Nikola Becker – Der Hitlerputsch und seine Vorgeschichte in Autobiographien von Münchener Bürgern – divergierende Deutungen

Lion Feuchtwanger verfolgt mit seinem Roman „Erfolg“ politische Absichten durch die Darstellung eines vermeintlichen Irrwegs des bayerischen Staats in den Jahren nach dem Umbruch von 1918/19 [Moser, Dietz-Rüdiger, Das Verhältnis von Fiktion und Realität in Lion Feuchtwangers Roman Erfolg. Ein Beitrag zum Bild der Stadt München in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: München lesen: Beobachtungen einer erzählten Stadt, hg. von Simone Hirmer und Marcel Schellong, Würzburg 2008, S. 91-105, S. 93]. Die Bewertung der politischen Entwicklung erfolgt aus einer dezidiert linksgerichteten Perspektive, das Ende der Räteherrschaft wird in bitterer Ironie als Pervertierung einer vorgeblichen ‚Befreiung‘ geschildert. Im Vergleich der Gewalttaten des Räteunternehmens mit denen der Freikorps protokolliert Feuchtwanger minutiös die quantitative Überzahl der von rechter Seite begangenen Verbrechen. Deutlich streicht er das Ungleichgewicht in der juristischen Ahndung rechts- und linksradikaler Gewalttaten heraus. Moderne Entwicklungen im Bereich der Kunst werden in „Erfolg“ von einer kleinbürgerlich engstirnigen, verbohrt konservativen bayerischen Bevölkerungsmehrheit als Bedrohung der bürgerlichen Moral interpretiert. Ihre Träger wie Martin Krüger geraten zu Märtyrern, die zur Aufrechterhaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung geopfert werden müssen. Insgesamt arbeiten im Roman Politik, Justiz, Verwaltung und Militär auf das engste zusammen, um nach dem Umsturz des alten Systems Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Sie schrecken dabei nicht vor der Beugung von Justiz und Gerechtigkeit zurück. Letztlich wird dadurch der Aufstieg des völkischen Nationalismus befördert oder aktiv herbeigeführt. Feuchtwanger legt somit am Mittel des historischen Romans eine spezifische Geschichtsinterpretation vor [Vgl. auch den Ausstellungskatalog: Erfolg. Lion Feuchtwangers Bayern, hg. von Reinhard Wittmann, München 2014].

Ein literarisches Medium zur Präsentation von Geschichtsbildern kann vielleicht mehr noch die Gattung Autobiographie darstellen. Volker Depkat nennt autobiographische Texte „hochkomplexe Ordnungs- und Orientierungsleistungen […], durch die sich Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften in der Zeit orientieren, historische Identitätsentwürfe formulieren, sie in Konkurrenz zu anderen behaupten und so immer auch Handlungsräume in einer jeweiligen Gegenwart eröffnen.“ [Depkat, Volker, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 18), München 2007, S. 503]. Autobiographische Narrative dienen somit – indem sie eine „Version“ der erlebten Geschichte präsentieren – dem Zweck, diese jeweilige Deutung plausibel, und somit mehrheitsfähig zu machen – also eine Deutungshoheit zu erlangen, die immer auch gegenwartsbezogenen Zwecken dient. Die Plausibilität vorgelegter Geschichtsentwürfe innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses variiert naturgemäß – der niemals endende Fortgang der Geschichte führt zu einem stetigen Wandel der Interpretationsversuche, zu Revisionen und Neubewertungen.

Unter den zum Roman „Erfolg“ etwa zeitgleich überlieferten, autobiographisch formulierten Geschichtsbildern Münchner Bürger, um die es hier gehen soll, finden sich Komplementär- und Gegenentwürfe. Zunächst zu 4 Werken, die Feuchtwanger politisch am nächsten stehen – Texte der Schriftsteller Oskar Maria Graf, Kurt Martens sowie des Nationalökonomen Lujo Brentano und des Politikers Ernst Müller-Meiningen.

Oskar Maria Graf liefert eine weithin zu „Erfolg“ komplementäre Beschreibung der politischen Entwicklung in Bayern ab. In dem 1927 erstmals erschienenen autobiographischen Roman „Wir sind Gefangene“ [Graf, Oskar Maria, Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt, München 1927] beschreibt er, wie er aufgrund der Erfahrung des gewaltsamen Niederschlagens der Räterepubliken, die in seiner Wahrnehmung besonders gewaltsam den Arbeiter traf, vom existenzialistisch-nihilistisch gestimmten Bohemien zum politisch engagierten Schriftsteller wurde. Ähnlich wie Feuchtwanger wertet er die Räteherrschaft als trotz aller radikalen Rhetorik harmloses Unternehmen und stellt ihm den blutrünstigen, unverhältnismäßigen Charakter der Liquidierung entgegen. Auch Grafs München-Bild der 20er Jahre stimmt mit dem im „Erfolg“ überein: München sei „in jeder Weise finster und kleinbürgerlich“ und „sicher von allen Städten die provinzlerischste“ [Graf, Oskar Maria, Notizbuch des Provinzschriftstellers Oskar Maria Graf 1932. Erlebnisse – Intimitäten – Meinungen, München 2002 (Erstausgabe Basel u.a. 1932), S. 35f.].

Der heute weitgehend in Vergessenheit geratene, mit Thomas Mann befreundete Kurt Martens sympathisierte bereits im Kaiserreich mit der Sozialdemokratie aus Anti-Wilhelminismus. In seiner 1924 publizierten Autobiographie [Martens, Kurt, Schonungslose Lebenschronik 1901-1923, Wien u. a. 1924] erscheint die Revolution zunächst positiv, da er sich von ihr ehrlich eine soziale und politische Erneuerung erhoffte. Dieses Bild kippt dann aber mit den Räteereignissen, die er als Regiment des Unproduktiven, des Chaos, der Inkompetenz bewertet. Aber auch Martens sieht die Rätephase nicht als blutige Schreckensherrschaft, ihre Träger sind vielmehr lächerlich und unfähig. Die erlebte Geschichte seit 1919 mit Gewalttaten infolge der Liquidierung des Räteregimes, politischen Morden, einer politisierten Justiz, Inflation und Krisen führt Martens zur Wahrnehmung einer Ära des Zerfalls. Da die Republik den Niedergang nicht aufhalten kann, delegitimiert sie sich in seinen Augen, und somit tut dies auch die Idee der demokratischen Volksvertretung. Aus dieser Warte sucht Martens um 1923 nach politischen Alternativen: das national-völkische Lager, eine „Militärdiktatur“ [Ebd., S. 202], jedenfalls aber ein „konservatives Staatswesen“ [Ebd., S. 181.], das Ordnung nach innen und außen schafft.

Bei dem linksliberalen Vernunftrepublikaner Lujo Brentano, dessen Erinnerungen 1930 abgeschlossen wurden, findet sich ebenfalls prononcierte Kritik an der gewaltsamen Beseitigung der Räteherrschaft [Brentano, Lujo, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, Jena 1931]. Insgesamt ist seine Perspektive stark auf die Reichsebene konzentriert. Die im „Erfolg“ thematisierten Ereignisse in Bayern, eine politische Rechtsprechung und das Aufkommen der vaterländischen Bewegung spielen bei Brentano keinerlei Rolle, der Nationalsozialismus wird nicht erwähnt. In Bezug auf die Weimarer Republik insgesamt entwickelt er einen Krisendiskurs, der am Schluss des Textes in der Sorge vor einer „soziale[n] Revolution“ [Ebd., S. 404kulminiert.

Der linksliberale zeitweilige bayerische Justizminister Ernst Müller-Meiningen in den Kabinetten Johannes Hoffmann II und Gustav von Kahr I legte 1923 Revolutionserinnerungen vor [Müller-Meiningen, Ernst, Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin und Leipzig 1923]. Sein Blick auf die Revolutionsphase malt – abweichend vom bisher Gehörten – das Bild einer blutigen Schreckensherrschaft, in der Willkür, Korruption, Chaos und Terror herrschen. Bayern wird dadurch zum „Schandfleck Deutschlands“ und München zur „Kloake.“ [Ebd., S. 32 und S. 84]. Die von ihm selbst verantwortete rechtliche Abwicklung der Revolution rechtfertigt er durch das Postulat einer milden Behandlung der Revolutionäre. Es geht Müller-Meiningen in seinem Text um den Beweis der These, dass ein Sieg des Bolschewismus unmittelbar bevorgestanden und weiterhin gedroht habe. Damit verteidigt er die von ihm selbst mit getragene Ordnungszellen-Politik unter Gustav von Kahr: Sie sei notwendig gewesen zur Wiederherstellung und langfristigen Sicherung der staatlichen Ordnung. Allerdings kritisiert Müller-Meiningen ausdrücklich den ‚Rechtsruck‘ in Bayern seit Ende 1922: Denn er wünschte keine Regierung des national-völkischen Lagers, sondern eine betonter nationale Haltung der legitimen bayerischen und deutschen Regierungen nach außen, nämlich gegen den Versailler Vertrag.

Zeigen diese aus einer linken oder linksliberalen Anschauung entwickelten Geschichtsbilder schon Inkongruenzen, so sollen im Folgenden die als Gegen-Interpretamente zu begreifenden Wortmeldungen nationaler und konservativ gesinnter Autobiographen vorgestellt werden. Zu Wort kommen die Schriftsteller Josef Hofmiller und Thomas Mann, der Physiker Wilhelm Wien und der Nationalsozialist Ernst Röhm.

Der nach dem Krieg zu einem der Protagonisten des national-konservativen Lagers in München geratene Josef Hofmiller lehnte als Monarchist die Revolution als für Bayern nicht gemäßes politisches Ereignis ab. In seinen 1930 erstmals in der Beilage der „Münchner Neuesten Nachrichten“ publizierten Tagebüchern [Hofmiller, Josef, Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchner Revolution, Leipzig 1938] beschreibt er die Revolution unter Begriffen wie Chaos und Unfähigkeit und die Rätephase als Herrschaft des blutigen Terrors. Weiße Gewalttaten rechtfertigt er als bloße Reaktion auf die Tyrannei der Roten. Als einzig möglicher Ausweg aus Not und Vernichtung und dem angeblich vorherrschenden Bolschewismus spricht er sich im Kontext von Mitte 1919 für die Errichtung einer Militärdiktatur unter Ludendorff aus. Ein Symptom für Bolschewisierung sieht Hofmiller in der künstlerischen Moderne, etwa dem Expressionismus.

In den um 1927 entstandenen Erinnerungen [Wien, Wilhelm, Aus dem Leben und Wirken eines Physikers. Mit persönlichen Erinnerungen von Erich von Drygalski, Carl Duisberg, M. von Frey, Hermann Oncken, F. Paschen, Max Planck, E. Rüchardt, E Rutherford und einem Nachruf von M. v. Laue und E. Rüchardt, Leipzig 1930] des nationalkonservativen Physikers Wilhelm Wien entsteht gleichermaßen der Eindruck eines bolschewisierten und terrorisierten Münchens nach dem Vorbild von Sowjetrussland. Dies sei das Probestück für die äußerst reale Gefahr einer kurz bevorstehenden Bolschewisierung ganz Deutschlands. Wiens Beschreibung des Hitlerputsches drückt die Erwartungen nationaler bürgerlicher Kreise an ihn aus, nämlich die ‚Nationalisierung‘ der Arbeiterschaft und ihre Abwerbung von der Sozialdemokratie. Den Putsch selbst missbilligte er aber, da er eine Intervention der Entente bei Gelingen befürchtete. Insgesamt wird von ihm die Gegenwart der Weimarer Republik mit der Herrschaft des Sozialismus gleichsetzt.

Die nur für 1918 bis 1921 erhaltenen Tagebücher [Mann, Thomas, Tagebücher 1918-1921, hg. von Peter de Mendelssohn, München 1979] Thomas Manns aus der Weimarer Zeit spiegeln noch deutlich die konservative Phase seines Denkens wider, bevor er sich Jahre später öffentlich zur Republik bekannte, nämlich seine Distanz zu einem Demokratieverständnis westlicher Provenienz. Die Revolution und besonders die Rätephase lehnt er als „Unfreiheit“ und „Tyrannei“ ab [Ebd., S. 161f.]. Allerdings erhofft er sich daraus die Entstehung eines genuin deutschen Republikmodells, und zwar eine „soziale Republik“, etwas ‚Neues‘ zwischen Bolschewismus und „westlicher Plutokratie“ [Ebd., S. 74 und S. 100]. Somit plädiert er für die deutsche Sonderrolle, nämlich der zivilisatorischen Aufgabe, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden. Die Eintragungen bis Ende 1921 zeigen Manns Liebäugeln mit Vorstellungen einer „notwendigen Vereinigung des deutschen Konservativismus mit dem Sozialismus, der die Zukunft gehört und nicht der Demokratie“ [Ebd., S. 369] und die Auffassung eines ideell positiven Kerns völkischen Denkens.

Die 1928 erstmals veröffentlichten Erinnerungen [Röhm, Ernst, Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928] des Nationalsozialisten Ernst Röhm zeigen die Rezeption der deutschen Kriegsniederlage als Resultat der Revolution, und somit als ‚Dolchstoß in den Rücken‘ der militärisch angeblich nicht besiegten Armee und letztlich als Verrat an Kaiser und Reich. Sein eigenes Engagement bei den Einwohnerwehren ab 1919 begründet mit einer weiterbestehenden Revolutionsgefahr. Die Ausführungen spiegeln die Auffassung des radikal völkischen Lagers, dass die bayerischen Regierungen den Marxismus geduldet oder aktiv gefördert und nach außen eine zu wenig nationale Linie gefahren hätten wider (‚Erfüllungspolitik‘). Die These von Bayern als Hort der nationalen Bewegung weist Röhm am Beispiel des Hitlerputschs zurück. So erscheint Gustav von Kahr als großer Feind der Völkischen, die er im Putsch verraten habe und somit auch als Verräter am Nationalismus. Röhm postuliert den einzig wahren Nationalismus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.

War das nachrevolutionäre Bayern der frühen 20er Jahre also ein ‚reaktionärer‘, stark rechtsgerichteter Staat, der einen Rechtsputsch geradezu herausforderte oder gar begünstigte? Die vorgestellten Autobiographen geben unterschiedliche Antworten – je nach eigner Positionierung erscheint die Linke als marginale Erscheinung, übermenschliche Bedrohung oder schon real herrschende Kraft. Der Hitlerputsch selbst erfährt eine dementsprechende Einordnung: als Beleg für die Vormacht der Linken oder der Rechten. Feuchtwangers Blick auf die bayerische Geschichte stellte – die zeitgenössische Rezeption zeigt es – zum Zeitpunkt des Erscheinens eine Minderheitenposition dar. Seine Geschichtsdeutung erfuhr Kritik von rechter wie linker Seite [Vgl. Lüttig, Gisela, Zu diesem Band, in: Lion Feuchtwanger, Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, Berlin, 9. Aufl., 2013 (Taschenbuchausgabe), S. 869-878, hier S. 874-876]. Erst in einer von ‚1968‘ geprägten Gesellschaft drehte sich die Rezeption und der Roman wurde für manche zum Inbegriff einer wahrheitsgetreuen Darstellung der Ereignisse.

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/3563

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