Neu Delhi und Kampala sind überall. Vielleicht nicht in München, okay. Aber selbst am beschaulichsten Ort der Welt lassen sich Unsicherheit und Krise kaum noch verdrängen. Klimawandel, Finanzkollaps, Islamischer Staat: Die Politik hetzt von einer Herausforderung zur nächsten, getrieben von der Aufmerksamkeitslogik der Medien, omnipräsent und scheinbar ohnmächtig zugleich. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Diskutieren? So knapp wie die Luft in Kampala und der Lebensraum in Neu Delhi.
„Schneller als die Demokratie erlaubt?“ fragt der Bayerische Forschungsverbund Fit for Change am 20. November im Münchner Kompetenzzentrum Ethik (18 Uhr, Geschwister-Scholl-Platz 1). Zugespitzt formuliert: Verlangen „Zeiten radikalen Wandels“ andere Formen der Macht und der Entscheidungsfindung? Dauert es nicht viel zu lange, alle zu hören und am Ende doch nur einen Kompromiss zu haben, der keinem wirklich hilft? Und: Braucht es nicht eine starke Frau (oder einen starken Mann), um Dinge durchzusetzen, die jedem Einzelnen wehtun, aber am Ende allen helfen? Auf dem Podium sitzen Julian Nida-Rümelin und Markus Vogt (beide Mitglieder des Forschungsverbunds) sowie Armin Nassehi. Moderation: Franz Mauelshagen.
Um die Herrenrunde zu unterstützen und vorzubereiten, soll schon vorher diskutiert werden – am besten hier in diesem Blog, mit allen, die dazu Lust haben. Basis sind Texte von Hans Jonas und Amartya Sen (Tyrannis vs. Demokratie), Wolfgang Haber und Ute Eser (Nachhaltigkeit und gutes Leben) sowie von Thomas Assheuer, Armin Nassehi und Hartmut Rosa, die sich vor zwei Jahren in der Wochenzeitung Die Zeit über Gesellschaftsdiagnosen gestritten haben. Gemeinsamer Nenner aller drei Debatten: Die Antwort hängt vom Menschenbild ab.
Hans Jonas hat 1979 über den „Vorteil totaler Regierungsgewalt“ nachgedacht, über die „wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis“. Schön. 1979 konnte man das noch – in einem Atemzug nicht nur die „Schattenseite zentralistischer Macht“ erwähnen, sondern auch die Nachteile des „kapitalistisch-liberal-demokratischen Komplexes“. Das „Eigeninteresse der Betroffenen“, meint Jonas, erschwere im „demokratischen Prozess“ das, was eigentlich nötig sei. Seine Lösung: Eliten an die Macht. Bei Amartya Sen sieht die „Zukunftsverantwortung“ (Jonas) 14 Jahre und einen weltgeschichtlichen Wimpernschlag später ganz anders aus. Demokratie, öffentliche Wohlfahrt, Beschäftigungsprogramme. Und Sen hat Fakten: Wenn Geld in Gesundheit und Bildung fließe, gehe es den Menschen besser, und keine Demokratie habe je eine Hungersnot gesehen. Wer herrsche, habe immer genug zu essen. Um die Ärmsten der Armen werde sich nur da gekümmert, wo es eine Opposition gibt, eine halbwegs freie Presse und die Möglichkeit, abgewählt zu werden.
Noch einmal zwei Jahrzehnte später malt Wolfgang Haber (Jahrgang 1925) eher schwarz. Der Mensch wird von ihm auf einen „Urantrieb“ reduziert: „Wie komme ich auf bequeme Weise zu mehr?“ Und: „Was Menschen einmal erfunden und sogar technisch umgesetzt haben, bleibt in der Welt und lässt sich nicht unterdrücken.“ Siehe Kampala. Lieber im Stau stehen und die Luft verpesten als zu Fuß nach Hause gehen. Mit Blick auf das „Wachstum der menschlichen Biomasse“ hält Haber die Idee der Nachhaltigkeit für gescheitert. Wie könnten „künftige Generationen die gleichen Chancen wie die jetzt lebenden haben“, wenn die ohnehin schon zu knappe Fläche weiter schrumpfe? Zu kurz gesprungen, ruft Habers Schülerin Ute Eser, die deutlich jünger ist und vielleicht auch deshalb an „die Vernunftbegabung von Menschen“ glaubt sowie an „ihre Fähigkeit zur Selbstbeschränkung“.
Geht es bei Eser vs. Haber um Ethik und um Normativität, drehen Armin Nassehi und Hartmut Rosa in der Zeit-Debatte das große Soziologen-Rad. Der Anstoß kam von einem Journalisten. Thomas Assheuer hatte tief im „Mausoleum der Geistesgeschichte“ gewühlt und dort die Post-Theorien der 1980er Jahre ausgegraben: Postdemokratie, Postmoderne und Postsozial, Spätkapitalismus, Spätmoderne und Nachgeschichte. Sein Fazit: Der Markt sei „die letzte verbliebene Großmacht der Moderne; er gibt die Kommandos aus und hält mit ‚unsichtbarer Hand‘ die Gesellschaft fest im Griff“. Nassehi vs. Rosa ist dann auf den ersten Blick eine Schlacht aus dem Elfenbeinturm. Das „Jammern der Ewiggestrigen“ (Nassehi über kritische Theoretiker wie Rosa) gegen die „doppelte Armut“ der Systemtheoretiker (Rosa über die „Epigonen Niklas Luhmanns“). So weit, so langweilig.
Spannend ist das, wo sich beide einig sind: Es gibt keine einfachen Lösungen. „Politische Plausibilität muss sich vor einem Publikum bewähren, das womöglich wollen müsste, was es nicht will“, schreibt Nassehi, der auch sonst nicht an die Steuerbarkeit der Gesellschaft glaubt („Widerständigkeit der Gesellschaft für intervenierende Zugriffe“). Der Systemtheoretiker weiß, dass die Politiker um „das wählbarste Versprechen“ wetteifern und damit einer ganz anderen Logik folgen als (zum Beispiel) die Wirtschaft. Bei Rosa wächst der Pessimismus aus der „Steigerungslogik“, der die Moderne seiner Meinung nach folgt. Das Wachstum müsse weitergehen, auch wenn der Mensch heute von der Angst um den Status quo getrieben werde und nicht mehr von der Hoffnung, dass es seinen Kindern besser gehen möge. Wachstum, das den Planeten zerstört und doch keines der großen Probleme lösen zu können scheint. Trotzdem: Rosa glaubt an „die Gestaltbarkeit der Welt“ und an den Menschen, der dies leisten kann. Die Debatte ist eröffnet.
Literatur
Thomas Assheuer: Die Moderne ist vorbei. Die Zeit vom 26. Juli 2012, S. 52.
Ute Eser: Und sie zählen doch! Warum ethische Argumente für den Naturschutz entbehrlich sind. Eine Replik auf Wolfgang Haber. Natur und Landschaft 7/2014.
Wolfgang Haber: Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie. Grünwald 2010, S. 48-65.
Hans Jonas: Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main 1979, S. 262f.
Armin Nassehi: Das „Goldene Zeitalter“ ist vorbei. Die Zeit vom 2. August 2012, S. 50.
Hartmut Rosa: Das neue Lebensgefühl. Die Zeit vom 16. August 2012, S. 52.
Amartya Sen: The Economics of Life and Death. Scientific American, May 1993, S. 40-47.