Das Psychologische in der Kunst: Über Spannung und Entspannung beim Kunsterlebnis

Studienzeichnung Borghesischer Fechter - Friedrich von Gärtner - 1809Zur Analyse der ARTigo-Farbtags ist zunächst die Erläuterung folgender psychologischer Komponenten des Kunsterlebnisses nötig:

  • Theorien zum Kunsterlebnis
  • Das Modell der Homöostase
  • Die Theorie zum Kunsterlebnis von Kreitler & Kreitler (1972)

Danach werde ich in einem gesonderten Artikel darauf eingehen, wie sich der Aspekt der Spannung auf die ARTigo-Spieler und die von ihnen vergebenen Farbtags auswirkt. Um das richtig einordnen zu können, ist diese kurze Einführung in die Thematik nötig.

Theorien zum Kunsterlebnis – ein paar Basics

Die Psychologie ist die Wissenschaft, die das Erleben und Verhalten des Menschen erforscht. Dazu gehört auch das Kunsterlebnis, für dessen Erklärung man zunächst allgemeine Theorien, die zum Verständnis von Persönlichkeit und Verhalten des Menschen aufgestellt worden waren, heranzog.  Die folgenden Abschnitte geben einen kurzen Überblick über diese Theorien.

Die Psychoanalyse fragt nach der Ursache der Lust des Betrachters. Für sie stellt die Wahrnehmung von Kunstwerken eine Ersatzbefriedigung von kindlichen und primitiven Trieben dar, die auf diese Weise in sublimierter Form erfolgt. Für Freud war die Befriedigung dieser Lust aber lediglich eine „milde Narkose“, und er schrieb „Der Genuß an der Schönheit hat einen besonderen, milde berauschenden Empfindungscharakter.“ [1]

Der psychoanalytische Ansatz wurde in der Wissenschaft vielfach diskutiert und kritisiert und stellt keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Erklärung des Kunsterlebnisses dar [2]. Trotzdem scheinen mir die Äußerungen Freuds interessant. Darauf werde ich in einem späteren Artikel gesondert eingehen.

Die Gestaltpsychologie (Ehrenfels, Köhler, Koffka, Wertheimer) postuliert, dass „das Ganze mehr als nur die Summe seiner Teile oder der Relationen zwischen seinen Teilen“ ist. Hier geht es um die Wirkung der Gestalt, die nicht auf individuelle, sie ausmachende einzelne Elemente reduziert werden kann, sondern als Ganzes wirkt. Die Gestaltpsychologie sucht nach den Bestandteilen, die unsere Wahrnehmung organisieren.

Ihr Beitrag zum Verständnis des Kunsterlebnisses liegt in der Schaffung einer Ordnung der formalen Gesichtspunkte eines Kunstwerks. Trotz der Untersuchung der formalen Aspekte von Kunstwerken löste sie sich nicht vom Inhalt der Werke.

Der Behaviorismus postuliert, dass es sich beim Kunsterlebnis um „ein als Bevorzugungserklärung reflektiertes Geschmacksurteil handele, und dass der Grad der Bevorzugung für das Gesamtkunstwerk die Summe seiner Bevorzugungen für die vereinzelten und einzeln zu betrachtenden Elemente sei“. Ein Kunstwerk besteht also aus vielen einzelnen Elementen, deren positiver Eindruck bei der Betrachtung quasi aufaddiert wird. Die Gesamtsumme macht dann das Geschmacksurteil des Betrachters aus und führt wohl letztlich zu Aussagen wie:“ Das spricht mich an / das finde ich toll / oh wie schrecklich“.

Innerhalb des Behaviorismus nahm Berlyne an, eine besondere Eigenschaft eines Kunstwerks sei, dass es im Betrachter für einen Anstieg der Erregung mit einer nachfolgenden Entspannung sorgen würde. Das Ansteigen der Erregung kommt dabei über den Grad der Neuartigkeit und der Komplexität zustande. Das genaue Betrachten und Erforschen eines Werkes sorgt für Entspannung, wobei der Anstieg der Erregung von Lust begleitet sein kann. Berlyne stellte erstmals fest, dass ein Kunstwerk „Reizvariablen“ enthält, wie Neuartigkeit, Komplexität, Überraschung und Vielartigkeit von Elementen.

Die Informationstheorie betrachtet Kommunikation unter einem technisch-mathematischen Konzept. Das bekannte Sender-Empfänger-Modell von Shannon & Weaver (1949) beschreibt, wie Information zwischen einem Sender und Empfänger übertragen wird und nennt einige Bedingungen, wie passende Kodierung oder Störungen, unter welchen Information durch einen Kanal fließt.

Auf die Kunst angewandt bedeutet dies, dass bei ihrer Betrachtung Information übertragen wird. Beinhaltet die Information Ungewissheit, so kann dies zur Frustration (also Spannung) beim Betrachter führen. Ideal ist also Information, die über eine gewisse Dichte verfügt. D.h., enthält sie wiederholte Inhalte, die redundant sind, dann langweilt sie. Enthält die Information zu viel Inhalte, ist also zu wenig redundant, dann überfordert sie den Betrachter und löst Chaos aus.

Die Informationstheorie bietet nur in begrenztem Maß eine Erklärung für das Kunsterlebnis. Sie analysiert zwar einige Aspekte der formalen Struktur von Kunstwerken, und ein informativer Aspekt ist Kunst sicher nicht abzusprechen, aber die Reduzierung des Erlebnisses „auf Auslösung, Frustrierung und Bestätigung von Erwartungen“ (Meyer, 1959) ist zu wenig.

Gemeinsamkeiten der Theorien

Alle Theorien haben folgende Gemeinsamkeiten:

  • Sie erklären das Kunsterlebnis mit allgemeinen Konzepten der Psychologie
  • Sie legen das homöostatische Modell zugrunde (sh. folgender Abschnitt)
  • Sie nehmen an, dass das Erleben von Kunst durch Spannung und Entspannung wesentlich beeinflusst wird [2].

Das Modell der Homöostase

Ein Organismus ist auf das Herstellen eines Gleichgewichtszustandes ausgelegt. Ein Regelkreis, der durch innere oder äußere Störungen, die Spannung vermitteln, beeinflusst wird, verwertet dazu die Information über das Maß und die Art von Veränderung seiner Umwelt und reagiert darauf, um einen Ausgleich, also Entspannung, wiederherzustellen. Das Herstellen des Ausgleichs kann einen Lernprozess oder eine Entwicklung (Evolution) einschließen, da nicht nur das Wiederherstellen eines Gleichgewichts erreicht wird, sondern durch das Lernen zur Einrichtung von stabilen Gleichgewichtszuständen kommen kann [3].

Als Beispiel wäre zu nennen, dass der Organismus bei starker Sonneneinstrahlung und Wärme mit Schweißabsonderung reagiert, um sich abzukühlen. Als Lernprozess könnte folgen, dass er zukünftig eine zu starke Wärme vermeiden wird.

Die Homöostase können z.B. folgende Zustände stören:

  • Bestehende, nicht gelöste Probleme,
  • Unvollendete Aufgaben,
  • Figuren, die das Gestaltprinzip verletzen [2] ,
  • Unzufriedenheit über Lebenssituationen oder –umstände,
  • Der eigene Minderwert, ob bewusst oder unbewusst vorhanden.

Dabei ist zu bemerken, dass die Aussicht des Individuums, den Spannungsausgleich wiederherzustellen, häufig von Lust begleitet wird oder zumindest als angenehm empfunden wird. Z.B. gehört die Aussage „Vorfreude ist die schönste Freude“ in diesen Zusammenhang [2].

Die Theorie zum Kunsterlebnis von Kreitler & Kreitler (1972)

Wie bereits erwähnt, wurden die vorstehenden Theorien aufgestellt, um das Erleben von Menschen in einem allgemeinen Kontext zu erklären.

Hier noch einmal eine grafische Darstellung des Prinzips bezüglich Spannung und Entspannung der o.g. Theorien :

Theorie1

Das auf Ausgleich angelegte Individuum empfindet Spannung, die es aufzulösen gilt, was ein von Lustempfinden begleiteter Prozess sein kann.

Kreitler & Kreitler erschien dieses Prinzip aber unlogisch und sie stellten in der Folge eine eigene Theorie auf, die speziell das Kunsterlebnis erklären sollte. Sie fragten sich, warum ein nach Ausgleich strebender Organismus von sich aus nach Spannung suchen sollte? Deshalb postulierten sie, „daß eine der Hauptmotivationen der Kunst Spannungen sind, die in dem Betrachter bereits vor seiner Beschäftigung mit dem Kunstwerk bestehen. Das Kunstwerk vermittelt die Erleichterung und Entspannung dieser bereits existierenden Spannungen durch die Schaffung neuer spezifischer Spannungen.“ [2]

Theorie2-

 

 

 

Kreitler & Kreitler (1972) stellten somit die Hypothese auf, dass die Beschäftigung mit Kunst deshalb gesucht wird, weil eine im Betrachter bereits bestehende Spannung durch die Betrachtung der Kunstwerke verstärkt wird, was dann zu einer Lösung der vorbestehenden Spannung führt und ein von Lust begleiteter Prozess ist [2].

Um dies besser verstehen zu können, möchte ich als Beispiel die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson anführen. Bei Stress und Spannungsgefühlen ist dies eine seit etwa 90 Jahren bewährte Therapie. So bewährt, dass die Übungen an vielen Volkshochschulen gelehrt werden.

Bei dieser Methode spannt man verschiedene Muskelgruppen für einige Sekunden stark an und lässt dann abrupt wieder los, was zu einer Lockerung der bereits bestehenden (Ver-)spannung führt. Beim Lösen der bewusst herbei geführten Anspannung verbreitet sich sofort ein sehr angenehmes Wohlgefühl in der Muskelpartie.

Wie bei der Progressiven Muskelentspannung, die auf physischer Ebene wirkt, soll das Betrachten von Kunst also auf psychologischer Ebene wirken. Die vorbestehende diffuse Spannung (rote Schrift) soll durch Zugabe der Spannung, die durch Kunstwerke vermittelt wird (schwarze Schrift) aufgelöst werden.

Meine weiteren Betrachtungen hinsichtlich der Spannung, die durch das Kunsterlebnis vermittelt werden, werde ich auf Basis der Theorie von Kreitler & Kreitler vornehmen, weil mir diese – im Vergleich zu den anderen genannten Theorien – schlüssiger und vollständiger erscheint. Gleichzeitig frage ich mich aber, ob und in welchen Fällen die vorbestehende Spannung mit aufgelöst wird. Im Gegensatz zu Kreitler & Kreitler sehe ich in diesem Punkt weiteren Differenzierungsbedarf.

Spannung und Entspannung bei Farbkombinationen

Um Spannung und Entspannung von Farbkombinationen zu untersuchen, ließen Kreitler & Kreitler ihre Probanden Farbkärtchen sortieren. Die Quintessenz ihrer Ergebnisse bezüglich des Untersuchungsgegenstandes Farbe lautet, dass bestimmte Farbkontraste, wie der Komplementärkontrast oder zwei einander ähnliche Farbtöne, Spannung vermitteln. Entspannung wird hingegen von Zwischentönen und Grautönen vermittelt.

Natürlich gibt es seitens des Betrachters sowie des Kunstwerks einige Variablen. Das Vorwissen des Betrachters ist wichtig oder auch wie sehr er sich auf das Kunstwerk einlassen oder einfühlen kann. Davon hängt ab, wie stark die Spannungen des Kunstwerks sind, die es vermittelt. Sind sie zu stark, wendet er sich ab, reagiert verärgert oder mit Angst, sind sie zu schwach reagiert er mit Langeweile, wenn der Grad an Neuem nicht ausreicht. Trotzdem kann man ganz allgemein feststellen, dass Farbe in Kunstwerken Spannung im Betrachter hervorruft [2].

Für mich schließen sich zwei Fragen an, die ich in den folgenden Artikeln klären möchte:

  1. Kann man einen Hinweis auf die Spannung, die Farbe vermittelt, auch bei ARTigo-Spielern finden?
  2. Welcher Art müssen die diffusen, im Betrachter vorbestehenden Spannungen sein, damit sie bei der Kunstbetrachtung aufgelöst werden können? Welche Spannungen können nicht aufgelöst werden?

Literatur

[1] Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930

[2] Hans Kreitler und Shulamit Kreitler: Psychologie der Kunst, 1980

[3] Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, 1977

Bild: Friedrich von Gärtner, Studienzeichnung Borghesischer Fechter, 1809, München, Architekturmuseum der Technischen Universität

Digitale Bildquelle: www.artigo.org

Quelle: http://games.hypotheses.org/?p=1743

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Der Direktor und seine Kanone – Katastrophale Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im…

Während in der von Robert Sommer für den aktuellen Augustin (Nr. 373, 3.9.2014, S.24f) verfassten Besprechung von Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg die in der Schallaburg recht gut wegkommt, ist seine Einschätzung zu der im Heeresgeschichtlichen Museum vernichtend, was angesichts des dort mit seiner Liebhaberei für dicke Kanonen und glänzende Uniformen sein Unwesen treibenden Direktors nicht verwundert:

Das HGM hatte 5 Millionen Euro zur Verfügung, um die Ausstellungsräume 'Erster Weltkrieg' zu erneueren. Eine Chance wurde vertan. (...) Radetzky, Gottvater des österreichischen Militarismus, scheint mit seiner Präsenz das Einsickern zivilen Geistes ins Arsenal zu überwachen. Die Military-Modeschau - Vitrinen voller fesch herausgeputzter Ulanen, Dragoner, Militärgeistlicher, Pioniere, Infanteristen, Militärrechnungsbeamter, Landesschützen oder Gardewachtmeister - nimmt die Hälfte der Fläche ein. (...) Keinem Besucher, keiner Besucherin entgeht, was der eigentliche Hochaltar der Weltkriegsausstellung im Arsenal ist. Es ist die plankgeputzte, 80 Tonnen schwere 38-cm-Haubitze aus den Pilsener Skodawerken, die vom Rapidplatz aus das Horr-Stadion beschießen hätte könne, um die Reichweite zu veranschaulichen. Ein großer Teil der Kosten für die Neugestaltung des Teils zum Ersten Weltkrieg wurde für die Absenkung des Museumsniveaus verwendet. Erst dadurch ereichte man eine Saalhöhe, die nötig war, um die Haubitze in voller Pracht aufzustellen. (...) Wenn dieses letztlich versagende Unding den Hochaltar abgibt, so bilden das Sarajewo-Attentats-Originalauto (...) und Albin Egger-Lienz' berühmtes riesigformatiges Kriegspropagandagemälde 'Den Namenlosen 1914' quasi die Seitenaltäre.

Ob ein alternativer Besuch im HGM trotz dieser musealen Katastrophe erkenntnisbringend sein kann? Der Historiker Hans Hautmann wird es im Rahmen einer vom Aktionsradius Wien am 3.10.2014 veranstalteten Stadtflanerie versuchen, nähere Infos unter http://aktionsradius.at/gaussplatzelf/2014/09/aktionsradius_sept-dez2014_page_03.jpg

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/985927956/

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Bilder, Videos und Dokumente finden

Welche Bilder und Medien überhaupt im eigenen Beitrag verwendet werden dürfen, ist manchmal nicht sehr klar. Nähere Infos zu solchen und anderen rechtlichen Fragen beim Bloggen gibt es hier: http://bloghaus.hypotheses.org/1232.

Im Folgenden nun einige Suchmöglichkeiten für Bilder und Medien, die den eigenen Blogbeitrag schmücken können:

Suchmaschinen für Bilder

Creative Commons, alle Dateitypen: Creative Commons Search
http://search.creativecommons.org/

Creative Commons, Fotos: FlickrCC
http://flickrcc.net/flickrCC/?terms=blue+mountains&edit=yes&page=1

Copyright und Creative Commons, Fotos: Everystockphoto
http://www.everystockphoto.com/

Media-Sharing-Plattformen

Creative Commons, jeglicher Inhalt: Internet Archive
http://archive.org

Creative Commons, originale Videos: ARTE Creative
http://creative.arte.tv/

Copyright und Creative Commons, Videos:

Copyright und Creative Commons, Fotos:

Copyright und Creative Commons, Dokumente:

Fachwebseiten

Bilder, Videos und Tonaufnahmen:

Wissenschaftliche Bilder:

Gemälde:

Werke:

Quelle: http://bloghaus.hypotheses.org/1260

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“Groß-Peking” (1892): Ein Bilderbogen im “Floh”

Das Gschnas der Genossenschaft der Bildenden Künstler Wiens bildete einen der Höhepunkte des Wiener Faschings und wurde dadurch auch Thema in satirisch-humoristischen Periodika. Der größte Teil beschränkt sich auf kurze Wortspiele und Anspielungen auf die ‘Chineser’ in Wien. Eine Ausnahme gibt es:  Der Floh widmete dem Gschnas die Doppelseite “Skizzen vom Künstlerfest 1892″[1] – eine Collage aus ‘chinesischen’ Typen und Karikaturen der Attraktionen des “Fests in Groß-Peking”.

Der Floh (6.3.1892)

http://mindthegaps.hypotheses.org/wp-admin/post.php?post=1704&action=edit&message=10 Der Floh Nr. 10 (6.3.1892) 4-5. Quelle: ANNO

Betrachtet man die Seite ohne Wissen um den Kontext wirken die einzelnen Elemente wie wenig originelle Versatzstücke zeittypischer China-Karikaturen: kleine Männchen in merkwürdigen Kleidern, Zöpfe in allen Längen, Faltschirmchen, Pfauenfedern, Palmen, chinesische Dächer und gepinselte Schriftzüge. Kombiniert mit Informationen aus den Tageszeitungen von Ende Februar/Anfang März 1892 ergibt sich ein gaz anderes Bild.

 

Floh - Bilderbogen | Schema

Floh – Bilderbogen | Schema

Der Titel (1)  läuft in zwei Bändern von oben nach unten. Wie in den meisten gepinselten Schrifzügen, die asiatisch wirken sollen, sind die ‘Pinselstriche’ sehr gleichförmig, hier fangen die Striche fein an und werden zum Ende des Strichs breiter – die dabei gebildeten Buchstaben wirken plump und wenig ästhetisch. Die Verbindung gepinselt = asiatisch ist jedoch dauerhaft und fix im visuellen Vokabular verankert.[2]

Die in einem farbig angelegten Feld tanzenden Figuren (2) illustrieren den Typus des ‘Chinesen’ in satirisch-humoristischen Periodika der Zeit: eher beleibte Figuren, meist in wadenlangen Röcken/Kleidern und Jacken mit weiten Ärmeln, an den Füßen Schuhe mit weißen (Stoff-)Sohlen.

“Theyer’s Raritätenkabinett” (3) und “Panneaux v. Petrowiz” (4) gehörten zu den Höhepunkten der Ausstattung. Der Architekt Leopold Theyer (1851-1937)[3] gestaltete für sein “Raritäten-Kabinett” aus Sperrholz, Papier und Farbe ‘asiatische’ Gegenstände, auch Waffen mit “Kaffeemühlenantrieb”:

Der sehr complicirte Mechanismus dieser ungefährlichen Mord-Instrumente ist meist auf dem Kaffeemühlen-Systeme aufgebaut.[4]

 

Im Bilderbogen verarbeitet sind zwei Kästchen mit Einlegearbeit, das Pfalnzgefäp mit den Drachen (die aus Rebwurzeln gemacht waren), ein Gewehr mit Kaffeemühle – und “eine zweigeschwänzte grüne Löwin mit rothen Augen” ((“Local-Anzeiger” der Presse Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.))

Von der anderen Seite aus betritt man ein reizendes chinesisches Interieur. Hier haben Maler Petrovits und Architekt Theyer ein geradezu blendendes chinesisches Museum zusammengestellt. Porzellanarbeiten und japanische Lackkästen, phantastische Musik-InsTrumente, und zahlreiche, theils aus Tapetenstoffen und kartenblättern zusammengearbeitete, theils gemalte, theils plastisch gearbeitete Bilder, lauter chinesische Volkstypen darstellend, Möbel mit Perlmutter und Metall eingelegt – Alles blutigster “Gschnas”, aber von täuschender Wirkung.[5]

Der Maler Ladislaus Eugen Petrovits (1839-1907)[6] gestaltete für sein Panneau ‘chinesische’ Volkstypen – die in der Karikatur sehr wienerisch wirken:

Da ist ein prächtiger Fiaker, ein urgrober Hausknecht [d.i. die Figur ganz rechts]- in chinesischen Lettern hat dieses Bild die Aufschrift: “A Blick, a Watschen, a Leich!” [7], dann der Sonntagsreiter, das Stubenmädchen, der Sicherheitswachter mit dem Fiakertarif in der Tasche und vor allem die elegante junge Dame [d. i. die Figur ganz links], der das Unglück passieren mußte, sich in die Leine, an der sie den kleinen Mops spazieren geführt, zu verwickeln. Das arme Thierchen pendelt an der grünen Schnur weitab aus dem Bilde heraushängend.”[8]

Eine Attraktion des Festes waren die  “Pagoden” (5), rund 150 Figuren in Form von ‘Wackelpagoden’, die Schauspielerinnen und Schauspieler, Politiker und Beamte darstellten. Der größte Teil dieser Figuren war mit einem Mechanismus ausgestattet, der den Kopf in Bewegung setzte:

[...] die “Pagodln”, der mit unterschlagenen Beinen und auf dem Dickbauch verschlungenen Armen gebildete bekannte Typ des kopfnickendne Chinesen [...] Die Mehrzahl der Köpfe ist nicht carikirt sondern bei aller Flüchtigkeit der improvisirten Arbeit von frappirender Porträt-Aehnlichkeit.[9]

Die Bilder  “Aus d. geistigen Groß-Peking” (6) zeigen bekannte Persönlichkeiten im ‘chinesischen’ Gewand. Die Darstellungen sind  vereinfachte (und stark verkleinerte) Auszüge aus Das geistige Großpeking ((Das geistige Großpeking (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens [ohne Datum]), Der Band präsentiert Porträtkarikaturen, die die Mitglieder der Gesellschaft bildender Künstler und andere Kulturschaffende der Zeit in ‘asiatischen’ Gewändern darstellen. Ergänzt werden diese durch Kurzbiographien dieser “Pekinger”: (obere Reihe, von links): Felix ((D.i. der Maler Eugen Felix (1836-1906) – zur Biographie: “Felix, Eugen, Maler” In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 1 (1957) 296).)) (S. 19 in “Das geistige Großpeking”)  , Maireder[10] (S. 33) und Trentin A. (ungebildet)[11] (S. 61); (untere Reihe, von links): Notsch[12] (S. 37), Girardi[13] (S. 15), Udel[14] (S. 63) und Roth[15] (S. 45). Wenzel Noltsch wirkt einigermaßen ‘chinesisch’, er trägt die Kappe mit Rangknopf und herabhängender Pfauenfeder, Mayreder hat ein Zöpfchen, doch insgesamt beschränkt sich das ‘asiatische’ auf geblümte/gemusterte Gewänder, die an Haus- oder Morgenmäntel erinnern.

Die “Typen” in der Mitte (7 und 8)und in der linken unteren Ecke (10) zeigen Figuren in ‘asiatischen’ Kostümen, wobei sich zu phantasievollen Elementen (wie den Kopfbedeckungen der beiden Figuren in den Karierten Gewändern) und den allgemein üblichen Zöpfen vor allem bei den weiblichen Figuren chinesische und japanische Elemente mischen. Die beiden nur teilweise dargestellten Figuren (7) sind in Kimono-ähnliche Gewänder mit breiten Bindegürteln gehüllt, die vollständig dargestellte Figur mit dem Blattfächer trägt Kleidung, die an chinesische Vorbilder erinnert.

Das ‘chinesische’ Tor (9) karikiert den Eingang zu den Festräumen – die mit allen Arten von Ankündigugne beklebte Mauer und das Tor mit dem geschwungenen Dach wird in Zeitungsberichten wiederholt beschrieben:

Den Eingang in die chinesische Riesenstadt wehrt die berühmte chinesische Mauer, reich mit bunten Plakaten und vielfältigen Anschlagzetteln beklebt.[16]

Vor dem Tor sitzt unter einem Schirm eine dickbäuchige Figur, die den so genannten “lachenden Buddha” [xiàofó 笑佛 oder bùdài 布袋 (=japanisch: hotei) erinnert.

"Prix fix nix" (9) zeigt eine der zentralen Installationen beim Fest: eine Statue des Wiener Bürgermeisters Dr. Johann Nepomuk Prix (1836-1894)[17]. Am Fuß dieses Standbildes sitzen zwei Wiener Gemeinderäte: links Karl Lueger (1844-1910),  rechts Ferdinand Dehm (1846-1923):

In der Mitte des Oberlichtsaales auf dem Ehrenplatze steht das Porcelan[sic]-Monument des Bürgermeisters von Groß-Peking. Wie ein alter Heiliger Hält Bürgermeister D. Prix, dessen Kopf von sprechender Porträtähnlichkeit ist, in der einen Hand ein Modell des Rathhauses, in der andern den eisernen Mann desselben[18] Sein faltiger Mantel zeigt auf weißem Grunde in blauem Email den großen chinesischen Drachen und anderes Fabelgethier aus dem Reich der Mitte. [...] Seitwärts flankirt wird das Monument durch einen Vertreter der Opposition und einen der Mehrheit. Zu ersterem ist der böse Lueger gesessen, dessen Kopf, wenn man an der Figur rührt, “Nein” schüttelt; sein Gegenstück ist Gemeinderath Dehm. Die Gestalt sagt, “warum denn nicht, mir ist’s recht”, der Kopf nickt Ja. Die weiße Porcelanfigur Lueger’s hat das Zwiebel- und Knoblauchmuster des alten Meißnerstyls als Allegorie seiner antisemitischen Richtung, der brave Dehm ein schönes Vergißmeinnichtmuster. Der Meister dieses Bürgermeister Standbildes und seiner Nebenfiguren ist Professor König. [19]

Lueger und Dehm sind so eindeutig dargestellt, dass es keiner Zusatzinformation bedarf, Prix wird durch die inschrift am Sockel identifiziert. Auch die im Bilderbogen dargestellten “Pagoden” (5) dürften für das Publikum erkennbare Karikaturen gewesen sein.

An diesem Beispiel zeigen sich die Herausforderungen der Arbeit mit historischen Karikaturen sehr deutlich, denn beim genaueren Hinsehen erweisen sich die (aus der Distanz wenig witzigen, manchmal fast plumpen) Zeichnungen als überaus vielschichtig.

 

Teil 1: Ein ‘chinesisches’ Wien
Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Das Fest im Spiegel satirisch-humoristischer Periodika
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

  1. Der Floh Nr. 10 (6.3.1892) 4-5.  Online: ANNO – Anmerkung: Das Digitalisat ist leider nur Schwarz-Weiß, was gerade beim Floh, dem ersten Wiener Blatt, das farbige Karikaturen und Zeichnungen brachte, sehr bedauerlich ist. Das Original konnte nicht eingesehen werden.
  2. Es sei hier auf Firmenschilder asiatischer Läden, Vor-/Nachspann asiatischer Filme in Fassungen für den Westen und ähnliches verwiesen.
  3. Zur Biographie: “Theyer, Leopold (1851–1937), Architekt, Kunsthandwerker und Lehrer” In: Österreichisches Biographisches Lexikon Bd. 14 (2014) 294 f.
  4. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 4. Online → ANNO.
  5. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 4 – online: ANNO.
  6. Zur Biographie: “Petrovits, Ladislaus Eugen (1839-1907), Maler und Illustrator” In: Österreichisches Biographisches Lexikon Bd. 8 (1979) 7.
  7. “Ein Blick, eine Ohrfeige, eine Leiche!”
  8. “Local-Anzeiger” der Presse Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.
  9. “Local-Anzeiger” der Presse. Beilage zu Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.
  10. D.i. der Architekt Carl Mayreder.
  11. D.i. der Maler Angelo Trentin (1850-1912).
  12. D. i. der Maler Wenzel Ottokar Noltsch (1835-1908).
  13. D.i. der Schauspieler Alexander Girardi (1850-1918).
  14. D. i. der Musiker und Sänger Karl Udel [Udl] (1844-1927).
  15. D. i.  der Architekt Franz Roth (1841-1909), der 1890-92 Präsident der Gesellschaft bildender Künstler war.
  16. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 3 – online: ANNO.
  17. Zur Biographie: “Prix, Johann Nep. (1836-1894), Jurist und Kommunalpolitiker”. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 8 (1981), 287.
  18. Gemeint ist der “Rathausmann“, die Figur eines Ritter mit Standarte, die auf der Spitze des mittleren Turms des Wiener Rathauses steht. Im Bilderbogen fehlt der Rathausmann, Prix scheint eher auf etwas zu deuten.
  19. “Local-Anzeiger” der Presse. Beilage zu Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1704

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Update zu Mobile History. Neue Apps für Historiker und Geschichtsinteressierte

Die New York Times hat unter dem Titel “Gateways to the Classical World” Ende August eine Übersicht zu neuen, englischsprachigen iPad-Apps zur antiken Geschichte und den zugehörigen Sprachen veröffentlicht. Die meisten von ihnen dienen Geschichtsinteressierten – die es natürlich nie genug geben kann. Dabei sind aber auch einige Projekte, die für Historiker interessant sein können, wie Lexika, Wörterbuch oder ein Kartenwerk der antiken Welt, mit denen ein Schritt in Richtung der wissenschaftlichen Nutzung von Apps (siehe Mobile History Teil I) und E-Books (siehe Social Reading für die Wissenschaft) getan ist.The Barrington Atlas of the Greek and Roman World. Während das seit 2000 erhältliche gedruckte Werk bei 425 Dollar liegt, kostet die iPad-App bloß 19,99. Der Atlas umfasst den Zeitraum von 1600 Jahren, enthält umfangreiches Textmaterial und 102 Karten. Der Vorteil der App liegt dabei, neben dem Preis, zum einen in der hohen Auflösung der Bilder von bis zu 800% im Vergleich zur gedruckten Version. Auch die Suchfunktion vereinfacht das Arbeiten mit den Karten. Das Ortsverzeichnis umfasst mehr als 20.000 Standorte.

Virtual History Roma wirft für einen ebenfalls kleinen Preis einen Blick auf das alte Rom durch ein drehbares 3D-Modell, farbige Abbildungen und Fotos von den Ruinen. Neben den Bildern führen kurze Textblöcke den Leser durch die Geschichte des Römischen Reiches mit einer kurzen Beschreibung seiner Kunst, Architektur und Politik. Hinzu kommen interaktive Elemente, wie Videos, eine Schritt-für-Schritt-Demonstration zum Bau einer Römerstraße oder eine 360-Grad-Luftaufnahme der Stadt mit Vogelflug-Optik.

Führ nicht einmal 4 Dollar führt die App Ancient Greece junge Interessierte in die griechische Welt der Götter und Sterblichen ein. Sie nutzt ebenfalls die multimediale Vielfalt von Fotos, Animationen und Videos, um die wichtigsten Aspekte der griechischen Kultur abzudecken. Hinzu kommen aber Spiele, also Gamification-Aspekte, die die Motivation für die Beschäftigung mit dem Thema durch Spaß erhöhen sollen. Der begleitende Text ist kurz, aber informativ, und birgt eine breite Palette von bekannten Themen der antiken Welt.

Die SPQR- und Ancient Greek-Wörterbuch-Apps helfen all jenen, die für wenig Geld etwas digitale Hilfe bei der Bewältigung der antiken Sprachen suchen. Grammatik- und Wortschatz-Tests, Lexika und eine E-Bibliothek mit Werken von bekannten Autoren zum Lesen und Übersetzen unterstützen aber nicht nur Studenten. Die Wörterbücher oder die Möglichkeit, den Originaltext direkt mit einer Übersetzung der Loeb Classical Library vergleichen zu können, hilft auch Historiker oder Archäologen bei der Quellenarbeit oderist auf einer Ausgrabung sehr praktisch. Das gilt gleichermaßen für reine Lexikon- oder Wörterbuch-Apps. Davon gibt es mehrere kostenlose oder kostengünstige für iOS und Android, wie Ancient Greek Lexikon and Syntaxoder die kostenlose Logein App (web version auf logeion.uchicago.edu) der Universität von Chicago, die mehr als ein Dutzend griechische und lateinische Wörterbücher und Nachschlagewerke vereint.

Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit, alle Apps zu testen, deswegen freue ich mich über Erfahrungsberichte und Hinweise, zum Beispiel über die verwendeten Quellen. Spannend wäre auch, ob solche Lexika ähnlich einer Fachwikipedia regelmäßig aktualisiert werden – gerade für die Forschung ein wichtiger Aspekt, der sich bei digitalen Inhalten wesentlich leichter umsetzen lässt, als im Print mit Ergänzungsbänden. Um es mit dem Autor zu halten: „The Greeks and Romans recorded their worlds on papyrus and tablets made of wax or clay, and there’s a satisfying sense of continuity when you study their ­millenniums-old ideas on 21st-century tablets made of glass and metal.“

Quelle: http://kristinoswald.hypotheses.org/1384

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aussichten. Perspektivierung von Geschichte, September 6, 2014

Neueste Beiträge in ‘aussichten’ Oberschleißheims Erster Bürgermeister Kuchlbauer signalisiert Bereitschaft für finanzielle Unterstützung umsichten extra: Katalogisierung und Archivierung von »umsichten« bei der Deutschen Nationalbibliothek Jan Assmann: Vertikaler Sozialismus. Solidarität und Gerechtigkeit im altägyptischen Staat, in: Richard Faber (Hrsg.): Sozialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, S. 45-60 Museumsreport: Besucherzentrum Welterbe Regensburg aventinum Nr. 82 [03.09.2014]: […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/09/5355/

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Transnationale Aspekte nationalistischer Bewegungen in Deutschland und Frankreich 1870-1914

wissembourgNationalismus und nationalistische Bewegungen werden in der Forschung gern komparativ betrachtet, aber kaum transnational. Das ist zunächst vielleicht nicht erstaunlich, denn „national“ und „transnational“ scheinen auf den ersten Blick Widersprüche zu sein, ist doch das Zweite in gewisser Weise die Transzendenz und Überhöhung des ersten.

Für die Arbeit an meinem Buchprojekt zur „Deutsch-französischen Geschichte 1870-1918“ stehe ich jedoch vor der Aufgabe, die Phänomene der Zeit mit einem transnationalen deutsch-französischen Blick zu betrachten und nach Berührungspunkten, Transfer und Austausch zu suchen. Das ist bei Themen wie “Pazifismus” oder “Sozialistische Internationale” sofort einsichtig und auch gut erforscht, bei einem Thema wie „Nationalistische Bewegungen“ jedoch nicht unbedingt.

Warum gibt es dazu für diese Epoche kaum Forschung? Zum einen waren die nationalistischen Bewegungen 1870-1914 in beiden Ländern – mit unterschiedlichen Konjunkturen – gegeneinander gerichtet. Zum anderen ist Transferforschung positiv besetzt, man untersucht positive Denkweisen und Fähigkeiten, die über regionale und nationale Grenzen weitergegeben und adaptiert wurden, nicht negativ besetzte Themen wie Antisemitismus oder Nationalismus. Die Transferforschung hat hier meiner Meinung nach einen blinden Fleck.

Doch Transfer und Berührungen gab es auch in Bezug auf die radikalen nationalistischen Bewegungen, die in Frankreich in den 1880er Jahren (Boulangismus, später die verschiedenen Ligen im Rahmen der Dreyfusaffäre sowie die Action française) und im Kaiserreich in den 1890er Jahren mit den Alldeutschen und den Völkischen entstanden sind, sowie bei den verschiedenen kryptopolitischen Bewegungen wie Kriegervereine oder Sportvereine.

Vier übergeordnete transnationale Aspekte des Nationalismus in Frankreich und Deutschland von 1870-1918 fallen mir ein, die unterschiedlich gut erforscht sind und zu denen ich mir mehr Forschungen sowie eine Synthese vorstellen könnte:

  • Ideengeschichtliche Wahrnehmungen und Transfers
  • Politische Maßnahmen
  • Kontakte und Transfer von Vereinen und Verbänden
  • Methodentransfer

Dazu im Folgenden einige Gedanken und Beispiele als erste Skizze für einen Vortrag, den ich am 19. September 2014 auf der diesjährigen Jahrestagung der GSA in Kansas City halte (Programm als PDF). Sie seien hier vorab zur Diskussion gestellt.

Ideengeschichtliche Wahrnehmung und Transfers

Die Forschung hat sich bisher überwiegend mit der Frage beschäftigt, inwiefern das eine Land in der Gedankenwelt des anderen Landes eine Rolle gespielt hat. Dieser Teil ist gerade zwischen Deutschland und Frankreich in den zahlreichen Studien über Deutschlandbilder etc. sehr gut erforscht1. Ebenso ausführlich hat sich die Forschung mit dem deutschen und das französischen Nationenkonzept beschäftigt, deren Dichotomie zwischen „objektivem“ ethnisch-kulturellem Konzept auf deutscher Seite und „subjektivem“ voluntaristischen Konzept auf französischer Seite weit weniger ausgeprägt war, als lange behauptet.

Doch daneben lassen sich weitere Punkte denken: Ideentransfer und Rezeption beispielsweise nationalistischer oder antisemitischer Ideologien. Der Blick wäre hier zu richten auf Übersetzungen von Büchern, Traktaten, Ereignissen und deren Rezeption in der Presse, Öffentlichkeit und bei einzelnen Personen. Um zwei Beispiele zu nennen, zu denen es seit kurzem Forschung gibt: Der „integrale Nationalismus“ von Charles Maurras etwa war ein „europäisches Phänomen“, wie eine Tagung jüngst auch für die Zeit vor 1914 nachweist2. Eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen fand auch im Kaiserreich statt, wobei die Rezeption wohl über Österreich lief3. Maurice Barrès wiederum wurde im Kaiserreich als Schriftsteller bereits Ende der 1890er Jahre wahrgenommen. Die Auseinandersetzung mit seinen Werken verengte sich nach der Veröffentlichung seines Romans „Au service de l’Allemagne! (1905), der bereits 1907 auf Deutsch erschien, auf politische Inhalte4. Zum umgekehrten Fall, etwa die Wahrnehmung der Werke von Heinrich Claß in Frankreich, ist bisher nicht geforscht worden. Da die Nationalisten generell auf eine Verwissenschaftlichung ihrer Ideologien bedacht waren, ist eine Offenheit gegenüber anderen Thesen und Überlegungen jedoch sehr wahrscheinlich, auch wenn diese aus dem Land des “Erbfeinds” kommen.

Zu den ideengeschichtlichen Aspekten gehört auch die Erforschung nationaler Mythen. In der neueren Forschung wird die Konstruktion einer nationalen Doktrin als globaler und transnationaler Prozess beschrieben. So hat ein Netzwerk an europäischen Gelehrten nationale Epen wie die Nibelungensage gemeinsam wieder „entdeckt“ und zugänglich gemacht. Davon unberührt ist freilich die Tatsache, dass sich die Bemühungen zur Kreation und Festigung einer nationalen Kultur ganz überwiegend auf die eigene Nation bezogen, was manche Verschiedenheit in ihrer Ausprägung erklärt5. Hier gibt es jedoch Raum für weitere Untersuchungen, die sich auf die Epoche 1870-1918 beziehen.

Schließlich scheint auch die Idee für die Gründung nationalistischer Vereine aus anderen Ländern übernommen worden zu sein: Bekannt ist etwa, dass die imperialistischen Frauenverbände im Kaiserreich in Nachahmung polnischer Frauenverbände gegründet wurden6.

Politische Maßnahmen

Zu politischen Maßnahmen in transnationaler Perspektive gehört beispielsweise die gegenseitige Überwachung nationalistischer Gruppen. In Paris lebten um 1900 ca. 45.000 Deutsche, fast 2/3 davon waren Frauen, die als Dienstmädchen, als „bonne à tout faire“ in der französischen Hauptstadt arbeiteten. In dieser deutschen Auslandsgemeinde gab es um 1900 ca. 60 deutsche Vereine: von Gesangs- Sport- und Theatervereinen über Vereine von Lehrerinnen und einem Sozialdemokratischen Leseclub bis hin zu lokalen Ablegern des Deutschen Flottenvereins (1902 gegründet, 30 Mitglieder 1913), der Deutschen Kolonialgesellschaft sowie des Deutschen Schulvereins. Dieser richtete 1913 beispielsweise eine Feier aus zum 100. Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig, die auch im ganzen Kaiserreich begangen wurde7. In Paris ließ der dortige Schulverein Ringe produzieren mit der Inschrift „Gold gab ich für Eisen“, die laut französischem Polizeibericht für 1,25 Francs verkauft wurden. Die Aktivitäten der Vereine wurden von der französischen Polizei sehr genau überwacht, weil man bei ihnen pangermanistische Aktivitäten, Spionage und Unterwanderung vermutete.

Interessant ist hier der Unterschied zum staatlichen Umgang mit den sozialistischen und anarchistischen Bewegungen. Zwar wurden diese ebenso überwacht, insbesondere auch die ausländischen Gruppen in Paris. Doch kooperierten Deutschland und Frankreich hier international und tauschten Informationen aus. In Bezug auf die radikalen nationalistischen Vereine scheint dies – vielleicht mit Ausnahme von Elsass-Lothringen – nicht der Fall gewesen zu sein.

Kontakte und Transfers von Vereinen und Verbänden

Direkte deutsch-französische Kontakte gab es in Teilen auch zwischen einzelnen kryptopolitischen und nationalistischen Vereinen und Verbänden, was ebenfalls noch nicht für alle Bereiche hinreichend untersucht wurde. Die Sportvereine beispielsweise richteten internationale Treffen und Wettkämpfe aus. Antisemiten organisierten internationale Kongresse in den 1880er Jahren8. Die Kolonialvereine beider Länder waren eng vernetzt, wozu derzeit eine Dissertation entsteht9. Auch die Kriegervereine beider Länder organisierten in Elsass-Lothringen gemeinsame Gedenkfeiern zu Ehren der Gefallenen von 1870/71. Vor allem seit Mitte der 1890er Jahren kam es zu gemeinsamen Kranzniederlegungen und Gedenkveranstaltungen. 1908 wurde in Noieseville in Lothringen, 1909 in Geisberg bei Wissembourg im Elsass französische Denkmäler errichtet (siehe Abbildung)10.

Methodentransfer

Neu war an den nationalistischen Bewegungen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dass es sich um Massenbewegungen handelte. Über den Einsatz von Massenpresse, Meetings, Demonstrationen, Petitionen etc. sollten die Massen (und hier in erster Linie die Verlierer der Moderne, also überwiegend der kleine Mittelstand, Beamte, Handwerker, Lehrer) in Empörung versetzt werden.

General Boulanger beispielsweise baute nicht nur eine eigene Pressestelle auf und publizierte eigene Zeitungen, sondern nutzte Mitteilungen, Aushänge, Flugblätter, Karikaturen, Lieder und Nippes für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Das Wissen um die Wirkung von Medien, Reden und charismatischen Auftritten brachte Boulanger von seinem Aufenthalt in den USA mit. Das ist ein Aspekt des Transfers bei nationalistischen Bewegungen, der noch nicht näher untersucht ist: Gab es Handbücher oder Anleitungen über den Einsatz von Medien, wie man vor Menschenmengen auftritt (damals ohne Mikrofon) und ähnliche Überlegungen?

Gleiches gilt für die Organisationsformen: Die nationalistischen Bewegungen waren nicht als Parteien organisiert, sondern als Vereine, Verbände und Ligen. Gab es ein Methodenwissen darüber, wie man solche Strukturen straff und effizient regional, national organisierte? Wo kam das Wissen darüber her oder lernte jede Organisation selbst? In Ländern wie Portugal, Spanien, Italien und Griechenland beispielsweise war die Organisationsform der „Action française“ „stilbildend“11 für dort entstehende nationalistische Verbände. Gab es ähnliche Transfers zwischen Deutschland und Frankreich?

 

Die Fragen nach transnationalen Aspekten nationalistischer Bewegungen scheinen mir nicht nur deshalb interessant, weil sie unsere Kenntnisse erweitern und nachweisen können, wie eng verflochten Ideen, Konzepte und Personen waren, sondern auch, weil sie parallel liefen zu einer Betonung des deutsch-französischen Antagonismus, was auch in hermeneutischer Hinsicht noch auszuwerten wäre. Vielfach handelt es sich um mühevolle Puzzelearbeit, um die einzelnen Aspekte zusammenzutragen, zumal diese dann in ein Gesamtbild einzufügen sind, das nicht nur aus der Addition dieser Einzelaspekte bestehen kann. Die Arbeit scheint sich jedoch zu lohnen.

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Abbildung: Deutsch-französische Einweihung des französischen Soldatendenkmals am 17. Oktober 1909 in Wissembourg, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b69124961.

 

  1. Grundlegend für die Epoche nach wie vor Claude Digeon, La crise allemande de la pensée française, Paris 1959 sowie Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.
  2. Olivier Dard, Michel Grunewald (Hg.), Charles Maurras et l’étranger. L’étranger et Charles Maurras : l’action française, culture, politique, société, New York 2009
  3. Hans Manfred Bock, Traditionalisme, passéisme, protofascisme. Perceptions de Charles Maurras en Allemagne, in: Dard, Grunewald, Charles Maurras et l‘étranger 2009, S. 359–378, hier: S. 359
  4. Vgl. Olivier Dard, Michel Grunewald (Hg), Maurice Barrès, la Lorraine, la France et l’étranger, Bern 2011; Wiebke Bendrath, Ich, Region, Nation:  Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen 2003.
  5. Vgl. John Breuilly, The Oxford-Handbook of the History of Nationalism, Oxford 2013, S. 151.
  6. Birthe Kundrus, Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs, in: Sebastian Konrad, Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 213-235.
  7. Vgl. Mareike König, Celebrating the Kaiser’s Birthday. German Migrants in Paris after the Franco-Prussian War 1870-1871, in: Dies., Rainer Ohliger (Hg.), Enlarging European Memory. Migration Mouvements in Historical Perspectives, Ostfildern 2006, S. 71-84, online: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/bdf/koenig-ohliger_memory/koenig_birthday.
  8. Vgl. Ulrich Wyrwa, Die Internationalen Antijüdischen Kongresse von 1882 und 1883 in Dresden und Chemnitz. Zum Antisemitismus als europäische Bewegung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009 <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=362>.
  9. Vgl. Florian Wagner, http://19jhdhip.hypotheses.org/1198
  10. Vgl. dazu die Arbeiten von Annette Maas, z.B. Der Kult der toten Krieger. Frankreich und Deutschland nach 1870/71, in: Étienne François, Hannes Sigrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion: Deutschland und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1995 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, S. 215–230.
  11. Siegfried Weichlein, Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa, Darmstadt 2006, S. 105.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/2004

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Warum wählen wir? Funktionen und Bedeutungen von Wahlen im 19. Jahrhundert (Gastbeitrag Hedwig Richter)

Hedwig Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Der nachstehende Beitrag skizziert und illustriert ihr laufendes Habilitationsvorhaben „Kulturgeschichte der Wahlen. Funktionen und Bedeutungen von politischen Wahlen in Deutschland und den USA im 19. Jahrhundert“. Über die von ihr und Hubertus Buchstein zu demselben Themenbereich organisierte Tagung „Culture and Practice of Elections“ im Mai 2014 wurde auf diesem Blog bereits mehrfach berichtet. Für die Bereitstellung des hier veröffentlichten Textes sei Frau Richter herzlichst gedankt. Warum geht alle […]

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/740

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Cirilo Client als open-source Werkzeug verfügbar

Cirilo ist ein Client für content preservation und data curation in FEDORA-basierten Repositorien. Er bietet Funktionalitäten wie Objekterstellung und –verwaltung, Versionierung, Normalisierung und unterstützt die Verwendung von standardisierten Datenformaten. Cirilo erleichtert das Ausführen von Massenoperationen wie Ingest- oder Ersetzungsprozessen, die mit dem Client sehr einfach auf eine große Anzahl von Datenobjekten angewendet werden können. Cirilo bietet ein Set von vordefinierten Inhaltsmodellen, die ohne weitere Anpassungen für Standardprojekte verwendet werden können. Das Werkzeug erfüllt dabei auch Aufgaben wie die Auflösung von Ortsnamen oder Ontologiekonzepten, die die semantische Anreicherung der Ressourcen im digitalen Archiv erleichtern. Verschiedene Disseminationsoptionen können über den Client zugewiesen werden.

Cirilo ist ein Beitrag Österreichs zum DARIAH-EU Task „Reference Software Packages“.
Der Quellcode des Clients ist unter https://github.com/acdh/cirilo verfügbar. Die Dokumentation kann unter http://gams.uni-graz.at/doku abgerufen werden.
Ein „archive-in-a-box“-Installationspackage (Client inklusive einer FEDORA 3.5 Instanz) für Debian-basierte Linux-Distributionen befindet sich unter http://gams.uni-graz.at/download/cirilo-installer-2.4.tar.gz.

 

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4018

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