Auf der Suche nach dem Lokalen

Der Sammelband Environmental Imaginaries of the Middle East and North Africa (2011) enthält es einen interessanten Beitrag von Leila M. Harris. Er basiert auf Feldstudien, hauptsächlich ausführlichen Interviews mit der lokalen Bevölkerung im Südosten der Türkei, in jenem Gebiet, das im Rahmen des umstrittene “South-Eastern Anatolia Programme” (GAP, Great Anatolia Project, in Turkish: Güneydoðu Anadolu Projesi) “entwickelt” werden soll. Dieses größte Entwicklungsprojekt der Türkei soll unter anderem 22 Staudämme umfassen. Jenseits der kontroversen Diskussionen um das Projekt ergeben sich aus den Interviews, die Harris mit der lokal ansässigen Bevölkerung geführt hat, zwei interessante Aspekte:

Aber die interviewten Kleinbauern teilen gerade nicht die kritische Perspektive, die Umweltaktivisten, aber auch liberale Intellektuelle auf die “Entwicklung” des Gebietes und der damit verbundenen Modernisierung der Landwirtschaft haben. Sie sind vielmehr mehrheitlich der Überzeugung, dass die Probleme, die die technischen Neuerungen bisher hervorgerufen haben (etwa die Versalzung des Bodens) das Streben nach technischem “Fortschritt” nicht in Frage stellen:

“narratives reveal that farmers and state agents engage the evidence of environmental degradation to argue for more technoscience, and more state intervention, not less.” (204, Hervorhebung im Org.)

Ein Ergebnis, das Harris unter anderem auf die geradezu mythische Aufladung des Entwicklungsbegriffes zurückführt. Technischer Fortschritt in der Landwirtschaft wird als “point of entry for other possibilies wahrgenommen, perhaps even viewed as an opening for broader associations with modernity and wealth” (206). Die Moderne ist, zumindest im Südosten der Türkei, offenbar immer noch ein Versprechen.

Zweitens stellt Harris klar, dass sich, im Gegensatz zu anderen Arbeiten, die die “lokale” Perspektive dem “scientific or state knowledge” strikt entgegensetzen (193), diese beiden Kategorien in ihrer Untersuchung nicht trennen lassen. Sie vermischen sich stattdessen in Form eines “hybridized knowdedge” vermischen (200). Die Interviewten interpretieren ihre Situation nicht aus einer lokalen Perspektive heraus,

“[they] connect their local practices (e.g., crop choice or pesticide use) to state practices, as well as to scales and notions of national belongings (e.g., the idea of benefiting the national economy through cotton production) […] offering a challenge to what is meant by ‘local knowledges’.” (202)

Dies führt mich zurück zum Problem des Lokalen, dass sich bereits bei der Konzeption meiner Arbeit aufgetan hat. Das ‘Lokale’ ist, wo post-strukturalistische Ansätze in den Geisteswissenschaften vorherrschen, zu einem umworbenen Terrain geworden: Man möchte die spezifisch lokale Perspektive herausarbeiten, die Praktiken auf der lokalen Ebene, die Sichtweisen und Handlungen der lokalen (und damit in vielen Fällen subalternen) Akteure zeigen. Dies entspringt häufig dem lobenswerten Anspruch, Akteure zu Wort kommen zu lassen oder ins Bild zu rücken, die historische oder gesellschaftliche Analysen bisher vernachlässigt oder übergangen haben. Aber es führt, jenseits von praktischen Problemen (etwa bei der Analyse lokaler oder subalterner historischer Praktiken durch die Brille hegemonialer Überlieferung) zu einer Essentialisierung des Lokalen, die sich wenig mit den dekonstruktivistischen Ansprüchen decken, die die Arbeiten eigentlich verfolgen. Theoretisch und empirische Arbeiten haben in den letzten Jahren gezeigt, wie problematisch der unkritische Bezug auf das Lokale, so etwa Arjun Appadurai in Modernity at large oder die Arbeiten, die Akhil Gupta and James Ferguson in Anthropological Locations versammelt haben. Ulrike Freitag stellt in der Einleitung zum Sammelband Translocality fest:

“[T]he notion of the ‘local’ remains a critical one. Criticism of the earliert view of places, communities and cultures as counded and fixed localities sparked numerous debates. It has become mostly accepted by now the locality is “produced” socially and culturally, often in contexts of heightened mobility of different scales, and of transgression of boundaries, which were already noted to be central to translocal perspectives on localities.” (9).

Diese Erkenntnis ändert wenig daran, dass die Attraktivität des ‘Lokalen’ ungebrochen hoch ist. “Für uns ist vor allem eine lokale Perspektive interessant”, wurde mir mehrfach gesagt, als ich zu Beginn meiner Arbeit erste Gespräche führte. Oder: “Das lässt sich doch gut einander gegenüberstellen: die lokale und die globale Perspektive auf den Wald.” Und ich kann nicht leugnen, dass auch ich implizit davon ausging, durch die Einbeziehung der ‘lokalen’ Akteure eine Perspektive einbringen zu können, die kritischer, authentischer, ja, irgendwie anders als die westlich-globalisierte war.
Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die so begonnen haben – und deren Ergebnis dann unter anderem war, dass das lokale viel weniger lokal war als zunächst angenommen. Aber auch wenn das ‘Lokale’ im Laufe der Arbeit dann de-konstruiert wird, stellt sich, gerade zu Beginn einer Arbeit die Frage, wie man diese Dichotomie auch konzeptionell umgehen kann. Wenn das ‘Lokale’ problematisch ist, wenn das Lokale immer auch globalisiert ist, was setzt man ihnen entgegen, den vereinheitlichten und vereinheitlichenden Diskurse und Praktiken einer hergestellten Globalität? Wie kann man es bezeichnen und definieren? Oder welche Pespektive lässt sich einnehmen, die diese Dichotomien umgeht oder gar überwindet?

Zitierte LIteratur:

Appadurai, Arjun (1996): Modernity at large. Cultural dimensions of globalization. Minneapolis, Minn: University of Minnesota Press (Public worlds, v. 1).

Harris, Leila M.: Salts, Soils and (Un)Sustainibilites? Analyzing Narratives of Environmental Change in Southeastern Turkey. In: Davis, Diana K.; Burke, Edmund (Hg.) (2013): Environmental imaginaries of the middle east and north africa. Athens: Ohio University Press, S. 192-218.

Gupta, Akhil; Ferguson, James (1997): Anthropological locations. Boundaries and grounds of a field science. Berkeley: University of California Press.

Freitag, Ulrike; Oppen, Achim von (2010): Introduction “Translocality”. An approach to connection and transfer in area studies. In: Ulrike Freitag und Achim von Oppen (Hg.): Translocality. The study of globalising processes from a southern perspective. Leiden [The Netherlands], Boston: BRILL (Studies in global social history, v. 4), S. 1–21.

Quelle: http://gclf.hypotheses.org/48

Weiterlesen

Workshop zu korpuslinguistischen Methoden am 7./8. Oktober in Berlin

Die Forschung mit korpuslinguistischen Methoden innerhalb geisteswissenschaftlicher Disziplinen stellt neben der Erstellung der Ressourcen auch Aufgaben hinsichtlich der Datenverarbeitung und Konvertierung, deren Analyse, Speicherung und des Zugriffs.

Das LAUDATIO-Projekt gibt zu diesen Themen einen Workshop vom 07.10.-08.10.2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin ausgerichtet vom Computer- und Medienservice und dem Lehrstuhl für Korpuslinguistik und Morphologie. Der Workshop richtet sich an Anwender und Entwickler von korpuslinguistischen Methoden, Werkzeugen und Software. Wir stellen u.a. das LAUDATIO-Repository, das Such- und Visualisierungstool ANNIS und das Konverter-Framework SaltNPepper vor.

Der Workshop ist auf 45 Teilnehmer begrenzt und ist anmeldepflichtig. Für die Pausenverpflegung erheben wir eine kleine Teilnehmergebühr von 16,33 €.

Alle Informationen zum Workshop und zur Registrierung finden Sie auf

http://www.laudatio-repository.org/laudatio/workshop-2014/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4033

Weiterlesen

Herzogenburg: Von Editionen und Nachlässen

Eine kuriose Geschichte hat sich vor kurzem im Archiv des Augustiner Chorherrenstiftes Herzogenburg im unteren Traisental zugetragen: Im Vorjahr erschien in der Reihe der Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung die Edition der Kalendernotizen des Propstes Hieronymus Übelbacher (1710–1740), der maßgeblich für die Barockisierung des Stifts Dürnstein in der Wachau verantwortlich war. Die Publikation wurde herausgegeben und kommentiert von Helga Penz, die nicht nur Leiterin des Referats für die Kulturgüter der Orden sondern auch Archivarin im Stift Herzogenburg ist, wo sich heute das Archiv des aufgehobenen Stifts Dürnstein befindet. Die Präsentation der Edition im Oktober 2013 hatte in Dürnstein in festlichem Rahmen stattgefunden.

Dürnstein Editionspräsentation

Präsentation der Edition im Oktober 2013 im Stift Dürnstein

Einer der Schreibkalender des Propstes Hieronymus war jahrzehntelang verschollen und stand deshalb für die Edition nicht zur Verfügung. Nun aber – nicht einmal ein Jahr nach Erscheinen derselben – ist dieser verloren geglaubte Band in einem Nachlass aufgetaucht und an das Stift Herzogenburg zurückgegeben worden. Ein entsprechender Bericht findet sich auf der Facebook-Seite des Klosters.

Herzogenburg Übelbacher

Es bleibt zu hoffen, dass die Edition in irgendeiner Form einen Nachtrag erhalten wird können – zumal möglicherweise durch das nun wiedergefundene Diarium neue Erkenntnisse über das theologische Programm des Dürnsteiner Kirchturms gewonnen werden könnten.

Quelle: http://schotten.hypotheses.org/392

Weiterlesen

Digital Humanities Award von DARIAH-DE

Ab sofort und bis zum Einsendeschluss am 1.Dezember 2014 schreibt DARIAH-DE einen Digital Humanities Award aus.

Im Rahmen des Awards sollen innovative Beiträge und Forschungsvorhaben von mit digitalen Ressourcen und/oder digitalen Methoden arbeitenden Studierenden und NachwuchswissenschaftlerInnen der Geistes- und Kulturwissenschaften, der Informatik und den Informationswissenschaften ausgezeichnet werden.

Weitere Informationen unter https://de.dariah.eu/dh-award-programm

DH-Award-Slidev.8.6.buntpng

Verliehen werden die Preise im März 2015 im Rahmen des DH Summits (Nähere Infos zum Event folgen in Kürze). Insgesamt werden Preise im Gesamtwert von 1.800 Euro vergeben.

Bewerbungsberechtigt sind B.A.- und M.A.-Studierende, die aktuell an ihrer Abschussarbeit schreiben (bzw. an Projekten wie folgt aufgelistet) oder NachwuchswissenschaftlerInnen, die diese in den letzten 12 Monaten abgegeben haben/aktuell an wissenschaftlichen Einzel- oder Gruppen (Abschluss-)projekten, Softwareprojekten, Tools, Studien oder (Infrastruktur-)Konzepten arbeiten.

Bewerben können sich auch Studierende mit eigenen DH-Projekten. Die Bewerbung von (studentischen) Gruppen ist
erwünscht. Zugelassen sind alle wissenschaftlichen Arbeiten, die an Universitäten im deutschsprachigen Raum erstellt werden bzw. wurden.

Bei Fragen wenden Sie sich gerne an: dh-award@de.dariah.eu

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4026

Weiterlesen

Deutsche Kriegsfotografie im Zweiten Weltkrieg – Zwischen privater und professioneller Praxis

Autoren: Armin Kille, Thomas Lienkamp

Der Zweite Weltkrieg ist trotz der zeitlichen Distanz von fast 75 Jahren wie kein anderer Krieg in der deutschen Erinnerungskultur präsent. Es handelt sich um ein historisches Ereignis, das bis in die heutige Zeit auf individueller wie kollektiver Ebene von allen Generationen mit ganz bestimmten Bildern assoziiert wird. Bilder, die sich größtenteils auf Fotografien beziehen, die dem damaligen Geschehen auch tatsächlich entstammen. Diese ausgeprägte visuelle Dimension der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hängt unmittelbar mit dessen historischer Situierung im beginnenden „Visuellen Zeitalter“ zusammen. In keinem vorherigen Krieg spielte die private und professionelle Produktion von fotografischen Bildern eine so große und wirkmächtige Rolle.

Das Forschungsblog verortet sich bewusst im Forschungsfeld der Visual History1. Dem Ansatz der Visual History folgend werden Fotografien, zusätzlich zu ihrer Rolle als Quelle, auch “als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung”2 erfasst. Somit werden sie nicht nur als Darstellungsobjekt einer vergangenen Realität betrachtet, sondern ebenso als Vermittler von Wahrnehmungshorizonten und Denkhintergründen, als Multiplikator von Sehgewohnheiten und Ästhetiken sowie als Erzeuger einer eigenen Realität verstanden.

Um einen möglichst breiten Blick über das Themenfeld der deutschen Kriegsfotografie zu erreichen, werden in thematisch und methodisch ergänzenden Beiträgen die beiden wichtigsten Gruppen von Bildautoren in einer eng kooperierenden Projektgruppe untersucht:

Professionelle Fotografen lieferten im staatlichen Auftrag Aufnahmen, durch die ein einheitlich konstruiertes Bild des Krieges für die Öffentlichkeit entstehen konnte. Die eigens dafür in den „Propagandakompanien“ (PK) zusammengefassten Berufsfotografen begleiteten die Einheiten der Wehrmacht und der Waffen-SS und erstellten Material für die Kriegsberichterstattung in den deutschen und neutralen Medien. Ihre vorrangige Prämisse war dabei die gezielte Modellierung einer virtuellen Kriegsrealität, eines gewollten Bild des Krieges, das den Zielen und Zwecken der Staats- und Wehrmachtführung entsprach und der deutschen Öffentlichkeit vermittelt werden sollte.

Andererseits wurden durch die zahlreichen privat fotografierenden Soldaten sehr viele individuelle Bilder des Krieges konstruiert. Durch diverse technische Neuerungen begünstigt erreichte das Fotografieren auch im privaten Gebrauch einen Höhepunkt und entwickelte sich in den 1920er Jahren zu einem alle Gesellschaftsschichten durchdringenden Phänomen. Es zeigte sich, dass Amateure und Knipser gerade auch in der Ausnahmesituation Krieg weiter fotografierten und in ihren Aufnahmen zwischen soldatischer Alltagsfotografie, touristischem Blick und bellizistischer Sensationsfotografie oszillierten. Dabei gestalteten die Soldaten, bewusst wie unbewusst, ihren ganz privaten Bilderkosmos.

Auch wenn die fotografischen Quellen ausreichend vorhanden sind, handelt es sich bei einem Vergleich zwischen privater und professioneller Kriegsfotografie im Zweiten Weltkrieg bis heute um ein weitgehendes Forschungsdesiderat. Das konzipierte Blogprojekt möchte seinen Beitrag leisten, diese Lücke, 75 Jahre nach Kriegsanfang, weiter zu schließen.

  1. Vgl. weiterführend Paul, Gerhard, Visual History. Version 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.03.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Visual_History_Version_3.0_Gerhard_Paul?oldid=88771, Stand: 31.07.2014.
  2. Vgl. Paul, Gerhard, Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 25.

Quelle: http://2wkvisuell.hypotheses.org/52

Weiterlesen

Erfahrungsbericht zur RMA Konferenz 2014

In diesem Post möchte ich von der Annual Conference der Royal Musical Association (RMA) berichten, die vom 4. bis 6. September 2014 in Leeds stattfand. Auch wenn dies thematisch nur bedingt zu meinem Blog passt, mag mein kurzer Erfahrungsbericht dennoch für den ein oder anderen interessant sein. Die RMA ist das britische Pendant der Gesellschaft für Musikforschung (GfM). In diesem Jahr feierte sie nicht nur ihr 140-jähriges Bestehen (Gründung: 1874), sondern auch das 50. Jubiläum der Jahrestagung und die 70. Wiederkehr der Verleihung des Titels „Royal“.

 

 

 

 

 

 

Zunächst zum Ablauf: Ähnlich wie bei den Jahrestagungen der GfM waren die insgesamt etwa 70 Vorträge zu 24 „Sessions“ thematisch gebündelt. Jede Session enthielt meist drei kurze Vorträge von etwa 20 Minuten, danach gab es Möglichkeit zur Diskussion. Neben eher traditionellen Themen wie Notation im Mittelalter oder „The Exotic and the Sublime in French Opera“ waren zwei Blöcke explizit auf die britische Musikgeschichte ausgerichtet, zudem gab es Ausflüge in die finnische und südamerikanische Musik. Die Panels zu „Street Music in the Late Nineteenth Century“, zu „Popular Music and Gender“ sowie zur aktuellen Thematik des elektronischen Publizierens trugen zur Breite der thematischen Aufstellung bei. Prozentual gesehen beschäftigten sich die meisten Vorträge mit einer „Kernzeit“ der Musikgeschichte von etwa 1700 bis 1910. Positiv aufgefallen ist mir, dass schon an zweiter Stelle die Vorträge zur Neuen Musik folgten, einer Zeitspanne, die ich hier grob fasse von Arnold Schönberg bis heute. Eine Session war allein dem Schaffen von Thomas Adès gewidmet, eine weitere der (De-)Konstruktion der Geschichte(n) von Elektronischer Musik. Es gab es nur einen Vortrag, der sich explizit mit der Musikwissenschaft selbst auseinandersetzte (wohlbemerkt mit der finnischen).

Hier ein kurzer Einblick in einige ausgewählte Präsentationen: David Hunter (University of Texas at Austin) wies Händels Verbindungen zur Royal Africa Company nach und zeigte, dass im 18. Jahrhundert Instrumente und Opernaufführungen zum Teil mit Geld aus Sklavenhandel finanziert wurden. Es liege in der Verantwortung der Musikwissenschaft, so Hunters Appell, diese Zusammenhänge aufzudecken. Besonders gefallen hat mir die Video-Präsentation (wegen Abwesenheit) von Joshua B. Mailman (Columbia University): Die Rede von der „Struktur“ der Musik sei metaphorisch, so seine Aussage, und impliziere etwas Statisches und sei deshalb nicht geeignet für dynamische Formen. Er schlug stattdessen die Metapher des „Vessel“ vor in Bezug auf musikalische Form: In der doppelten Bedeutung von Blutgefäß (durch das etwas fließt) und Schiff (das auf dem Fluss steuert) sei die Dualität der Zeit besser abgebildet. Diese Dualität spiegle sich wider in der Musik als Partitur (das Subjekt kann vor und zurück gehen in der Zeit) und als Klang (das Subjekt erlebt, wie die Zeit vergeht). Inwieweit man nun bei der musikalischen Analyse von Vessel statt von Struktur reden sollten, sei dahingestellt. Mailmans Überlegungen regen jedoch dazu an, fachübliche Begrifflichkeiten und ihre Implikationen zu reflektieren.

Gascia Ouzounian (Queen’s University Belfast) bot in ihrem Vortrag eine kleine Geschichte des binauralen Hörens (des Hörens mit zwei Ohren), mit dem ich mich zuvor noch nie beschäftigt hatte. Ebenso interessant war die Vorstellung des Forschungsprojekts TaCEM (Technology and Creativity in Electroacoustic Music) von Wissenschaftlern aus den Universitäten von Huddersfield und Durham. Das Projekt verfolgt das Ziel, besser zu verstehen, wie Komponisten von Elektronischer Musik arbeiten. Zu diesem Zweck wurden einige Komponisten beauftragt, mit der gleichen Technologie (zur Klangverarbeitung) ein Werk zu schreiben. Anhand von Komposition und Technologie soll dann der Entstehungsprozess des Werkes nachvollzogen werden. Ob es sich bei diesem Versuch um eine moderne Form von Quellenarbeit handelt? Kontext des Projekts ist die Problematik, dass bei Werken Elektronischer Musik nicht immer klar ist, welche Technologien dem Komponisten zur Verfügung standen. Angesicht der – für Experimente typischen – unnatürlichen Ausgangssituation ist allerdings zu fragen, wie weit die Aussagekraft der Ergebnisse reicht.

Bei der Tagung gab es auch zwei besonders exponierte Vorträge, darunter die „Peter Le Huray Lecture“, gehalten von Alexander Rehding (Harvard University). In seiner Präsentation stellte Rehding (der übrigens gebürtig aus Deutschland stammt) die These auf, dass musikalische Instrumente auch theoretische (für die Musiktheorie nutzbare) Informationen enthalten können. Dieser Vortrag ist mir besonders gut im Gedächtnis geblieben: Mit einer technisch sehr guten Powerpoint-Präsentation und einem mitreißenden Vortragsstil konnte man Rehdings Ausführungen mit Freude folgen. Die Traditionalisten unter den Musikwissenschaftler mögen nun sagen, dass es auf den Inhalt und nicht auf die Rhetorik ankomme, und dass eine (amerikanisch geprägte) Entertainment-Mentalität womöglich das Inhaltliche überblende. Ich sehe das so: Ein sehr guter Vortrag, gepaart mit einer mitreißenden Rhetorik und technisch wohlgesetztem Bildmaterial könnte die Musikwissenschaft auch für weitere nicht-akademische Kreise interessant machen …

Die „Eward J. Dent Medal“ wurde Elizabeth Eva Leach (University of Oxford) verliehen, die zahlreiche Publikationen vorzuweisen und der Alten Musik-Forschung ein neues Gesicht gegeben hat (so hieß es in der Erklärung). In ihrem Vortrag beleuchtete sie den Aspekt des Trostes in der Musik von Guillaume Machaut und verband dafür kulturgeschichtliche und psychoanalytische Ansätze mit musikwissenschaftlicher Quellenarbeit.

Zu den Vorträgen, die ich gehört habe (etwa ein Drittel aller Vorträge), kann ich folgende Einschätzung äußern: Wie überall gab es gute und weniger gute Vorträge, insbesondere in Bezug auf den Vortragsstil, aber auch bezüglich der Forschungsdesigns, deren Relevanz und Kohärenz unterschiedlich ausfielen. Positiv ist mir aufgefallen, dass jeder Vortragende gleich im ersten Satz seine Hauptthese auf den Punkt brachte, die er dann im Folgenden erläuterte und elaborierte. Das macht das Nachvollziehen von Vorträgen mit weniger gelungener Dramaturgie leichter. Allerdings hat dies in einigen Fällen auch folgendes Problem mit sich gezogen: Erst wird eine starke These geäußert, dann werden zahlreiche Fakten gesammelt und interpretiert, und schließlich wird im letzten Satz die Anfangsthese wieder aufgegriffen, ohne jedoch mehr als nur oberflächlich von den herangezogenen Quellen und Fakten untermauert zu sein. So wurde das, was zu Anfang in großen Worten versprochen wurde, nicht immer eingelöst.

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur allgemeinen Atmosphäre: Ein großer Aufenthaltsraum bot die Möglichkeit sich in den Kaffeepausen auszutauschen. Dabei war die  Kommunikation wenig von Formalitäten geprägt: So kam man recht schnell ins Gespräch mit anderen und hielt gerne ein wenig Smalltalk mit seinen Sitznachbarn. Das Kennenlernen und Knüpfen von Bekanntschaften wurde vielleicht auch dadurch erleichtert, dass grundsätzlich keine Titel auf den Namensschildern standen. Insgesamt herrschte eine freundliche Atmosphäre, mit kleinen Witzeleien hier und da – selbst bei der sonst so trockenen Mitgliederversammlung. Fazit: Eine gute Gelegenheit, um die englische Musikwissenschaft kennenzulernen, mit dem ein oder anderen Vorurteil aufzuräumen und die Gepflogenheiten und das Selbstverständnis der Musikwissenschaft in Deutschland und England zu vergleichen.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/222

Weiterlesen

Die digitalen Sammlungen der Pariser Stadtbibliotheken (Mittwochstipp 48)

Zur Pariser Bibliothekslandschaft mit ihren zahlreichen Einrichtungen gehören auch mehrere spezialisierte städtische Bibliotheken unterschiedlicher Ausrichtung mit einem umfangreichen Online-Angebot. Sie präsentieren sich auf einer gemeinsamen Website, die die einzelnen Bibliotheken vorstellt, aktuelle Informationen und praktische Hinweise für die Nutzung vor … Weiterlesen

Quelle: http://francofil.hypotheses.org/2799

Weiterlesen

Kriegsgreuel in Bayern

Nachdem Gustav Adolf Mitte April 1632 den Übergang über den Lech bei Rain erzwungen hatte, war einfach kein Halten mehr. Kurfürst Maximilian flüchtete mit einigen Truppen in die Landesfestung Ingolstadt, das Land stand den Schweden offen. Doch auch wenn die Ligaarmee geschlagen war, bedeutete dies nicht, daß sich die Landbevölkerung gegenüber den Eindringlingen zurückhielt. Die Bauern wehrten sich, so gut sie konnten. Und darüber hinaus nahmen sie grausame Rache an den schwedischen Söldnern, von denen sie umgekehrt ebensowenig Schonung erwarten konnten. Wieder einmal eskalierte die Gewalt, wie schon so oft in diesen Kriegsläuften.

Eigentlich war dies kein Grund, sich darüber zu wundern, man hatte oft genug davon gehört, vielleicht sogar selbst Erfahrungen gemacht. Gleichwohl haben die Berichte, die man damals aus dem Süden des Reiches bekam, ihre Wirkung nicht verfehlt. Dies läßt sich jedenfalls an den Korrespondenzen des kurkölnischen Agent Johann van der Veecken ablesen (für das Folgende: Veecken an Kurfürst Ferdinand von Köln, Den Haag 28.5.1632, LA NRW, Abt. Rheinland, Kurköln VII 51/2 fol. 73‘ Ausf.). In seinen Briefen an Kurfürst Ferdinand wird allerdings auch der Zwiespalt deutlich, in dem er sich befand. In Den Haag nahm er in der Bevölkerung eine deutliche pro-schwedische Haltung wahr, und im Frühjahr 1632 fieberte man eindeutig mit Gustav Adolf mit: „De rebus Germaniae hic magna pro rege Swetiae apud plebem spes est“ – was Veecken als Katholik und Agent des Kurfürsten von Köln sicherlich nicht immer mit Gleichmut hat aufnehmen können.

Die Nachrichten aus Bayern berichteten von den ungeheuren Verwüstungen, die die Schweden anrichteten. Fast 400 Dörfern seien bereits in Schutt und Asche gelegt. Der Agent lieferte auch gleich eine Erklärung für die Zerstörungswut der Invasoren: Die bayerischen Soldaten hätten die schwedischen Söldner verstümmelt und ihnen Ohren und Nasen abgeschnitten („ob mutilatos a milite Bauarico milites Swecos et auribus nasisque truncatos“). Veecken war sich schon im Klaren darüber, daß Übertreibungen in Berichten über Kriegsereignisse an der Tagesordnung waren – gerade wenn es um Kriegsgreuel ging. Entsprechend schob er ganz vorsichtig nach: „an verum nescio“. Doch die Kautele war in diesem Fall gar nicht nötig. Die Berichte, die in Den Haag ankamen, übertrieben kaum. Und sie wurden bestätigt durch Zeugnisse der Gegenseite. Auch wenn er seine Erlebnisse erst einige Jahre später veröffentlichte, entspricht der Befund dem Bild, das der Schotte Robert Monro über seine Kriegserfahrungen zeichnete.

Monro befand sich 1632 in der schwedischen Armee, die damals in Bayern operierte. Der Schotte referierte durchaus im Detail von einzelnen Ereignissen, die er offenbar selbst erlebt hatte. Bei ihm ist auch von den Verstümmelungen die Rede, die die schwedischen Söldner erlitten, wenn sie in die Hände des Feindes fielen. Im Gegenzug brannten die Schweden viele Dörfer nieder [Monro, His expedition with the worthy Scots regiment (called Mac-Keyes-regiment) levied in August 1626 : P. 1.2. , London 1637, hier II, 122].

In der Forschung wird durchaus darauf verwiesen, daß diese Verwüstungen durchaus dem Kalkül des schwedischen Königs entsprachen. Gustav Adolf verfolgte hier eine Kriegführung der verbrannten Erde, die Maximilian von Bayern seine Ressourcen entziehen sollte (siehe Albrecht, Maximilian, S. 827). Weder Monro noch Veecken gingen auf diesen Aspekt ein. Beim Agenten wundert dies noch am wenigsten, er hatte sich in diesen Wochen um andere Probleme zu kümmern, die die Kriegsereignisse in seiner direkten Umgebung betrafen. Die Ereignisse im Reich und zumal in Bayern waren für ihn nur ein fernes Wetterleuchten.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/529

Weiterlesen

Auftaktworkshop der Nachwuchsgruppe “Computergestützte literarische Gattungsstilistik”

Am 29. September 2014 findet der Auftaktworkshop der Nachwuchsgruppe “Computergestützte literarische Gattungsstilistik” an der Universität Würzburg statt. Alle Interessierten sind herzlich zur Teilnahme eingeladen.

Der Auftaktworkshop hat ein dreifaches Anliegen: Erstens, mit beteiligten und assoziierten WissenschaftlerInnen aus Literaturwissenschaft, Linguistik und Informatik das Rahmenthema der Nachwuchsgruppe zu diskutieren. Zweitens, sich über die geplanten Einzelprojekte der DoktorandInnen auszutauschen. Und drittens, durch eine kleine Anzahl allgemeinerer Vorträge bestimmte Aspekte des Rahmenthemas der Gruppe aus literaturwissenschaftlicher, linguistischer und stilometrischer Perspektive zu vertiefen.


Praktische Informationen

- Termin: Montag, 29. September 2014, 11-19 Uhr
- Ort: Universität Würzburg, Campus Hubland, Philosophie-Gebäude, Bau 2, Übungsräume 9 und 10. Hinweise zur Anreise
- Kontakt: Dr. Christof Schöch, Lehrstuhl für Computerphilologie, Universität Würzburg, christof.schoech@uni-wuerzburg.de
- Anmeldung: Bei Teilnahme am gesamten Workshop wird um formlose Anmeldung beim Veranstalter gebeten. Die Teilnahme nur am Vortragsprogramm ist jederzeit separat und auch ohne Anmeldung möglich.

Programm

10:30-11:00: Empfang der TeilnehmerInnen

Erster Teil: Computergestützte literarische Gattungsstilistik
11:00-11:15: Begrüßung und Einführung
11:15-12:00: Impulsreferat „Ziele, Fragestellungen und Methoden der Nachwuchsgruppe computergestützte literarische Gattungsstilistik“ (Christof Schöch)
12:00-13:00: Paneldiskussion „Perspektiven auf Gattungsstilistik“ (mit Brigitte Burrichter, Andreas Hotho, Fotis Jannidis und Christof Schöch)
13:00-14:00: Mittagspause mit Snacks vor Ort

Zweiter Teil: Literaturwissenschaftliche Einzelprojekte
14:00-15:00: Kurzvorstellung der literaturwissenschaftlichen Einzelprojekte
15:00-16:00: Diskussion der Projekte
16:00-16:30: Kaffeepause

Dritter Teil: Vortragsprogramm (keine Ameldung erforderlich)
16:30-17:15: Vortrag: “Digitale Netzwerkanalyse dramatischer Texte” (Frank Fischer, GCDH Göttingen; Dario Kampkaspar, HAB Wolfenbüttel; Peer Trilcke, SDP Göttingen)
17:15-18:00: Vortrag: „Kontrastive Visualisierung linguistischer Korpora“ (Peter Frankhauer & Elke Teich, Universität des Saarlands)
18:00-18:15: Pause
18:15-19:15: Abendvortrag: „The Dark Side of Stylometry: False Positives and other Disasters“ (Maciej Eder, Paedagocial University, Krakow)

Aktuelle Informationen zum Workshop sowie weitere Informationen zur Nachwuchsgruppe können unter folgender Adresse eingesehen werden: http://clgs.hypotheses.org.

Der Workshop wird im Rahmen der Nachwuchsgruppe „Computergestützte literarische Gattungsstilistik“ durchgeführt, die vom BMBF gefördert wird (Förderkennzeichen 01UG1408).

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4004

Weiterlesen