Wenn nach 100 Jahren die Kriegstoten wieder ein Stimme bekommen

Annika Röttinger war eine der Organisatorinnen der bereits angekündigten Veranstaltung in Bückeburg am 13. März. Sie hat uns ihre Gedanken zur Vorstellung bereitgestellt und wir wollen diese mit euch teilen. 

„Die Schlacht dauert immerzu, dann mal stärker, dann mal schwächer, die Kugeln pfeifen Tag und Nacht.“, schreibt Ludwig Faudt am 10. November 1914, im Schützengraben liegend. Über 100 Jahre später erklingt seine Stimme im Museum Bückeburg. „Die Kugeln pfeifen Tag und Nacht.“ Mich hat dieser Satz aus seiner Feldpost schon von Anfang an berührt, seit wir die Briefe im Seminarraum der Uni das erste Mal gelesen haben. Aber heute Abend, da dieser Satz in die gespannte Stille der vielen Zuhörer hineingesprochen wird, wo er gleichermaßen der Titel der Lesung ist, da berührt er mich noch mehr.

Die lange Vorbereitung auf die Lesung, die gerade für ein kleines Orga-Team eine besondere Belastung darstellt, ist endlich zum Ende gekommen. Alles ist erledigt, jeder auf seiner Position und es kann losgehen. Das Museum ist noch voller als erwartet. In der ersten Reihe sitzt Hans Faudt, der Neffe der beiden Brüder Carl und Ludwig, deren Briefe wir heute vorlesen. Ich stehe an meinem Platz und frage mich, was er wohl empfinden mag. Wundere mich, welch glückliche Umstände es waren, unter denen wir die Briefe gefunden haben. Und sorge mich ein wenig, ob wir dem Ganzen gerecht werden können.

Eine engelsgleiche hohe Stimme stimmt „Ein feste Burg ist unser Gott“ an, sie singt jenen Kirchenchoral, welcher die Brüder 1914 bei der Mobilmachung begleitet hat. Heute leitet dieses Lied unsere Lesung ein und verfehlt seine Wirkung nicht. Der kleine Saal wird mucksmäuschenstill und verfolgt aufmerksam die Schicksale der beiden Bückeburger Brüder.

Bäckerei der Familie Faudt
Bäckerei der Familie Faudt

„Wenn ich nach Hause komme, kann ich euch noch unendlich viel erzählen.“, schreibt Ludwig, und mir wird es ganz anders. Bei der Generalprobe am Nachmittag hatte ich schon eine Gänsehaut, aber nun ist die Atmosphäre eine viel dichtere und ich empfinde alles viel intensiver.

„Bald mehr.“, schreibt auch Carl an seine Eltern, und ich weiß, dass dem nicht so ist. Mehr wird nicht kommen, mehr wird Carl nicht schreiben. Und sobald dieser Satz verstummt ist, erklingt ein weiterer Choral und eine weiße Grabkerze wird für ihn entzündet. Manche Zuhörer wischen sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Auch ich muss meinen Kloß, den ich im Hals habe, herunterschlucken.

„Teile euch mit, dass ich noch gesund und munter bin.“, schreibt Ludwig kurz darauf in seinem letzten Brief, drei Tage vor seinem Tod. Wieder ein Choral, noch eine Kerze und jedem wird in diesem Moment bewusst, dass die Eltern bereits im ersten Kriegsjahr beide Söhne verloren haben.

Zu jedem vorgelesenen Kondolenzbrief, den die Familie erhält, wird eine rote Grabkerze entzüdet und gesellt sich zu den beiden weißen. Als sich die Lesung dem Ende neigt, ist der kleine Sims, auf dem die Photos von Carl und Ludwig stehen, voller Kerzen.

Tosender Applaus. Auf meiner Seite überwiegen vor allem Erleichterung und Dankbarkeit.

Eine so herrliche, gespannte und aufmerksame Stimmung wünscht man sich für jede Veranstaltung, rechnet aber eigentlich nicht damit. Die Resonanz war durchweg positiv, egal, mit wem wir gesprochen haben. Wir hatten im Museum noch eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Familie Faudt auf die Beine gestellt, welche auch sehr, sehr gut aufgenommen wurde.

Herr Faudt bedankte sich nach der Lesung noch einmal bei uns Studierenden und meinte, durch diese Lesung wären Carl und Ludwig wieder ein Stück weit zum Leben erweckt worden. Ein bewegender Gedanke, wie ich finde, da es sich für mich genauso anfühlt. Aus den Briefen ist so viel herauszulesen und wenn man sich so lange mit dem Leben der beiden beschäftigt, fühlt man doch arg mit, wenn sie dann „wieder“ sterben.

Heute Abend kam alles zusammen. Die Stimmen der Brüder, die Ausstellung zu deren Leben, die Anwesenheit ihrer Nachfahren. Es fühlte sich an, als würden sich einzelne Puzzlestücke zusammensetzen und die Geschichte einen Abschluss finden.

Quelle: http://zeitraeume.hypotheses.org/298

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Weimar und das Kino – Zwischenbilanz eines Lehrprojekts

Die aktuelle Diskussion um den Mehrteiler „Tannbach“ im ZDF zeigt wieder einmal auf, dass Geschichte und Film (egal ob im Kino oder im Fernsehen) häufig eine besonders eingängige, aber auch besonders umstrittene Verbindung eingehen. Abseits der berechtigten Diskussionen um TV-Dokumentationen … Weiterlesen

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/134

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Weihnachten, die Popkultur und der Erste Weltkrieg

Christmas Truce - der Weihnachtsfrieden - ist in die Popkultur schon lange angekommen. Der Film "Merry Christmas" (Trailer) von 2005 machte diese Episode des Ersten Weltkriegs noch einmal einem breiten Publikum bekannt. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit: zu Weihnachten 1914 kam es an einigen Stellen der Westfront zu einer spontanen Waffenruhe. Aber auch über den Film hinaus ist der Weihnachtsfriede als Symbol von Menschlichkeit mitten im Krieg zu einem starken Narrativ geworden. Paul McCartney behandelte ihn in seinem Song "Pipes of Peace" und spielte auch im dazugehörigen Video auf ihn an.  McCartney selbst stellt in dem Musikvideo sowohl einen deutschen als auch einen englischen Soldaten dar, was wohl auch mit der Botschaft verbunden ist, dass auf beiden Seiten Männer kämpften, die sich gar nicht so stark von einander unterschieden. Dies macht auch der Songtext deutlich:

Help them to see (help them to see)
That the people here are like you and me, (you and me)
Let us show them how to play, (how to play)
The pipes of peace (pipes of peace)

Im 1990 von der Band The Farm veröffentlichten Song "All together now" dreht sich ebenfalls alles um den Weihnachtsfrieden. Anstatt eines Reenactments der Szenen wie in McCartneys Video setzt das Video zum Song darauf, dass neben dem Leadsänger auch alte Männer das Lied singen und somit den Anschein von Veteranen des Ersten Weltkriegs erwecken:

Remember boy that your forefathers died
Lost in millions for a country's pride
But they never mention the trenches of Belgium
When they stopped fighting and they were one

A spirit stronger than war was at work that night
December 1914 cold, clear and bright
Countries' borders were right out of sight
When they joined together and decided not to fight

Diese Zeichnung vom Weihnachtsfrieden erschien am 9. Januar 1915 in der Illustrated London News mit der Bildunterschrift: "Saxons and Anglo-Saxons fraternising on the field of battle at the season of peace and goodwill: Officers and men from the German and British trenches meet and greet one another—A German officer photographing a group of foes and friends."  Bild: public domain

Diese Zeichnung vom Weihnachtsfrieden erschien am 9. Januar 1915 in der Illustrated London News mit der Bildunterschrift: "Saxons and Anglo-Saxons fraternising on the field of battle at the season of peace and goodwill: Officers and men from the German and British trenches meet and greet one another—A German officer photographing a group of foes and friends."
Bild: public domain

Auch heute noch ist das Andenken an den Weihnachtsfrieden in der britischen Gedenkkultur stark verankert. Anfang des Jahres 2014 kritisierte der damalige britische Bildungsminister Michael Gove u.a. die Fernsehserie Blackadder dafür, dass sie und andere "left-wing academics" seien, die "all too happy to feed those myths by attacking Britain’s role in the conflict"1 wären. Er spielte damit auf die 4. Staffel von Blackadder an, die unter dem Titel "Blackadder Goes Forth" lief und die in der letzten Folge auf den Weihnachtsfrieden anspielt: Der Protagonist Captain Edmund Blackadder spricht davon an einem der Fußballspiele während des Weihnachtsfriedens teilgenommen und sogar ein Tor geschossen zu haben, das aber als Abseits gewertet worden sei.

Die Fußballspiele werden in der Gedenkkultur ebenfalls immer wieder referenziert. Am vergangenen Mittwoch fand deswegen in Erinnerung an diese im britischen Aldershot ein Fußballspiel zwischen dem British Army Representative Team und einer Auswahl von Bundeswehrsoldaten unter dem Titel 'Game of Truce' statt. Die Briten gewannen 1:0 gegen die deutsche Auswahl. Aber nicht nur im offiziellen Gedenken - das Fußballspiel wurde von der Royal British Legion veranstaltet - spielt der Weihnachtsfriede eine Rolle. Im Gedenkjahr 2014 hat der Erste Weltkrieg in Großbritannien von außen betrachtet eine viel gewichtigere Rolle eingenommen als in Deutschland, wo sich gelegentlich der Verdacht aufdrängt, dass sich die Debatte darüber in erster Linie im Feuilleton abspielt.

In Deutschland würde zumindest keine Supermarktkette darauf kommen, den Ersten Weltkrieg für ihre Weihnachtswerbung zu benutzen wie es die britische Kette Sainsbury's tat und damit eine Debatte darüber auslöste, ob man mit dem Ersten Weltkrieg werben dürfe. In der Weihnachtswerbung sieht man den britischen Soldaten Jim und den deutschen Soldaten Otto während des Weihnachtsfriedens. Es beginnt mit dem Singen von Silent Night bzw. Stille Nacht, worauf schließlich der britische Soldat Jim unbewaffnet ins Niemandsland läuft und der deutsche Soldat Otto dafür sorgt, dass nicht auf ihn geschossen wird. Schließlich trauen sich alle aus den Schützengräben. Deutsche Soldaten rasieren im Niemandsland einigen britischen Soldaten die Bärte und auch ein Fußballspiel findet statt. Nach Beendigung des Friedens sind beide in ihre Stellungen zurückgekehrt, wo der deutsche Soldat Otto in seiner Manteltasche die Weihnachtsschokolade des britischen Soldaten Jim findet. Beendet wird die Werbung mit dem Satz "Christmas is for Sharing". Die Schokolade, die in der Werbung gezeigt wird, verkauft Sainsbury's aktuell auch in seinen Läden. Die Einnahmen aus den Verkäufen kommen der Royal British Legion zu Gute.

Das Video wurde in Großbritannien stark rezipiert und auch kritisiert. Während die einen die Werbung positiv aufnahmen

A great depiction of the Christmas truce in 1914: Sainsbury's OFFICIAL Christmas 2014 Ad http://t.co/jvcLcnYHhs

— Marshall Neufeld (@MarshallNeufeld) November 25, 2014

sahen andere die Werbung mit kritischeren Augen. Ally Fogg, Autor bei The Guardian, fand, die Werbung würde den Ersten Weltkrieg und dessen hohe Opferzahlen schmälern. Und stellte zugleich die Frage:

"Would we welcome an advert next Christmas showing a touching little scene between a Jewish child and a disabled child in Auschwitz, swapping gifts for Christmas and Hanukah on their way to the gas chambers? I would hope not, yet I fail to see any great moral difference."2

Und auch sein Kollege Andrew Critchlow von The Telegraph sieht in der Werbung eine kommerzielle Ausschlachtung des Ersten Weltkriegs:

"True, the company’s latest festive commercial is a beautifully shot piece. It could almost be a Hollywood remake of the classic film “All quiet on the Western Front”, except that the important message of war being the most pointless waste of young life is entirely washed into the background of history by the ad’s real purpose, which is to make Sainsbury’s money."3

Die erste Parodie des Werbespots ist auch bereits online. Das Comedy-Trio "Hot Gulp" machte aus den Soldaten Mitarbeiter von Sainsbury's und dessen Mitbewerber Tesco. Das Fußballspiel findet auf dem Kundenparkplatz mit einem Wirsing als Fußball statt.

Ob es die Fußballspiele während des Weihnachtsfriedens wirklich gegeben hat, ist eine weitere Frage, weil es kaum zeitgenössische Aufzeichnungen über sie gibt und die Erinnerung an sie erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder aufkam. Sainsbury's hält auf seiner offiziellen Webseite dagegen:

“We’ve worked closely with the Imperial War Museum archives, with the [Royal British] Legion and with military historian Taff Gillingham throughout. Every aspect of the production, everything from the depth of the trenches to the insignia on the uniforms is historically accurate. Even the hard biscuit we see the British soldier eating was baked to the original recipe."4

Doch es gibt auch andere Kritikpunkte. Dr. Robert Foley, Deputy Dean of Academic Studies (Research) am King's College London, sieht in der Werbung einige Mythen, gleichzeitig bilde sie aber auch ab, dass man 1914 noch nicht davon ausging, dass der Krieg weitere vier Jahre dauern würde:

"While it may not be the most historically accurate account, the advertisement demonstrates that over Christmas 1914, there was still considerable hope amongst the belligerents."5

Die Mythen, die die Werbung transportiert, sind es auch, mit denen sich Emma McFarnon im Onlineauftritt des BBC Magazins History Extra beschäftigt. Die Werbung vermittele den Eindruck, die jungen Soldaten seien in den Krieg gezwungen worden. Sie mache außerdem in keiner Weise deutlich, weshalb der Krieg nach dem kurzen Waffenstillstand über Weihnachten weiterging. Darüber hinaus würde die Stellung des Weihnachtsfriedens überbewertet. Die Forschung sei sich heute einig, dass es nicht an der gesamten Westfront zu solchen Verbrüderungsszenen gekommen sei. Vielmehr seien sie vereinzelt und unabhängig voneinander aufgetreten.

"So the advert is accurate, but for very few soldiers. It is a snapshot presented as a panorama. In reality, the truce can be localised to just one or two battalions."6

Sagt Mark Connelly, Professor für Modern British Military History an der University of Kent in McFarnons Artikel.

Dr. Emma Hanna, Senior Lecturer in History an der University of Greenwich, sieht in einem Gastbeitrag für das Blog der University of Kent in Sainsbury's Werbung eine gute Möglichkeit, um Forschungserkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen:

"This shows that historians shouldn’t be afraid of the sometimes yawning gap between history and myth. Sometimes, bizarrely, the gap isn’t as wide as we might think, and as the Sainsbury’s advert is just short of 14 million views since it was launched 3 weeks ago, we as historians should engage with the conversation about what the history and memory of the truce means to us in the history of 1914-1918."7

Aber auch in Deutschland wird in diesem Jahr an den Weihnachtsfrieden erinnert. Während die großen Supermarktketten ihn in ihrer Werbung aussparen, hat er seinen Platz in Deutschland in den Medien und bietet damit zum Abschied vom Gedenkjahr 2014 ein versöhnliches Narrativ.

  1. http://www.telegraph.co.uk/news/10548303/Michael-Gove-criticises-Blackadder-myths-about-First-World-War.html
  2. http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/nov/13/sainsburys-christmas-ad-first-world-war
  3. http://www.telegraph.co.uk/comment/personal-view/11228839/Has-Sainsburys-1914-Christmas-truce-ad-exploited-memory-of-war.html
  4. http://inspiration.sainsburys-live-well-for-less.co.uk/about-our-christmas-tv-ad/
  5. http://defenceindepth.co/2014/12/17/the-significance-of-the-sainsburys-christmas-truce-advertisement/
  6. http://www.historyextra.com/news/first-world-war/sainsbury%E2%80%99s-christmas-truce-advert-%E2%80%98confuses-understanding%E2%80%99-first-world-war
  7. http://blogs.kent.ac.uk/gateways/tag/sainsburys-christmas-advert-2014/

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1866

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Weihnachten, die Popkultur und der Erste Weltkrieg

Christmas Truce - der Weihnachtsfrieden - ist in die Popkultur schon lange angekommen. Der Film "Merry Christmas" (Trailer) von 2005 machte diese Episode des Ersten Weltkriegs noch einmal einem breiten Publikum bekannt. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit: zu Weihnachten 1914 kam es an einigen Stellen der Westfront zu einer spontanen Waffenruhe. Aber auch über den Film hinaus ist der Weihnachtsfriede als Symbol von Menschlichkeit mitten im Krieg zu einem starken Narrativ geworden. Paul McCartney behandelte ihn in seinem Song "Pipes of Peace" und spielte auch im dazugehörigen Video auf ihn an.  McCartney selbst stellt in dem Musikvideo sowohl einen deutschen als auch einen englischen Soldaten dar, was wohl auch mit der Botschaft verbunden ist, dass auf beiden Seiten Männer kämpften, die sich gar nicht so stark von einander unterschieden. Dies macht auch der Songtext deutlich:

Help them to see (help them to see)
That the people here are like you and me, (you and me)
Let us show them how to play, (how to play)
The pipes of peace (pipes of peace)

Im 1990 von der Band The Farm veröffentlichten Song "All together now" dreht sich ebenfalls alles um den Weihnachtsfrieden. Anstatt eines Reenactments der Szenen wie in McCartneys Video setzt das Video zum Song darauf, dass neben dem Leadsänger auch alte Männer das Lied singen und somit den Anschein von Veteranen des Ersten Weltkriegs erwecken:

Remember boy that your forefathers died
Lost in millions for a country's pride
But they never mention the trenches of Belgium
When they stopped fighting and they were one

A spirit stronger than war was at work that night
December 1914 cold, clear and bright
Countries' borders were right out of sight
When they joined together and decided not to fight

Diese Zeichnung vom Weihnachtsfrieden erschien am 9. Januar 1915 in der Illustrated London News mit der Bildunterschrift: "Saxons and Anglo-Saxons fraternising on the field of battle at the season of peace and goodwill: Officers and men from the German and British trenches meet and greet one another—A German officer photographing a group of foes and friends."  Bild: public domain

Diese Zeichnung vom Weihnachtsfrieden erschien am 9. Januar 1915 in der Illustrated London News mit der Bildunterschrift: "Saxons and Anglo-Saxons fraternising on the field of battle at the season of peace and goodwill: Officers and men from the German and British trenches meet and greet one another—A German officer photographing a group of foes and friends."
Bild: public domain

Auch heute noch ist das Andenken an den Weihnachtsfrieden in der britischen Gedenkkultur stark verankert. Anfang des Jahres 2014 kritisierte der damalige britische Bildungsminister Michael Gove u.a. die Fernsehserie Blackadder dafür, dass sie und andere "left-wing academics" seien, die "all too happy to feed those myths by attacking Britain’s role in the conflict"1 wären. Er spielte damit auf die 4. Staffel von Blackadder an, die unter dem Titel "Blackadder Goes Forth" lief und die in der letzten Folge auf den Weihnachtsfrieden anspielt: Der Protagonist Captain Edmund Blackadder spricht davon an einem der Fußballspiele während des Weihnachtsfriedens teilgenommen und sogar ein Tor geschossen zu haben, das aber als Abseits gewertet worden sei.

Die Fußballspiele werden in der Gedenkkultur ebenfalls immer wieder referenziert. Am vergangenen Mittwoch fand deswegen in Erinnerung an diese im britischen Aldershot ein Fußballspiel zwischen dem British Army Representative Team und einer Auswahl von Bundeswehrsoldaten unter dem Titel 'Game of Truce' statt. Die Briten gewannen 1:0 gegen die deutsche Auswahl. Aber nicht nur im offiziellen Gedenken - das Fußballspiel wurde von der Royal British Legion veranstaltet - spielt der Weihnachtsfriede eine Rolle. Im Gedenkjahr 2014 hat der Erste Weltkrieg in Großbritannien von außen betrachtet eine viel gewichtigere Rolle eingenommen als in Deutschland, wo sich gelegentlich der Verdacht aufdrängt, dass sich die Debatte darüber in erster Linie im Feuilleton abspielt.

In Deutschland würde zumindest keine Supermarktkette darauf kommen, den Ersten Weltkrieg für ihre Weihnachtswerbung zu benutzen wie es die britische Kette Sainsbury's tat und damit eine Debatte darüber auslöste, ob man mit dem Ersten Weltkrieg werben dürfe. In der Weihnachtswerbung sieht man den britischen Soldaten Jim und den deutschen Soldaten Otto während des Weihnachtsfriedens. Es beginnt mit dem Singen von Silent Night bzw. Stille Nacht, worauf schließlich der britische Soldat Jim unbewaffnet ins Niemandsland läuft und der deutsche Soldat Otto dafür sorgt, dass nicht auf ihn geschossen wird. Schließlich trauen sich alle aus den Schützengräben. Deutsche Soldaten rasieren im Niemandsland einigen britischen Soldaten die Bärte und auch ein Fußballspiel findet statt. Nach Beendigung des Friedens sind beide in ihre Stellungen zurückgekehrt, wo der deutsche Soldat Otto in seiner Manteltasche die Weihnachtsschokolade des britischen Soldaten Jim findet. Beendet wird die Werbung mit dem Satz "Christmas is for Sharing". Die Schokolade, die in der Werbung gezeigt wird, verkauft Sainsbury's aktuell auch in seinen Läden. Die Einnahmen aus den Verkäufen kommen der Royal British Legion zu Gute.

Das Video wurde in Großbritannien stark rezipiert und auch kritisiert. Während die einen die Werbung positiv aufnahmen

A great depiction of the Christmas truce in 1914: Sainsbury's OFFICIAL Christmas 2014 Ad http://t.co/jvcLcnYHhs

— Marshall Neufeld (@MarshallNeufeld) November 25, 2014

sahen andere die Werbung mit kritischeren Augen. Ally Fogg, Autor bei The Guardian, fand, die Werbung würde den Ersten Weltkrieg und dessen hohe Opferzahlen schmälern. Und stellte zugleich die Frage:

"Would we welcome an advert next Christmas showing a touching little scene between a Jewish child and a disabled child in Auschwitz, swapping gifts for Christmas and Hanukah on their way to the gas chambers? I would hope not, yet I fail to see any great moral difference."2

Und auch sein Kollege Andrew Critchlow von The Telegraph sieht in der Werbung eine kommerzielle Ausschlachtung des Ersten Weltkriegs:

"True, the company’s latest festive commercial is a beautifully shot piece. It could almost be a Hollywood remake of the classic film “All quiet on the Western Front”, except that the important message of war being the most pointless waste of young life is entirely washed into the background of history by the ad’s real purpose, which is to make Sainsbury’s money."3

Die erste Parodie des Werbespots ist auch bereits online. Das Comedy-Trio "Hot Gulp" machte aus den Soldaten Mitarbeiter von Sainsbury's und dessen Mitbewerber Tesco. Das Fußballspiel findet auf dem Kundenparkplatz mit einem Wirsing als Fußball statt.

Ob es die Fußballspiele während des Weihnachtsfriedens wirklich gegeben hat, ist eine weitere Frage, weil es kaum zeitgenössische Aufzeichnungen über sie gibt und die Erinnerung an sie erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder aufkam. Sainsbury's hält auf seiner offiziellen Webseite dagegen:

“We’ve worked closely with the Imperial War Museum archives, with the [Royal British] Legion and with military historian Taff Gillingham throughout. Every aspect of the production, everything from the depth of the trenches to the insignia on the uniforms is historically accurate. Even the hard biscuit we see the British soldier eating was baked to the original recipe."4

Doch es gibt auch andere Kritikpunkte. Dr. Robert Foley, Deputy Dean of Academic Studies (Research) am King's College London, sieht in der Werbung einige Mythen, gleichzeitig bilde sie aber auch ab, dass man 1914 noch nicht davon ausging, dass der Krieg weitere vier Jahre dauern würde:

"While it may not be the most historically accurate account, the advertisement demonstrates that over Christmas 1914, there was still considerable hope amongst the belligerents."5

Die Mythen, die die Werbung transportiert, sind es auch, mit denen sich Emma McFarnon im Onlineauftritt des BBC Magazins History Extra beschäftigt. Die Werbung vermittele den Eindruck, die jungen Soldaten seien in den Krieg gezwungen worden. Sie mache außerdem in keiner Weise deutlich, weshalb der Krieg nach dem kurzen Waffenstillstand über Weihnachten weiterging. Darüber hinaus würde die Stellung des Weihnachtsfriedens überbewertet. Die Forschung sei sich heute einig, dass es nicht an der gesamten Westfront zu solchen Verbrüderungsszenen gekommen sei. Vielmehr seien sie vereinzelt und unabhängig voneinander aufgetreten.

"So the advert is accurate, but for very few soldiers. It is a snapshot presented as a panorama. In reality, the truce can be localised to just one or two battalions."6

Sagt Mark Connelly, Professor für Modern British Military History an der University of Kent in McFarnons Artikel.

Dr. Emma Hanna, Senior Lecturer in History an der University of Greenwich, sieht in einem Gastbeitrag für das Blog der University of Kent in Sainsbury's Werbung eine gute Möglichkeit, um Forschungserkenntnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen:

"This shows that historians shouldn’t be afraid of the sometimes yawning gap between history and myth. Sometimes, bizarrely, the gap isn’t as wide as we might think, and as the Sainsbury’s advert is just short of 14 million views since it was launched 3 weeks ago, we as historians should engage with the conversation about what the history and memory of the truce means to us in the history of 1914-1918."7

Aber auch in Deutschland wird in diesem Jahr an den Weihnachtsfrieden erinnert. Während die großen Supermarktketten ihn in ihrer Werbung aussparen, hat er seinen Platz in Deutschland in den Medien und bietet damit zum Abschied vom Gedenkjahr 2014 ein versöhnliches Narrativ.

  1. http://www.telegraph.co.uk/news/10548303/Michael-Gove-criticises-Blackadder-myths-about-First-World-War.html
  2. http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/nov/13/sainsburys-christmas-ad-first-world-war
  3. http://www.telegraph.co.uk/comment/personal-view/11228839/Has-Sainsburys-1914-Christmas-truce-ad-exploited-memory-of-war.html
  4. http://inspiration.sainsburys-live-well-for-less.co.uk/about-our-christmas-tv-ad/
  5. http://defenceindepth.co/2014/12/17/the-significance-of-the-sainsburys-christmas-truce-advertisement/
  6. http://www.historyextra.com/news/first-world-war/sainsbury%E2%80%99s-christmas-truce-advert-%E2%80%98confuses-understanding%E2%80%99-first-world-war
  7. http://blogs.kent.ac.uk/gateways/tag/sainsburys-christmas-advert-2014/

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1866

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Not All Quiet on the Ottoman Fronts – Der Erste Weltkrieg im Fokus des Orient-Instituts Istanbul

Von Raoul Motika

2014 jährt sich der Beginn einer der größten Menschheitskatastrophen zum hundertsten Mal. Dieses traurige Jubiläum nahmen das Orient-Institut (OI) Istanbul und die Historische Stiftung (Tarih Vakfı), der unabhängige türkische Historikerverband, zum Anlass, mittels einer internationalen Konferenz eine wissenschaftliche Neubewertung der Geschehnisse an den „osmanischen Fronten“ und den Entwicklungen im und um das Osmanische Reich zu versuchen. In der europäischen und US-amerikanischen Wissenschaft kommen die Kriegsregionen außerhalb (West-)Europas kaum vor. Die Ost- und Südfronten, insbesondere der Vordere Orient inklusive der Kaukasusfront, wurden trotz ihrer großen Bedeutung für den allgemeinen Kriegsverlauf und ihrer weitreichenden Folgen weitgehend ignoriert und nur als Verlängerung des „europäischen“ Krieges betrachtet. In der Türkei selbst, wie auch in vielen anderen kriegsteilnehmenden Ländern, überwiegen nationale oder gar nationalistische Sichtweisen auf den Krieg, die sich auch in der Geschichtsschreibung widerspiegeln. Außerdem dominiert noch immer eine militärhistorische und diplomatiegeschichtliche Herangehensweise an die Kriegsgeschichte. Die Konferenz „Not All Quiet on the Ottoman Fronts“, die vom 8.–12. April 2014 an der Istanbul Bilgi Universität stattfand, hatte sich daher zum Ziel gesetzt, den Fokus auf die osmanischen Fronten im Norden, Osten und Süden zu richten, die nationalen/nationalistischen Sichtweisen durch eine bewusst transnationale Ausrichtung aufzuweichen und die nicht-militärgeschichtlichen Aspekte in den Vordergrund zu stellen. 

Einheiten der osmanischen Armee vor dem Angriff auf den Suezkanal (1914).

Einheiten der osmanischen Armee vor dem Angriff auf den Suezkanal (1914).

Höhepunkte der Konferenz
Die internationale Resonanz auf die Bekanntmachung der Konferenz übertraf alle Erwartungen. Nur ein Drittel der Bewerbungen konnte nach einem sorgfältigen Selektionsprozess durch das Organisationskomitee der Konferenz, das sich aus ausgewiesenen Historikerinnen und Historikern führender Istanbuler Universitäten, dem französischen Forschungsinstitut IFEA (Institut Français d’Etudes Anatoliennes) und dem OI Istanbul zusammensetzte, für einen Vortrag ausgewählt werden. Der hohe Stellenwert der Konferenz für die türkische Wissenschaftslandschaft, die insbesondere durch die Fritz Thyssen Stiftung und das Goethe-Institut Istanbul gefördert wurde, zeigte sich auch in der Mitträgerschaft durch führende Istanbuler Universitäten, wie der Istanbul Bilgi Universität, der Bosporus Universität, der Istanbul Sehir Universität und der Sabancı Universität sowie durch IFEA. Zahlreiche weitere türkische, deutsche und internationale Institutionen beteiligen sich an der Konferenz durch von ihnen organisierte und finanzierte Panels oder, wie das Goethe-Institut Istanbul, durch eigene Beiträge.

Auftakt der Konferenz war ein gemeinsam veranstalteter Empfang mit dem deutschen Generalkonsulat Istanbul am Abend des 8. April, an dem der bekannte Türkeihistoriker Erik-Jan Zürcher (Universität Leiden) einen Festvortrag hielt, der inzwischen als Institutspublikation in der Reihe Pera-Blätter vorliegt. Weitere Höhepunkte der Konferenz waren die zweite Thyssen Vorlesung, diesmal mit Jay Winter (Yale University), ein Rahmenvortrag durch den türkischen Historiker Mete Tunçay und eine Podiumsdiskussion zu neuen Wegen der Weltkriegsforschung. Im Rahmen der Konferenz hatte auch die französische Botschaft zu einem Empfang geladen. Des Weiteren wurde gemeinsam mit der Bosporus-Universität ein Diskussionsabend mit führenden türkischen Schriftstellern und Filmschaffenden zum Verhältnis von Kunst und Krieg veranstaltet, und das Goethe-Institut organisierte ein dokumentarisches, mehrsprachiges Theaterstück mit anschließendem Empfang auf dem Soldatenfriedhof der ehemaligen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya.

Die über achtzig Vorträge in zwei parallelen Sektionen mit Teilnehmenden aus den USA, Europa, dem Vorderen Orient und natürlich der Türkei waren hervorragend besucht. Insgesamt nahmen etwa fünfhundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der fünftägigen Konferenz teil. Auch durch vororganisierte Panels führender Wissenschaftseinrichtungen, unter anderem aus Paris, London und Chicago, konnte die Konferenz eines ihrer Hauptziele, die Diskussion zwischen der internationalen und der türkischen Wissenschaft zu intensivieren und neue Kooperationen anzuregen, vollständig erreichen. Große Aufmerksamkeit fand auch die Präsentation der in enger Kooperation mit verschiedenen Instituten der Max Weber Stiftung unter Federführung von Oliver Janz (Freie Universität Berlin) vorbereitete International Online Encyclopaedia of the First World War.

In die Weltkriegskonferenz integriert war mit Jay Winters Vortrag auch die auf insgesamt vier Jahre angelegte Vortragsreihe der Thyssen Vorlesungen zum Thema „The Great War Beyond National Perspectives“. Die von der Fritz Thyssen Stiftung großzügig unterstützte Reihe verfolgt das Ziel, international bekannte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Ersten Weltkrieg jenseits der Nationalgeschichte beschäftigen, in die Türkei einzuladen und ihnen mit den hiesigen Kolleginnen und Kollegen einen fruchtbaren Dialog zu ermöglichen. Gerade das Aufeinandertreffen der häufig stark differierenden Sichtweisen soll die internationale wissenschaftliche Diskussion fördern und zur weiteren Herausbildung einer gut vernetzten Forschungsgemeinschaft beitragen. So sehr auf der türkischen Seite aus nachvollziehbaren Gründen die Nationalgeschichte im Vordergrund steht, so wenig ist vielen westeuropäischen und US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die osmanische und türkische Geschichte bekannt, weswegen auch dort oft Stereotype vorherrschen.

Ein internationales Netzwerk zur Weltkriegsforschung 

Auftaktredner der Reihe war der bekannte Historiker Gerd Krumeich, der bereits im Herbst 2013 in Kooperationsveranstaltungen mit der Sabancı Universität in Istanbul und der Dokuz Eylül Universität in Izmir zum Thema „Kriegsimagination, Erfahrung und Erinnerung: Vom Krieg der Großmächte zur globalen Katastrophe“ gesprochen hatte. Eingeleitet wurden die Vorträge, denen eine rege Diskussion folgte, jeweils von bedeutenden türkischen Historikern der kooperierenden Universitäten. Grundsätzlich finden die Vorträge jeweils abwechselnd an einer von drei führenden Istanbuler Universitäten und an einer Universität außerhalb Istanbuls statt. Kooperationspartner ist dabei immer die Historische Stiftung (Tarih Vakfı) der Türkei. Die Fritz Thyssen Stiftung unterstützt mit der Finanzierung dieses Veranstaltungsformats das OI Istanbul bei seiner Integration in die türkische Wissenschaftslandschaft. Auch kann es dadurch seine Brückenfunktion zwischen deutscher, internationaler und türkischer Wissenschaft und sein wissenschaftliches Netzwerks über Istanbul hinaus ausbauen. Im November sprach der Berliner Weltkriegshistoriker Oliver Janz an der Bosporus-Universität in Istanbul und an der Abant Izzet Baysal Universität im nord-anatolischen Bolu zu den globalen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs. Neben diesen öffentlichen Aktivitäten verfolgt das OI Istanbul auch mehrere Forschungsprojekte vorwiegend zur Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs, beispielsweise anhand eines bisher unbekannten, umfangreichen Privatarchivs eines östereichisch-ungarischen Istanbulers, den es an die Palästina-Front verschlagen hatte, oder einer großen Sammlung von Postkarten französischer Soldaten, die im Rahmen der Schlacht an den Dardanellen oder während der Besetzung Konstantinopels/Istanbuls nach Kriegsende vor Ort waren.

Raoul Motika wurde 2010 zum ersten Direktor des nunmehr selbstständigen Orient-Instituts Istanbul ernannt. Seit 2006 ist er Professor für Turkologie an der Universität Hamburg. Seine derzeitigen Forschungsinteressen konzentrieren sich auf die zeitgenössische Türkei und die jüngere Geschichte des Landes, spätosmanische Geschichte und aktuelle religiöse Entwicklungen in der turko-iranischen Welt und Europa.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1860

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#wbgavie | Barbara Zeitelhack: NDig – Neuburg und der große Krieg. Ein Pilotprojekt zur Stadtgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Gastbeitrag von Barbara Zeitelhack (Neuburg an der Donau) anlässlich des Workshops „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, der am 10. November 2014 in Wien stattfindet.

Bereits vor einigen Jahren, während der Arbeit an einer „Kleinen Stadtgeschichte“, hatten die Autoren des Bändchens diskutiert, ein Blog zur Geschichte der Stadt und des ehemaligen Fürstentums Neuburg zu starten. In der Publikation konnten viele Themen nur angerissen werden, die Quellen- und Literaturrecherche hatte umfangreiches und interessantes Material zu Tage gefördert, das häufig schwer oder nicht mehr zugänglich war, aber wichtige Impulse für eine neue stadtgeschichtliche Forschung geben konnte. Diese schien uns (den Autoren) zugunsten der Forschung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg/Junge Pfalz arg vernachlässigt. Weiteres Movens waren die vielfältigen Möglichkeiten, die ein von verschiedenen lokalen Kulturinstitutionen getragenes Blog bietet: bessere Öffentlichkeitsarbeit, Hinweise auf aktuelle Veranstaltungen, Publikation von Aufsätzen und Vorträgen (die so oft am fehlenden Geld scheitert), Hinweise auf Quellen und Literatur und nicht zuletzt die Möglichkeit, digitalisierte Archivalien der Forschung und allen an der Lokalgeschichte Interessierten zugänglich zu machen. Unterschätzt hatten die Initiatoren allerdings den schwierigen Prozess der Abstimmung zwischen den verschiedenen potentiellen Trägern und deren unterschiedliche Vorstellungen über die Inhalte des Blogs. Aus vielen (nicht zuletzt finanziellen) Gründen wurde die Idee nicht realisiert, blieb aber virulent.

Den Anlass für einen thematisch „verschlankten“ Neubeginn lieferte das von Maria Rottler initiierte Blog „HistBav“ und ihr Hinweis auf das nichtkommerzielle wissenschaftliche Blogportal hypotheses.org. Im Sommer 2014 konstituierte sich ein institutionell unabhängiges Redaktionsteam und erarbeitete ein neues Konzept. Thema des Blogs sind stadtgeschichtliche Forschungen am Beispiel der Garnisons- und ehemaligen Residenzstadt Neuburg an der Donau im 19. und 20. Jahrhundert. Untersucht werden sollen sämtliche Bereiche des städtischen Alltags. Zunächst wird der Fokus auf der Zeit des Ersten Weltkriegs liegen. Neben der Publikation von Forschungsergebnissen wird auf Veranstaltungen bzw. aktuelle Entwicklungen aufmerksam gemacht. Getragen wird das Vorhaben von einer Arbeitsgruppe (Historiker, die zur Stadtgeschichte Neuburg arbeiten), ist aber offen für alle Interessenten, besonders solche aus lokalen und regionalen Kultur- und Bildungseinrichtungen. Inzwischen sind erste Inhalte eingestellt (und die Mitglieder der Arbeitsgruppe freuen sich – dank Frau Rottlers Hilfe – über eigene Fortschritte in der digitalen Welt).

NDig. Neuburg und der große Krieg. Ein Pilotprojekt zur Stadtgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert: http://neuburg.hypotheses.org

NDig

Barbara Zeitelhack ist Leiterin des Stadtarchivs Neuburg an der Donau.

Quelle: http://bioeg.hypotheses.org/785

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#wbgavie | Andrea Rönz: Archiv und Stadtgeschichte im Web 2.0 – Das Blog des Stadtarchivs Linz am Rhein

Gastbeitrag von Andrea Rönz (Stadtarchiv Linz am Rhein) anlässlich des Workshops „Bloggen in Geschichtswissenschaft und Archivwesen“, der am 10. November 2014 in Wien stattfindet.

Stadtarchiv Linz am Rhein

Der Aufbau eines Blogs für das Stadtarchiv Linz am Rhein war der letzte Schritt hin zu einer breit aufgestellten Präsentation des Archivs in den sozialen Netzwerken. Bereits seit der Einrichtung einer Facebook-Seite im März 2011 ist das Stadtarchiv im Web 2.0 vertreten und war diesbezüglich einer der Vorreiter im deutschsprachigen Archivwesen. Im Dezember 2011 wurden die Web 2.0-Aktivitäten auf Google+ und Twitter ausgedehnt und des Weiteren ein YouTube-Kanal eingerichtet. Denn die sozialen Netzwerke bieten optimale niedrigschwellige und zugleich kostengünstige Möglichkeiten für die interne und externe Kommunikation – gerade auch für kleinere Archive (das Stadtarchiv Linz wird nur nebenamtlich an einem Tag pro Woche und von nur einer Person betreut). Einen Überblick über die Web 2.0-Aktivitäten des Stadtarchivs Linz bietet die Präsentation „Facebook & Co. – Potentiale sozialer Netzwerke für die Öffentlichkeitsarbeit von Ein-Personen-Archiven“:

 

Ziel war und ist es, durch Social Media einen Eindruck von den Aufgaben und der Bedeutung des Stadtarchivs zu vermitteln, die Leidenschaft für die Geschichte und das Archivwesen nach außen zu transportieren, das Archiv über Linz hinaus bekannt zu machen und Kontakt mit anderen Archivaren, Archiven und kulturellen Institutionen zu knüpfen und aufrecht zu erhalten. Die 2005 aufgebaute Internetseite bietet diese Möglichkeiten nicht ansatzweise, denn sie vereinfacht und vor allem beschleunigt durch den Zugriff auf die Online-Findmittel zwar die Arbeitsabläufe enorm und gewährt dadurch auch eine größtmögliche Benutzerfreundlichkeit, ist aber bis auf den Textticker relativ statisch.

 

Allerdings stoßen auch Facebook, Twitter & Co. an ihre Grenzen, wenn es um die Präsentation längerer Inhalte in Text und Bild geht. Aus diesem Grund und auch vor dem Hintergrund der guten Erfahrungen mit dem von der Linzer Stadtarchivarin mitbetreuten 1914-Blog des Landschaftsverbands Rheinland und des derzeit noch in der Entwicklung steckenden Blogs für den Archivtag Rheinland-Pfalz/Saarland kam die Idee zu einem eigenen Blog des Stadtarchivs Linz auf. Die Wahl fiel auch diesmal auf das wissenschaftliche Blogportal hypotheses.org.

 

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Ausschlaggebend für den Weg in die Blogosphäre war der Wunsch, die im Mai 2014 gezeigte Ausstellung „Linz im Ersten Weltkrieg“ auch online zu präsentieren. Denn einerseits konnte aus verschiedenen Gründen begleitend dazu kein kompletter Katalog aufgelegt, sondern lediglich die Ausstellungsplakate in einer Broschüre abgedruckt und andererseits die Ausstellung in ihrem vollen Umfang nur gut eine Woche gezeigt werden. Das Archiv-Blog diente also zunächst als Online-Katalog und wird jetzt in der Folge sukzessive mit Beiträgen zur Stadtgeschichte und weiteren Inhalten, auch zu Archiven & Web 2.0, gefüllt. Dafür werden auch von der Stadtarchivarin ursprünglich für Printpublikationen wie Pressemitteilungen, Artikel für das Heimatjahrbuch oder Broschüren erstellte Texte verwendet, die alle mehr oder weniger brachliegen, längst vergriffen bzw. nicht mehr abrufbar sind und so zu neuem Leben erweckt und verbreitet werden. Die erfreulichen Zugriffszahlen und das positive Feedback zeigen, dass sich der Schritt gelohnt hat.

 Stadtarchiv Linz am Rhein

 

Andrea Rönz M.A., 1994-1999 Studium der Germanistik und Mittleren und Neueren Geschichte in Bonn, seit 2004 Leiterin des Stadtarchivs Linz am Rhein. Betreut die Social-Media-Auftritte des Stadtarchivs auf Facebook, Google+, Twitter und YouTube sowie das Blog des Stadtarchivs, zählt zu den Administratoren der Blogs „Archivtag Rheinland-Pfalz/Saarland“ und „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“.

 

Quelle: http://bioeg.hypotheses.org/598

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Ausstellung: „Krieg und Propaganda 14/18“

„Es geht um alles“ – so lockt derzeit das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg neue Besuche in seine Hallen. Im Jubiläenjahr 2014 schließt sich auch das MKG dem Gedenken an den hundert Jahre zurückliegenden Beginn des Ersten Weltkriegs an. Seit dem 20. Juni 2014 ist dort die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ zu sehen. Mit über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eröffnet die Ausstellung Einblicke in eine damals neue mediale Manipulation der Massen. – Von Patricia Wiesemann

Die aufwendig gestaltete Ausstellung bietet ihren Besuchern eine reiche Vielfalt unterschiedlicher Propagandamittel. Neben Plakaten, Grafiken und Bildpostkarten sind auch ein breites Spektrum an Fotografien und Zeitungen sowie Alltagsgegenstände wie Kinderspielzeuge zu sehen. Auch historisches Filmmaterial, Tonaufnahmen und zeitgenössische Musik kann im ersten Stock des Museums begutachtet werden. Die über drei Jahre zusammengetragenen Exponate stammen aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, USA, Russland, Italien und Österreich-Ungarn.

Zu Beginn der Ausstellung wird der Besucher direkt in die Propagandaschlacht hineingezogen. Das im Eingang hängende Bild „Over the top“ des australischen Fotografen Frank Hurley zeigt ein Schlachtfeld zuzeiten des Ersten Weltkriegs. Flugzeuge am Himmel, von Explosionen aufgewirbelte Erdmassen, Soldaten in Schützengräben. Eine Momentaufnahme des Krieges. So scheint es – doch das Bild ist nicht echt, eine Fälschung. In Wahrheit handelt es sich um eine Komposition aus zwölf übereinander gelegten Negativen. Der Betrachter sieht sich einer konstruierten Realität gegenüber. Unbewusst wird er dadurch kurzzeitig Teil der manipulierten Masse im Sog der Propagandamaschinerie.

Den Gegner schlecht aussehen lassen

Der Besucher durchläuft zunächst einen Gang, in dem sich deutsche und britische Propaganda gegenüberstehen. Ihr Ziel: die Mobilisierung der Massen. „Helft uns siegen“, „It’s your duty!“ Krieg sei eine feine Sache. So die Botschaft, die im kollektiven Gedächtnis hängen bleiben sollte. Demonstrationen gegen den Krieg gab es offiziell nicht, dafür sorgte die Zensur. Einen positiv geführten Krieg vermarkten und den Gegner schlecht aussehen lassen, so die Vorstellung der Meinungsmacher im Deutschen Reichen, „Das ist der Weg zum Frieden – die Feinde wollen es so! Darum zeichne Kriegsanleihe!“ Dessen Gegner setzten derweil vor allem auf die Dämonisierung des barbarischen „Hunnen“ mit Pickelhaube: „Remember Belgium“, „Beat the Hun with Liberty Bonds“.

 Eine Auswahl von Exponaten aus dem Katalog der Ausstellung. (Für ein Großbildansicht bitte in die Bildmitte klicken)
 
  • Titelblatt der Leipziger „Illustrierten Zeitung“. Ausgabe von 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Titelseite der britischen Illustrierten „The illustrated London News“ Ausgabe vom 23. Januar 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Le plan d’Hindenburg", aus: La Baïonnette, Nr. 101, 7. Juni 1917, von Maurice Neumont / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Daddy, what did you do in the Great War?", Farblithographie von Savile Lumley / Druck: Johnson, Riddle & Co. Ltd., London Victoria and Albert Museum, London / © V & A Images, London
  • "Pour le suprême Effort. Emprunt National" Farblithographie von Marcel Falter 1918 / Druck: Chaix, Paris / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Wir spielen Weltkrieg. Ein zeitgemaßes Buch fur unsere Kleinen" von Ernst Kreutzer um 1915 / Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
  • "I Want You for U.S. Army" 1917 , Aufruf der USA zur Rekrutierung von Soldaten / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Kriegsspielzeug aus dem Jahre 1914. Ein uniformierte Puppe der Firma Steiff GmbH / Spielzeugmuseum Nürnberg / Foto: Christiane Richter
  • Geschicklichkeitsspiel „Die Böse 7“ um 1914 / Altonaer Museum, Hamburg © Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Murmelspiel „Trench Football“ eines unbekannten britischen Herstellers / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Selbstgebauter Holzpanzer aus Holz / Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Eine improvisierte Musikkapelle 1915 / Foto: Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
  • "Go! It`s your duty lad. Join to-day". Eine klare Aufforderung an die Männer in den USA von 1915. / Druck: David Allen & Sons Ltd., Harrow/Middlesex Library of Congress, Washington D.C. Courtesy of Library of Congress, Washington D.C.
  • Charlie Chaplin auf einer Kriegskundgebung in New York 1918 / Otto Bettmann Archive / FPF, Pennsylvania/ © Bettmann / Corbis
  • "Boys Come over here you`re wanted". Das englische Plakat aus London von 1915 buhlt um die Gunst junger Männer / Druck: David Allen & Sons, London / Foto: Maria Thrun
  • "The Hun - his Mark. Blot it Out with Liberty Bonds" fordert die Lithografie aus New York von 1917 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • O, bleibe mein!, - ein deutsche Bildpostkarte aus Berlin vom Juli 1917 / Verlag: Albert Fink, Berlin / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Die Ausstellung zeigt auch Fotografien, Zeitschriften und Bildpostkarten / Foto: Michaela Hille
  • Ausstellungsansicht: Über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt die Ausstellung / Foto: Michaela Hille

 

Diese Gräuelpropaganda, die auch die Versenkung des britischen Schiffes Lusitania und die Erschießung der britischen Krankenschwester Edith Cavell aufgreift, wurde vor allem durch den niederländischen Zeichner und Karikaturisten Louis Raemaekers stark beeinflusst. Dessen Kriegszeichnungen waren derweil so erfolgreich, dass sie während des Krieges in zahlreichen internationalen Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden – sehr zum Ärger der deutschen Reichsführung. Diese übte sich indes in Partizipation der Bevölkerung. Was heute wohl unter den neudeutschen Begriff „Crowdfunding“ fallen würde, fand damals in Massenveranstaltungen als sogenannte „Nagelungen“ von hölzernen Heldenfiguren statt.

Je nach finanziellen Möglichkeiten konnten Nägel unterschiedlichen Materials erworben und in die Holzfigur geschlagen werden. Auch diejenigen, die nicht mit der Waffe kämpften, konnten auf diese Weise etwas zum Krieg beizutragen. So entstand beispielsweise auch der „Isern Hinnerk“ aus Hannover. Darüber hinaus bediente sich die Kriegspropaganda schon im Alltag einfachster Methoden. Spielzeug und Geschichten wie „Max und Moritz – eine Soldatengeschichte“ verdeutlichen, dass der Werbefeldzug bereits im Kinderzimmer begann.

Atmosphärisch und grotesk

Die Ausstellung lässt den Besucher zunächst verschiedene Propagandastationen durchlaufen. Dabei folgt sie dem Narrativ der damaligen Zeit und stellt dadurch eine gewisse Distanz zwischen Objekt und Betrachter her. Sie transportiert allerdings auch eine emotional aufgeladene Atmosphäre, die der Besucher unweigerlich aufgreift. So sollte der Beginn der Ausstellung zu denken geben. Viele Ausstellungsstücke mögen heute grotesk und brachial erscheinen. Im zeitlichen Abstand wird Propaganda häufig mit ihrer für den „modernen“ Betrachter empfundenen Absurdität gleichgesetzt. Das Verbreiten weltanschaulicher Ideen zur Beeinflussung des allgemeinen Bewusstseins oder das Ausnutzen von Vertrauen und Anleiten einer nicht-hinterfragenden Öffentlichkeit erscheint befremdlich.

In hundert Jahren hat sich das Verhältnis zu Staat, Heimat und Vaterland wie auch das Verständnis von Menschlichkeit und Menschenwürde verändert. Mit dem Wandel in Denken und Moral geht auch ein technischer Fortschritt einher, der – oft wenig hinterfragt – unser mediales Zeitalter entscheidend prägt. Alles lässt sich heute minutiös medial-visuell in Form von Bildern begreiflich machen: royales Baby im Blazer, Wrackteile eines abgestürzten Flugzeugs, Kinder im Bombenschutt. Die Macht der Bilder leitet die Emotionen der Öffentlichkeit. Wie bei dem Bild im Eingang der Ausstellung stellt der Betrachter seine Echtheit kaum in Frage, bis er eines Besseren belehrt wird. Was wir sehen, ist real. Wie wirklich aber ist die abgebildete Realität, wie konstruiert ihr Rahmen und was sehen wir alles nicht? Ich denke, also bin ich. Ich seh’s, also stimmt’s?

 Informationen zur Ausstellung:

  • Die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ läuft noch bis zum 2. November im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Steintorplatz, direkt am Hauptbahnhof, Öffnungszeiten: Di-Do 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr).
  • Der Eintritt beträgt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro, donnerstags ab 17 Uhr erhalten alle Besucher ermäßigten Eintritt. Für bis unter 18-Jährige ist der Eintritt frei.
  • Der Katalog zur Ausstellung (224 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe, in deutscher Sprache) ist im Museum für den Kaufpreis von 25 Euro erhältlich.
  • Weitere Informationen zur Ausstellung gibte es auf der Hompage des MKG oder im Medien-Portal der Ausstellung und telefonisch unter 040 / 428 134 – 880.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1675

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Archivkompetenz für Studierende – ein Lehrprojekt zum Ersten Weltkrieg

Wer ab und zu im Archiv arbeitet, kennt vermutlich folgendes Szenario: Ein Eintrag im Findbuch klang vielversprechend für das eigene Thema, sodass man mit Spannung auf die Aushebung wartet. Vielleicht könnte gerade diese Akte das letzte Puzzlestück sein, welches die … Weiterlesen

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/58

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Urkatastrophe oder Katalysator?


Die transregionale Perspektive zeigt: Der Erste Weltkrieg hatte viele Gesichter

Von Isabelle Daniel

„Wissen Sie, wie weit Sydney von Ypern entfernt liegt?“, fragt Christina Spittel in die Runde. Ypern, das ist im Ersten Weltkrieg der Schauplatz für den Einsatz von Giftgas des deutschen Heeres gegen die belgische Bevölkerung. In der Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg steht die belgische Kleinstadt sinnbildlich für eine entgrenzte und totalisierte Kriegsführung. Sydney wiederum ist 1914 die Hauptstadt eines kleinen Teils des riesigen britischen Imperiums, international und politisch ziemlich unbedeutend und vor allem weit, weit weg vom europäischen Schauplatz des Krieges: 16.000 Kilometer.

<p>Sebastian Jobs und Christina Spittel</p>

Sebastian Jobs und Christina Spittel

Hinter der Frage der Literaturwissenschaftlerin verbirgt sich jedoch eine andere, wichtigere: Warum nahmen mehr als 330.000 australische Soldaten freiwillig am Ersten Weltkrieg teil und kämpften an der Seite der britischen Armee? Christina Spittel forscht und lehrt an der University of New South Wales in Canberra, Australien, und ist zum zweiten WeberWorldCafé in das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin gekommen. Hier ist sie eine von 16 so genannten TischgastgeberInnen, die in kleinen Runden mit historisch Interessierten über die Erfahrungen von Zivilgesellschaften verschiedener Regionen im Ersten Weltkrieg sprechen. Acht – grob gezogene – Regionen mit jeweils zwei ExpertInnen sind beim WeberWorldCafé vertreten. „Narrating the First World War from Transregional Perspectives“: Der Titel des WeberWorldCafés hätte kaum allgemeiner ausfallen können. In diesem Fall ist das jedoch auch gut so. Denn transregionale Ansätze mit gleichzeitig zu eng gefasster Fragestellung führen allzu oft dazu, dass unterschiedliche historische Prozesse zwanghaft in dasselbe Muster gepresst werden. Das WeberWorldCafé verfolgte den spiegelverkehrten Ansatz: Die Fragestellung blieb bis zum Ende offen; Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen den Regionen wurden auf diese Weise eher zufällig erarbeitet. Bei einer Veranstaltung mit geschichtswissenschaftlichem Schwerpunkt ist das erfolgversprechend. Denn wo, wenn nicht in der Arbeit mit historischen Quellen, befördert der Zufall sonst die erstaunlichsten Ergebnisse zutage?

Der Erste Weltkrieg als Katalysator
Spittels Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ für die freiwillige Kriegsteilnahme australischer Soldaten hat etwas erschütternd Banales. Eingesetzt wurden die australischen Soldaten vor allem an der Westfront. Um die Truppen dorthin zu bringen, ließ die australische Militärführung Kreuzfahrtschiffe umbauen. Auf dem Weg nach Europa passierten die Schiffe den Suez-Kanal; im britisch kontrollierten Ägypten wurden die Australier vor ihrem Einsatz an der Front in Trainingslagern ausgebildet. „Für die australischen Soldaten war der Weltkrieg auch eine Weltreise“, sagt Spittel. „Er bot die einmalige Möglichkeit, England zu sehen.“ Der enorme Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die Globalisierung, auf das Reisen und etwa auch den zivilen Flugverkehr wird in der Forschung wiederholt hervorgehoben. Und immer wieder wird die eine bemüht: Die Metapher, die den Ersten Weltkrieg zu einem Katalysator erhebt – einem Katalysator für technische, militärische, emanzipatorische, ja: moderne Entwicklungen. War das wirklich so? Lässt sich dem ersten totalen Krieg, mit seinem unermesslichen Ausmaß an Blutvergießen und Gewalt, nachträglich noch etwas Modernisierendes zuschreiben, eine Art Koselleck‘scher Sinn? WeberWorldCafé

Die Ambivalenz des Moderne-Begriffs ist eines der wenigen Phänomene, die in den Diskussionen beim WeberWorldCafé immer wiederkehren. Da ist Valeska Huber vom Deutschen Historischen Institut in London, die zum Nahen und Mittleren Osten während des Ersten Weltkriegs forscht und zusammen mit Fatemeh Masjedi vom Berliner Zentrum Moderner Orient den Expertentisch „Near and Middle East“ betreut. Den Suez-Kanal beschreibt Huber als Mikrokosmos, in dem sich vieles von dem staut, wofür der Erste Weltkrieg – auch – steht: Sie zeigt ein Foto, eine Luftaufnahme einer Uferstelle im Suez-Kanal. Rechts auf dem Bild zu erkennen ist ein Lager für armenische Flüchtlinge, die dem Genozid entkommen konnten. Links daneben erstreckt sich ein großes Ölbecken. Das Foto ließe sich als der Inbegriff dessen bezeichnen, was mit der katalysierenden Wirkung des Ersten Weltkrieges gemeint ist. Als „modernes Flüchtlingslager“ bezeichnet Huber die Aufnahmestelle für die armenischen Flüchtlinge, deren Schicksal in der Türkei bis heute nicht adäquat aufgearbeitet wird. Die Installation erster Ölraffinerien und die Nutzung von Erdöl zu Kriegszwecken während des Ersten Weltkriegs markierten einen weiteren Aspekt, der die Verwobenheit des Ersten Weltkriegs mit der Moderne deutlich macht.

Der Erste Weltkrieg als Stagnation
Doch nicht für alle Regionen treffen diese Beobachtungen zu. Mancherorts war die Zerstörungswut so groß, dass zivilgesellschaftliche Errungenschaften der Vorjahre wenn sogar nicht ausgelöscht, so doch zumindest eingefroren wurden. Juliane Haubold-Stolle hat die Sonderausstellung „1914-1918“ im DHM mitkuratiert und ist Tischgastgeberin für die Region Westeuropa. Das vielzitierte Bild des Ersten Weltkriegs als Emanzipationsbeschleuniger weiß die Historikerin zu relativieren. „Frauenrechtsbewegungen gab es in West- wie Mitteleuropa schon vor dem Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg hat diese Prozesse eher stagnieren lassen als beschleunigt.“ Die Frage nach der Emanzipation – von Frauen, vor allem aber auch von Minderheiten – ist mit dem Ersten Weltkrieg eng verwoben. In vielen Ländern Europas nahmen beispielsweise Juden mit großem Engagement und den entsprechenden Verlusten am Ersten Weltkrieg teil – in der Hoffnung, dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Vor allem die deutschen Juden wurden dabei enttäuscht. Trotz der stetigen Patriotismusbeweise der jüdischen Gemeinden und Verbände zog das antisemitische Konstrukt vom „jüdischen Drückeberger“ seit 1915 immer weitere Kreise. Im Herbst 1916 schließlich gab das preußische Kriegsministerium den Eingaben antisemitischer Verbände nach und ließ das Drückeberger-Gerücht in der sogenannten „Judenzählung“ überprüfen – eine fatale Entscheidung, die von vielen jüdischen Soldaten als diskriminierend empfunden wurde. Vergleichbar ist – auf der anderen Seite der Welt – das Schicksal der Afroamerikaner. Sebastian Jobs, Historiker am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin zeigt ein Foto von aus dem Krieg nach New York zurückkehrenden afroamerikanischen Soldaten, die in der Heimat gefeiert werden. Dazu legt er eine Karikatur aus einer zeitgenössischen schwarzen Publikation, auf der es heißt: „You‘re in the army now, you‘re not behind the plow.“ Es ist eine Referenz auf die versklavten Schwarzen in den Südstaaten und will sagen: Die Tatsache, dass Afroamerikaner in der Army kämpfen, bedeutet das Ende der Geschichte der Sklaverei und eine Anerkennung für die afroamerikanische Bevölkerung. „Afroamerikanern war es zuvor verboten, Waffen zu tragen“, erklärt Jobs. Von vielen sei es als Privileg empfunden worden, im Krieg zu kämpfen. „Der Citizen Soldier hatte etwas Aufwertendes“, resümiert Jobs. Gleichwohl gab es keine gemischten US-amerikanischen Regimenter, und von einer afroamerikanischen Emanzipation konnte auch viele Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Rede sein.

<p>Michelle Moyd</p>

Michelle Moyd

In höchst dramatischer Weise vom Ersten Weltkrieg betroffen war der afrikanische Kontinent. Michelle Moyd von der Indiana University ist Kolonialhistorikerin und forscht zum damaligen Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf diese Region beschreibt Moyd als verheerend. Obwohl auch afrikanische Männer von der deutschen Kolonialmacht gezwungen wurden, im Krieg zu kämpfen – in erster Linie gegen die Kolonialarmee des britischen Empires – begann laut Moyd in den ehemals deutschen Kolonien erst Jahre 1918 der eigentliche Prozess, in dem über die Bedeutung dieses beispiellos brutalen Krieges reflektiert worden sei. „Für Deutsch-Ostafrika war der Erste Weltkrieg eine Art Verstärkung bereits zuvor gekannter Kämpfe – allerdings in einer völlig anderen Größenordnung.“ Das Fehlen einer gemeinsamen Fragestellung des WeberWorldCafés zum Ersten Weltkrieg mag kohärente Diskussionen an den verschiedenen Tischen verhindert haben. Dieser Zugriff ermöglichte aber ein Resümee, das der historischen Wahrheit vielleicht am nächsten kommt und das Moderator Sebastian Conrad von der Freien Universität Berlin treffend formulierte: „Aus einer globalen Perspektive auf den Ersten Weltkrieg verbietet sich jede Generalisierung.“

Zur Autorin: Isabelle Daniel promoviert an der Technischen Universität Berlin zum Thema “Antisemitismus in den Medien der Weimarer Republik“ und hat das WeberWorldCafé als Science Reporterin begleitet.

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/498

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