Identitäten durch Umfragen besetzen? Das Beispiel der EU-weiten LGBT-Umfrage von 2012/13

Von Anne Lammers

Am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie, den 17. Mai 2013, stellte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA / European Union Agency for Fundamental Rights) eine EU-weite Umfrage unter LGBT-Personen (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) vor. Dies war eine Prämiere: Die Erhebung ermöglichte der Politik, den Medien sowie LGBT-Gruppen selbst zum ersten Mal den direkten Vergleich von Diskriminierungserfahrungen in EU-Mitgliedsländern. Derartiges Unrecht wurde nun für den gesamten EU-Raum sichtbar und anhand von “Fakten” untermauert. Im Folgenden wird die Umfrage daher in ihrer identitätsstiftenden und politischen Bedeutung diskutiert.

Das Europäische Parlament hatte 2010 die Europäische Kommission aufgefordert, „Erhebungsdaten über gegen LGBT-Personen gerichtete Hassverbrechen und Diskriminierung in allen damaligen EU-Mitgliedsstaaten und Kroatien zusammenzutragen.“ (FRA, LGBT-Erhebung, 3) Die Kommission beauftragte schließlich die FRA mit der Konzeptualisierung und Durchführung einer Online-Studie mit dem offiziellen Titel „Erhebung der Europäischen Union über die Diskriminierung und Viktimisierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen“. FRA wiederum arbeitete mit Gallup Europe und ILGA Europe zusammen, die die technischen Aspekte der Umfrage umsetzten.

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Quelle: http://etatsocial.hypotheses.org/781

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Neuerscheinung: Global Social Policy

Von Anne Lammers

global social policy

© SAGE Publications, http://gsp.sagepub.com/

Die aktuelle Augustausgabe der Zeitschrift Global Social Policy beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit “Women and International Organizations in the Late 20th Century”. Mit einem Fokus auf die United Nations (UN) und deren Organisationen von 1945 bis 1990 interessieren sich die Autorinnen des Themenheftes für unterschiedliche Ausgestaltungen von Geschlechterbeziehungen in und durch UN-Organisationen. Den größeren Kontext der Analysen bilden die Entwicklungspolitik und der von Spannungen des Kalten Krieges durchzogene geopolitische Rahmen. Die Aufsätze bieten somit vielfältige Anknüpfungspunkte in den Themenbereichen Internationale Organisationen, Geschlechtergeschichte und Entwicklungspolitik sowie der Ausgestaltung sozialpolitischer Ansätze im internationalen Kontext. Der Untersuchungszeitraum macht die Aufsätze darüber hinaus anschlussfähig für zeitgeschichtliche Studien der Frauenbewegung.

Besonders hervorheben möchte ich den Artikel von Jean H Quataert, “A Knowledge Revolution: Transnational Feminist Contributions to International Development Agendas and Policies, 1965-1995″, S. 209-227. Darin beschreibt die Autorin die unterschiedlichen Vorstellungen seitens feministischer AktivistInnen und entwicklunspolitischen ExpertInnen, wie weibliche Lebenssituationen größere Beachtung in der (entwicklungs-)politischen Agenda sowie im Rahmen des Wirtschaftswachstums finden könnten. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Erstellung und Verbreitung empirischer Fakten, deren Einfluss auf die Formulierung frauenspezifischer Probleme und Lösungsvorschläge sie betont. Damit bereichert der lesenswerte Artikel Forschungsansätze über die Rezeption statistischen Wissens und zeigt, auf welche Weise neue, durch statistische Daten gewonnene Erkenntnisse, zuerst starke emotionale Reaktionen hervorriefen und schließlich den Ruf nach weiterem politischen Handlungsbedarf begünstigten (Quataert, S. 215).

Ein wenig vermisst habe ich in diesem Artikel allerdings die Anknüpfung an aktuelle wissensgeschichtliche Studien. Gerade das Buch “Die Erfindung des Bruttoszialprodukts” (Daniel Speich-Chassé, 2013) untersucht den Zusammenhang zwischen makrökonomischer Expertise und Entwicklungspolitik, wie er auch für Quataert von Interesse ist. Der Autor beschreibt darin die Konsequenzen einer “Reduktion von sperrigen Lebensrealitäten auf handhabbare Abstraktionen” (Speich-Chassé, S. 11) gerade auch für den entwicklungspolitischen Bereich. Seine Geschichte der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen macht deutlich, warum diese makro-Persepktive auf politische Entscheidungsträger so anziehend wirkte (sie diente als stark komplexitätsreduzierendes Planungsinstrument) und wie sie sich in der Folgezeit als DAS wesentliche Bewertungskriterium für den Wohlstand verschiedener Regionen entwickelte (das BIP als Hauptinstrument für Länder-Ranking). Vor diesem Hintergrund erschließt sich dann auch, warum die Protagonistinnen im Artikel von Quataert sich gerade in den 1960er-Jahren dieser Sichtweise kaum zu entziehen vermochten. Ihre politischen Ziele und Forderungen formulierten auch sie im Kontext des Wirtschaftswachstums, gemessen am BIP eines Landes. Auch spätere frauenpolitische AktivistInnen, die Wirtschaftswachstum nicht als Ziel, sondern als Mittel für Entwicklung ansahen, nutzten den makroökonomischen Rahmen, um frauenspezifische Probleme weltweit zu identifizieren. Allerdings setzten sie vermehrt auf lokales, nationales und regionales Wissen, um ihre meta-Theorie zu füttern. Quataert spricht hier von einer “‘glocal’ analysis”, die eine glaubwürdigere Bewertung politischer Maßnahmen erlaube.

Von diesem kleinen Kritikpunkt abgesehen gelingt es Quataert aber sehr gut, divergierende Ansätze innheralb der UN-Frauenorganisationen herauszuarbeiten. Frauenpolitische Ziele wurden im Laufe der Jahrzehnte immer wieder hinterfragt und unterschiedlich angegangen. Diese Geschichte entzieht sich somit einer linearen Betrachtung und verweist vielmehr auf ein Nebeneinander verschiedener Meinungen innerhalb der UN. Besonders spannend fand ich die Erkenntnis, dass aus einer dieser Strömungen schließlich das heute praktizierte “gender mainstreaming” entstanden ist. Es war die Expertise kleinerer UN-Initiativen wie “women-in-development” (WID), die letztendlich die Inklusion der gender-Perspektive in Programme wie das United Nations Development Program (UNPD) sicherte. Die Fourth Women’s World Conference in Beijing 1995 brachte dies auf die einfache Formel: “‘human development if not engendered is endangered’” (Quataert, S. 221).

Link zur Webausgabe des aktuellen Heftes von Global Social Policy

Quelle: http://etatsocial.hypotheses.org/272

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