschenii Stalingrada. In: RBK. 6 June 2014, http://top.rbc.ru/politics/06/06/2014/929157.shtml (Last access 11 September 2014).
[3] Obschestvennoe mnenie – 2013, Moskva: Levada-Tzentr, 2014, p.246-247.
[4] Filippov, Alexander V. Noveischaya istoriya Rossii 1945—2006, Moskva 2007, p. 87-88.

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Image Credits
© Wikimedia User “High Contrast” – Creative Commons Attribution 3.0 Germany – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Volgograd_city_sign.jpg

Recommended Citation
Khodnev, Alexander: Stalin, Stalingrad, and the Politics of Historical Memory in Russia. In: Public History Weekly 2 (2014) 30, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2534.

Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

 

 

Deutsch

 


Die Vergangenheit bildet einen wesentlichen Teil der modernen kollektiven Identität der Russen. In der Geschichte Russlands des 20. Jahrhunderts gibt es keine kontroversere Figur als Josef Stalin. Die Bewertung seiner Epoche spaltet die russische Gesellschaft nicht weniger als die heutigen Handlungen der Kreml-Politiker. Die Hinwendung zu Stalins historischem Nachlass trägt einen ausgeprägten ideologischen und propagandistischen Charakter.

 

 

Stalin und Stalingrad

Im Laufe der letzten Dekade gab es in der öffentlichen Geschichte Russlands kein so heiß diskutiertes und streiterregendes Thema wie die Bewertung von Josef Stalin und seiner Zeit. Spitzenpolitiker verschärfen die Aktualität dieses Themas andauernd. Zum Beispiel als sich Präsident Wladimir Putin im Rahmen seines Frankreich-Besuchs am 6. Juni 2014 anlässlich des Jahrestages des Landung der Alliierten in der Normandie mit Kriegsveteranen traf und vorschlug, die Umbenennung von Wolgograd in Stalingrad in Erwägung zu ziehen[2]. Die Intrige von Putins Statement liegt darin, dass nie zuvor ein Staatsoberhaupt direkt das Thema angesprochen hatte, der Stadt an der Wolga den Namen Stalins wiederzugeben. 2002 erklärte Putin deutlich, dass eine solche Umbenennung “für uns alle nicht von Vorteil wäre”, da sie den Verdacht der Rückkehr in die Stalin-Epoche erwecken würde[1]. Tatsächlich könnte sich so eine Erklärung im Zuge der zerstörerischen Folgen von Stalins Staatsführung und der nicht eindeutigen Einschätzung seiner aufgezwungenen Modernisierung in der modernen russischen Gesellschaft zu belastend anhören. Viele liberal gestimmte Beobachter würden darin noch einen weiteren Schritt rückwärts in Richtung des Wiederauflebens der sowjetischen Vergangenheit sehen. Zur Erinnerung: Bis 1925 war der historische Name der Stadt Zarizyn. Damals wurde die Stadt zunächst zu Ehren Stalins umbenannt und wurde zu Stalingrad. Stalingrad wurde zu Wolgograd in den Zeiten von Chruschtschow (1961), der die Verbrechen Stalins scharf verurteilte.

Stalin und das kollektive Gedächtnis

Das kollektive historische Gedächtnis im modernen Russland erzeugte kein beständiges Bild von Stalin als autoritäres Staatsoberhaupt, das ein Land mit einem nicht lebensfähigen wirtschaftlichen Systems aufbaute, dafür aber mit weit verzweigten Strafinstitutionen. Das liegt daran, dass sich die Geschichtskultur diesem Thema nur in einer sehr kurzen Periode zwischen 1987 und 1991 zugewandt hat. Eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung der Wahrheit über den Stalinismus spielten nicht professionelle Historiker, sondern Publizisten. Man kann behaupten, dass die Gesundheit der Geschichtskultur damals in gutem Zustand war. Das endete aber mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Beginn der liberalen wirtschaftlichen Reformen. Die Diskussionen über Geschichte sind in den Hintergrund gerückt. Neue Ansichten zu Stalins Zeit konnten sich weder im Geschichtsunterricht der Schulen und Universitäten noch in der Öffentlichkeit tief verwurzeln. Dafür wäre wenigstens ein Generationswechsel der Geschichtelehrer und –dozenten nötig gewesen, sowie anhaltendes Interesse der Menschen am Zeitungs- und Zeitschriftenlesen. Das Interesse an historisch-publizistischen Texten ging zurück. Auch die Auflagen populärer Druckmedien gingen in den 1990er Jahren beständig zurück. Geschichtskultur konnte so keine deutlichen Vorstellungen über die Stalin-Zeit schaffen.

Schwierigkeiten der Erkenntnis

Demzufolge konnten sich die Einwohner Russlands zu Beginn der 90er Jahre die Einsichten der Geschichtskultur über Stalin als Tyrann, der Verbrechen gegen die Menschheit begangen hatte, nicht einprägen. Sie mussten eine neue revolutionäre Epoche betreten, verbunden mit ökonomischen und politischen Umbrüchen, an deren Ende nur die allgemeine Enttäuschung mit dem liberalen Projekt für Russland wartete. Die liberale Ideologie benutzte die Interpretation des von Stalin erschaffenen Regimes und des Stalin-Staates als Erklärung der Haupt-Ursache für Russlands Leid und Missgeschick in der vorherigen Epoche. Die russische Bürger sahen aber in den 1990er Jahren, dass Stalin schon lange nicht mehr da war, auch der Stalin-Staat existierte nicht mehr, aber das Leben in Russland war nicht besser geworden. Das Bildungssystem im Bereich Geschichte fügte der öffentlichen Gestalt Stalins neue schizophrene Merkmale zu. Obligatorische Prüfungen in Geschichte wurden in den russischen Schulen Anfang der 90er Jahre abgeschafft. Dementsprechend mussten Schulabsolventen keine festen Kenntnisse über die Geschichte der sowjetischen Periode und der Stalin-Epoche aus der Schule besitzen. Stalin erschien als gar kein so schrecklicher, und schon gar nicht autoritärer Diktator, man wusste einfach gar nicht so viel über ihn.

Stalin und die Umbenennung von Wolgograd in Umfragen

Die Meinungsumfragen bestätigen die Widersprüchlichkeit der Vorstellungen über Stalin im heutigen Russland. Im März 2013 war der 60. Jahrestag von Stalins Tod. Ein in Russland bekanntes Meinungsforschungsinstitut – das Levada-Center – führte zu diesem Anlass eine Umfrage durch. Circa 49 bis 51 Prozent der im Februar-März 2013 befragten Russen schätzten die Rolle Stalins in der Geschichte positiv ein. Eine negative Einschätzung äußerten circa 30 Prozent der Befragten. Dabei unterstützten lediglich 23 Prozent der an dieser Umfrage beteiligen Russen die Wiederbenennung von Wolgograd mit dem historischen Namen Stalingrad[3]. Offensichtlich leben russische Bürger in ihrer Vorstellung weiterhin “im Schatten” von Stalins totalitärem Regime. Sie möchten aber nicht dahin zurückkehren.

Der Staat ist sündenlos

Vom Gesichtspunkt der heutigen Regierung besaß der Staat immer den höchsten Wert in der Geschichte Russlands. Eine allmähliche Rückkehr der Großmacht-Idee begann im modernen Russland seit 2001. Die Idee darüber, dass der Staat in der Geschichte Russlands nie Fehler begangen hatte, wurde fleißig in die Geschichtskultur beigemischt. Demzufolge musste Stalin auch ein positiver Held dieser Art von Staatsgeschichte sein. Viele Menschen in Russland erinnern sich an die Situation mit den Lehrbüchern von А.W. Filippov, in denen Stalin angeblich als ein “effizienten Manager” bezeichnet wurde. Und obwohl genau diese Wendung in den von Filippov herausgegebenen Texten fehlte, wurde die Rolle Stalins in den Reformen 1920-1930er Jahre sowie in Kaderauswahl und -einsatz in den 40er Jahren ziemlich positiv bewertet[4]. Die Russen werden in der Geschichtskultur noch lange unter einem “Stalin-Syndrom” leiden.

 

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Literatur

  • Sherlock, Thomas: Confronting the Stalinist Past: The Politics of Memory in Russia. In: Washington Quarterly, 34(2011), H. 2, S.93-109.
  • Whitaker, Emily: Stalin’s resurrection. In: History Today, 62(2012), H. 9, S.6-7.
  • Gill, Graeme: Symbols and Legitimacy in Soviet Politics, Cambridge University Press 2011.
  • Gill, Graeme: Symbolism and Regime Change in Russia, Cambridge University Press 2013.
  • Филиппов, А.В. Новейшая история России, 1945—2006 гг.: кн. для учителя / А.В. Филиппов. – М.: Просвещение, 2007. – 494.

 

Externe Links

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[1] Novye Izvestiya. 9. Juni 2014, http://www.newizv.ru/lenta/2014-06-09/202979-slova-putina-o-pereimenovanii-volgograda-nepravilno-ponjali-peskov.html (Aufgerufen am 11. Sept. 2014).
[2] Putin predlozhil provesti referendum o vozvraschenii Stalingrada. In: RBK. 6. Juni 2014, http://top.rbc.ru/politics/06/06/2014/929157.shtml (Aufgerufen am 11. Sept. 2014).
[3] Obschestvennoe mnenie – 2013, Moskva: Levada-Tzentr, 2014, S.246-247.
[4] Filippov, Alexander V. Noveischaya istoriya Rossii 1945—2006, Moskva 2007, S.87-88.

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Abbildungsnachweis
© Wikimedia User “High Contrast” – Creative Commons Attribution 3.0 Germany – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Volgograd_city_sign.jpg

Übersetzung aus dem Russischen
von Maria Zhilkina (Universität Trier)

Empfohlene Zitierweise
Khodnev, Alexander: Stalin, Stalingrad und die Politik des historischen Gedächtnisses in Russland. In: Public History Weekly 2 (2014) 31, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2534.

Copyright (c) 2014 by De Gruyter Oldenbourg and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.

 

Pусский

 


Прошлое формирует немалую часть современной коллективной идентичности россиян. В истории России XX века нет такой же противоречивой фигуры, как Иосиф Сталин. Оценка его эпохи разделяет российское общество не меньше, чем современные действия кремлевских политиков. Обращение к наследию Сталина носит ярко выраженный идеологический и пропагандистский характер.

 

 

Сталин и Сталинград

В последние десять лет в публичной истории в России нет темы более горячей и вызывающей жаркие споры, чем оценка Иосифа Сталина и его времени. Политические лидеры постоянно добавляют злободневность этому сюжету. Например, президент Владимир Путин в рамках визита во Францию 6 июня 2014, посвященного юбилею высадки союзников в Нормандии встретился с ветеранами и предложил подумать о переименовании Волгограда в Сталинград [2]. Интрига заявления В.В. Путина заключается в том, что никогда ранее глава государства не говорил прямо о возвращении городу на Волге имени Сталина. А в 2002 году В.В.Путин прямо заявлял, что такое переименование «не пошло бы на пользу всем нам», так как породило бы подозрения в откате к эпохе сталинизма [1]. Действительно, слишком одиозным могло выглядеть такое заявление в связи с разрушительными последствиями участия Сталина в управлении страной и неоднозначностью оценки его насильственной модернизации в современном обществе России. Многие либерально настроенные наблюдатели сразу усмотрели в этом еще одни шаг назад в сторону возрождения советского прошлого. Напомним, что историческое название города до 1925 года – Царицын. Тогда город был переименован в первый раз в честь Сталина и стал Сталинградом. Сталинград стал Волгоградом во время Н.С. Хрущева (1961), резко осудившего сталинские преступления.

Сталин и коллективная память

Коллективная историческая память в Современной России не создала устойчивых представлений о Сталине как авторитарном правителе, построившем страну с нежизнеспособной экономической системой, но разветвленными карательными институтами. Дело в том, что публичная история обратилась к этой теме в очень короткий период времени с 1987 по 1991 год. Большую роль в раскрытии истины о сталинизме сыграли не профессиональные историки, а публицисты. Можно сказать, что здоровье публичной истории в России тогда было в полном порядке. Однако все это закончилось с распадом Советского Союза и началом либеральных экономических реформ. Дискуссии по истории ушли на второй план. Новые суждения о сталинском периоде не успели укорениться ни в преподавании истории в школе и университетах, ни в публичном пространстве. Для этого потребовалась бы, по меньшей мере, смена поколения историков-преподавателей и сохранение интереса людей к чтению газет и журналов. Увлечение чтением исторической публицистики пропадало. И в 1990-х тиражи популярных изданий неуклонно падают. Публичная сфера истории также не успела выстроить отчетливых образов сталинского времени.

Трудности постижения

Следовательно, жители России не успели к началу 1990-х усвоить уроки взглядов публичной истории о Сталине-тиране, Сталине, совершавшем преступления против человечности. Им пришлось вступить в новую революционную эпоху, связанную с экономическими и политическими потрясениями, в конце которой было массовое разочарование в либеральном проекте для России. А либеральная идеология использовала интерпретацию созданного Сталиным режима и сталинского государства как объяснение главной причины несчастий и злоключений России в предшествующую эпоху. Российский обыватель увидел в 1990-е годы, что Сталина давно нет, не стало и сталинского государства, а жизнь в России не улучшилась. Система исторического образования добавила новые шизофренические признаки публичному образу Сталина. В Российских школах в начале 1990-х годов отменили обязательные экзамены по истории. Таким образом, выпускники не должны были выносить из школы какие-то устойчивые представления по истории советского периода и эпохи Сталина. Сталин получился не такой уж страшный, и совсем не авторитарный диктатор, о нем просто мало, что знали.

Сталин и переименование Волгограда в опросах

Опросы общественного мнения подтверждают противоречивость представлений о Сталине, существующих в современной России. В марте 2013 года исполнилось 60 лет со смерти Сталина. Известный в России институт изучения общественного мнения – Левада-Центр, провел по этому поводу опрос. Примерно от 49 до 51 процента опрошенных в феврале-марте 2013 года россиян скорее положительно оценивали роль Сталина в истории. Отрицательные оценки высказали около 30 процентов опрошенных. Вместе с тем, лишь 23 процента россиян, участвовавших в том же опросе, высказались за возвращение Волгограду исторического наименования Сталинград [3]. Очевидно, что российские обыватели продолжают в своих представлениях жить «в тени» сталинского тоталитарного режима. Однако они не хотят вернуться в него.

Государство безгрешно

Государство всегда было высшей ценностью в истории России с точки зрения современного правительства. Постепенное возвращение идеи великодержавности в современной России началось с 2001 года. В публичную историю старательно подмешивали идею о том, что государство в истории России никогда не совершало ошибок. Следовательно, Сталин также был положительным героем этой государственной истории. Многие в России помнят о нашумевшей истории с учебниками А.В. Филиппова, в которых Сталина, якобы, называли «эффективным менеджером». И хотя точно такой формулировки в текстах, выходивших под редакцией А.В. Филиппова, не было, роль Сталина в реформах 1920-1930-х, а также в подборе и расстановке кадров в 1940-е годы оценивалась в них весьма положительно[4]. В публичной истории россияне еще долго будут болеть синдромом Сталина.

 

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литературы

  • Sherlock, Thomas. Confronting the Stalinist Past: The Politics of Memory in Russia, Washington Quarterly. Spring 2011, vol.34, Issue 2, S.93-109.
  • Whitaker, Emily. Stalin’s resurrection, History Today. September 2012, Vol. 62 Issue 9, S.6-7.
  • Gill, Graeme. Symbols and Legitimacy in Soviet Politics, Cambridge University Press, 2011, 356 p.
  • Gill, Graeme. Symbolism and Regime Change in Russia, Cambridge University Press, 2013, 326 p.
  • Филиппов, А.В. Новейшая история России, 1945—2006 гг.: кн. для учителя / А.В. Филиппов. – М.: Просвещение, 2007. – 494.

Внешние ссылок в Интернете

  • Stalingrad name to be revived for anniversaries. In: BBC news Europe. 1 February 2013, http://www.bbc.com/news/world-europe-21291674 (Last access 11. Sept. 2014)
  • Joseph Stalin, http://spartacus-educational.com/RUSstalin.htm (Last access 11. Sept. 2014)
  • Russian city to bear Stalin’s name six days a year. In: Russia Beyond the Headlines, http://rbth.com/society/2013/02/07/russian_city_to_bear_stalins_name_six_days_a_year_22605.html (Last access 11. Sept. 2014)

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[1] Новые известия. 9. Juni 2014.
http://www.newizv.ru/lenta/2014-06-09/202979-slova-putina-o-pereimenovanii-volgograda-nepravilno-ponjali-peskov.html (11.9.14)
[2] Путин предложил провести референдум о возвращении Сталинграда//РБК. 6. Juni 2014. URL: http://top.rbc.ru/politics/06/06/2014/929157.shtml (11.9.14)
[3] Общественное мнение – 2013, Moskau: Levada-Center, 2014, S.246-247
[4] Филиппов, А.В. Новейшая история России, 1945—2006: Lehrerhandbuch / А.В. Филиппов. – М.: Просвещение, 2007, S.87-88.

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Авторы фотографий
© Wikimedia User “High Contrast” – Creative Commons Attribution 3.0 Germany – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Volgograd_city_sign.jpg

Рекомендация для цитирования
Ходнев Александр: Сталин, Сталинград и политика исторической памяти в России. In: Public History Weekly 2 (2014) 31, DOI:  dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2534.

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Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/2-2014-31/stalin-stalingrad-politics-historical-memory-russia/

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Das „verschwundene“ Jahrhundert

Mein Kollege Carl-Hans Hauptmeyer hat in der hannoverschen Zeitschrift „Stadtkind“ einen leicht ironischen Artikel über den aktuellen „Royals“-Hype in Hannover geschrieben. Tenor: 1913 wurde noch groß das bürgerliche Hannover zum 100-jährigen Jubiläum des Rathauses gefeiert und nun wird die Gegenpartei gleichfalls bejubelt, dabei spielte die Personalunion gar keine Rolle für die Stadt. Als ich das gestern gelesen habe, musste ich an den folgenden Text denken, den ich im Sommer in Dresden mal so nebenbei geschrieben und dann vergessen hatte, der im Inhalt eine andere Aussage enthält, aber derselben Irritation über die leicht irrationalen Feiern zur Personalunion geschuldet ist.
 
Die Überschrift soll irritieren. Natürlich gab es das 18. Jahrhundert. Wenn man aber berücksichtigt, welche Entwicklungen im 18. Jahrhundert stattfanden, dann erfassten davon einige wichtige Hannover, die Stadt und das Kurfürstentum, eben nicht, sie kamen hier schlicht nicht vor. Blicken wir kurz ins 17. Jahrhundert.

[...]

Quelle: http://digireg.twoday.net/stories/985930357/

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Das „verschwundene“ Jahrhundert

Mein Kollege Carl-Hans Hauptmeyer hat in der hannoverschen Zeitschrift „Stadtkind“ einen leicht ironischen Artikel über den aktuellen „Royals“-Hype in Hannover geschrieben. Tenor: 1913 wurde noch groß das bürgerliche Hannover zum 100-jährigen Jubiläum des Rathauses gefeiert und nun wird die Gegenpartei gleichfalls bejubelt, dabei spielte die Personalunion gar keine Rolle für die Stadt. Als ich das gestern gelesen habe, musste ich an den folgenden Text denken, den ich im Sommer in Dresden mal so nebenbei geschrieben und dann vergessen hatte, der im Inhalt eine andere Aussage enthält, aber derselben Irritation über die leicht irrationalen Feiern zur Personalunion geschuldet ist.
 
Die Überschrift soll irritieren. Natürlich gab es das 18. Jahrhundert. Wenn man aber berücksichtigt, welche Entwicklungen im 18. Jahrhundert stattfanden, dann erfassten davon einige wichtige Hannover, die Stadt und das Kurfürstentum, eben nicht, sie kamen hier schlicht nicht vor. Blicken wir kurz ins 17. Jahrhundert.

[...]

Quelle: http://digireg.twoday.net/stories/985930357/

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Wissenschaftliches Rundgespräch zur Archivgutdigitalisierung

Am 26. Mai waren wir bei einer wichtigen Diskussion in der Archivschule in Marburg. Vertreter der Archive und Wissenschaftler aus der Forschung diskutierten über das wichtige Thema Digitalisat, was aus der aktuellen Forschung in vielen Fächern kaum mehr wegzudenken ist.

Die scheidene Projektkoordinatorin Stephanie Oertel hat jetzt einen Bericht dazu geschrieben, der die Wünsche und Probleme beider Seiten zum Thema Digitalisierung präsentiert und zusammenbringt. Er kann als Anregung für weitere Diskussionen zu diesem Thema dienen.

Der gleiche Bericht findet sich auf: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5567&count=5340&recno=35&sort=datum&order=down

Vielen Dank an die Autorin Stephanie Oertel.

Wissenschaftliches Rundgespräch zur Archivgutdigitalisierung

Von Stepanie Oertel

ArchivschuleMAR„Wenn ich mir was wünschen dürfte. Wunsch(t)raum Archiv für NutzerInnen im digitalen Zeitalter“ lautete einer der Vortragstitel auf dem 18. Archivwissenschaftlichen Kolloquium am 26. und 27. November 2013 in Marburg: SYLVIA NECKER (damals IRS, Erkner) ging in ihm auf eine mögliche Beständepriorisierung für die Archivgutdigitalisierung, das Rechercheverhalten und die Möglichkeiten eines digitalen Archivs aus wissenschaftlicher Sicht ein. Ihre Anregungen und auch die der anderen Referenten aus der Wissenschaft, den Bibliotheken und den Museen zeigte ein Potential auf, das innerhalb des DFG-geförderten Produktivpiloten „Digitalisierung von archivalischen Quellen“ genutzt werden soll. Ziel ist es, in den zukünftigen Digitalisierungsstrategien der Archive die Sicht und die Bedürfnisse der Nutzer stärker als bisher zu berücksichtigen. Die Koordinierungsstelle des DFG-geförderten Produktivpiloten „Digitalisierung von archivalischen Quellen“ nahm das wissenschaftliche Interesse am Thema, das im Kolloquium signalisiert wurde, zum Anlass und lud Forscher verschiedener geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Sparten zu einem vertieften Austausch ein. Am 26. Mai 2014 fand dazu ein wissenschaftliches Rundgespräch in der Archivschule Marburg statt. Die Wissenschaftler diskutierten gemeinsam mit den Projektpartnern des Produktivpiloten die Möglichkeiten der digitalen Bereitstellung von archivalischen Quellen. Der Austausch fand als offenes Plenum statt. Die wichtigsten Gesprächsthemen werden nachfolgend zusammenfassend dargestellt:

1. Auswahl – Priorisierung

Der enorme Archivalienumfang ist ein möglicher Grund, warum die Digitalisierung in den deutschen Archiven bislang noch nicht umfassend voran geschritten ist. Da aus wirtschaftlichen Gründen eine Totaldigitalisierung nicht möglich ist, muss aus den als archivwürdig bewerteten Beständen eine relevante Auswahl getroffen werden. CLEMENS REHM (Landesarchiv Baden-Württemberg) veranschaulichte dies am Beispiel einer Priorisierungsliste, die lediglich 7 Prozent des Archivguts des Landesarchivs Baden-Württemberg umfasst und für deren Digitalisierung eine Summe von ca. 88 Millionen Euro bereitgestellt werden muss. Grundlage der Priorisierung sind aktuelle Forschungsschwerpunkte. Sie beinhaltet vorrangig Rückgratbestände, hoch frequentierte Bestände, Bestände zu Jubiläen und diejenigen, die von Bestandserhaltungsaspekten betroffen sind. Niedrig priorisiert werden hingegen schutzfristenbehaftete Bestände, bspw. Daten von Finanzämtern, die aus rechtlichen Gründen nicht online gestellt werden dürfen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur mit einer Veröffentlichungsmöglichkeit der Digitalisate eine DFG-Förderung möglich ist. Für schutzfristenbehaftete Bestände findet diese Finanzierungsmöglichkeit keine Anwendung.

Von Seiten der Wissenschaft wurde angeregt, die Bestände, die die Grundlagenforschung bedienen, hoch zu priorisieren und möglichst als komplette Bestände online zu stellen. Zudem sollten alle Findmittel digital recherchierbar sein. Die Digitalisate, die bei der digitisation-on-demand Methode und der Sicherungsverfilmung entstehen, sind ebenfalls für die digitale Bereitstellung zu berücksichtigen. Neben ihren eigenen Forschungsschwerpunkten empfahlen die Wissenschaftler auch die digitale Bereitstellung von vollständig unbekannten Materialien, die wiederum neue potentielle Forschungsmöglichkeiten eröffnen.

Auf die wissenschaftlichen Anregungen folgten zum Teil archivarische Bedenken. Argumentiert wurde, dass die digitalen Auftragsbestellungen (digitisation-on-demand) meist nur wenige Seiten umfassen und eine Digitalisierung des vollständigen Bestandes mit Einbindung der notwendigen Kontextinformationen nicht finanziert werden kann. Zu den Kontextinformationen zählen die Bestandsinformationen im Findbuch und in der Klassifikation, sowie die Tektonik aller Bestände im jeweiligen Archiv und die Metadaten zum Digitalisat. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Digitalisate, die parallel zur Schutzverfilmung entstehen, deutliche Qualitätsverluste beinhalten können.

2. Erschließung und Digitalisierung
2.1 Erschließungstiefe

Der Wunsch nach möglichst vielen digitalen Beständen mit flacher Erschließung wurde von den Forschern aus den Kreisen der Digital Humanities geäußert und als Beispiel die Protokolle der Behörden genannt. Die Archivare wiesen auf die Fehlerquellen hin, die die Umsetzung dieses Wunsches mit sich bringen würde. Werden Digitalisate nicht oder nur rudimentär erschlossen, kann deren Analyse zu Fehlinterpretation führen, da dem Benutzer die Informationen zur Rekonstruktion der ursprünglichen Zusammenhänge im Bestand fehlen. Die Interpretation des einzelnen Digitalisats kann mit dem Image und dem Dateinamen nicht ausreichend durchgeführt werden. Aus gutem Grund ist die Erschließung der Bestände mit der Darstellung der Bestands- und Behördengeschichte und der Bereitstellung weiterer Informationen eine Fachaufgabe im Archiv. Die meisten Historiker sind sich der Bedeutung der Informationsquelle bewusst. Sie sollte auch allen zukünftigen Wissenschaftlern vermittelt und in digitaler und gut ablesbarer Form bereitgestellt werden.

2.1 Normdaten

Die Normdatenerhebung und damit die Verzeichnung von normierten Begriffen ist bei der Erschließung der Bestände und ihrer digitalen Bereitstellung ein wissenschaftlicher Zusatzgewinn. Das automatische Auslesen durch den Einsatz der OCR (Optical Character Recognition) – Technologie für handschriftliche Quellen zeigt eine hohe Fehlerquelle auf. Aus diesem Grund sind hier die weiteren technischen Entwicklungen abzuwarten.

2.3 Crowdsourcing

Crowdsourcing könnte die Lücke zwischen Erschließungsansprüchen der Forschung und Erschließungsnormen der Archive verkleinern, wenn ein gegenseitiger Nutzen realisiert wird. Den Archivaren und Forschern ist das große Kooperationspotenzial mit Synergien auf beiden Seiten bewusst. Für die manuelle Anreicherung wird eine bedienerfreundliche Infrastruktur für effektives Arbeiten mit geringem Zeitaufwand angeregt. Dabei sollten Modulationen und semantische Bausteine ebenfalls berücksichtigt werden. Als Mangel wird bislang der Datenaustausch und damit die fehlenden Schnittstellen für die Einbindung der Daten in eine Forschungsumgebung und in das archivische Informationssystem gesehen. Hierfür bietet sich als technische Lösung das Daten-Harvesting zum automatischen Abgleich der Daten zwischen den Institutionen an.

3. Auffindbarkeit der Quellen (Persistent Identifier und Speicherort)

Für den Persistent Identifier empfahl PATRICK SAHLE (Universität Köln) eine „sprechende“ Signatur, die feingranular auf die einzelne Seite verweist, und die Bereitstellung der dazugehörigen technischen Metadaten. Die Umsetzung dieser Anregung beinhaltet enorme Personalkosten, die in einem Digitalisierungsprojekt nicht aufgebracht werden können, bemerkte MARTINA WIECH (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen). Hier müssen automatische und halbautomatische Verfahren etabliert und weitere Möglichkeiten gefunden werden, damit Digitalisierungsprojekte realisiert werden können. HUBERT LOCHER (Bildarchiv Foto Marburg) wies darauf hin, wie essentiell ein verlässlicher Speicherort zum Zitieren der elektronischen Quelle sei.

Mit dem digitalen Wandel in der Informationstechnologie sind gerade auch die Begrifflichkeiten zu klären. Was ist die originale Quelle? In erster Hinsicht ist es das Unikat. Ist es aus bestandserhaltenden Gründen nicht mehr lesbar, tritt an dessen Stelle die digitale Kopie mit dem Informationsgehalt. In wissenschaftlichen Arbeiten sind möglichst beide Verweise, sowohl die analogen als auch die digitalen, aufzulisten und sollten daher in der digitalen Bereitstellung ablesbar sein.

4. Verwertung der Daten

Neben manuellen Quellenauswertungen werden heute immer häufiger automatische Auswertungen von Metadaten in der Forschung eingesetzt, die einen effizienten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn versprechen. Die Aufgabe der Archivare ist dabei die Datenbereitstellung. Das in der Archivwelt etablierte Format EAD (Encoded Archival Description) sollte in seiner Funktion als Austauschformat genutzt und in Forschungsinfrastrukturen eingebunden werden.

Der hohe Aufwand, für die Nachbearbeitung der OCR-Erkennung ist in der Projektplanung für die Digitalisierung von archivalischen Quellen zu berücksichtigen. Der Anspruch ist, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geforderte Fehlergenauigkeit von 99,98 % für maschinenschriftliche und 98 % für handschriftliche Quellen zu garantieren. STEPHAN HOPPE (Institut für Kunstgeschichte München) bemerkte, dass auch ein fehlerfreies Arbeiten mit 80 %iger Genauigkeit einen Forschungsgewinn erbringt.

5. Vernetzung

Ein möglichst hoher Grad an Transparenz wurde für die Digitalisate angeregt und hierfür eine Ampelstrategie für die digitale Präsentation vorgeschlagen. Auf die Kooperation und den Austausch zwischen Bibliotheken, Museen und Archiven wurde aus wissenschaftlicher Sicht mehrfach hingewiesen. Im digitalen Zeitalter nähern sich die Merkmale der Sammlungstypen generell einander an. Der Mehrwert liegt hier in der Nachnutzung der technischen Errungenschaften und der Ausbildung gemeinsamer Standards innerhalb der Gedächtnisinstitutionen unter Einbindung der Forschung.

Fazit

Das wissenschaftliche Rundgespräch war auf beiden Seiten gewinnbringend und lädt zur Verstetigung des Austauschs ein. Deutlich wurden die verschiedenen Sichtweisen der Wissenschaftler, die zum Teil stark divergierten. Der Wunsch möglichst bald und möglichst viele Bestände online recherchieren zu können, wurde hingegen von allen Wissenschaftlern geäußert. Die Anregungen fließen in den Produktivpiloten ein und werden aktuell unter wirtschaftlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auf ihre Umsetzbarkeit geprüft. Die spartenübergreifenden Gespräche werden weiter intensiviert. Das Protokoll zum wissenschaftlichen Rundgespräch ist auf der Projektseite der Archivschule Marburg abrufbar.[1]

Übersicht zum wissenschaftlichen Rundgespräch

Irmgard Ch. Becker (Archivschule Marburg): Begrüßung und Vorstellung des Produktivpiloten

Vorstellungsrunde der Teilnehmer

Offenes Plenum:
a)Auswahl – Priorisierung
b)Verhältnis zwischen Erschließung und Digitalisierung
-Erschließung (flach – tief / Quantität – Qualität)
-Normdaten
-Crowdsourcing – Bereitschaft der Forschung
c)Auffindbarkeit der Quellen (Persistent Identifier und Speicherort)
-Zitieren der archivalischen digitalen Quelle
d)Verwertung der Daten
-Auslesen der Metadaten / automatisierte Auswertung (Erschließungsinformationen, digitalisiertes Archivgut)
e)Vernetzung
-Metadaten und Archivalien
-Projekte

Irmgard Ch. Becker (Archivschule Marburg): Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkung:
[1] Protokoll zum wissenschaftlichen Rundgespräch Link < archivschule.de/uploads/Forschung/Digitalisierung/Veranstaltungen/Protokoll_wissenschaftlichen_Rundgespraechs_zur_Archivgutdigitalisierung_2014-05-26.pdf> (Stand: 24.07.2014).

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/1131

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Die Ampel zeigt rot – oder?

An der Pinnwand in meinem Büro hängt seit einiger Zeit die Grafik „Stern-Jobampel 2013“, welche verspricht, die „Berufsaussichten der beliebtesten Studiengänge“ zusammenzufassen. Insgesamt 25 Studienfächer sind dort kategorisiert. Von Medizin über Rechtswissenschaft sind die Berufschancen durch einen farbigen Balken deutlich markiert. Ganz unten steht – als das Fach mit den schlechtesten Berufsaussichten – Geschichte. Nach der Logik der Jobampel ist es also nicht empfehlenswert, Geschichte zu studieren, wenn man später auch einen Job finden möchte.

Zugegeben, mein erster Impuls war, diese doch recht pauschale Darstellung als ein Resultat eines überspitzenden Journalismus abzutun und nicht weiter ernst zu nehmen. Und die doch recht verkürzte Beschreibung des Fachs in der Jobampel für 2014 trug nicht dazu bei, diese Meinung zu ändern (obwohl die Ampel hier auf gelb-rot statt nur auf rot steht). Allerdings: die Ergebnisse beruhen immerhin auf dem Angebot des Informationssystems Studienwahl & Arbeitsmarkt der Universität Duisburg-Essen, welches verschiedene Datenquellen auswertet, um besonders Studieninteressierten eine Orientierung im Studienfachdschungel zu bieten.

Schaut man sich die hier angebotenen Daten für Geschichte einmal an, stellt man rasch fest, dass Geschichte trotz dieser schlechten Prognose als Studienfach keineswegs an Attraktivität verloren hat (über 7.000 Einschreibungen bzw. über 25.000 Studierende im Jahr 2012). Folgt man den ISA-Daten, so hat sich die Zahl der berufstätigen Historikerinnen und Historiker zwischen 1985 und 2012 mehr als verdreifacht – ein doch sehr ermutigendes Ergebnis. Ernüchternd ist hingegen der Blick auf eine durchschnittliche Erwerbslosenquote bei Historikern von mehr als 10 Prozent in den letzten Jahren (ca. dreimal soviel wie bei Akademikern allgemein). So ganz falsch liegt die Jobampel also nicht, wenn sie für Geschichte gelb-rot anzeigt.

Besonders schwierig erweist sich der Übergang vom Studium in den Beruf, der bei vielen Absolventinnen und Absolventen von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, Zeitverträgen und Honorartätigkeiten geprägt ist. Entsprechend, so ISA, sei es erforderlich, bereits neben dem Studium Praxiserfahrungen zu sammeln, um hinterher einen reibungslosen Einstieg in den Job zu schaffen.

Was hier nach neuem Druck auf die heutige Studierendengeneration klingt, lässt sich aber auch anders formulieren: Geschichte ist ein Studiengang, in dem im Idealfall breite geisteswissenschaftliche Kompetenzen ebenso erworben werden können wie ein spezialisiertes Fachwissen. Gleichzeitig bedeutet ein Studium der Geschichte keine Festlegung auf ein klares Berufsbild, sondern bietet die Chance, ein solches individuell zu finden oder zu entwickeln. Dass diese Freiheit eine Herausforderung darstellt, versteht sich dabei von selbst.

Und damit, liebe Leserinnen und Leser, bin ich bereits bei einem zentralen Anliegen meines im Entstehen befindlichen Blogs: Zum Thema der beruflichen Orientierung für Historikerinnen und Historiker Überlegungen und Informationen zusammenzustellen, Denkanstöße zu geben und Diskussionen anzuregen. Denn das Wissen um eine vermeintlich rote Jobampel hält Studierende (glücklicherweise) ganz offensichtlich nicht von einem Geschichtsstudium ab.

Wer sich an anderer Stelle über das Studium der Geschichte (und die damit verbundenen Berufsaussichten) informieren möchte, dem seien in subjektiver Auswahl folgende Angebote als Einstieg empfohlen:

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/18

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Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft“ – Bericht

Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München
Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München

Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München

Der interdisziplinär ausgerichtete Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft“ fand im Rahmen des SAW-Verbundprojekts „Visual History. Institutionen und Medien des Bildgedächtnisses“ am 4. September 2014 im Deutschen Museum in München statt und wurde von  Stefanie Dufhues und Wilhelm Füßl organisiert. In drei Sektionen zu den Themen 1. „Zeichnung – Fotografie – Film. Visualisierung von Wissen“, 2. „Mehr Sehen, mehr Wissen. Verbreitung der Fotografie“ und 3. „Forschen mit der Kamera. Blicke in die wissenschaftliche Praxis“ wurden die theoretischen und praktischen Entwicklungen der wissenschaftlichen Fotografie seit dem frühen 19. Jahrhundert diskutiert.

Die Sektionen wurden von dem Leiter des Archivs des Deutschen Museums Wilhelm Füßl, der Kuratorin für Foto und Film des Hauses Cornelia Kemp sowie der Historikerin Annette Vowinckel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam moderiert. Wilhelm Füßl verwies auf die umfangreiche Sammlung des Deutschen Museums mit 1,4 Millionen Fotografien und Dias.

Die erste Sektion wurde von der Kunsthistorikerin Elke Schulze, Stiftungsvorstand der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, eingeleitet. In ihrem Beitrag „Auf den Strich gebracht. Von der Eigenart wissenschaftlichen Zeichnens“ sprach sie über die zeichnerische Praxis an den Universitäten im 19. Jahrhundert und stellte die besondere Funktion von naturwissenschaftlichen Zeichnungen heraus. Sie galten als „rechte Hand des Naturforschers“, der sich durch diese auch dem Laien verständlich machen konnte. Die Mikrofotografie wurde daher anfangs nur als Vorlage für Zeichnungen genutzt.

Stefanie Dufhues: Mikrofotografie, Beispiele

Stefanie Dufhues: Mikrofotografie, Beispiele

Die Kunsthistorikerin Stefanie Dufhues berichtete im Anschluss von ihrem Dissertationsprojekt am Deutschen Museum mit dem Beitrag „‚objektiv‘/ ‚naturgetreu‘/ ‚authentisch‘? Fotografie im mikroskopischen Arbeitsprozess“. Mitte des 19. Jahrhunderts führte ein Paradigmenwechsel zur Aufwertung der Mikrofotografie, die dem Wunsch nach Objektivität näher kam und in Schriften und Büchern vervielfältigt werden konnte. Die „Naturtreue“ der Zeichnungen wurde nun angezweifelt. Mikrofotografien galten als visuelle Belege für das Gesehene, deren Wahrhaftigkeit und Objektivität kaum in Frage gestellt wurde.

Den Sektionsabschluss bildete die Wiener Filmwissenschaftlerin Regina Wuzella von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die über „Maßloses Leben – Mikrokinematografien physiologischer Vorgänge“ anhand von Medizin- und Wissenschaftsfilmen berichtete, in denen u.a. mit modernsten filmischen Mitteln die Entwicklung eines Embryos gezeigt wurde.

Die zweite Sektion bestand aus dem Beitrag „Fotografie in der Sackgasse? Vervielfältigungen der Daguerreotypie“ von dem Kunst- und Medienwissenschaftler Steffen Siegel von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Das von dem französischen Maler Louis Jacques Mandé Daguerre und dem Heliografie-Erfinder Joseph Nicéphore Nièpce in den 1830ern erfundene Fotografie-Verfahren basierte auf versilberten Kupferplatten, die die Motive seitenverkehrt abbildeten und als Unikate nicht vervielfältigt werden konnten. Steffen Siegel sprach daher von einem Rückschritt in der sich entwickelnden Reproduktionskultur des frühen 19. Jahrhunderts. Der Vortrag der Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Ulrike Matzer von der Wiener Akademie der bildenden Künste zu Josef Maria Eders „Ausführliches Handbuch der Photographie“ musste leider entfallen.

 

Ernst Mach, Schuss durch dein Cartonblatt

Ernst Mach, Schuss durch ein Cartonblatt. Bleiprojectil. Linke Blendung, 3,9×3,9 cm, Glasplattennegativ, 1888

Die dritte Sektion wurde von dem Luzerner Historiker Christoph Hoffmann mit dem Beitrag „Mit voller Schärfe. Bedingungen und Funktionen der Geschossfotografie von Ernst Mach und Peter Salcher 1886“ eingeleitet. Die österreichischen Physiker Ernst Mach und Peter Salcher wurden 1886 durch ihre 7mm großen Geschossfotografien bekannt, welche die Luftwellen von einem mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Gewehrprojektil zeigten. Die Herausforderung bestand unter anderem in der Abgrenzung des Projektils gegenüber Störungen auf der Fotoplatte.

 

Lars Nowak: Geschoßfotografie einer fliegenden Granate, Thomas Skaife, 1858

Lars Nowak: Geschoßfotografie einer fliegenden Granate, Thomas Skaife, 1858

Der Medienwissenschaftler Lars Nowak von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sprach in seinem Vortrag „Bewegungsunschärfen. Zum Gebrauch der Langzeitbelichtung in der ballistischen Fotografie“ über die Bewegungsabläufe und Verräumlichung der Zeit u.a. am Beispiel fliegender Granaten. Die Formen der Geschoßbahnen wurden als Lichtstrahlen sichtbar gemacht und anhand von Streifenfotografien Verdichtungswellen aufgezeichnet. Neben der Nachfrage von ballistischen Fotografien in populärwissenschaftlichen Publikationen wurden sie vermehrt nach 1900 für militärische Zwecke genutzt.

Den Abschluss bildete der Vortrag von Sara Hillnhütter vom Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik in Berlin zum Thema „Geschichte machen. Der Gebrauch der Fotografie und Zeichnung als Planbilder in der Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts“. Im Mittelpunkt standen die Arbeiten des deutschen Bauingenieurs Albrecht Meydenbauer zur Architektur-Fotogrammmetrie seit 1885. Die Bildvermessung von Gebäuden wurde anhand mehrerer Fotografien aus verschiedenen Perspektiven mit einem bestimmten Abstand zum Horizont und der Bildmitte zur maßstabsgetreuen Restauration wieder verwendet. Der Workshop schloss mit einer Diskussion, in der noch einmal die wichtigsten Entwicklungen der wissenschaftlichen Fotografie und Formen der Visualisierung in der wissenschaftlichen Praxis ebenso wie in der Gesellschaft resümiert wurden.

 

Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft”
München, Deutsches Museum, Bibliotheksgebäude
4. September 2014, 9.00 – 16.00 Uhr
Flyer

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/09/16/workshop-fotografie-im-dienst-der-wissenschaft-bericht/

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Karl der Große und der Dreißigjährige Krieg

Was hat Karl der Große mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun? Als der Franke 814 starb, sollte es mehr als 800 Jahre dauern, bevor der Konflikt losbrach, der dreißig Jahre lang in Europa wütete. Doch auch in dieser Zeit gab es Reminiszenzen an Karl, zumindest in Aachen. Denn dort ließ der Rat der Reichsstadt Aachen im Jahr 1620 ein bronzenes Standbild Karls vor dem Rathaus aufstellen. Dies paßte gut, war Karl doch Stadtpatron und Lokalheiliger. An ihn zu erinnern und sich auf ihn zu berufen war gerade in diesen unsicheren Zeiten passend.

Wobei es eher unwahrscheinlich ist, daß die Aachener die sich anbahnenden Konflikte im Reich im Blick hatten; niemand konnte ahnen, daß die böhmischen Unruhen nur der Auftakt für einen Krieg sein würden, der noch das ganze Reich erfassen würde. Aachen lag vielmehr im Einzugsgebiet des spanisch-niederländischen Konflikts. Dazu kamen stadtinterne konfessionelle Auseinandersetzungen, die 1614 den spanischen General Spinola veranlaßten, im Rahmen einer Reichsexekution die Stadt zu besetzen und die katholische Restitution durchzuführen (kurz und prägnant beschrieben in der Studie von Johannes Arndt, S. 195-200). Um 1620 war dieser Konflikt zwar (im katholisch-kaiserlichen Sinne) bereinigt, doch die Lage war weiterhin bedrohlich. Klar war zudem, daß im darauffolgenden Jahr der Zwölfjährige Waffenstillstand zwischen Spanien und den Generalstaaten auslaufen würde. Mit einer Statue Karls des Großen erinnerte man sich also an große Zeiten und an die schützende Nähe zum Kaiser.

Karl der Große, Aachen

Karl der Große, Aachen 

Dessen Standbild war nun nicht nur mit den klassischen Herrscherinsignien wie Szepter und Reichsapfel versehen, sondern vor allem wehrhaft dargestellt. Damit meine ich weniger das Schwert an seiner Seite als vielmehr die Rüstung. Diese hatte nun nichts mit der Ausrüstung eines fränkischen Kriegers in der Zeit Karls des Großen zu tun, sondern verwies deutlich auf die Panzerung von Kürassieren, wie sie im 16. Jahrhundert üblich war. Zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs war ein Vollharnisch, wie ihn die Bronzestatue hier zeigt, schon wieder unüblich; da ersetzten die langen Reiterstiefel, in die man praktischerweise oben auch noch Pistolen packen konnte, das Beinzeug.

Ganz im 17. Jahrhundert war Karl der Große in seinem Aufzug also nicht angekommen; hätte er sich unter die Pappenheimischen Kürassiere mischen wollen, wäre er durchaus aufgefallen – nicht nur wegen seiner Barttracht, die gar nicht mehr den modischen Standards der Söldner dieser Zeit entsprach. Aber es entsprach sicher den Aachener Erwartungen, wenn das Standbild nicht an die Gegenwart erinnerte, sondern zurückverwies auf andere, sicherlich bessere Zeiten.

Zu sehen ist der bronzene Karl im Rahmen der diesjährigen Ausstellung in Aachen, und zwar im Centre Charlemagne. Und wenn er mir im Zuge des diesjährigen Betriebsausflugs in der vergangenen Woche aufgefallen ist, muß ich auch die altbekannte Erkenntnis akzeptieren, daß man vor allem das wahrnimmt, was man schon kennt.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/533

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