Schlachtjubel am Tor zur Welt

Autoren: Falk Wackerow, Johannes Valentin Korff.

Eine Stille nach dem Sturm, denn nur sechs Wochen sollten es nicht werden. Eine Stille, erbracht vor gar hundert Jahren an der Marne. Doch bevor sich der Sturm, ein Gewitter des Jubels, in Hamburg legte, sollte der August des Jahres 1914 verstreichen. Zuvor, in den letzten Wochen des krisenreichen Juli besagten Jahres, während die Bedrohung eines modernen Massenkrieges zunehmend spürbar wurde, stellten Mittel- und Außenmächte, Staaten wie Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich auf der einen, Serbien und das Russländische Reich auf der anderen Seite, einander Ultimaten. Mobilmachungen wurden ausgerufen, worauf zum Trotz Gegenmobilmachungen folgten. Kriegserklärungen mündeten final in den bis dato größten Konflikt der Menschheitsgeschichte. Die Rede ist vom Ersten Weltkrieg.

In vielen Städten Europas wurde frenetisch gefeiert, bevor die Schlacht an der Marne am 12. September 1914 diese Euphorie beendete. Zumindest war es bis vor zwanzig Jahren so in den populärwissenschaftlichen und fachlichen Publikationen zu lesen. Mittlerweile hat sich die Sicht der Dinge deutlich geändert: anstelle des Bildes einer allumfassenden Kriegsbegeisterung, die sämtliche Bevölkerungsschichten in chauvinistische Verzückung und bisweilen Raserei versetzte, ist eine neue Betrachtungsweise getreten. Die jüngsten Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass dieser Kriegsjubel, das sogenannte „Augusterlebnis“, in der Tat nicht alle Schichten betraf, sondern, im Gegenteil, der Krieg sehr unterschiedliche Reaktionen im Gefolge hatte. Besonders die Arbeiterklasse in den großen Städten war anfänglich eher kritisch eingestellt.

Hier wird sich nicht damit beschäftigt, ob es ein Augusterlebnis in Hamburg gab, denn die Vielzahl unterschiedlicher Quellen bestätigt diese Annahme recht eindeutig. Vielmehr soll erläutert werden, wie diese Augusttage tatsächlich in den verschiedenen Hamburger Schichten wahrgenommen wurden, denn das Bild der jubelnden Mengen an sich, wie in der älteren Forschung angenommen, ist lückenhaft. Die größten Volksmassen versammelten sich stets, um an Informationen in Form von Extrablättern zu gelangen, nicht um zu protestieren oder chauvinistische Parolen von sich zu geben. Es gilt zwischen der traditionellen Forschung bis etwa Anfang der 1990er Jahre, welche die These einer allumfassenden Kriegsbegeisterung vertreten hat, und jüngeren Ergebnissen, die sehr stark nach Schichtzugehörigkeit differenzieren, zu unterscheiden. Doch sei gesagt: Die Stimmung in der Bevölkerung Ende Juli/Anfang August 1914 zu erfassen, ist angesichts der Komplexität menschlicher Regungen eine Sisyphosarbeit, weswegen es schwerfällt, den Begriff des Augusterlebnisses hinreichend aufzuklären.

Verteidiger von Krieg und Frieden

Am 3. August drang eine aufgebrachte Menge in den beliebten Alsterpavillon. Ursprünglich als ein Hort des Hurrapatriotismus, wurde er vollkommen verwüstet. Der Direktor des Pavillons musste fast mit dem Leben bezahlen. Hätte er nicht das erneute Verlesen eines schon bekannten Extrablattes unterbinden wollen, es wäre vielleicht nicht so gekommen. Dieser und andere Zwischenfälle verdeutlichen die aufgeheizte Atmosphäre, in der häufig ein falsches Wort genügte, um sich dem Schimpf und oft genug den Prügeln der Umstehenden auszusetzen. Auch wenn die Kriegsbegeisterung, ihre gewalttätigen Züge inklusive, längst nicht jeden erfasste, so liegen doch erstaunlich viele Zeugnisse vor, in denen die Verfasser eine allgemeine öffentlich gelebte Freude über den Kriegsausbruch konstatierten, obgleich sie die Lage offensichtlich selbst nüchterner betrachteten als die von ihnen beobachteten Massen. Immer wieder fielen in diesem Zusammenhang Sätze, wie „das Ende der Katharsis des Friedens“, welche scheinbar einigen nationalistischen Kreisen eine Qual war. Möglicherweise liegt dem Phänomen Kriegsbegeisterung also eine Art von Masseneuphorisierung zugrunde, von einer sich immer weiter aufschaukelnden chauvinistischen Stimmung, welche zumindest in den ersten Tagen überwog. Erst allmählich sollte diese Euphorie einer Ernüchterung weichen.

Auch die Medien trugen als Repräsentationsorgane der, vor allem, bürgerlichen Schichten großen Anteil an der aufgeheizten Atmosphäre. In der Woche des 25. Juli, dem Tag der partiellen Ablehnung des österreich-ungarischen Ultimatums durch die serbische Regierung, bis zum deutschen Kriegseintritt am 1. August kam es zu vielen gewaltsamen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen hurrapatriotischen und pazifistischen Gruppierungen. Tendenziell lassen sich deren Mitglieder nach ihrer Schichtzugehörigkeit klassifizieren. Studenten und ältere Höhergebildete aus dem bürgerlichen Milieu gehörten eher ersterer Gruppe an, während zu letzterer vor allem Arbeiter und Sozialdemokraten zu zählen sind. Besonders in den ersten Tagen fanden nationalistische Randalierer viel Zuspruch in der Presse, während Gegendemonstranten häufig als Vaterlandsverräter verunglimpft wurden. Es gab allerdings auch schon früh kritische Stimmen, beispielsweise vom Hamburger Echo. Wenig überraschend standen auch die sozialdemokratischen Blätter, allen voran der Vorwärts, aufseiten der Antikriegsdemonstranten. In einer Ausgabe wurden die Ausschreitungen auf die Trunkenheit und den jugendlichen Leichtsinn der Beteiligten zurückgeführt.Ein Ende der zusehends gewaltbereiten Demonstrationszüge gab es erst am 31. Juli, als die Polizei sämtliche öffentlichen Versammlungen untersagte. Zu diesem Zeitpunkt fanden solche allerdings ohnehin kaum noch statt, da an die Stelle des aufgeregten Hurrapatriotismus eine ernste, angespannte Stimmung getreten war, wie aus vielen Zeitungsberichten zu entnehmen ist. So hatten die Menschen eher mit Erregung auf die neusten Nachrichten gewartet, da der Krieg immer näher rückte.

Es lässt sich also sagen, dass keinesfalls nur hurrapatriotische Umzüge stattfanden. Ebenso marschierten Kriegsgegner durch die Straßen. Dabei ist die auf beiden Seiten zahlenmäßig nicht besonders starke Vertretung von Interesse. Die meisten Demonstrationen umfassten ein- bis zweitausend Teilnehmer, die größten einige zehntausend. Diese Zahlen sind weit entfernt von dem, was spätere Massendemonstrationen erreichen sollten und relativieren für sich allein stehend schon sämtliche Aussagen von umfassender Kriegsbegeisterung. Die meisten Hamburger blieben, schichtenübergreifend, während der Proteste zu Hause.

Dort standen die Sozialdemokraten

Anders als die liberalen und konservativen Kräfte des Reichstags wie der Hamburger Bürgerschaft, hatten die Sozialdemokraten seit ihren Gründungstagen immer ihren strikt pazifistischen Standpunkt bewahrt. Ambivalent ist jedoch das Verhalten vieler Sozialdemokraten und ihrer Sympathisanten in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1914. Auch an ihnen war die Radikalisierung eines deutschen Nationalstolzes – insbesondere nach der Reichsgründung 1871 – nicht spurlos vorübergegangen.

Die große Mehrheit führender SPD-Politiker, wie beispielsweise Karl Liebknecht und selbst vehemente Verfechter des Pazifismus, wie Rosa Luxemburg, sahen, wie auch konservative Kreise, in den militärischen Auseinandersetzungen einen Verteidigungskrieg der Mittelmächte und hielten daher zu ihrem Heimatland. Diese Perspektive liegt der kaiserlichen Propaganda zugrunde.

Dieser Umschwenk hin zur „patriotischen Vaterlandsverteidigung“, der sich in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit entspann, kann nur durch eine Mischung verschiedener Motivationen erklärt werden. Zum einen darf der Einfluss des Nationalismus nicht unterschätzt werden. Zum anderen sahen wohl viele Sozialdemokraten die Möglichkeit, sich in einem „gerechten Krieg“ endlich vom Makel des „Vaterlandsverrats“ reinzuwaschen und ihren Teil dazu beizutragen, die Heimat gegen ausländische Aggressoren zu verteidigen. Zudem hegten auch die Anhänger der Klassenkampftheorie Ressentiments gegen das zaristische Russland, welches den ersten Gegner des Deutschen Reiches darstellte. Überlegungen, das unterdrückerische Zarenregime durch den Krieg zu stürzen, mögen also auch eine Rolle gespielt haben.

Auszug in Uniform

Die Entwicklungen wurden in der Bevölkerung höchst unterschiedlich aufgenommen und die Meinungen der Bürger blieben keinesfalls über den gesamten Betrachtungszeitraum unverändert. Als am 31. Juli tatsächlich der Ernstfall eintrat und die Bevölkerung per kaiserlicher Proklamation vom Kriegszustand in Kenntnis gesetzt wurde, waren die Reaktionen noch einmal überschwänglich. Dieses Mal schlossen sich auch zunehmend Sozialdemokraten dem Jubel an, seit der Patriotismus offiziell in die Parteilinie aufgenommen worden war. Allerdings endete der Rauschzustand, mit welchem sich die Erleichterung, dass es nun endlich losging, Bahn brach, ebenso abrupt, wie er aufgetreten war. An seine Stelle trat eine sorgenvolle Anspannung. Solange der Krieg ein vages, entferntes Konstrukt gewesen war, das sehr wenige direkt betroffen hatte, war das Säbelrasseln von großen Teilen der Gesellschaft gefeiert worden. Mit der Gewissheit, dass nun aber jeder einzelne persönlich betroffen war und viele Männer womöglich nicht zurückkehren würden, wich in Hamburg die Freude einer eher bedrückten Stimmung. Besonders die englische Kriegserklärung am 3. August wirkte sich negativ auf den Gefühlszustand aus, da man sich nunmehr drei Großmächten, gegenüber sah. Trotz der weit verbreiteten Ansicht, der Krieg sei in sechs Wochen zu beenden, schlichen sich Zweifel ein. Hier unterschied sich Hamburg von vielen anderen Großstädten des Reiches, in denen die Proklamationen enthusiastisch gefeiert wurden. Die Hamburger blieben, wie es ihrem Stereotyp entsprach, erstaunlich ruhig. Ein Stimmungsbild der Situation wirkt seltsam schizophren, da gleichzeitig Ausrufe der Erleichterung und schweigende Ernsthaftigkeit festgestellt werden können. „Die meisten Menschen waren niedergeschlagen, als wenn sie am nächsten Tag geköpft werden sollten“, schrieb beispielsweise der Bürgerliche Wilhelm Heberlein in sein Tagebuch.

Bei der Mobilmachung und vor allem bei der Verabschiedung der Soldaten, beim Auszug in den Krieg, kam noch einmal Festtagsstimmung auf. Dass diese allerdings von einer anderen Qualität als in den Tage zuvor und mit Resignation gemischt war, dürfte wenig überraschen. Der Auszug der eigenen Ehemänner, Söhne, Verwandten und Bekannten geschah unter Tränen, Solidaritätsbekundungen und Glückwünschen der Zurückbleibenden. Die Furcht aber blieb.

Weitere Jubelstürme gab es unter dem Eindruck der ersten Siege in Flandern, an denen das Hamburger 76. Infanterieregiment beteiligt war, auch wenn diese nicht mehr mit den ersten gleichgesetzt werden können.

Die ersten Verlustlisten waren noch kurz, der Vormarsch verlief nach Plan, und so warteten die Hamburger hoffnungsvoll auf ein schnelles Ende des Krieges. Der siegreiche Ausgang der Schlacht von Tannenberg belebte die Hochstimmung erneut. Das definitive Ende aller Augusterlebnisse brachte die Schlacht an der Marne Anfang September. Mit dem Stillstand der Westfront wurde ersichtlich, dass der Schlieffenplan nicht aufging und der Krieg nicht in den angesetzten sechs Wochen zu gewinnen war. Es kam in Hamburg zu einer Stille nach dem Sturm.

Dies geschah also

Aufgrund der schier unendlichen Vielzahl an persönlichen Augusterlebnissen ist es schwierig, ein zutreffendes Gesamtbild wiederzugeben. Auffällig ist, dass die Jubelstürme immer mit bestimmten Ereignissen zusammenhingen und danach relativ schnell wieder abebbten. Ein einzelnes, kontinuierliches Augusterlebnis hat es nie gegeben. In Bezug auf die Schichtzugehörigkeit muss die Aussage der neueren Forschung dahingehend relativiert werden, dass die Zuordnung einer bestimmten Reaktion zu einer Schicht als zu pauschal abzulehnen ist. Vielmehr gab es auch unter Bürgerlichen kritische Stimmen, und die Arbeiterschaft, anfangs kritisch und pazifistisch, stellte sich schnell auf den neuen Kurs der SPD-Parteiführung um und nahm die Fahnen der Vaterlandsverteidigung auf.

Weiterführende Literatur

Bendikowski, Tillmann: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, München 2014.

Kruse, Wolfgang: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 73- 88.

Meinssen, Heiko: Zwischen Kriegsbegeisterung, Kriegsfurcht und Massenhysterie. Hamburg im Juli/August 1914, Hamburg 2005.

Molthagen, Dieter: Das Ende der Bürgerlichkeit. Bürgerfamilien aus Liverpool und Hamburg im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2004 (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 42).

Münch, Phillip: Bürger in Uniform. Kriegserfahrungen von Hamburger Turnern 1914 bis 1918, Freiburg 2009.

Rojahn, Jürgen: Arbeiterbewegung und Kriegsbegeisterung. Die deutsche Sozialdemokratie 1870 – 1914, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 57-72.

Ullrich, Volker: Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1982.

Ullrich, Volker: Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Beiträge zur Sozialgeschichte Hamburgs und Norddeutschlands im Ersten Weltkrieg, Bremen 1999.

Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1526

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Webressourcen aus Nordeuropa – Fundstücke August 2014

Auch im August stehen neben einigen Neuigkeiten zu 1814 neue Digitalisierungsprojekte und Portale mit digitalisiertem Inhalt im Zentrum der Fundstücke.

Dänemark

  • Neuigkeiten aus den Staatlichen Archiven (DK)ugänglich.

Die Staatlichen Archive haben ca. 1, 3 Millionen Grundbuch-Dokumente online zugänglich gemacht: Neben nordjütischen Hypotheken- und Auflassungsurkundenprotokollen (1870-1927) stehen Real- und Namensregister von Grundbucheintragungen aus Seeland, Bornholm, Lolland-Falster und Møn im Archivalieninformationssystem Daisy zur Verfügung. In den nächsten beiden Jahren sollen weitere Dokumente eingescannt werden.

In Daisy sind auch die gesamten digitalisierten “Markbøgerne” zum Kataster Christian V. (Christian 5.’s matrikel), die Informationen über Grundbesitzverhältnisse und Bodenqualitäten enthalten, online zugänglich.

Ein weiteres, auf mehrere Jahre angelegtes, Projekt ist die Digitalisierung der Journale, Register u.ä. der dänischen Amtsarchive. Die Journale der Ämter Holbæk und Frederiksborg wie auch Teile des Amtes Hjørring in Nordjütland sind bereits digitalisiert und in Daisy recherchierbar.

Die Dansk Demografisk Database ist um zwei neue Datenbanken erweitert worden:

Weiter weisen die Staatlichen Archive darauf hin, dass ca. 7000 Kirchenbücher aus der Zeit vor 1892 in einer verbesserten Ausgabe im Laufe des Jahres 2014 in Arkivalieronline  eingestellt werden.

  • Thema: 1864

Die Schleswigsche Sammlung der Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig hat eine Bibliografie mit neuerer Literatur zum Thema veröffentlicht.

Das von der Universität Århus betreute Portal danmarkshistorien.dk hat eine Übersicht mit Lexikonartikeln und Quellen, die sich auf den Krieg beziehen, ins Netz gestellt.

Auch Dänemarks größte Onlinesammlung militärhistorischer Karten, Zeichnungen und Fotos Forsvarets Biblioteks Digitale Fotoarkiv präsentiert seine Sammlung zum Thema.

  •  Thema: 1. Weltkrieg

Die dänischen Staatlichen Archive stellen auf Aargang 0 die Erlebnisse von Nordschleswigern während des 1. Weltkriegs vor. Die mit Quellen belegten Lebensläufe der Personen, die 1900 geboren wurden, sind als Unterrichtsmaterial aufbereitet und dienen in diesem Jahr als Grundlage für einen Schulwettbewerb.

  • Weitere Web-News aus Dänemark

Das Stadtarchiv Aarhus verwahrt jetzt das Archiv über die Rettung des kulturhistorisch bedeutenden Bahnhofs  Østbanegård, der 1877 als Hauptbahnhof für die neu gegründete Aarhus-Ryomgård-Bahn diente und 1984 vom Abriss bedroht war.
Ausblick: Das Stadtarchiv Aarhus digitalisiert derzeit das umfangreichen Bildarchiv Århus Stiftstidendes arkiv, das Ereignisse und das Alltagleben in Aarhus seit den 1930er Jahren dokumentiert und im Herbst 2014 online gestellt werden soll.

Das dänische Nationalmuseum hat zum jetzigen Zeitpunkt bereits 50.000 Fotos und Bilder aus ihrer umfangreichen Sammlung in der Datenbank Samlinger Online ins Netz gestellt. Im Lauf des nächsten Jahres soll die Sammlung auf 500.000 Bilder anwachsen. Die Fotos erhalten die Creative Commons-Lizenz BY-SA.

Die Königliche Bibliothek hat in ihre Datenbank Varehuse, die bisher nur die digitalisierten Kataloge des inzwischen geschlossenen Daells Varehus enthielt, Kataloge weiterer Warenhäuser aufgenommen.
Auch die von Oscar Preisler ausgearbeitete medizinhistorische Bibliografie Bibliotheca Medica Danica steht nun überarbeitet als Dansk medicinhistorisk bibliografi 1479-1913 online zur Verfügung.

Das Archiv in Slagelse hat begonnen, Steuerlisten (Mandtalslister) zu digitalisieren. Online sind bisher die Listen von 1882-86 und 1895 einsehbar.

Zur Schulgeschichte hat das Stadtarchiv Esbjerg vier Filme online gestellt, die u. a. den Unterricht von Kindern auf dem Land vor 1814 dokumentieren.

Schweden/ Norwegen

  • Thema: 1814

Nachdem der norwegische König Christian Frederik bereits aus seinem digitalisierten Tagebuch über den Zeitraum 1813-1814 twitterte (siehe dazu den Post vom Januar 2014), kann man nun auch seinen Tweets zu den Ereignissen des Jahres 1814 folgen: Statsraad1814.

  • Schweden/ Norwegen

Auf Flickr wurden weitere Fotos des schwedischen Ingenieurs Fredrik Daniel Bruno (1882–1971), der in den 1940er und -50er Jahren auf seinen Reisen durch Norwegen und Schweden Städte und Landschaften fotografierte, hochgeladen.

  • Norwegen

Das norwegische Reichsarchiv hat digitalisierte Dokumente zum Passzwang, der zwischen 1661-1814 in Norwegen obligatorisch war, in einem Register zur Verfügung gestellt.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2493

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Linkdossier 2: „Im Gedenkjahr nichts Neues?“ Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas

Aus der Vielzahl der Beiträge zum Gedenkjahr haben wir hier erneut eine Auswahl getroffen um Ihnen einige Denkanstöße für unsere Veranstalltung “Im Gedenkjahr nichts Neues?” Der Erste Weltkrieg und die Zukunft Europas zu geben.

All Quiet on the French Front: France Remembers World War I

Sylvie Kauffmann, Chefredakteurin und Kollumnistin der Le Monde, vergleicht in ihrem Kommentar in der New York Times das Erinnerungsjahr in Frankreich, Deutschand und Großbritannien:

What is more perplexing is that, for a country so prompt to disagree on almost everything, the surge of interest in the war hasn’t set off any new debate. Even the historians agree: This is a very consensual centennial. We don’t feel like looking beyond our attics and official databanks. While our German and British neighbors have been passionately debating theories about the origins of the war or its utility, all is quiet on the French front.

 

Erster Weltkrieg: Anderes Land, anderer Krieg

Auch in diesem Artikel der Zeit wird die Erinnerung an den Krieg aus transregionaler Perspektive erläutert und dabei Bezug auf die heutige gesellschaftliche und politische Situation genommen: In Frankreich beschweren sich Rechtsextreme, dass die Gegner des Algerienkrieges bei der Militärparade am Nationalfeiertag teilnehmen, in Algerien fordert man derweil eine Entschuldigung für die Verbrechen der Kolonialzeit. Für Indien spielt der Krieg eine vollkommen andere Rolle und wird oft als erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit von den Briten gesehen – diese wiederum inszenieren die Kriegserinnerung möglichst emotional und gerne auch in der Popkultur.

 

Der Erste Weltkrieg in bewegten Bildern

In Zusammenarbeit mit dem Guardian präsentiert die Süddeutsche Zeitung eine interaktive Grafik mit Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Historiker aus mehreren Ländern geben dabei Analysen und Hintergrundinformationen zu dem Kriegsgeschehen. Die Beiträge sind in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

 

1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War

Hören Sie sich hier die Aufzeichnung der Diskussion “1914: What Historians Don’t Know about the Causes of the First World War” vom 18. Juni an. Im DHI London diskutieren Margaret MacMillan, Annika Mombauer, Sönke Neitzel und John Röhl unter der Leitung von Mark Hewitson über den Grund des Kriegsausbruchs. Obwohl Andreas Gestrich, Direktor des DHIs, treffend feststellt, dass “jeden Tag ein Buch über den Ersten Weltkrieg erscheint und wahrscheinlich jede Sekunde eine Veranstaltung stattfindet – zumindest in London” geht die Meinung der Historiker bezüglich der Gründe des Krieges, und somit auch der Schuldfrage, stark auseinander.

 

Quelle: http://gid.hypotheses.org/1129

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Tipp: Schlager von 1914 oder Hip-Hop von 2014?

Was auf den ersten Blick aussieht wie zwei Musikrichtungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, ist gar nicht so leicht auseinander zu halten. Könnte nicht folgender Text aus einem Berliner Lied aus dem 19. Jahrhundert auch von Rapper Bushido sein?

Mutter, der Mann mit dem Koks ist da.
Junge, halts Maul, ich weiß es ja
Hab ich denn Geld? Hast du denn Geld?
Wer hat denn den Mann mit dem Koks bestellt?

 

Machen Sie selbst den Test: Wie gut können Sie Songtexte der Gassenhauer von 1914 von kontemporärem deutschen Hip-Hop unterscheiden?

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/397

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“Der Gang ins Museum wird durch die Virtualisierung nicht wegbrechen”

Dr. Frank Reichherzer arbeitet am Lehrstuhl für Geschichte Westeuropas und transatlantische Beziehungen an der Humboldt Universität zu Berlin. Er konzipierte die digitale Ausstellung “Orte des Übergangs. Eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs” für Europeana.

Dr. Frank Reichherzer (Foto: privat)

Dr. Frank Reichherzer (Foto: privat)

Sie haben als Kurator die digitale Ausstellung „Orte des Übergangs. Eine andere Geschichte des Ersten Weltkrieges“ für Europeana geplant. Europeana verfügt über zahlreiche (Ego-)Dokumente aus verschiedenen Zeitspannen. Nach welchen Kriterien haben Sie ihre Ausstellungsdokumente ausgesucht?

Unser Kriterium war es, die Dokumente und Objekte als aussagekräftige Quellen für die übergeordnete Frage und das Ziel der Ausstellung zu nutzen. Da der Zugang über das Konzept der Orte nicht der Logik der Verschlagwortung der Europeana entspricht, haben wir uns den Themen in einem ersten Schritt über Quellenarten genähert – also Kriegstagebücher, Verordnungen, Karten, Bilder und andere Objekte, zeitgenössische Literatur bis hin zu Lieder- und Kochbüchern und vielem mehr. Dort haben wir die Stellen, an denen unsere Orte thematisiert wurden, vermerkt und dann für den zweiten Schritt alles, was einen bestimmten Ort betraf, als Materialsammlung zusammengestellt.

Ihr Ziel ist es, den Ersten Weltkrieg aus einer neuen Perspektive, und zwar anhand eines Mosaiks von Orten, zu betrachten. Geht es Ihnen darum, den Krieg, der so 100 Jahre zurück liegt und vielen so abstrakt erscheint, erfahrbar zu machen? Welches Publikum möchten Sie damit ansprechen?

„Erfahrbar“ wollten wir den Krieg nicht machen. Wie wollten den Krieg in seiner Widersprüchlichkeit, in seiner Komplexität sichtbar machen. Abstrakte Orte, wie der Bahnhof, das Lazarett, die Kasernen aber auch das Hauptquartier, die sich überall, auf allen Seiten der Fronten, finden lassen, erschienen uns als geeigneter Zugang, die Pfade der Chronologie des Krieges, der nationalen Perspektiven und der epischen Schlachtengemälde zu verlassen. In diesem Sinne abstrahieren wir sogar noch mehr als die meisten Publikationen zum Thema. Wir fordern unsere Besucher heraus. Sie sollen den Ersten Weltkrieg als diffuses Ereignis erkennen – als gigantischen Ort des Übergangs, an dem Zivilisation und Barbarei, Moderne und Archaik, Zerstörung und Schöpfung, Beschleunigung und Beharrung, Mythos und Rationalität, Traum und Trauma und vieles mehr ineinander verwobene Realitäten bilden. Wir wünschen uns ein breites Publikum. Die Ausstellung ist so konzipiert, dass der Besucher seine Wege und sein Eintauchen in die Materie selbst gestalten kann. Gerade der ‚virtuelle Ausstellungsraum’ macht diese Sprünge und Drifts möglich. Die Orte sind dabei der Einstieg. Die Dynamiken, die sich im Raum zwischen den Orten bilden, sollen mit dem ‚Klicken‘ durch die Ausstellung in einer spezifischen Art im Besucher deutlich werden – und hier stimmt es wohl –hier kann der Besucher die Geschichte des Erste Weltkrieg in einer besonderen Weise „erfahren“.

Mittlerweile stellen auch zahlreiche Museen auf ihren Websites digitale Ansichten von ihren Ausstellungsobjekten zur Verfügung. Welche Bedeutung werden digitale Ausstellungen Ihrer Meinung nach in der Zukunft haben?

Technisch ist und wird vieles möglich sein. Vor allem Hypertextstrukturen und gestaffelte Informationsschichte bieten dem Besucher die Möglichkeit, in unterschiedliche Formen, Intensitäten und eigenen Wegen in die Materie einzutauchen. Wir hatten im ursprünglichen Konzept viel mehr Verlinkungen der Orte und der Narrationen wie ‚Ordnung und Chaos‘, geplant, mussten uns aber an den Europeana-Richtlinien orientieren.

Der Gang ins Museum wird aber durch die Virtualisierung nicht wegbrechen. Das Museum als sozialer Ort wird daher nicht verdrängt. Die Sehnsucht nach dem Sozialen und dem Authentischen ist groß. Ich denke, Mischformen werden sich etablieren. Mehr und mehr wird der Ausstellungsbesuch virtuell durch Terminals vor Ort oder auch durch die Nutzung mobiler Endgeräte weiter mit zusätzlichen Informationen angereichert. Grenzen hierzu sehe ich weder im Wissenschaftlich-kuratorischen Input noch in der Technik. Probleme liegen eher in urheberrechtlichen Fragen.

 

Sie wollen mehr über das Projekt Europeana und digitale Museen wissen? Fragen Sie Dr. Reichherzer bei unserem WeberWorldCafé “Narrating the First World War – Experiences and Reports from Transregional Perspectives”!

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/390

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Vom Lächeln der Henker im Ersten Weltkrieg

Cover: Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918, Primus Verlag ²2014
Cover: Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918, Primus Verlag ²2014

Cover: Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918, Primus Verlag ²2014

„Ach, dieses Lächeln im Krieg war erschütternder als das Weinen“, schrieb Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“. Und das Lächeln des Wiener Henkers nach der Hinrichtung des italienischen Patrioten Cesare Battisti im Jahr 1916 ist wahrhaft erschütternd. Heiter, als wären sie beim Heurigen, posieren der Henker und seine Assistenten vor der Kamera. Erst auf den zweiten Blick erfasst das Auge den erhängten Mann in ihrer Mitte, der an dem Pfahl wie eine Gliederpuppe wirkt – als Trophäe gehalten vom stolzen Henker, der mit seinen Händen den Besitz anzeigt.

Anton Holzer hat dieses Foto für den Umschlag seines Buchs „Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung“ gewählt, das 2014 als Sonderausgabe zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs in zweiter Auflage erschienen ist. Es reiht sich in eine lange Reihe von Bildern ein, mit denen Holzer die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg im Osten dokumentiert: Die Menschen hängen an Galgen, in den Bäumen oder an Pfählen. Diese Bilder vom österreichisch-ungarischen Kriegsschauplatz sollten neben denen vom Stellungskrieg an der Westfront Teil des Bildgedächtnisses werden – um auch den Mythos vom angeblich „sauberen“ Krieg zu widerlegen. Sie berichten von der systematischen und staatlich legitimierten Gewalt gegen Zivilisten gerade in den ersten Kriegsmonaten. Männer, Frauen wie auch Kinder wurden als „Spione“ und „Verräter“ zu Tausenden im Osten und Südosten Europas durch die Militärjustiz am Galgen hingerichtet. Meist waren es Angehörige ethnischer Minderheiten, Juden, Ruthenen (Ukrainer), Polen, Serben, Bosnier, Montenegriner, Tschechen und Italiener, die als „Fremde“ kollektiv verdächtigt, vertrieben und auch ermordet wurden.

Die Hinrichtung des italienischen Patrioten Cesare Battisti, Trient, 12. Juli 1916, Fotograf: namentlich nicht bekannter österreichischer Kriegsfotograf. Abb. aus: Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Darmstadt ²2014, S. 24

Die Hinrichtung des italienischen Patrioten Cesare Battisti, Trient, 12. Juli 1916, Fotograf: namentlich nicht bekannter österreichischer Kriegsfotograf. Abb. aus: Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Darmstadt ²2014, S. 24

Neben der Darstellung dieses Kriegs gegen die Bevölkerung versucht sich Holzer der Frage zu nähern, was für Motive die Täter wie die zahlreichen Schaulustigen hatten, sich mit den Opfern am Galgen fotografieren zu lassen. „Beutestücke einer abgründigen Schaulust“ (S. 10) nennt Anton Holzer diese Bilder, die er in Archiven in Tschechien, in Polen, in der Ukraine, in Serbien und Montenegro, in Bosnien und Slowenien gefunden hat. Sie waren dort, im Gegensatz zu westlichen offiziell-militärischen Sammlungen, wo es solche Fotos nicht geben durfte, archiviert worden, um die brutale und unrechtmäßige Kriegführung der Mittelmächte zu beweisen. Denn die Vorfälle waren keineswegs Exzesse Einzelner, sondern zentraler Teil der militärischen Strategie bei Kriegsbeginn, um die „verdächtige“ Zivilbevölkerung mit Zwangsdeportationen, Internierungen und systematischen Hinrichtungen zu „bändigen“ (S. 13). Nach zeitgenössischen Berichten waren es allein für die k.u.k. Monarchie zwischen 11.400 und 36.000 Zivilisten, die in den ersten Kriegsmonaten am Galgen ermordet wurden. (S. 19)

Die Fotos von den Hinrichtungen waren begehrt. Die Soldaten trugen sie in ihrem Gepäck oder direkt am Körper bei sich. In einzelnen Fällen wurden sie sogar als Feldpostkarten vervielfältigt und über die offiziellen Verkaufsstellen der Armee vertrieben. Was aus heutiger Sicht absolut unvorstellbar ist – wer verschickte solche Postkarten? –, zeugt aber auch von dem fehlenden Unrechtsbewusstsein. Erst als einzelne Bilder ab 1915/16 öffentlich zu Dokumenten der Anklage wurden, kursierten sie zwar immer noch, wurden jetzt aber geheim weitergereicht. Warum ließen sich die Täter überhaupt mit ihren Opfern fotografieren? Holzer nähert sich aus mehreren Perspektiven dieser Frage an. Zum einen waren die Fotografien sicherlich Trophäen für die beteiligten Soldaten, fast wie ein Fetisch Beweis ihrer Überlegenheit in einer Zeit, in der es sich so schnell starb. Auch wurden die Hinrichtungen als voyeuristisches Gewalt-Ritual öffentlich in Szene gesetzt, ein schreckliches Schauspiel, das Faszination und eine Art Lust auslöste – sie lässt sich in vielen Gesichtern der Umstehenden auf den Fotos im Buch erkennen. „Diese Lust hat zwei Seiten. Sie besteht darin, den Akt der Gewalt sehen zu wollen und in dem Wunsch, bei diesem Zuschauen gesehen (fotografiert) zu werden.“ (S. 96) Der Akt des Fotografierens selbst war sowohl Teil der Schaulust wie auch Ausdruck der Distanz zum Geschehen mittels des Apparates; er war also ganz selbstverständlich Teil der öffentlichen Gewalt.

 

Auf dem Weg zum Galgen. Hinrichtung eines „verdächtigen“ Zivilisten, Bosnien, Ende 1915. Fotograf: unbekannt (Abb. aus: Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Darmstadt ²2014, S. 54)

Auf dem Weg zum Galgen. Hinrichtung eines „verdächtigen“ Zivilisten, Bosnien, Ende 1915. Fotograf: unbekannt (Abb. aus: Anton Holzer: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Darmstadt ²2014, S. 54)

Die Bilder, die Holzer in seinem Buch zeigt, sind erschreckend. Die Frage, ob man derartige Fotos abdrucken darf, beantwortet er mit einem klaren „ja“ (S. 14): Die Fotografien und zugleich die Geschichten, die sie erzählen (sofern er sie rekonstruieren konnte), berichten von den Gewalttaten hinter den Linien, sie geben den Opfern ein Gesicht (wenn auch meistens keinen Namen) und zeigen auch die Täter, unsere „Groß- und Urgroßväter“; so Holzer (S. 161). Aber er geht noch einen Schritt weiter und fragt auch danach, warum „uns“ heute diese und andere Bilder der Gewalt nicht mehr loslassen: Was ist das für ein Sog, in den wir durch den medialen Voyeurismus gezogen werden? Was hat es auf sich mit der Verknüpfung von Fotografie und Gewalt?

Die Gewalt, wie sie sich unmittelbar in den Fotos im Buch zeigt, geht weit über den Ersten Weltkrieg hinaus: Sie ist der Anfang einer langen Gewaltgeschichte, die ihren Höhepunkt mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug fand, der aber, und das zeigt Holzer eindringlich, „ohne die ‚Vorarbeit‘ der Jahre 1914 bis 1918 kaum denkbar“ gewesen wäre. (S. 161) Aber auch in den Kriegen nach 1945, in Vietnam, Afghanistan oder im Irak, sind Zivilisten Opfer systematischer militärischer Übergriffe geworden. Der lächelnde Wiener Henker im Jahre 1916 und die ausgelassenen amerikanischen Folterer von Abu Ghraib 2003 sind daher gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies zu zeigen, ist das Anliegen Anton Holzers.

 

Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914-1918
Primus Verlag Darmstadt, Sonderausgabe 2014 (2., überarb. Aufl.), 244 S. mit ca. 114 s/w-Abb. und 2 farbigen Karten, gebunden mit Schutzumschlag, Format 21,0 x 27,0 cm, ISBN 978-3-86312-063-4, 24,95€

 

Dr. Anton Holzer ist Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“. Er arbeitet als Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator in Wien. Bücher zum Ersten Weltkrieg: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, 2. Aufl. Darmstadt 2014; Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, 3. Auflage, Darmstadt 2012; Die letzten Tage der Menschheit. Der Erste Weltkrieg in Bildern. Mit Texten von Karl Kraus, Darmstadt 2013.

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/08/12/vom-laecheln-der-henker-im-ersten-weltkrieg/

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Der Erste Weltkrieg “in Echtzeit”: Tagebücher 1914-1918 in den Sozialen Medien

leon_vivienZahlreich und höchst unterschiedlich sind die Online-, Digitalisierungs- und Soziale Medienprojekte, mit denen derzeit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gedacht wird. Neben den großen Initiativen wie Europeana 1914-1918, das Portal des Bundesarchivs und weiteren, teilweise hier und anderswo vorgestellten Online-Projekten1, fallen Soziale Medienvorhaben bei Twitter, Facebook und Blogs auf, die sich eine subjektive Nacherzählung der Geschehnisse “in Echtzeit” vornehmen.

So konnte man bereits  im letzten Jahr auf Facebook dem Leben des fiktiven französischen Gefreiten Léon Vivien folgen, der nach seinem konstruierten Lebenslauf 1914 einberufen und 1915 im Krieg ums Leben kam. Die Person des jungen Lehrers war erfunden, sein Foto aus Abbildungen der Zeit erstellt, aber die Texte und Dokumente der Facebook-Einträge waren “echt” und stammten aus den Dokumenten des Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux. Sie reichten vom 28. Juni 1914, dem Tag des Attentats in Sarajewo, bis zum 17. Mai 1915, dem Tag an dem er an der Front fiel und wurden täglich “in Echtzeit” doch um 99 Jahre verschoben auf Facebook publiziert. Das Projekt war äußerst erfolgreich: Über 66.000 “Fans” oder “Freunde” hatte die Facebook-Seite des erfundenen Léon Vivien, die seit November 2013 nach 220 Einträgen und dem inszenierten Tod Viviens nicht mehr aktualisiert wird. Das Vorhaben vier Jahre durchzustehen, schien den Projektbetreibern bei der Dichte der Einträge zu ambitioniert2. Dass bei diesem Projekt Fact und Fiction gehörig gemischt wurde, schien niemanden zu stören. Die Kritik war quasi einhellig positiv: ein gelungenes Projekt, so hieß es, mit dem ein historisches Ereignis auf attraktive Weise einem breiten Publikum nahe gebracht wurde3.

twitter_realtimeWährend den Verantwortlichen zufolge bei diesem Projekt der “menschliche Aspekt” des Kriegserlebnisses im Vordergrund stand, wählen die meisten (seriösen) Twitter-Projekte einen möglichst neutralen Standpunkt bei der Nacherzählung von Geschehnissen. Der Twitter-Account “Tweets from 1914-18” @RealTimeWW1 mit über 7.000 Followern beispielsweise wird vom Masterstudiengang European History an der Universität Luxemburg betreut und möchte „die Kette kleiner und großer Ereignisse, aus denen ein Weltkrieg besteht, Tag für Tag, Stunde für Stunde”4 nachzeichnen. Getwittert wird in verschiedenen Sprachen, da auch die beteiligten Studierenden aus verschiedenen Ländern kommen, überwiegend sind die Tweets jedoch in Englisch5. Die Texte sind neutral formuliert, fast immer wird auf eine Abbildung oder auf ein digitalisiertes Archivdokument verwiesen. Ein seriöses Projekt mit wissenschaftlichem Anspruch, das sich in eine Liste ganz unterschiedlicher Twitter-Vorhaben zum Ersten Weltkrieg einreiht, deren Bandbreite von satirisch über gut gemeint bis ernsthaft reicht6.

Eine Mischung aus beiden Ansätzen versucht das gerade an den Start gegangene europäische Projekt 3p1w-3 pilots-1 war oder 3 Piloten-1 Krieg bzw. 3 pilotes-1 guerre, das gemeinsam initiiert ist vom Militärhistorischen Museum der Bundeswehr – Flugplatz Berlin Gatow, dem Royal Air Force Museum, London und dem Musée de l’air et de l’espace, Paris – Le Bourget. In diesem gemeinsamen Dreier-Online-Tagebuch werden anhand von Feldpostbriefen und Dokumenten die Lebensläufe eines deutschen, eines britischen und eines französischen Piloten in den Jahren 1914-1918 “in Echtzeit” nacherzählt. Doch anders als bei Léon Vivien handelt es sich bei Peter Falkenstein, Jean Chaput und Bernard Curtis Rice um reale Personen, die tatsächlich existiert haben.

3p1wBewusst wurden keine bekannten Fliegerasse, sondern einfache Soldaten ausgewählt. Die Dokumente werden jeweils in drei Sprachen transkribiert und erläutert, sicherlich eine Fundgrube für Lehrende und alle diejenigen, die vergleichend arbeiten wollen. DieErlebnisse der drei Piloten findet man bei Facebook, getwittert wird von den drei Institutionen unter dem hashtag #3p1w. Über die sehr wünschenswerte Lizenzierung der publizierten Dokument mit einer Creative Commons-Lizenz wird von den Verantwortlichen derzeit nachgedacht7.

Bei L.I.S.A – dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung kann man derzeit in unregelmäßiger Abfolge die Tagebucheinträge des deutschen Schriftstellers und Diplomaten Harry Graf Kessler nachlesen. Den Texten zugrunde liegt die wissenschaftliche Edition der Tagebücher von Kessler durch Roland S. Kamzelak. Die Tagebucheinträge, die zumeist mit einem Foto versehen sind, werden im L.I.S.A.Dossier „1914-2014 – Hundert Jahre Erster Weltkrieg“ gesammelt.

frimayerUm die Erlebnisse einer realen Person geht es ebenfalls im Online-Kriegstagebuch des katholischen Seelsorgers Fridolin Mayer, eine Quelle, die im Erzbischöflichen Archiv Freiburg aufbewahrt und jetzt online zugänglich gemacht wird. Gepostet werden in diesem Quellenblog jeweils taggenau die Einträge des katholischen Feldgeistlichen, der vier Jahre lang überwiegend an der Front zu Frankreich freiwillig im Einsatz war. “Und Mayers Erinnerungen über provisorische Altäre, Kanonenschüsse beim Beichthören oder Massengräber mit Gefallenen der badischen Regimente 113 und 114, gewähren wahrlich packende Einblicke in das wenig erforschte Feld der damals noch jungen Feldseelsorge.”, so das Lob in der Badischen Zeitung vom 5.8.2014.8 Fridolin Mayer hat einen eigenen Twitteraccount, dem man unter @Feldgeistlicher folgen kann.

Im Quellenblog 1914-1918: Ein rheinisches Tagebuch werden nicht die Erlebnisse einer realen oder fiktiven Person nachgezeichnet, sondern Dokumente aus mehreren rheinischen Archiven als Gemeinschaftsprojekt publiziert. Zu den Dokumenten gehören Zeitungsausschnitte, Briefe, Postkarten, Fotos, Tagebücher, behördliche Texte etc., die ebenfalls taggenau und um 100 Jahre versetzt sowie mit einer kleinen Erläuterung versehen publiziert werden. Die unterschiedlichen historischen Zeugnisse sollen ein “Kaleidoskop zeitgenössischer persönlicher Wahrnehmungen und öffentlicher bzw. veröffentlichter Meinung” entstehen lassen und sich “im Sinne der ursprünglichen Wortschöpfung „Weblog“ zu einem „Tagebuch“” zusammenfügen9. Lobenswert ist, dass die publizieren Dokumente unter eine CC-Lizenz gestellt werden (CC-BY-NC 3.0 DE).

rheinischesTagebuch

Die Liste der “Echtzeit-Tagebücher” ließe sich mühelos fortsetzen. Neben den hier genannten Projekten mit wissenschaftlichem Anspruch – oder zumindest von wissenschaftlichen Einrichtungen initiiert – gibt es private Initiativen wie das Quellenblog von Julian Finn, der die Tagebücher seines Urgroßvaters Ernst Pauleit Tag für Tag um 100 Jahre versetzt publiziert, doch ohne Anmerkungen oder kritischen Apparat.

Was bedeutet dieser Trend zu Quellenblogs – so unterschiedlich sie auch sein mögen -  in denen direkt und “in Echtzeit” Zeitzeugen zu Wort kommen, ob mit oder ohne Kommentar? Begrüßenswert und in vielerlei Hinsicht neu ist, dass Museen und Archive derzeit überhaupt versuchen, ihre Bestände einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und dabei den Weg über die Sozialen Medien nicht scheuen. Gleichzeitig scheint es in unserer Gesellschaft einen Bedarf nach (vermeintlicher) Authentizität zu geben, nach direkter Erzählung und subjektivem Nacherleben von Geschichte anhand von Tagebucheinträgen, eben “in Echtzeit”, ganz nah dran und so, als ob man es selbst erlebt. Zumindest in Bezug auf das Zeitempfinden kann Authentizität durch die “Echtzeit” erreicht werden. Denn vier Jahre schrumpfen nicht auf 10, 100 oder 400 Buchseiten zusammen, sondern bleiben vier Jahre, wobei im besten Fall auch die zeitlichen Abstände der Einträge zueinander stimmen.

Inhaltlich könnte dem Ganzen jedoch ein Missverständnis zu Grunde liegen. Die Online-Tagebücher versprechen einen ungefilterten, ungeschönten Zugang zur Geschichte, ein “So war es wirklich”-Erlebnis aus der Sicht von alltäglichen Menschen. Dass über die Auswahl der Quellen, über die Auswahl der Personen, deren Tagebücher ediert werden, ebenso Geschichte “gemacht” wird, könnte dabei ebenso vergessen werden, wie die Tatsache, dass es “so” gar nicht war, sondern allenfalls von einer oder mehreren Personen so wahrgenommen wurde. Das schmälert natürlich nicht die Berechtigung der Publikation, aber dieser Umstand sollte deutlich gemacht werden. Die Präsentation von Quellen auf diese Weise und in Echtzeit verlangt nach methodischer Transparenz, nach editorischer Klärung, zumindest, wenn man ein solches Vorhaben seriös betreibt.

Der Erfolg der Echtzeit-Tagebücher enthält allerdings auch eine Kritik an der Art und Weise, wie wir Geschichte schreiben: anscheinend nämlich an den Bedürfnissen der “breiten Öffentlichkeit” vorbei. Es dürfte sich lohnen, den Verlauf dieser Projekte zu verfolgen und die Diskussion über unsere gegenwärtige Geschichtsschreibung und neue Formate der Vermittlung zu führen.

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  1. Siehe die Kategorie “Sources Online” in diesem Blog: http://grandeguerre.hypotheses.org/category/quellen-online, die Übersicht bei Archivalia http://archiv.twoday.net/stories/629754893/ sowie das Blog digital 1418.
  2. Vgl. “Facebook 1914″: le quotidien d’un poilu de la Première Guerre mondiale raconté sur Facebook, in: Huffington Post, 11.4.2013, http://www.huffingtonpost.fr/2013/04/11/facebook-1914-premiere-guerre-mondiale-reseau-social-leon-vivien_n_3061066.html.
  3. Vgl. ISUU, http://issuu.com/sam2g/docs/le_mag_sam2g__musee_meaux_1_bd.
  4. Britta Schlüter, Studierende lassen den Ersten Weltkrieg auf Twitter wiederaufleben, idw-online 1.4.2014, https://idw-online.de/de/news580339.
  5. Vgl. das begleitende Blog zum Projekt: World War One goes Twitter, in: h-europe, http://h-europe.uni.lu/?page_id=621.
  6. Vgl. die Wiki-Übersicht zu historischen Twitteraccounts allgemein von Michael Schmalenstroer und die Twitterliste zum Ersten Weltkrieg von Christoph Hilgert sowie die Berichterstattung und Reaktionen zum Projekt “Heute vor 75 Jahren – vor, während und nach der Reichspogromnacht” 9@Nov38 auf der dazugehörigen Website http://9nov38.de/.
  7. So lautete die telefonische Auskunft von Jan Behrendt vom Militärhistorischen Museum der Bundeswehr – Flugplatz Berlin Gatow
  8. Siehe den Beitrag in der Badischen Zeitung vom 5.8.2014 http://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/heiliger-krieg-freiburger-historiker-veroeffentlichen-tagebuch-eines-feldgeistlichen–88345078.html sowie das ebenfalls dort publizierte Interview mit den Projektverantwortlichen Michael Schonhardt und Yvonne Antoni, http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/suedwest/kirche-im-krieg-als-junger-priester-bedeutete-krieg-auch-abenteuer.
  9. Zitate aus dem Editorial des Blogs, http://archivewk1.hypotheses.org/uber.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1629

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Webressourcen aus Nordeuropa – Fundstücke Juli 2014

Die nordischen Länder und der 1. Weltkrieg

Forscher von drei dänischen Universitäten und des Nationalmuseums haben den Kampf Dänemarks um die Neutralität des Landes während des 1. Weltkriegs aufgearbeitet und präsentieren ihre Ergebnisse in der Ausstellung “På kanten af krig – Neutralitet mellem krig og velfærd”, die ab 6. August 2014 in dem neu geschaffenen kommunalen kulturhistorischen Museum Mosede Fort Danmark 1914-18 in Greve gezeigt wird.

Das Museum Sønderjylland hingegen dokumentiert die Auswirkungen des 1. Weltkriegs auf die, damals noch zum Deutschen Reich gehörende männliche Bevölkerung Nordschleswigs, die als Soldaten Kriegsdienst leisten mussten. Der Kriegseinsatz der 35.000 Soldaten hat seine Spuren in Form von Gedenkstätten und Soldaten- und Kriegsgefangenengräbern hinterlassen. Hierzu hat das Museum eine App veröffentlicht, der zu 35 dieser Stätten Texte, historische Karten und Fotos liefert und auch eine Datenbank der gefallenen Soldaten beinhaltet. Diese Informationen stellt auch die Datenbank Verdenskrigens Spor i Sønderjylland 1914-1918 bereit.

Das im Juli 2014 veröffentlichte Portal Den store krig 1914 – 1918 hingegen zeichnet den Verlauf des Krieges in Form von Nachrichten. Das Quellenmaterial haben neben diversen Archiven und Museen auch Privatpersonen aus der Region zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, die Geschichte der Soldaten aus Nordschleswig und deren Familien in Bild und Text zu dokumentieren. Ergänzend dazu veröffentlicht das Landesarchiv für Sønderjylland eine Online-Liste über die gefallenden Soldaten aus Nordschleswig 1914-1918. Der gleichen Thematik widmet sich auch die schon etwas ältere Internetseite I farfars fodspor. Dort stellt der Enkel des Nordschleswigers Iver Henningsen dessen Briefe, Fotos und Zeichnungen aus dem 1. Weltkrieg vor und zeichnet die “Reiseroute” seines Ostfronteinsatzes nach. Auf der Seite Første Verdenskrig – de sønderjyske krigsdeltagere finden sich weitere Briefe und Tagebücher von Kriegsteilnehmern aus Nordschleswig.

Mit der visuellen Aufarbeitung der Jahre 1914-18 für die neutralen nordischen Länder beschäftigt sich das Portal European Film Gateway, das ein Baustein der europäischen Datenbank Europeana ist. Digitalisiertes Filmmaterial der Länder Dänemark und Norwegen ist in die Netzausstellung European Film and the First World War – A Virtual Exhibition eingebunden. In der Sammlung Det Danske Filminstitut: First World War Films finden sich weitere Filme dänischer Provenienz, das filmhistorische Material der norwegischen Nationalbibliothek unter Nasjonalbiblioteket: First World War Films.

Das norwegische Reichsarchiv hat im Rahmen der Netzaustellung ”Europæisk krig uundgaaelig” Dokumente zum Thema “Der 1. Weltkrieg aus der Sicht norwegischer Dipomaten” veröffentlicht.

Neben diesem den Sommer bestimmenden Thema “Erster Weltkrieg” hier unsere weiteren Fundstücke aus den einzelnen Ländern:

Dänemark
In einer neuen Datenbank stellt das Museum für Seefahrt (Helsingør) 34000 digitalisierte Bilder (Seeleute, Schiffe, Häfen, u.a.) aus seinem umfangreichen Bildarchiv, das über 200000 Abbildungen umfasst, online.

Die Königliche Bibliothek plant, weitere digitalisierte Teile ihrer 5,2 Bilder umfassenden Flugfotosammlung in der Datenbank Danmark set fra luften – Før Google ins Netz zu stellen. Neben den 250.000 Luftaufnahmen von Fünen und umliegenden Inseln, Bornholm und den Inseln im Kattegatt sollen ab Oktober 2014 200.000 Fotos von den sieben westjütischen Kommunen (Herning, Ringkøbing-Skjern, Holstebro, Skive, Ikast-Brande, Lemvig und Struer) zugänglich sein.

In dem Blog Byerne -  Blog om urban historie og kultur des Dänischen Zentrums für Stadtgeschichte
veröffentlichen zukünftig Stadthistoriker, Architekten und Stadtplaner ihre Forschungsergebnisse.

Das Landesarchiv Nordjütland hat die Archivbestände der dänischen Bezirksvögte (herredsfogederne) in Djurs Sønder og Mols und in Hammerum digitalisiert und online gestellt.

Norwegen

Das Provinzarchiv Sogn og Fjordane hat zwei kulturgeschichtlich relevante Fotosammlungen erhalten, die digitalisiert und in die archiveigene Fotodatenbank eingebunden werden sollen: Die mehrere hundert historische Bilder umfassende Sammlung von Bjørg Hovland, die neben Fotos von der eigenen Familie und weiteren Bewohnern der Region Luster auch Motive von Amerikaauswanderern beeinhalten. Die Fotosammlung von Andrea Breien (1866-1954) gibt einen Einblick in das Alltagsleben des Wohnsitzes “Kristianelyst” des Gerichtsvollziehers in Solvorn in den Jahren 1908-1915.

Mit dem wirtschaftsgeschichtlichen Aspekt des 1814-Jubiläums beschäftigt sich die Datenbank Historiske toll- og skibsanløpslister. Dort kann bereits in den Zolllisten für Christiania, Bergen, Trondheim, Risør, Tønsberg und teilweise Kristiansand aus den Jahren 1786, 1788, 1790, 1792 und 1794 recherchiert werden.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2441

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Geteilte Vergangenheiten, teilende Erinnerung: Wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina gedacht wird

 

von Ulf Brunnbauer (Universität Regensburg, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung)

Am 28. Juni dieses Jahres wurde die Nationalbibliothek Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo nach langjähriger Rekonstruktion wiedereröffnet. Sie war im August 1992 von den serbischen Belagerern in Brand geschossen worden, wobei das Gebäude schwer beschädigt und ein großer Teil der unikalen Sammlung orientalischer Schriften vernichtet wurden. Nach dem Ende des Bosnienkriegs stand die Ruine der Nationalbibliothek jahrelang hinter einem Bauzaun als unwillentliches Mahnmal für den Wahnsinn des Kriegs und der in ihm begangenen Verbrechen, bis endlich der Wiederaufbau in Angriff genommen und heuer zu einem guten Ende gebracht wurde.

Dieses gute Ende erfuhr allerdings am 28. Juni 2014 eine Eintrübung: An der Wiedereröffnungszeremonie hätten der Staatspräsident der Republik Serbien, Tomislav Nikolić, sowie der serbische Ministerpräsident, Aleksandar Vučić, teilnehmen sollen – im Sinne einer Versöhnungsgeste. Es blieb beim Konjunktiv, denn die beiden wichtigsten Politiker Serbiens sagten kurzfristig ab. Sie stießen sich an einer Aufschrift am Eingang zur Bibliothek, die besagt, dass dieses Gebäude von „serbischen Verbrechern“ in Brand gesetzt worden sei. Die serbische Regierungsspitze phantasierte allerdings von einem Wortlaut, der Begriffe wie „faschistische serbische Aggressoren“ und „Tschetniks“ beinhalten würde. Vor einem solchen Angriff auf die Würde der serbischen Nation könnten sie sich unmöglich sehen lassen.1 Anstelle nach Sarajevo reisten die beiden, Nikolić und Vučić, in das in der Republika Srpska gelegene, vom Regisseur Emir Kusturica errichtete Disney-Land-artige Kunstdorf Andrićgrad. Diese soll nominell den berühmten Schriftsteller Ivo Andrić ehren, der sich gegen diese Art von nationalistischer Vereinnahmung und kitschiger Huldigung nicht mehr wehren kann. In Andrićgrad inszenierte Kusturica am 28. Juni eine Nachstellung des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand. Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer wurden ausgiebig lobgepriesen. Mit ihrem Besuch dieses ethnonationalistischen Historienspektakel unter der Ägide einer politischen Entität, die ihre Genese aus einem Genozid bis heute leugnet, lieferte die serbische politische Elite jedenfalls all jenen Argumente, die ihr in den letzten Jahren ostentativ geäußertes Bekenntnis zu Europa für wenig glaubwürdig halten.

In Sarajevo wiederum glänzten Vertreter Serbiens und der Republika Srpska durch Abwesenheit. Auch die internationale Staatenwelt war kaum vertreten – mit Ausnahme der Österreicher: Die Wiener Philharmoniker spielten auf, der österreichische Bundespräsident Fischer nahm an der Eröffnungszeremonie teil. Diese österreichische Note war kein Zufall: Das Gebäude, das die Nationalbibliothek beherbergt, ist unter österreichisch-ungarischer Herrschaft errichtet worden und hat viele Jahre hindurch als Rathaus der Stadt Sarajevo gedient; daher auch ihre umgangssprachliche Bezeichnung als Vijećnica. Österreich hat sich beim Wiederaufbau engagiert und ist generell in Sarajevo stark präsent; zudem breitet sich unter den bosnischen Muslimen eine ausgesprochene Nostalgie für die Zeit der habsburgischen Herrschaft aus.

Was zeigen die beiden parallelen Episoden in Bezug auf die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Serbien und Bosnien-Herzegowina und allgemeiner hinsichtlich der vorherrschenden Geschichtspolitik? Für Serbien lässt sich konstatieren, dass das offiziell propagierte und vom Großteil der Gesellschaft akzeptierte Geschichtsbild noch nicht im „post-heroischen“ Zeitalter angekommen ist. Gavrilo Princip wird weiterhin als Befreiungsheld erinnert, ihm werden sogar neue Denkmäler gewidmet, wie das kürzlich in Istočno Sarajevo (der in der Republika Srpska gelegene Stadtteil Sarajevos) feierlich enthüllte; dessen realsozialistische Ästhetik eröffnet eine weitere Ebene der mnemotechnischen Kontinuität. Diese Denkmäler, ebenso wie die Inszenierung des Attentats vom 28. Juni 1914 sind eine Reaktion auf die in Serbien herrschende Wahrnehmung, Kräfte im Ausland wollten die Geschichte des Ersten Weltkriegs umschreiben und Serbien vom Opfer zum Täter machen. Entsprechend heftig fielen in Serbien die Reaktionen auf Christopher Clarks Buch „Sleepwalkers“ aus (vielfach ohne Lektüre des Buches, das noch nicht in serbischer Übersetzung vorliegt).2 Ebenso von Politik, nationalen Historikern und Medien heftig kritisiert wurde eine große internationale Tagung zum Ersten Weltkrieg, die im Juni 2014 in Sarajevo stattfand, da dort – so die in Serbien medial breit getretene, gleichwohl falsche Ansicht – Gavrilo Princip vom Helden zum Terroristen umgedeutet werden sollte.3

Geschichte, zumal wenn es sich um Stützpfeiler der nationalen Meistererzählung handelt, wird von den zentralen geschichtspolitischen Akteuren in Serbien noch immer als Ding betrachtet, das es zu verteidigen gilt gegen alle jene Kräfte, die es schon immer mit Serbien schlecht meinten. Diese wollen „uns“ nun auch noch die Geschichte rauben, nachdem sie Serbien in den letzten Jahrzehnten bereits so ungerecht behandelt haben; eine solche Angst vor Identitätsverlust wird von patriotischen Intellektuellen, Politikern und ihren medialen Sprachrohen häufig artikuliert. Es ist bezeichnend, dass die größte Tagung zum Ersten Weltkrieg in Belgrad von den Trutzburgen des ethnonationalen Geschichtsbewusstseins ausgerichtet wurde – unter der unvermeidlichen Schutzherrschaft des Patriarchen Serbiens: Die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, die Akademie der Wissenschaften und Künste der Republika Srpska und die Matica Srpska luden zu einer Konferenz zum Thema „Die Serben und der Erste Weltkrieg“.4

Andererseits war die Terminierung der Wiedereröffnung der bosnischen Nationalbibliothek auf den 28. Juni kein Akt der politischen Klugheit. Denn dadurch wurde fast zwangsläufig das Gedenken an den Krieg der 1990er Jahre mit jener an den Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht, obwohl diese beiden Kriege – außer in der patriotisch verzerrten Wahrnehmung lokaler Akteure – nichts miteinander zu tun haben. Damit ist weder der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gedient noch der bosniakisch-serbischen Versöhnung. Hier ist sogar der Klage der „Politika“, die nahe am Puls der serbischen Regierung publiziert, zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien immer öfter mit den Krieg der jüngsten Vergangenheit in Verbindung gebracht werde – wobei es die „Politika“ nicht unterlassen kann, dahinter dunkle Mächte zu vermuten.5 Dunkle Mächte waren es nicht, sondern vor allem die von Frankreich initiierte und der EU finanzierte Stiftung „Sarajevo – Herz Europas“, die das Gedenken an den Ersten Weltkrieg unglücklicherweise mit den politischen Realitäten Bosnien-Herzegowinas in Zusammenhang brachte. Die Stiftung führt im Jahr 2014 eine Reihe von kulturellen Aktivitäten in Sarajevo durch, mit folgendem hehren Ziel: „The aim of the Foundation is in no way to take a historical stance on the past but rather to promote peace, dialogue and solidarity for a future free from strife.“6 Sarajevo solle erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit stehen, dieses Mal aber als Ort, von dem eine Friedensbotschaft ausgehe.

Die Initiatoren des Unterfangens waren schlecht beraten: In einem Land, wo sich die ethnisch segregierten Parteien nicht einmal auf elementarste Verwaltungsvorschriften einigen, geschweige denn irgendeine gemeinsame Vision für das Land entwickeln können, gleicht eine derart moralisch aufgeladene Mission einer Überforderung der politischen Akteure. Schließlich können deren Sichtweisen auf die Vergangenheit unterschiedlicher nicht sein; dabei bricht sich die Interpretation des Ersten, ebenso wie des Zweiten Weltkriegs, an dem noch lebendigen Gedächtnis des Bosnienkrieges der 1990er, dessen Aufarbeitung innerhalb des Landes in den ethnonationalen Denkschablonen stecken geblieben ist. Kaum eine politische Frage wird in Bosnien-Herzegowina nicht mit dem Krieg und dessen Resultaten in Verbindung gebracht – angesichts radikal divergenter Erfahrungen führt das zu ebensolchen Wahrnehmungen und Erwartungen. Das gilt nicht nur für in die Zukunft gerichtete politische Projekte, sondern auch – und gerade – die Geschichtspolitik. Dabei legen die politischen Akteure und ihre Vorfeld-Intellektuellen große Kreativität an den Tag, auch vermeintlich unbestrittene Ereignisse zum Gegenstand konfligierender, an den aktuellen Interessen orientierter Interpretationen zu machen. Auf ein so epochales Ereignis wie das Attentat von Sarajevo trifft dies umso mehr zu: Ziehen viele Serben Bosniens eine Kontinuitätslinie von der österreichisch-ungarischen „Fremdherrschaft“ bis zum heutigen ungeliebten bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat, so sehen Bosniaken eine Verbindung von Gavrilo Princip bis Srebrenica.

Die Praktiken des Erinnerns des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina im Gedenkjahr 2014 illustrieren die Reproduktionsmechanismen nationaler, ja nationalistischer Geschichtsnarrative. Auch nach einer Unzahl von international großzügig geförderten Projekten zur Schaffung eines Bewusstseins für die Gemeinsamkeit der Geschichte, um Empathie für die Sichtweise der jeweils anderen zu generieren, dominiert ein mythisches Geschichtsbild, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine untrennbare Verbindung bringt und die Nation als Akteur und Organ der Geschichte begreift. Hauptgrund dafür ist die politische Instrumentalisierung von Geschichte: Politische Akteure geben bei den als für die eigene Nation schicksalhaft postulierten Ereignissen die Interpretationen vor; die zentralen Institutionen der historiographischen Produktion – gerade in Serbien, aber nicht nur dort – sind fest in der Hand von Vertretern einer patriotischen Geschichtsschreibung. Internationale Versöhnungsinitiativen können sich in einer solchen Konstellation als kontraproduktiv erweisen, wenn sie historische Fragen mit aktuellen politischen Debatten verbinden. Damit provozieren sie nicht nur Verteidigungshaltungen, sondern leisten genau jener Vergegenwärtlichung und Politisierung von Geschichte Vorschub, die einer nüchternen Sicht der Dinge entgegensteht.

  1. Adelheid Wölfl: „Kein gemeinsames Gedenken in Sarajevo“, Der Standard, 17.6.2014.
  2. Christopher Clark. The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2014.
  3. Zum Programm der Tagung, die vom IOS mitorganisiert wurde, siehe: http://konferencija2014.com.ba/.
  4. Für das Programm siehe: http://www.sanu.ac.rs/Projekti/Skupovi/2014WWI-1.pdf.
  5. „Revizija prošlosti u režiji velikih sila“, Politika, 27.6.2014.
  6. http://www.sarajevosrceeurope.org/purpose.html.

 

 

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/221

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August 1914, von Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich (Artikel des dt.-fr. Albums des Ersten Weltkrieges, Mission du Centenaire / DHIP)

 

Das Deutsche Historische Institut Paris und die Mission du centenaire bieten seit November 2013 gemeinsam ein „deutsch-französisches Album über den Ersten Weltkrieg“ an1. Alle 14 Tage werden zwei Dokumente zum Ersten Weltkrieg publiziert, die von einem deutschen und einem französischen Historiker in ihrem jeweiligen Kontext in den beiden Sprachen dargestellt werden. Im August veröffentlichen wir die Dokumente und deren Erläuterungen hier im Blog “La Grande Guerre”.

Titelseite der "Berliner Morgenpost" am 4. August 1914 : "Frankreich greift an !", DHM, DG 90/6403.14 / Titelseite der "Matin" am 4. August 1914 : "L'Allemagne déclare la guerre à la France", BNF Titelseite der “Berliner Morgenpost” am 4. August 1914 : “Frankreich greift an !”, DHM, DG 90/6403.14 / Titelseite der “Matin” am 4. August 1914 : “L’Allemagne déclare la guerre à la France”, BNF

 

Le Matin vom 3. August 1914, von Jean-Jacques Becker

„Deutschland erklärt Frankreich den Krieg”. In Großbuchstaben zog sich diese Überschrift über die gesamte Titelseite der Le Matin, einer der größten französischen Zeitungen der damaligen Epoche. Das Blatt berichtete, dass der deutsche Botschafter Paris um 10.10 Uhr am Abend verlassen hatte (damals sprach man, anders als heute, noch nicht von 22.10 Uhr). Die Zeitung erzählte vom letzten Treffen des französischen Ratspräsidenten, René Viviani, und des deutschen Botschafters, Wilhelm von Schoen. Letzterer hatte die deutsche Kriegserklärung übergeben nachdem französische Flugzeuge deutsche und belgische Gebiete bombardiert hatten. Dies war in Wirklichkeit frei erfunden. Für den Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich gab es ganz andere Gründe. So trug ein anonymer Leitartikel in der ersten Spalte beispielsweise den Titel: „Der heilige Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei”.

Die in Großbuchstaben geschrieben Ankündigung der Kriegserklärung war allerdings keineswegs überdimensioniert. Ganz im Gegenteil: Die Buchstaben waren verhältnismäßig klein, was auch dafür spricht, dass die deutsche Kriegserklärung niemanden wirklich überraschte. Seit einigen Tagen – und wirklich erst seit einigen Tagen – war man sich sicher, dass der europäische Krieg Wirklichkeit werden würde.

Wie konnte es soweit kommen? Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es immer wieder Spannungen auf der internationalen Bühne gegeben. Vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, insbesondere im Bezug auf Marokko. Frankreichs Bedürfnis, sich dieses Gebiet anzueignen, und Deutschlands Wille, sich einen Teil davon für sich selbst zu sichern, hatten zwei schwere Krisen ausgelöst: Eine erste im Jahre 1905, eine zweite 1911, die auch als Panthersprung nach Agadir bekannt wurde, und damals bereits in einen Krieg zu münden drohte. Für zusätzliche Spannungen sorgten darüber hinaus die „Balkankriege”, in denen zwar weder Deutschland noch Frankreich Hauptakteure waren, die aber unmittelbare Auswirkungen auf ihre Verbündeten – Österreich-Ungarn und Russland – hatten.

Darüber hinaus wuchsen die Spannungen 1913 im Rahmen der französischen Diskussionen um das Gesetz, das die Dauer des Wehrdienstes auf drei Jahre ausweiten sollte. Ziel war es, auf die Stärkung der aktiven militärischen Kräfte Deutschlands zu reagieren. Dies geschah übrigens im Kontext der Balkankriege und nicht im Hinblick auf Frankreich!

Insgesamt betrachtet gab es zwei Gruppen von Staaten, die sich einander gegenüberstanden: Auf der einen Seite der Dreibund – Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Auf der anderen Seite die Triple Entente – Frankreich, Russland und Großbritannien. Doch trotz dieser zwei entgegengesetzten Bündnisse – deren Zusammenhalt im Übrigen nicht immer unproblematisch war – ließ sich Anfang des Jahres 1914 eine gewisse Entspannung der internationalen Beziehungen beobachten. Dafür spricht beispielsweise, dass im Januar 1914 erstmals seit 1871 wieder einmal ein französischer Staatspräsident – Raymond Poincaré –  an einem Empfang in der deutschen Botschaft teilnahm. Gewiss darf man dies nicht überbewerten, aber es handelte sich dennoch um ein deutliches Zeichen.

Dann aber sollte sich der „Unfall” ereignen. Am 28. Juni 1914 gelang es einer Gruppe junger nationalistischer Serben, den Erben der österreich-ungarischen Krone – Erzherzog Franz Ferdinand –, und seine Gattin, die Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo während eines offiziellen Besuches zu ermorden. Aufgrund einer Streckenänderung ist dies fast als Zufall zu werten. In Bosnien-Herzegowina, dessen Hauptstadt Sarajewo war, lebten hauptsächlich Slawen, Serben, Kroaten… Seit 1878 aber hatte Österreich-Ungarn es besetzt, und wenige Jahre vor dem Mordanschlag – 1908 – annektiert.

Serbien hatte mit diesem Attentat im Grunde gar nichts zu tun, auch wenn die Verschwörer dort helfende Hände gefunden hatten. Vielmehr wollte Österreich-Ungarn endlich einmal ein Land bezwingen, das sich ihm gegenüber ganz bewusst aggressiv zeigte. Dem aber hatte sich Deutschland – der mächtige Bündnispartner Österreich-Ungarns – stets widersetzt. Nach dem Attentat ließ Deutschland dann aber einfach geschehen, was geschehen sollte. Genau das mündete in einen verheerenden Teufelskreis, der sich nicht nur zu einer „lokalen” Auseinandersetzung entwickelte, wie es sich die Hauptakteure vorgestellt hatten, sondern zu einem europäischen, und in gewisser Weise auch einem weltweiten Krieg, zumal sich die Kampfhandlungen ausweiteten, je mehr der Krieg auch die unterschiedlichen Kolonialreiche der europäischen Großmächte mobilisierte.

Die einzelnen Schritte auf dem Weg zum Krieg lassen sich recht einfach nachvollziehen: Das slawische und orthodoxe Russland eilte dem kleinen und ebenfalls slawischen und orthodoxen Serbien zu Hilfe. Angesichts der von Russland ausgehenden Gefahr konnte Deutschland Österreich-Ungarn nicht im Stich lassen und leitete den Schlieffen-Plan ein. Für den Fall eines Krieges gegen den russischen „Riesen” sah dieser vor, dass man erst einmal Russlands Bündnispartner – Frankreich – besiegen müsse. Darüber hinaus wusste man, dass der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien den Kriegseintritt Großbritanniens nach sich ziehen würde. Zwischen dem Ultimatum, das Österreich-Ungarn Serbien am 23. Juli stellte, und dem Kriegseintritt Großbritanniens am 4. August vergingen 14 Tage (!). In diesen zwei Wochen hatte Österreich am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt, Russland seine allgemeine Mobilmachung am 30. Juli, und Deutschland und Frankreich am 1. August verkündet – mit nur wenigen Minuten Zeitunterschied…

Unter den politischen Führungsspitzen in Europa gab es eigentlich niemanden, der sich diesen Krieg wirklich gewünscht hatte, zumindest nicht dieses Ausmaß. Einige bemühten sich sogar darum, den Frieden aufrechtzuerhalten. Beispiele hierfür sind der Telegramm-Wechsel zwischen dem russischen Zar Nikolaus II. und dem deutschen Kaiser Wilhelm II, aber auch die langanhaltenden Bemühungen von Niklaus II., die russische Mobilmachung zu verhindern. Diesbezüglich ist auch daran zu erinnern, dass Wilhelm II seinen Generalstab fragte, warum man Frankreich angreifen müsse, obwohl es doch von diesen Balkan-Angelegenheiten gar nicht direkt betroffen wäre…

Der Druck, der von den Militärkreisen der unterschiedlichen Länder ausgeübt wurde, war sicherlich entscheidend. Die Generalstäbe waren der Überzeugung, dass ein möglicher Krieg angesichts der ganz besonders modernen Waffen schlicht und einfach von kurzer Dauer sein und jede Verzögerung bei der Mobilisierung und der Aufstellung der Armeen äußerst verheerende Folgen haben würde. Bei mindestens drei Kriegsteilnehmern aber spielte auch der von den Öffentlichkeiten ausgeübte Druck eine wichtige Rolle, darunter Serbien, Österreich-Ungarn und Russland. In Bezug auf Russland betraf dies vor allem die Stadtbevölkerung, nicht die unzähligen Bauern.

Letzten Endes aber darf vor allem Folgendes nicht vergessen werden: Zum damaligen Zeitpunkt gab es in keinem einzigen der betroffenen Länder einen oder mehrere Staatsmänner, die in der Lage gewesen wären, einen Weg zu finden, um diesem Teufelskreis Einhalt zu gebieten, der in einen Krieg mündete, der in gewisser Weise tatsächlich zufällig ausbrach.

Jean-Jacques Becker, Emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Paris Ouest Nanterre La Défense.

Aus dem Französischen übersetzt

Berliner Morgenpost vom 4. August 1914, von Gerd Krumeich

Der Tag des 4. August 1914 steht für den Beginn eines weltweiten Krieges. Russland und Deutschland befanden sich bereits seit dem 1. August im Krieg und am 3. August erfolgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich. An eben diesem 4. August trat England in den Krieg gegen Deutschland ein. An diesem Morgen, als die hier besprochene Ausgabe der Berliner Morgenpost erscheint, liegt Beklommenheit und Nervosität in der Luft, genauso wie eine gewisse Kriegsbegeisterung, so wie es schon zu oft beschrieben wurde. Die Morgenpost war eine eher konservativ ausgerichtete Zeitung, ganz im Gegensatz zum Berliner Tageblatt, das noch heute für seine hellsichtigen und kritischen Artikel des Chefredakteurs, Theodor Wolff, bekannt ist. Die Morgenpost war jedoch das ganze Gegenteil davon. Als Zeitung des Hofes und der Konservativen redete sie ganz und gar deren Sprache.

In der linken Spalte auf der Titelseite wird an alle Angriffe erinnert, die Frankreich gegen Deutschland vorgenommen hätte, das bis zur letzten Minute versucht hätte, den Frieden zu bewahren. Die Rede ist vom Vorrücken französischer Soldaten, gegen die Zusage Frankreichs, seine Truppen in einem Abstand von zehn Kilometern von der Grenze zu halten. In der Tat hatte die französische Regierung General Joffre, dem Oberbefehlshaber der Armee, angewiesen, solche Manöver zu vollziehen. Joffre ereiferte sich über diese Anweisung. Denn insgesamt gesehen war die Pufferzone von zehn Kilometern in der weisen Absicht eingerichtet worden, der Welt zu zeigen, dass Frankreich nur vorhatte, „den geheiligten Boden des Vaterlandes“ zu verteidigen. Aber für Deutschland war es ebenso wichtig, sich in einem Zustand der Notwehr zu erachten, da seine Soldaten, in der großen Mehrheit Zivilisten in Uniform, genau wie die in Frankreich, nur einen Krieg zur nationalen Verteidigung im Auge hatten.

In der rechten Spalte der besagten Titelseite der Berliner Morgenpost wird bereits vom deutschen „Weißbuch“ gesprochen, dass Kanzler Bethmann Hollweg wenige Stunden später dem Reichstag vorlegen wird. Dieses „Weißbuch“ ist das Erste aus einer Serie von „Regenbogenbüchern“, welche die Handlungen der jeweiligen Regierungen rechtfertigen, wobei sie der Gegenseite verbrecherische Handlungen unterstellen. Diese Bücher erscheinen in den ersten Monaten des Krieges in allen kriegsteilnehmenden Staaten (das französische „Gelbbuch“ allerdings erst im November). Das deutsche „Weißbuch“, auf welches in der Zeitung hingewiesen wird, konzentriert sich in seinem ersten Teil auf den Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und seinem Cousin, dem Zaren Nikolaus II.. Dem Letzteren wird profunde Böswilligkeit unterstellt, da er noch von der Möglichkeit eines Friedens redet, während Russland schon die allgemeine Mobilmachung veranlasst hat. Es war daher erforderlich, dass Deutschland sich gegenüber der russischen Aggression, die der durchweg „treulose“ Zar verheimlichen wollte, verteidigt.

Die Verteidigungsbereitschaft, eine Schutzbehauptung, die während der Dauer des Weltkrieges ständig wiederholt wird, nämlich, Deutschland führe nur einen Verteidigungskrieg gegen eine angriffslustige Welt, ist Thema der Plenarsitzung des Reichstags vom 4. August 1914, von der die Morgenpost in dem Artikel auf der Titelseite spricht. Unter der Schlagzeile „Einberufung des Reichstags. Es gibt keine Parteien mehr“, wird an diesem Morgen des 4. August vorausgesagt, was wenige Stunden später tatsächlich eintreffen wird. Konkret gesagt, die Beteuerung und Bestätigung der Einheit der Nation: Es gibt keine Parteien mehr und Wilhelm II. übernimmt diese Phrase wenig später in seiner bekannten Rede vom Balkon des Berliner Schlosses: Angesichts des Krieges sagt er: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Es war diese Proklamation eines Burgfriedens, durch das Parlament und durch den Kaiser, die zur erstaunlichen „Ruhe im Parteienzwist“ führte, welche der in Frankreich proklamierten Nationalen Allianz vollkommen entsprach.

Tatsächlich haben, wie in der Morgenausgabe der vor diesen Ereignissen erscheinenden Zeitung berichtet wird, die sozialistischen Blätter im gesamten Land schon am Tag vorher angekündigt, dass angesichts eines von den Russen im Bund mit den Franzosen aufgezwungenen Krieges, die deutschen Sozialisten zur Verteidigung der Nation bereit sein werden. Es entspricht der gleichen Geisteshaltung, die in Frankreich die Rede von Léon Jouhaux am Grab von Jaurès beflügelte, der an diesem 4. August sagte: „Sie haben Jaurès umgebracht, aber wir werden Frankreich nicht ermorden.“ Genauso reden die deutschen Sozialisten, Internationalisten, vollkommen überzeugt, wie ihre vor kurzer Zeit noch gewesenen französischen Genossen und Freunde, mit einer Stimme: „Wir werden Deutschland nicht ermorden.“

Die Kriegsbegeisterung, die so oft betont wie kritisiert wird, existierte wirklich: Dieses Bewusstsein und diese Offenkundigkeit, mit der alle im Einklang dachten und fühlten. Man wollte von den alten Gegensätzen nichts mehr wissen und selbst der Kaiser beteuerte, er würde es nicht mehr hinnehmen, dass die Juden geschmäht, die Protestanten die Katholiken als „Papisten“ verspotteten, und dass die letzteren weiter behaupteten, die Protestanten hätten die Einzige und Wahre Kirche verraten. Alle gemeinsam, vorwärts, zur Verteidigung der Nation …Ihre Zeitgenossen haben dieses einmütige Erbeben nie vergessen. Dieser Geist, obwohl er nicht lange Bestand hatte, existierte wohl an diesem 4. August 1914. Der Tag, an dem der Enthusiasmus zur Verteidigung der Nation in einem Krieg mündete, der das alte Europa der Nationen und den Fortschritt verschlingen sollte.

Gerd Krumeich,  Emeritierter Professor für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Heinrich Heine Düsseldorf.

Aus dem Französischen übersetzt

  1. Weitere Informationen: http://dhdhi.hypotheses.org/2067

 

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1654

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