Das Georgsbändchen: Was es verbindet, was es trennt

Wie kein anderes Symbol zeugt das „Georgsbändchen“ (georgievskaja lentočka) von der hohen Brisanz des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg im post-sowjetischen Raum und dient als populäre Vermittlungstechnik der eigenen Positionierung zu einem bestimmten Geschichtsbild. Doch mittlerweile kann das Anstecken dieser schwarz-orangenen Schleife viel mehr bedeuten, als ein Bekenntnis zum ehrenden Andenken an den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg.

Seit mehr als einem Jahr kann man dieses Symbol an den Demonstranten und Aufständischen in der Ostukraine sehen – getragen sowohl von den Bewaffneten als auch von Bürgern in Zivil. Die Parolen “Lasst uns den Sieg verteidigen” und “Russland mit uns!” stehen hier nebeneinander – das Bändchen dient als Kennzeichen der pro-russischen Haltung und der Ablehnung der Kiewer Politik. Das Bändchen ist dadurch für viele Ukrainer zum roten Tuch geworden, und nicht selten werden auch jene, die es außerhalb der Ukraine am 9. Mai tragen, als „koloradskie žuki“ (dt.: „Coloradokäfer“) bezeichnet. Diese negative, herabwürdigende Haltung des einen Teils der Bevölkerung hat diesem Symbol allerdings offenbar noch mehr Popularität eingebracht.

In Russland verleitet die aktuelle  Allgegenwärtigkeit des Bändchens zum Verdacht einer sich ausbreitenden symbolischen Obsession: Angefangen bei dem Projekt, ein 1418 Meter langes Band (ein Meter – für jeden Kriegstag 1941-1945) am 8. Mai in Moskau zu entrollen bis zu raffinierten Kochrezepten für Salate in den Farbtönen des Bandes. Die öffentlichen Plätze und virtuellen Räume Russlands sind überladen mit schwarz-orangenen Streifen.

Noch vor den bewaffneten Kämpfen im Donezker Gebiet  – diese Bilder  machten das Bändchen weltweit bekannt – wohnte dem Georgsbändchen ein politisches und soziales Konfliktpotential inne. Zuerst und vor allem in den neuen EU-Mitgliedstaaten des Baltikums galt dieser schwarz-orangene Streifen seit seiner Popularisierung 2010 als Kennzeichen der „Opposition“ – ein symbolisch überfrachtetes Bekenntnis zum Anders-Sein, zur Erinnerungs-Dissidenz. Durch das Tragen des Georgsbändchens vermittelt man eine situative Distanz zum eigenen Staat und dessen vermeintlichen geschichtspolitischen Positionen  sowie die Nähe zu Russland und dessen herrschendem Geschichtsbild. Im Jahr 2015 kann das Zeichen sehr vieles bedeuten: Es kann eine schlichte Kriegserinnerung sein, es kann die Solidarisierung mit der russischen Erinnerungskultur oder Sympathien für die Politik Vladimir Putins ausdrücken. Es kann aber auch einen extrem rechten russischen Nationalismus und antiwestliche, antiliberale Haltungen ausdrücken.

Die Geschichte des Symbols

Das Symbol, das im Jahr 2005 im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges auf quasi-staatliche (RIA Novosti) und zivilgesellschaftliche (u.a. Studenčeskaja Obščina) Initiative hin etabliert wurde, vereint in sich zwei Ebenen der russischen Geschichte: den Stolz auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die ruhmreiche imperiale Tradition der russischen Armee im Zarenreich. Ursprünglich von Katharina der Großen als Auszeichnung des „Heiligen Georgs“ eingeführt, um die größten militärischen und zivilen Leistungen zu ehren, wurde es in einer modifizierten Form zum Georgs Kreuz in sämtlichen Gradierungen. Im vorrevolutionären Russland war es der höchste Orden des Militärruhmes. Nach der Oktoberrevolution und der Beseitigung aller Symbole der imperialen Vergangenheit verboten die Bolschewiki auch das Georgsband. 1943 wurde das Symbol wieder eingeführt, nun für die Rahmung am „Orden des Ruhmes“.

In seiner neuen, postsowjetischen Funktionalisierung seit 2005 sollte das Bändchen laut der offiziellen Erklärung seiner Entwickler, „Respekt und Dankbarkeit gegenüber den Veteranen und Frontoviki zum Ausdruck bringen“ und „die Erinnerung an den Sieger bewahren und an die nächsten Generationen weitertragen“. Seine ursprüngliche Funktion bestand somit in der Ehrung der Kriegshelden – ein Aspekt, warum heute eine profanisierende Nutzung des Bändchens – zum Beispiel als Schnürsenkel, an den Haustieren, in der kommerziellen Werbung  – von vielen kritisch gesehen wird.

Das landesweit verbreitete Georgsbändchen fand aber auch lokale Ableger. In St. Petersburg werden seit dem letzten Jahr, dem runden Datum der Befreiung Leningrads von der Belagerung, hellgrüne Bändchen mit dunkelgrünem Streifen verteilt – das „Bändchen des Leningrader Sieges“ („lentočka leningradskoj pobedy“). Die Farbwahl des lokalen Erinnerungssymbols knüpft auch hier an eine Auszeichnung an, die während des Krieges verteilt wurde – den Orden „Für die Verteidigung Leningrads“ (1943). Auch dieses Zeichen des Bekenntnisses zu einer lokalen Kriegserinnerungskultur, von der städtischen Verwaltung initiiert und popularisiert, traf auf Unterstützung seitens der Gesellschaft und verbreitete sich rasch.

Bekenntnis zu einer Erinnerungsgemeinschaft „Ich erinnere mich – ich bin stolz!“

Die Aktualisierung der Kriegserinnerung ist die erste, ursprüngliche Bedeutung des Georgsbändchens. Das Anstecken der Schleife am 9. Mai, dem Tag des Sieges, sollte ursprünglich als Zeichen des „Sich-Erinnerns“ fungieren. Im Hauptslogan der Aktion wurde die Verknüpfung zwischen dem Erinnern und dem Anstecken des Bändchens explizit gemacht: „Stecke es an, wenn du dich erinnerst“, heißt es auf der offiziellen Webseite. Binnen kurzer Zeit wurde das Bändchen zum unabdingbaren Symbol der Gedenkfeiern zum 9. Mai und zu einem transnationalen Symbol: es wird von der russischen Diaspora in den USA, Deutschland, Israel usw. getragen und gehört zum populärsten Symbolprodukt aus dem Arsenal des länderübergreifenden geopolitischen Projektes der „Russischen Zivilisation“ Russkij Mir.

Serguei Oushakine hat auf die Instrumentalisierung des Bändchens für das „affektive Management“ der Kreml-konformen Kriegserinnerungskultur hingewiesen: Die Schleife diene als ein Identitätsangebot des Staates zu einer stolzen Wir-Gemeinschaft, zur Gemeinschaft der Erben der Helden („nasledniki pobedy“). In Russland kann es somit als ein Zeichen des emotional geteilten Gedächtnisses gesehen werden.  Am stärksten entfaltet das Bändchen sein identitätsstiftendes Potential jedoch dort, wo es der konventionellen, offiziellen Linie nicht entspricht – so in einigen Staaten des postsowjetischen Raumes.

Zeichen der (Erinnerungs-)Dissidenz

In den Baltischen Staaten, wo das Bändchen durch die diplomatischen Vertretungen Russlands verbreitet wird, dient es als Bekenntnis der Opposition zum herrschenden staatlichen Erinnerungsdiskurs. So zum Beispiel in Litauen, einem postsowjetischen Staat, der sich in seiner historische Identität primär als Opfer der Sowjetmacht definiert. Der Zweite Weltkrieg wird im staatlichen Diskurs als ein symmetrisch ausgetragener Konflikt zweier totalitärer Staaten, als eines von vielen blutigen und gewaltreichen Ereignissen auf litauischem Boden beschrieben. Litauer, die gegen die Nationalsozialisten kämpften, haben in dieser Erinnerung keinen Platz. Es zeigt sich in den letzten Jahren jedoch zunehmend, dass die offizielle Geschichtspolitik gewisse Herausforderungen seitens der sozialen Erinnerung erfährt – was grundsätzlich durch Symbole nach außen getragen wird. So bringen die Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 9. Mai und das Tragen des Georgsbändchens diese mnemonic resistance (Lorraine Ryan) zum Ausdruck. An diesen Erinnerungspraktiken partizipieren nicht nur litauischen Veteranen der Roten Armee, Mitglieder der jüdischen Gemeinde und die russischsprachige Minderheit Litauens, sondern auch Litauer, die mit der gegenwärtigen Politik des Landes nicht einverstanden sind. Dazu gehören Litauer des linken politischen Spektrums sowie jene, die sich als „Verlierer“ des Zerfalls der Sowjetunion sehen. Das Georgsbändchen überführt hiermit eine Erinnerungs-Dissidenz in eine reale, politische Dissidenz, was es in seiner Funktion wiederum an das Zeichen des politischen Protests in Russland, die Weiße Schleife, annähert. Bislang nutzten die sozialistischen Kräfte Litauens, die sich in der außerparlamentarischen Opposition zur herrschenden national-konservativen Partei befinden, den 9. Mai und das Georgsbändchen für ihre politischen Botschaften. So wurde die Botschaft „Ich erinnere mich!“ um die Kritik an der aktuellen Regierung ergänzt. Die litauischen Linken und Antifa-Mitglieder positionierten sich ausdrücklich  für eine Sozialpolitik, die an ein positives Bild der sowjetischen Vergangenheit anknüpft und eine Erinnerungspolitik, die eher dem in Russland gültigen Narrativ entspricht.

Zeichen der antiliberalen Position

Es kommt nicht von  ungefähr, dass den Massendemonstrationen der liberalen  Opposition 2011/2012, die sich mit weißen Schleifen schmückte, Kreml-treue, „patriotische“ Gruppen mit dem schwarz-orangenen Bändchen gegenüber standen. Das Georgsbändchen bekam dadurch eine weitere Bedeutung:  Es steht für eine ultrakonservative, rückwärtsgerichtete Haltung, die jeglichen politischen Wandel ablehnt. Am besten illustriert dies der Werbe-Spot „Wir sind Gegen Orangene Revolutionen“, der 2012 im Internet popularisiert wurde. Auch die Bewegung der russischen Patrioten „Anti-Maidan“, die extrem antiwestliche, antiliberale Ansichten vertritt, verwendet das Georgsbändchen in der offiziellen Symbolik.

Alternativen?

Diese politische Umdeutung des Georgsbändchens führte zum offiziellen und inoffiziellen Verbot dieses Zeichens während der Gedenkfeiern am 9. Mai im postsowjetischen Raum: Bereits 2014 wurde in der Ukraine ein alternatives Zeichen entwickelt – als solches gilt nun eine Schleife in nationalen Farben und die rote Mohnblume. Kürzlich ließ auch die politische Führung Weißrusslands von einem alternativen Bekenntnissymbol zur Kriegserinnerung wissen: Ein Bändchen in den nationalen rot-grünen Tönen samt einer Blüte des Apfelbaumes soll ein Gegenprojekt zum Georgsbändchen und den roten Nelken darstellen. Auch die Regierung Kasachstans rief zur Verwendung von roten und türkisfarbenen Schleifen (Farbe des Sieges und Farbe Kasachstans) auf. Offenbar wird im Georgsbändchen nun vor allem ein Bekenntnis zum sowjetnostalgischen Patriotismus, ja eine Sehnsucht nach dem „verlorenen Imperium“ gesehen.  Die schwarz-orangene Schleife wird im postsowjetischen Raum zunehmend nicht nur als ein  erinnerungskultureller, sondern nun auch realer, politischer Separatismus gedeutet.

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/28

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