Das DX7R1 Friedrich Barbarossas

Ich weiß nicht, was Friedrich Barbarossa am 26. März 1162 auf dem Weg nach Mailand tat. Wenn er sich zugleich bibelfest und christophanisch-anmaßend betätigt hätte, dann wohl Folgendes:

„Und als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: 'Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinem Tage, was zu deinem Frieden dient! […] Denn Tage werden über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall um dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten einengen; und sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen, darum daß du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.'“1

Vielleicht hatte Mailand die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt. Vielleicht hatte die stolze Po-Metropole die Entschlossenheit ihres Gegners unterschätzt. Denn der bärtige Staufer aus dem Norden hatte ein Heer bei sich und Krieger, die für ihn kämpften.

Und später gab es Menschen, die wussten, warum die Kämpfer kämpften. Natürlich! Keine Frage! Die Soldaten zogen gegen Papisten und Partikularisten in die Schlacht und riefen „Für die Einheit des Deutschen Reiches! Gegen den Stachel der Stadtherrschaft im Fleisch des Stauferreichs!“ Und die Historiker grinsten zufrieden, denn Barbarossa siegte.

Dann kam Knut Görich und gab den Kämpfern einen neuen Schlachtruf. Heute schreien dieselben Krieger vor Mailand „Für die Ehre des Kaisers!“ Wiederum grinsten die Historiker_innen zufrieden, denn sie hatten abermals einen Sieg über ihre Vorgänger des 19. Jahrhunderts errungen.

Aber während wir den „Ehre, Ehre!“-Rufen lauschen, sollten wir unser Grinsen gegen einen skeptischen Gesichtsausdruck eintauschen und uns fragen, ob Mitbrüllen hier ratsam ist. Oder anders gefragt: Wenn wir „Ehre“ sagen – wie nahe sind wir dann an den „Ehre! Ehre“ schreienden Rittern des Rotbarts? Und: Wollten wir da eigentlich hin? Sollten wir so nah überhaupt sein?

Vor einigen Wochen fand in Tübingen ein Workshop zu „Ehre und Hof“ statt. Arrivierte und Nachwachsende diskutierten unterschiedliche Quellen aus unterschiedlichen Zeiten, in denen es um „Ehre“ gehen sollte. Auch der Verfasser war zugegen und verspürte bald das berühmte diffuse Unbehagen. Natürlich verhandelte man – und zuweilen heftig – Kleinfragen wie die nach der Zusammensetzung des Straßburger Aufgebots für den Italienzug 1401. Davor, danach und darüber jedoch schwebte etwas Diffuses über den Geistern. Und das Diffuse blieb namenlos.

Die „Ehre“ war allgegenwärtig und in jedem Satz. Weil man mit einem Wort allein keine Wissenschaft betreiben kann, bemühten sich alle, die Sache durch weitere Abstrakta konkreter zu machen. Die Vokabeln, die immer wieder zu hören waren -- in alphabetischer Reihenfolge:
Ansehen
Autorität
Gesichtswahrung
Prestige
Rang, Ranganspruch
Ruf
soziales Kapital
Status
Stellung
Stolz
Würde

Je mehr Ausdrücke fielen, desto weniger wusste ich, worüber eigentlich geredet wurde. Heute meine ich: All diese Ausdrücke zielen auf einen Kern.

Beginnen wir mit einer Kopfreise. Wenn wir uns aufmachen und Köpfe sezieren, bei Fackelschein und Neonlicht nachschauen, was in so einem mittelalterlichen Kopf eigentlich drin war – was würden wir finden? Bei Lateinkundigen fänden wir in der Vokabelschatztruhe sicherlich den honor. Kämen wir in einen mittelalterlichen Adelskopf, sähen wir sicherlich ein wohlgehegtes und gut gegärtnertes Pflänzchen namens „Ehre“. Ich bin sicher, dass es an zentraler Stelle wäre. Das „Ehre“-Pflänzchen aber wäre errichtet auf einem großen Haufen. Einem Sammelbecken mit Zuflüssen aus Bewusstem und Unbewusstem. Mit großen Brocken aus antrainierten Verhaltensweisen und Gruppendynamiken. Das alles in steter Umwälzung. Manchmal blitzten darin Dinge auf, denen wir Namen geben könnten: „Beleidigte Leberwurst!“, „Gerne-im-Mittelpunkt-Stehen“, „Wichtig-sein-Wollen“, „Anerkennung-haben-Wollen“. Aber das große Ganze betrachten wir ratlos. Im mittelalterlichen Kopf hat dieser Haufen kein Schild und wir haben kein Wort dafür. Beenden wir die Kopfreise an dieser Stelle, indem wir zugeben, dass sie zum einen nicht möglich ist und uns zum anderen in jedem Kopf mit anderen Dingen konfrontieren würde.

Tatsache aber ist – und darum geht es hier –, dass wir in Quellen etwas sehen, was uns zur Annahme berechtigt, dass das, was ich versucht habe, mit „Haufen“ zu beschreiben, in mehreren (und wichtigen) Köpfen vorhanden gewesen sein könnte. Es ist das Verdienst Knut Görichs, auf diesen Haufen im Mittelalterkopf aufmerksam gemacht zu haben. Viel zu lange haben Forschergenerationen den Haufen übersehen oder beiseite geräumt und nach Dingen wie „dem politischen Konzept“, den „verfassungsmäßigen Überzeugungen“ gesucht. Der Haufen ist wichtig und wir sollten ihn im Blick behalten. Aber es war wenig sinnvoll, diesen Haufen „Ehre“ zu nennen.

„Ehre“ heißt nämlich schon das Pflänzchen. Über Ehre stritten schon die Zeitgenossen. Man darf sich vorstellen, dass die Erzieher junger Adliger zugleich Ehrzieher waren und den kleinen Blaublütigen einbläuten, dass sie auf ihre Ehre zu achten hätten wie auf stets blitzende Waffen. Man sprach im 12. Jahrhundert von êre. (Natürlich, liebe Pedant_innen, nicht in dieser normalisierten Form, sondern in der jeweiligen Aussprache und Schreibweise des jeweiligen Dialekts des Mittelhochdeutschen.) Der Begriff „Ehre“ war da. Aber gemeint war damit nicht der ganze Haufen, nicht all das Diffuse, Unbewusste, das Chaos ohne Schild. Gemeint war das Pflänzchen. Der Haufen hatte keinen Namen. Und das ist ein Problem für uns.

Denn wir wissen viel zu selten, worüber wir eigentlich reden: Sprechen wir vom Pflänzchen, vom damaligen Ehr-Konzept, von der Ehr-Idee, von dessen Etikett, dem honor? Oder reden wir von dem diffusen Haufen aus Bewusstem und Unbewusstem, aus Gedanken, Vorstellungen, Debatten und antrainiertem Sozialverhalten, den wir in mittelalterlichen Köpfen sehen und dessen Kenntnis uns hilft, besser zu verstehen, was damals eigentlich vor sich ging?

Die Lösung des Problems ist einfach: Ein Ausdruck für den Haufen muss her, ein völlig unschuldiger. Kein Wort, das in irgendeiner Weise belastet wäre. Am besten international.

Und warum sich die Mühe machen, selbst etwas zu finden, wenn wir doch Elektroknechte haben, die das für uns tun können? Flugs einen String-Generator zur Hand, so lange, auf „generate“ gedrückt, bis etwas Schönes, Unvergebenes herauskam. Und geboren war das „DX7R1“.

Heißt das etwa, ich fordere Sätze wie „DX7R1 spielte im Elitengefüge und der sozialen Interaktion des 12. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle.“? Ja, genau das heißt das.

Vermieden ist damit zunächst das Waffen-SS-Problem. „Meine Ehre heißt Treue“ trugen sie auf dem Koppelschloss und das wirkte nach. 2004 schloss Herbert Maeger, ein ehemaliger Leibstandarten-Rottenführer, seine Kriegserinnerungen mit den Worten: „Am Ende verloren sie [die Angehörigen der Waffen-SS], die Überlebenden wie die Toten, ihre Ehre; ihre Treue war schon Jahre vorher von einer gewissenlosen Führung schamlos verraten worden.“2 Die „Ehre“ steckt mithin mittendrin im Vergangenheitsbewältigungsschlamassel. Ich weiß nicht, ob sie schon Versöhnungstreffen organisiert und Museen eröffnet hat, aber vollständig entnazifiziert ist sie nicht.

Für DX7R1 ist noch niemand in den Krieg gezogen, kein Blut vergossen worden und auch keins in Wallung geraten.

Ich weiß nicht, ob andere Ähnliches bereits machen oder vorgeschlagen haben.3 Durchgesetzt hat es sich – zumindest in der Mediävistik – bislang nicht. (Und was die Soziologen tun, ist mir zumeist herzlich egal.) Auch wenn dieser kleine Beitrag sicherlich nicht das Läuten aller Paradigmenwechsel-Glocken bewirkt, meine ich doch, dass Anregungen zu einer besseren methodischen Welt nötig sind.

Von der These, man dürfte Geschichte nicht mit modernen Begriffen schreiben, habe selbst ich schon gehört. Sie ist aber – zumindest in dieser meiner Zuspitzung – falsch und ein Denkfehler. Nicht in Quellenbegriffen zu sprechen ist ein Vorteil, kein Nachteil. Quellenbegriffe sind wie klammernde Mütter: Man fühlt sich bei ihnen zu Hause, geborgen, man hat es schön warm bei ihnen, sie hegen und pflegen uns. Aber sie lassen uns nicht gehen und nicht frei die Welt mit unseren Augen sehen. Man muss oft den berühmten Schritt hinaus in die Kälte machen, um Übersicht und Vogelperspektive zu gewinnen. Wir müssen uns dann und wann vom Quellenwortlaut lösen. Tun wir das, ziehen wir uns selbst aus dem Modemorast.

Das häufigste Substantiv in Regierungserklärungen Angela Merkels ist „Europa“. – Käme jemand auf die Idee, aus diesem Befund ihre Regierungspolitik zu verstehen? Ist jemals von einem seriösen Analysten dieser Satz zu erwarten: „Je öfter die Kanzlerin Europa sagt, desto mehr Kompetenzen will sie von Berlin nach Brüssel verlagern“? Politische Modewörter sind am Ende nur eines: Modewörter. Sie sagen zwar Einiges, aber nicht alles. Das war vor 1000 Jahren nicht anders. Manchmal sollten wir unseren Quellen – gerade den Urkunden – getrost zurufen: „Ihr redet in einem fort von honor? Ok, haben wir zur Kenntnis genommen und durchschaut. Das war eben euer 'Europa' und euer Modewort.“

Jedoch: Mit DX7R1 entkommen wir nicht nur, wir kommen auch weiter.

Noch einmal: Wenn wir von „Ehre“ reden, behaupten wir damit, dem zeitgenössischen Begriff davon zumindest nahezukommen. Wenn wir von DX7R1 reden, meinen wir den diffusen Haufen, der den zeitgenössischen Ehrbegriff umschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Diese Unterscheidung hilft uns, weiter zu fragen, genauere Fragen zu stellen.

Dass für Friedrich Barbarossa „Ehre“ wichtig war, wissen wir spätestens seit Görichs Habilitationsschrift von 2000. Die Frage aber, was das DX7R1 Barbarossas ausmachte, ist – bei allem Respekt vor der Leistung Görichs und anderer – noch ungeklärt. Von „Ehre“ redeten alle -- wo jedoch ist das speziell Königliche, das individuelle Friedrich'sche? Wie viel „Ich bin der König, ihr alle nicht und das muss ich euch allen ständig beweisen“, wie viel „Ich mach hier nur das, was alle Adligen machen“ und wie viel „beleidigte Leberwurst“ machte Barbarossas DX7R1-Mischung aus? Was machte sie aus handverlesenen Zutaten einzigartig im Geschmack? Antworten kommen wir nicht näher, wenn wir weiter nur über „Ehre“ sprechen.

Spannend wird es – das ist schon lange erkannt worden – im Angriffsfall. Wenn man einen anderen beleidigt, seine Position infrage stellt oder schmäht – dann kommt der Spannungsfall, dann kommt der Konflikt. Worin aber fühlten sich die Eliten des 12. Jahrhunderts dann und wann gekränkt? In ihrer „Ehre“ oder ihrem DX7R1? Natürlich kann man sich in etwas getroffen fühlen, für das man gar keinen Begriff hat. Ein vierjähriges Kind, das sich von seinen Eltern missachtet fühlt, kann sehr wohl in seinem DX7R1 beleidigt sein, in seiner „Ehre“ wohl kaum. Diese Unterscheidung hilft uns weiter. Fühlte man sich im 12. Jahrhundert im Konfliktfall hinsichtlich einer klar artikulierten Idee, eines klar umrissenen und anerzogenen Konzepts „Ehre“ getroffen – oder in einem diffusen Etwas, für das man keinen Begriff hatte? Antworten werden schwer zu finden sein, aber Fragen müssen gestellt werden.

Eng damit verbunden ist ein ätiologisches Problem: Warum fing man überhaupt an, von „Ehre“ zu sprechen? Auch hier hilft klare Begriffsscheidung: Vielleicht war der namenlose Haufen schuld. Vielleicht bekam man Angst vor ihm und seinen Abgründen. Man mag den diffusen Haufen, das DX7R1, gefühlt haben, man mag gesehen haben, zu welchen Reaktionen dieses wabernde Ding die Menschen trieb – und vielleicht begann man, sich zu fürchten und den Haufen einzuhegen. Man mag begonnen haben, den Abgrund mit einem Begriff zu begrünen, man erfand Regeln für den Haufen, man sperrte den Haufen in einen Diskurs und stülpte dem Abgrund ein Sicherungsnetz über, das man „Ehre“ nannte. Das ist gewiss Fiktion. Aber: Selbst wenn es diese Prozesse gegeben haben sollte und selbst wenn sie sich in Quellen niedergeschlagen haben sollten – solange wir DX7R1 nicht vom zeitgenössischen „Ehrbegriff“ trennen, bleiben wir blind für diese Fragen.

Schließlich können wir die leidige Frage – so sie denn überhaupt eine ist – ob „Ehre“ etwas „typisch Mittelalterliches“ sei, getrost im Recycling-Hof der Geschichte abgeben. Sie müsste jetzt nämlich lauten „Sagt es etwas über das Mittelalter, charakterisiert es gar diese Epoche, dass heutige Forscher das DX7R1 der Menschen zwischen 500 und 1500 gerne als 'Ehre' bezeichnen?“ – und führte damit ins Nichts. Aber: Was unterscheidet unser DX7R1 von dem Barbarossas? Darüber sollten wir reden!

In der politischen Berichterstattung der BRD des frühen 21. Jahrhunderts ist recht wenig von „Ehre“ die Rede, dafür aber viel von „Beschädigten“: „Nach Rücktritt Schavans: Merkel beschädigt“4 – Was genau an Merkel ist hier „beschädigt“? Wohl kaum ihr honor, aber mit Sicherheit ihr DX7R1! Nach den feinen Unterschieden und den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten können wir jetzt endlich fragen.

Vielleicht kommen wir mit DX7R1 von einem allgemeinen Alteritätsgefühl zu speziellen Alteritätserkenntnissen.

[1] Lukas 19,41-44, Übersetzung: Elberfelder 1905

[2] Herbert Maeger, Verlorene Ehre - Verratene Treue. Zeitzeugenbericht eines Soldaten (Rosenheim 2005) S. 399

[3] Damit soll keineswegs gesagt werden, dass das Problem von Begriffsbildung und -nutzung noch nie thematisiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Etwa Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und dems. ( Köln 1998) S. 3-83, hier bes. S. 10-11

[4] Frankfurter Rundschau vom 10. Februar 2013 http://www.fr-online.de/der-fall-schavan/nach-ruecktritt-schavans-merkel-beschaedigt-,21666736,21710698.html

Ein Hinweis in eigener Sache: Man mag mir vorwerfen, ich predige etwas Anderes, als ich tue. Ich habe an dieser Stelle vor wenigen Monaten eine neue Darstellungsart vorgeschlagen (die sich bislang nicht flächendeckend durchgesetzt hat). Ich habe seither für knochentrocken Quellenkritisches nichts Besseres entdeckt. Aber ein Essay wie das vorliegende will Leser_innen eher unterhalten und irritieren als kleinteilig argumentativ überzeugen. Es ist in diesem Sinne eher Kriminalroman als wissenschaftlicher Aufsatz.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5172

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Die Veröffentlichungsform der Zukunft? Mein Lösungsvorschlag: Ein Aufsatz in Baum- und Ebenenstruktur.


Vorbemerkung der Redaktion:

Wir verstehen dieses Blog gerade auch als Experimentierkasten für eine Mediävistik 2.0, also eine interdisziplinäre Mittelalterforschung unter Einbezug digitaler Medien. Daher freuen wir uns ganz besonders über diesen Beitrag von Christian Schwaderer, der einen Aufsatz zu einem historiographischen Thema des 11. Jahrhunderts in einer für die historische Mediävistik völlig ungewohnten Form präsentieren will. Leider erlaubt die Struktur von WordPress bisher keine direkte Einbindung seiner XHTML-Datei. Öffnen Sie also parallel zur Lektüre seiner unten stehenden Erläuterungen folgende Seite

Christian Schwaderer: Gab es eine hystoria Gebhards von Salzburg?

Wir fänden es sehr erfreulich, wenn sich eine lebhafte Diskussion in den Kommentaren zu diesem Blogpost und dem sicher ungewöhnlichen Aufsatz in Baumstruktur entspannen würde.

Die Idee

Eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist es, jedem und jeder genau die Information zu liefern, die er oder sie gerade braucht. Und zwar so schnell wie möglich.
In den Geisteswissenschaften ist es nach wie vor Usus, Ergebnisse in statischer Textform zu veröffentlichen. Dieses Medium – der statische Text als Buch und auf Papier – blickt auf eine jahrhundertelange Entwicklungsgeschichte zurück. Immer wieder wurde versucht, das Medium besser aufzubereiten und schneller erfassbar zu machen: So entstanden Inhaltsverzeichnisse, Zwischenüberschriften und Abstracts.
Nun ist es wieder an der Zeit, Neuerungen einzuführen.
Selbst ein auf klassische Weise gut strukturiertes Buch zwingt zum oft langwierigen Blättern und Überfliegen, wenn man sich nur für einen bestimmten Aspekt interessiert.
Wünschenswert wäre daher, dass Texte so kleinteilig gegliedert werden, dass Haupt- und Nebenpunkte klar erkennbar und ohne Zeitverlust zugänglich sind.
Hierbei müssen wir auf Möglichkeiten zurückgreifen, die uns das Papier nicht bietet, die elektronisch aber einfach umsetzbar sind.

Das alles soll das Lesen und Rezipieren einfacher und schneller machen, während es das Schreiben und Verfassen aufwendiger und fordernder macht.

Die Geisteswissenschaften verdienen ihre Daseinsberechtigung nicht zuletzt dadurch, dass sie kulturelle Zeugnisse, Informationsträger und Dokumente erschließen, auswerten und verfügbar machen.
Wie man die Möglichkeiten digitaler Medien konsequent ausschöpft, wie man Gedanken anders als in klassischer Fließtextform darstellen könnte, ist seit geraumer Zeit Gegenstand langer Diskussionen – aber den entscheidenden Impuls konnten die Geisteswissenschaften bislang nicht setzen,
Auch hier ergibt sich also ein Motivations- und Ansatzpunkt.
Persönlich formuliert: Wenn es dereinst hieße, die Mittelalterwissenschaft des frühen 21. Jahrhunderts habe zwar inhaltlich keine wesentlich neuen Ansätze hervorgebracht, aber die Art und Weise, wie Informationen in Textform gegossen und verarbeitet werden, grundlegend verändert – dann wäre zumindest ich äußerst zufrieden.

Die Umsetzung – ein Lösungsvorschlag

Mein Lösungsvorschlag ist ein Text in Baum- und Ebenenstruktur: Das Dokument enthält viel mehr Zwischenüberschriften und viel mehr Gliederungsebenen als ein Werk klassischen Zuschnitts. Der Clou ist die Ein- und Ausblendbarkeit: Leser_innen können entweder ausblenden, was sie nicht interessiert, oder zunächst alles ausblenden und anschließend nur das einblenden, was sie tatsächlich lesen wollen.
Die einzelnen Ebenen sind durch Einrückung und immer dunklere Hintergrundfarben voneinander geschieden. Wichtiges steht auf höheren Ebenen, Unwichtigeres auf niedrigeren. So ist sofort erkennbar, was zentral ist und was eine (kleinteilige) Begründung der zentralen Punkte darstellt. Platz ist nicht kostbar.
Das Dokument beginnt mit einer klaren Überschrift und einem zweistufigen Abstract: zunächst in allerknappster Form, dann etwas detaillierter. Navigation und Übersicht werden durch zwei Leisten gewährleistet: Durch die Linkleiste links gelangt man zu den einzelnen Kapiteln (jeweilige Ebenen sind ein- und ausklappbar), die Statusleiste oben gibt an, in welchem Kapitel/Abschnitt sich der Mauszeiger gerade befindet. So ist die Orientierung im Dokument stets gewährleistet.
Der Zugriff kann ebenso über Indizes funktionieren. Das Personenverzeichnis funktioniert dabei ganz herkömmlich – mit einer Ausnahme: Statt Seitenzahlen stehen interne Links mit einem „Pfad“, der angibt, wo die jeweilige Person besprochen wird. Link und Pfad machen das Durchforsten des Registers gegenüber dem gedruckten Pendant deutlich schneller: Der Klick auf einen Link führt sofort zum gewünschten Ziel, der Pfad lässt oftmals erahnen, in welchem Kontext eine Person genannt wird. In den meisten Fällen kann eine Leserin hier schon entscheiden, ob die Stelle für ihre Frage überhaupt relevant ist.
Die Personenverlinkung im Text erspart lästiges Scrollen: Ein Klick auf eine Person im Text führt zum Index und damit zu allen anderen Erwähnungen desselben Menschen.
Das I-Tüpfelchen findet sich im Fazit: ein Prozentwert der subjektiven Sicherheit. Während man im Laufe einer geisteswissenschaftlichen Ausbildung nur allzu gut lernt, sich hinter Formulierungen zu verstecken, ist ein Autor durch diese Neuerung gezwungen, Farbe zu bekennen: Wie sicher bin ich mir, dass stimmt, was ich schriebe? Handelt es sich um pure Spekulation, die ich zur Diskussion stellen will? Bin ich überzeugt, wasserdichte Argumente geliefert zu haben? Der Prozentwert (und seine farbliche Visualisierung) soll zusätzlich zum Text hierüber eine klare Angabe machen und so den Lesenden ermöglichen, die vorgetragene These sofort einzuordnen.

Vorteile

  • Überschrift und Abstract machen sofort klar, worum es geht.

  • Hauptpunkt und wesentliche Thesen sind sofort erkennbar: Sie stehen auf der höchsten oder zweithöchsten Ebene.

  • Nebenpunkte können leicht angesteuert werden. Sie stehen nicht versteckt in den Fußnoten, sondern sind mit einer aussagekräftigen Überschrift versehen logisch in die Argumentation eingebettet.

  • Als unwichtig oder störend empfundene Abschnitte können ausgeblendet werden. Dann stören sie nicht mehr.

  • Die subjektive Sicherheit der These ist transparent.

Nachteil

Der Lesefluss: Die vielen Ebenenwechsel, die Zwischenüberschriften und die Links machen es schwer, das Dokument in einem Zug zur Gänze zu lesen. Der Text lässt sich nicht rezipieren wie ein Kriminalroman. Aber er lässt sich lesen, wie man quellenkritische Aufsätze normalerweise liest: Zuerst Übersicht verschaffen, dann (eventuell) Details sehr genau anschauen und zerpflücken.

Der technische Hintergrund

Das Baumstruktur-Dokument, das Sie sehen, ist ein automatisch erzeugtes Produkt. Das Original-Dokument, in dem der Aufsatz entstand, ist nicht technisch, sondern semantisch strukturiert und ausgezeichnet. Das bedeutet, einzelne Elemente werden vom Autor mit einer „Bedeutung“ versehen. Etwa: „Das ist ein Personenname!“
Als Format für das Original-Dokument dient die XML-TEI-Norm, ein Standard, der ursprünglich für die Dokumentenerschließung (bspw. Transkription und Edition historischer Quellen) konzipiert wurde, sich aber (mutatis mutandis) auch für die Erstellung neuer Texte eignet.
Aus einem solchermaßen strukturierten Dokument können sehr viele Ausgabeformate erzeugt werden. Nach vordefinierten Vorgaben (XSLT-Skript) wird so bspw. aus einem Personennamen ein Hyperlink.
Dafür, dass das Original-Dokument auch so strukturiert ist, dass sich problemlos die Baum- und Ebenenstruktur daraus erzeugen lässt, sorgt eine automatische Kontrolle schon während des Erstellens und Schreibens (Schematron). Falsche Elemente werden markiert und mit einer aussagekräftigen Fehlermeldung versehen. So können Verarbeitungsfehler größtenteils ausgeschlossen werden.
Das Ein- und Ausblenden der einzelnen Abschnitte oder Kapitel funktioniert mittels JavaScript.

Wenn Sie ein Dokument in diesem Format erstellen möchten

Ich würde mich sehr freuen, wenn das von mir vorgeschlagene Format aufgegriffen und weiterverwendet würde. Es bleibt abzuwarten, ob daraus eine eigene Reihe oder Online-Zeitschrift erwachsen wird.
Das Verfassen eines Textes in dem vorgeschlagenen Baumstruktur-Format ist ein klein wenig aufwendiger als etwa in Word oder OpenOffice, erfordert aber kein Informatikstudium.
Sie brauchen einen XML-Editor wie etwa Oxygen (womöglich über Ihre Universität bereits lizenziert) und ein grobes Verständnis des Aufbaus von XML-Dokumenten. Der Rest ist Learning-by-doing.
Weil die Entwicklung des hier vorgestellten Formats noch nicht abgeschlossen ist, kann es momentan noch keine detaillierte Dokumentation geben.
Wenden Sie sich bitte daher direkt an mich (christian.schwaderer@uni-tuebingen.de) und sagen Sie mir kurz, über welche Vorkenntnisse Sie verfügen. Ich werde Sie dann mit den nötigen Dateien und Informationen versorgen.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3893

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