„… dann muss etwas an der Sache dran sein“

Harald Schmitt

 

 

Harald Schmitt

Harald Schmitt

Harald Schmitt ist einer der bekanntesten deutschen Fotografen des späten 20. Jahrhunderts. Nachdem er sich in den 1970er-Jahren vor allem für die Fotoagentur Sven Simon betätigte,[1] war er seit 1977 festangestellter Fotoreporter des Magazins „stern“, für das er bis 1983 in der DDR arbeitete. Danach fotografierte er weltweit für „stern“-Fotoreportagen. Während seiner Laufbahn erhielt er sechs „World Press Photo Awards“.[2]

In einem Interview mit zwei Studierenden des Public History-Masters der Freien Universität Berlin am 27. Mai 2014 sprach Harald Schmitt über seine Zeit in Ost-Berlin, seine prägendsten Erlebnisse und den Wandel der Fotografie. Das Interview führten Philipp Holt und Anna Schmidt.

 

 

Philipp Holt: Wir haben das Interview in mehrere Kategorien unterteilt. Uns als Geschichtsstudenten interessiert natürlich vor allem Ihre Zeit in der DDR. Wir haben aber auch ein paar Fragen zur Fotografie allgemein und ebenso zu Ihrer Karriere. Wir dachten, wir steigen am besten in der Zeit von 1977 bis 1983 ein, in der Sie für den „stern“ in Ost-Berlin waren. Uns ist aufgefallen, dass die meisten Bilder, die Sie gemacht haben, in Schwarz-Weiß waren. War das eine Entscheidung, die Sie getroffen haben, oder kam die Vorgabe vom „stern“?

 

Harald Schmitt: Eine Farbgeschichte musste vorher von der Chefredaktion angesagt werden. Farbe wurde extra produziert und brauchte auch Wochen Vorlauf. Man konnte nicht so schnell eine Farbgeschichte ins Blatt heben. Es wurde dann vorher gesagt: Wir wollen das aber in Farbe haben.

 

Anna Schmidt: Kann man sagen, welche Geschichten das waren? Was das Besondere an diesen Geschichten war?

 

H.S.: Ja. Das waren dann natürlich keine aktuellen Geschichten. Das war z.B. der Spreewald oder so, also elegische Geschichten, vor allem über die Landschaft.

 

P.H.: Wir haben im Deutschen Historischen Museum die Ausstellung „Farbe für die Republik“ besucht. Dort waren Farbfotos aus der DDR von den zwei Fotografen Martin Schmidt und Kurt Schwarzer ausgestellt. In dem Zusammenhang haben wir diskutiert, welchen anderen Effekt Farbfotografie hat.

 

H.S.: Farbe ist versöhnlicher, nicht? Farbe ist eigentlich angenehmer.

 

P.H.: Wir haben auch mit der Kuratorin Carola Jüllig gesprochen.[3] Sie meinte, dass unser Bild von der DDR schwarz-weiß sei.

 

H.S.: Ja, da hat sie recht.

 

A.S.: Aber würden Sie sagen, dass nicht spezifisch das Bild der DDR, sondern generell das Bild dieser Zeit schwarz-weiß war?

 

H.S.: Es war eigentlich alles Schwarz-Weiß. Es sei denn, man machte eine − es hieß dann immer −„große Farbe“. Dann hatte man auch mehr Zeit, um daran zu arbeiten. Man muss ja mehr auf das Licht achten.

 

P.H.: Wann hat sich das geändert? Ab wann war Farbfotografie die Norm?

 

H.S.: So ab 1983/84. Da gibt es ein gutes Beispiel. Ich habe den Zusammenbruch der Tschechoslowakei fotografiert. Die Bilder sind im „stern“ auch nicht erschienen, weil wir das in Schwarz-Weiß gemacht haben. Da hieß es in der Chefredaktion, es sehe dort ja aus wie in der DDR, weil das von der Anmutung genauso war. Also ist es einfach nicht erschienen, und die Redaktion hat Bilder in Farbe besorgt, die wir gar nicht hatten, weil Farbe nicht angesagt war. Eine Zeit lang haben wir beides gemacht: Wir hatten immer zwei Kameras umgehängt: eine für Farbe, eine für Schwarz-Weiß. Das hat sich aber nicht bewährt, weil man das Foto letztlich immer in der falschen Farbe macht. Also wenn man gerade Farbe fotografiert, denkt man, verdammt, das wäre in Schwarz-Weiß besser gewesen und umgekehrt. Irgendwann hieß es dann: entweder Farbe oder Schwarz-Weiß.

 

A.S.: Sie haben im Seminar[4] erwähnt, dass Sie nicht gerne mit Blitz fotografieren.

 

H.S.: Weil es die Stimmung kaputt macht. Es ist ja eine bestimmte Stimmung im Raum, eine Lichtstimmung. Und mit Blitz fährt man da rein, und dann sieht alles gleich aus. Ich finde es schöner, wenn man die Atmosphäre, die in einem Raum herrscht, noch mit rüberbringt. Das sagt ja auch viel aus. Mit Blitz ist es immer gleich.

 

A.S.: Hatten Sie denn Kontakt zu anderen Fotografen aus der DDR?

 

H.S.: Ja, viel. Zu eigentlich allen, die besser waren. Also zu den bekannteren Fotografen, die z.B. für die „Sibylle“[5] gearbeitet haben.

 

P.H.: Haben Sie große Unterschiede feststellen können, wie deren Arbeitsalltag aussah im Vergleich zu Ihrem?

 

H.S.: Die haben davon profitiert, dass wir uns kannten. Zum Beispiel wäre der Kalender für Interflug nie erschienen, wenn der Fotograf nicht mit mir befreundet gewesen wäre. Denn ich habe die Dias mit nach West-Berlin genommen. Sie wurden dort entwickelt und vergrößert. Anschließend habe ich sie wieder zurück gebracht, und es wurde ein schöner Interflugkalender daraus. Ich habe aber auch von den Fotografen profitiert, weil sie ein unglaubliches Fachwissen hatten, sehr viel wussten vom Background und der Technik aus Frankreich oder Amerika. Sie kannten sich aus, was so passiert in der Welt in ihrem Bereich.

 

A.S.: Gab es viele Journalisten aus dem Westen, die eine ständige Akkreditierung oder ein Visum wie Sie für die DDR hatten?

 

H.S.: Es gab zur gleichen Zeit vielleicht zehn. Und als Fotograf war ich der Einzige. Später kam noch einer dazu, Rudi Meisel.[6] Aber in den ersten Jahren war ich der Einzige, der als Fotograf akkreditiert war.

 

A.S.: Hatten Sie damals auch Anfragen von anderen Zeitschriften?

 

H.S.: Nein, das ging nicht, weil ich beim „stern“ angestellt war. Ich habe auch mal für das Kunstmagazin „art“ fotografiert, das gehörte ja zum gleichen Verlag. Das wurde aber irgendwann untersagt. Für „Geo“ habe ich auch mal etwas gemacht, das wurde mit der Begründung unterbunden, wenn der „stern“ schon das Gehalt bezahlt, kann man nicht für „Geo“ arbeiten, obwohl es im gleichen Haus erscheint.

 

P.H.: Woher haben andere Zeitschriften die Bilder aus der DDR bekommen?

 

H.S.: Wenn eine „stern“-Geschichte erschienen ist, dann wurde sie weltweit angeboten. „Time“, „Newsweek“, „Epoca“ und so weiter. Die haben dann oft die ganze Reportage gekauft. So gingen die Bilder weiter.

 

A.S.: Wie kamen die Fotos von Ost-Berlin nach Hamburg?

 

H.S.: Mit dem Flugzeug. Das war ja noch in der Zeit, als wir nicht digital fotografierten. Ich habe die Filme ins West-Berliner Büro gebracht. Dort hat sie ein Bote abgeholt und nach Hamburg geliefert, wo sie entwickelt wurden. Ich bekam immer einen Abzug zugeschickt. So konnte ich sagen, dass z.B. 79 2 37 Negativ 12 gut zu dem Thema wäre, dann wurde das vergrößert. Das hat auch den Vorteil, dass die Bilder, die ich gemacht habe, alle sehr gut beschriftet sind. Ich glaube, das ist das A und O, das macht kaum ein Fotograf. Manchmal habe ich über mich selbst lachen müssen.

Bei meiner ersten Geschichte war ich in Kreuzberg, das war meine erste Farbgeschichte. Ich habe einen alten Mann fotografiert, der in der Moschee betete. In Hamburg fragte mich Gill,[7] was der da mache. Ich sagte, das sei ein alter Mann, der in der Moschee betet. Er sagte: „Das sehe ich auch. Aber wer kommt denn eigentlich für seinen Unterhalt auf? Zahlt das die Bundesregierung, zahlt das Berlin, schleppen seine Kinder ihn durch? Wovon lebt er? Der wird doch nicht nur beten.“ „Das weiß ich nicht.“ Und er meinte: „Das verstehe ich nicht, dass Sie da nicht nachgefragt haben.“ Seitdem war mir klar, dass es nicht um Blende XY geht, sondern, dass man wissen muss, was man da macht, und nicht nur draufdrückt. Das ist der Unterschied zwischen Fotograf und Fotoreporter, wie wir uns nannten, dass wir Journalisten sind und mehr wissen müssen.

 

P.H.: 1983 wurde Ihr Visum in der DDR nicht mehr verlängert. Wissen Sie genau, warum?[8]

 

H.S.: Das ist eine lange Geschichte. Hauptsächlich ging es um die Hitler-Tagebücher, die im „stern“ erschienen sind. Die sollten aus der DDR kommen. Ich wurde nach Hamburg beordert. Dort hieß es, ich hätte bis nachmittags Zeit, um festzustellen, ob das, was er [Gerd Heidemann] sagt, der Wahrheit entspräche, und wie er an diese Tagebücher gekommen sei. Er hatte behauptet, dass der Leiter des kleinen Heimatmuseums in Börnersdorf[9] diese Tagebücher habe. Sein Bruder sei bei der Staatssicherheit, und wenn herauskäme, von wem er die Bücher bekommen habe, dann würde die Staatssicherheit seine Kinder umbringen. Ich bin von Hamburg mit dem Auto nach Börnersdorf gefahren. Es gab aber nur ein Arbeitermuseum dort, das am ersten Mittwoch des Monats von 16-17 Uhr geöffnet hatte. Irgendwie stimmte das alles nicht. Ich habe dann die Schwester von Konrad Kujau gefunden, der sich damals Fischer nannte, das war die Frau des Heizers aus diesem Museum. Ich habe beide unter Druck gesetzt und ihnen gesagt, dass der Fernseher, der dort stehe, doch vom „stern“ bezahlt worden sei und sie nicht ihren Bruder decken könne. Doch sie hat alles abgestritten und damit gedroht, die Polizei zu rufen. Ich habe ihr gesagt, dass sie es doch sei, die etwas verberge. Hinterher hat sie das der Staatssicherheit gemeldet, ebenso ihr Bruder, bei dem lief das ähnlich ab. Die haben natürlich in ihrer Aussage so getan, als ob sie von nichts wüssten. Aber sie wussten genau Bescheid, was ihr Bruder, also Kujau, gemacht hatte. Das war schließlich der Grund für meine Abberufung.

Dann hatten wir noch ein sogenanntes Attentat auf Erich Honecker.

 

P.H.: Durch Paul Eßling.[10]

 

H.S.: Genau. Und so etwas durfte es im Sozialismus nicht geben, dass man auf das Staatsoberhaupt schießt. Der schreibende Kollege Dieter Bub musste daraufhin das Land verlassen, innerhalb von 48 Stunden. Dies hätte die Schließung des Büros bedeutet, obwohl so etwas nach KSZE-Richtlinien eigentlich nicht möglich gewesen wäre. Dann gab es die Vereinbarung, dass, wenn ich abgezogen werde, zwei neue Leute in die DDR einreisen können. Also wurde ich von Hamburg abberufen. Dementsprechend stimmt es nicht, dass mein Visum nicht verlängert wurde, vielmehr wurde ich auf Druck abgezogen.

 

P.H.: Zu dem sogenannten Attentat selbst: Waren Sie dabei? Haben Sie es gesehen?

 

H.S.: Der schreibende Kollege hatte einen Hinweis bekommen, dass in Klosterfelde angeblich jemand auf Honecker geschossen habe. Die Staatssicherheit hätte denjenigen dann gleich erschossen, hieß es, einen Ofensetzer aus Berlin. Wir haben uns gedacht: Wenn man schon Ofensetzer angibt, dann muss etwas an der Sache dran sein, wenn schon eine Berufsbezeichnung fällt und auch ein genaues Datum. Ich glaube, es war der 31. Dezember. Also haben wir uns einen Mietwagen genommen. Unsere Autos hatten nämlich blaue Nummernschilder anstatt weiße. Jeder Polizist hätte sofort gesehen: Journalist, Westdeutschland − an der Nummernkonstellation QA für die Bundesrepublik und an der Zahl 57 für Journalist. Wir sind nach Klosterfelde gefahren und zum Friedhof gegangen, um zu gucken, wer da am 31. Dezember gestorben ist. Eine alte Frau sagte uns, dass hier einiges los gewesen sei. Der Mann wäre sofort verbrannt worden. Da war uns klar, dass an der Geschichte etwas dran ist. Wir sind in eine Kneipe. Dort haben auch alle erzählt, wie er tot auf der Straße gelegen habe, bis jemand sagte, man solle den Toten endlich abdecken, da die Kinder zeitnah aus der Schule kommen würden. Wir haben auch erfahren, wo die Familie lebte, und sie besucht, um dann die Geschichte zu schreiben. Der Sicherheitschef von Honecker hat 2014 ein Buch geschrieben, das habe ich vor zwei Wochen gelesen. Darin schreibt er, dass Paul Eßling sich selbst gerichtet habe. Wir haben geschrieben, dass die Staatssicherheit ihn erschossen hätte.[11]

 

A.S.: Nun zur Fotografie zurück. Als wir im DHM die Ausstellung „Farbe für die Republik“ besucht haben, kam eine Diskussion auf. Die Kuratorin behauptete, dass die Fotos, die da gezeigt werden, keine Kunst seien.

P.H.: Es gab die Aussage, dass die Fotografen ihre Bilder nicht als Kunstobjekte, sondern einfach als Handwerk verstanden hätten. Uns interessiert jetzt, wie Sie zu Ihrer Arbeit stehen.

 

H.S.: Ich habe das immer auch als Handwerk verstanden. Aber wenn ich sehe, was so alles unter dem Mantel Kunst ausgestellt wird, frage ich mich oft, was denn daran Kunst sein soll. Ich sage es mal so: Ein gutes Reportagefoto zu machen ist schon eine Kunst. Wenn man versucht, in drei Fotos oder fünf − je nachdem, wie viele Bilder veröffentlicht werden − ein komplexes Thema zusammenzufassen und in einem Bild möglichst viel zu erzählen, dann ist das schon sehr, sehr schwer. Und das ist, glaube ich, nicht nur Handwerk. Die meisten Reporter sagen: Das, was wir machen, ist Handwerk, das ist keine Kunst. Aber ich glaube und unterstelle mal, dass man das bewusst sagt, aber etwas anderes denkt.

Es gibt natürlich auch Kunstfotos, die große Klasse sind. Das ist schon eine andere Dimension. Es werden Bilder mit einem Wert von über einer Million Euro gehandelt. Aber die sind wirklich exzeptionell, das hat auch seine Berechtigung.

 

A.S.: Ich habe gelesen, dass Sie nur beim „World Press Photo Award“ teilgenommen haben und bei keinem anderen Fotowettbewerb. Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere daran?

 

H.S.: Das ist das Schwierigste. Man hat Konkurrenz aus mindestens 100 Ländern, es gibt ungefähr 100.000 eingeschickte Bilder. Und wenn man sich da durchsetzt und einen Preis bekommt, dann heißt das schon was. Man kann mit Glück vielleicht einmal gewinnen, man kann mit Glück zweimal gewinnen. Aber so viel Glück kann man dann nicht mehr haben. Es gibt, glaube ich, eine Fotografin, die sieben Preise hat. Mit sechs Preisen gibt es dann schon ein paar, ich weiß nicht, wie viele. Das ist schon sehr schwer. Früher gab es, wenn die Bilder in der Endauswahl gescheitert sind, wenn man sozusagen den vierten, fünften Platz erreicht hat, noch eine Urkunde. Das gibt es seit Jahren nicht mehr. Das freute einen natürlich auch. Dann wusste man, dass man nur knapp gescheitert war. Andere Wettbewerbe haben mich nie interessiert. „World Press“ ist so etwas wie der Oscar für Fotografen.

 

P.H.: Wir haben jetzt viel über die Vergangenheit geredet. Wie hat sich, Ihrer Einschätzung nach, die professionelle Fotografie durch die weite Verbreitung der privaten, technisch sehr versierten Fotografie verändert? Mittlerweile sind gute Kameras für jeden erschwinglich.

 

H.S.: Vor allen Dingen kann es heute jeder, es ist ja kein Beruf mehr. Früher war das ein Beruf, und heute ist es so leicht: Jeder macht seine Fotos mit einem Handy. Die Kameras sind so gut, selbst die billigen Kompaktkameras für 300 Euro machen tolle Bilder. Man drückt drauf und fertig. Aber ein Foto hat keinen Wert mehr. Ganz schrecklich sind diese Selfies, die jetzt jeder von sich selbst macht. Aber das ist halt Mode, dagegen kann man nichts machen. Mir tut das so weh, denn ein Foto zu machen, ist Arbeit. Da steckt richtig viel Arbeit drin, was man, wenn man sich nicht damit beschäftigt, gar nicht weiß. Dann denkt man, der fährt da irgendwo hin, knipst ein bisschen herum und hat dann halt Bildchen gemacht. Aber das ist schon viel mehr. Man ist froh, wenn man jeden Tag ein druckbares Bild macht, und man ist froh, wenn man am Jahresende zwei Bilder hat, die über den Tag hinaus Bestand haben. Alles andere fällt durch den Rost.

 

A.S.: Haben Sie denn ein besonderes Lieblingsbild? Oder mehrere?

 

Kokoschka küsst Zuckmayer (1976)

Alte Freunde: Oskar Kokoschka küsst Carl Zuckmayer – Abzug mit Kokoschkas Widmung (1976)
© Harald Schmitt, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung. Abdruck in: Harald Schmitt: Auf den Punkt – 33 Jahre als Fotoreporter für den „stern“, Addison-Wesley Verlag München 2011, S. 81

H.S.: Das von Kokoschka und Zuckmayer, das ist, glaube ich, mein Lieblingsbild. Weil das so eine Nähe hat: diese Begegnung der beiden alten Männer. Ich habe auch Carl Zuckmayer kurz vor seinem Tod noch einmal getroffen und ein Porträt von ihm gemacht. Als er es erhielt, schrieb er, dass dies das großartigste Altersporträt von ihm sei, das es gäbe. Ich habe ihn vor seinem Tod noch einmal besucht, und es war einfach bewegend.

 

P.H.: Gab es noch eine andere Persönlichkeit, die Sie besonders beeindruckt hat?

 

A.S.: …oder ein Thema?

 

H.S.: Am stärksten berührt haben mich die dioxinverseuchten Kinder in Vietnam.[12] Wir sind mit einer Gruppe aus Düsseldorf hingeflogen. Der Leiter der Organisation hat dort die Kinder ausgesucht, die mit nach Deutschland kommen durften. Und das war das Emotionale: das Aussuchen. Ich selbst habe keine Kinder. Er durfte nur zwölf mitnehmen, und da waren ungefähr hundert. Die Eltern wollten, dass ihre Kinder mitkamen, damit sie wieder gesund werden könnten. Und dann musste man sagen: „Nein, bei dem hat es gar keinen Sinn mehr, weil der sowieso bald stirbt!“ Das hat der Leiter entschieden, wir natürlich nicht. Aber wir standen daneben und redeten abends mit ihm. Manche Eltern nahmen ihn zur Seite und wollten ihm Geld geben. Obwohl der Leiter das Kind erst nicht mitnehmen wollte, nahm er es schließlich doch noch mit, weil es so schwer krank, aber noch zu retten war. Das Geld hat er nicht genommen.

 

Vietnamesisches Kind mit verkrüppelten Armen (1989)

Vietnamesisches Kind mit verkrüppelten Armen (1989)
© Harald Schmitt, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung. Abdruck in: Harald Schmitt: Auf den Punkt – 33 Jahre als Fotoreporter für den „stern“, Addison-Wesley Verlag München 2011, S. 203

Dann hat man plötzlich zehn Kinder und ist mit denen im Flugzeug unterwegs. Sie sitzen in Rollstühlen und können nicht laufen, man trägt sie hinein und heraus aus dem Flugzeug. Wir übernachteten in Bangkok, und die Kinder fuhren nachts Rennen auf dem Flur im Hotel. Das war wirklich sehr schön. Ich glaube, das war die Geschichte, die mich am meisten berührt hat.

 

A.S.: Wenn Sie die Menschen fotografieren, fragen Sie dann vorher um Erlaubnis?

 

H.S.: Nein. Ich fotografiere erst, und dann frage ich. Erst einmal das Foto haben! Früher habe ich das anders gemacht – und bereut: Einmal ging es um Sexualität in Indien. Das ist ein Thema, was nur sehr, sehr schwer zu bebildern ist. Ich habe dort junge Männer fotografiert. Die waren besonders schrecklich, weil sie die jungen Mädchen unter Druck setzten und sagten: „Wenn du nicht mit mir schläfst, dann trenne ich mich von dir!“ Und sobald sie das Mädchen haben, lassen sie es liegen. Für die ist das ein Spiel! Ich hatte diese Männer schon für ein Foto szenisch aufgebaut, da kam der schreibende Kollege. Wir waren am Strand. Er rief: „Da hinten küsst sich ein Paar im Wasser.“ Ich wollte es nicht glauben, das hatte noch keiner in Indien gesehen, dass man sich in der Öffentlichkeit küsst. Es war ein junges Paar, vielleicht so um die dreißig Jahre alt. Sie standen im Wasser, umarmten und küssten sich. Und ich Idiot bin da hin und habe gefragt. Der Mann hätte mich fast umgebracht. Ich vermute mal, er war nicht der Ehemann. Da habe ich mich wirklich geärgert, dass ich nicht erst drauf gedrückt und dann gefragt habe.

 

P.H.: Haben Sie die Rechte an Ihren Bildern?

 

H.S.: Ja, die liegen bei mir. Der „stern“ hat ein Druckrecht, die haben ja alles bezahlt. Aber die Negative liegen bei mir. Das ist ein altes, verbrieftes Recht.

 

A.S.: Herr Schmitt, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

 

[1] Sven Simon war das Synonym von Axel Springer junior.

[2] Der „World Press Photo“-Wettbewerb wird von der 1955 gegründeten „World Press Photo Foundation“ durchgeführt. Einmal im Jahr werden die besten Fotos in zehn Kategorien ausgezeichnet. Er gilt als der renommierteste Fotowettbewerb der Welt. http://www.archive.worldpressphoto.org (10.02.2015)

Ausgezeichnete Beiträge von Harald Schmitt:

1974: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/start/5/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

1976: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/start/4/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

1987: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/start/3/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

1997: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/start/2/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

1999: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/start/1/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

2001: http://www.archive.worldpressphoto.org/search/layout/result/indeling/detailwpp/form/wpp/q/ishoofdafbeelding/true/trefwoord/photographer_formal/Schmitt%2C%20Harald

[3]    Die Kunsthistorikerin Carola Jüllig kuratierte die Ausstellung „Farbe für die Republik. Auftragsfotografie vom Leben in der DDR“ für das Deutsche Historische Museum 2014, http://www.dhm.de/ausstellungen/farbe-fuer-die-republik.html (10.2.2015).

[4]    Harald Schmitt war vor dem Interview Gast in der Übung „Fotografie und Geschichte“ des 6. Jahrgangs des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin.

[5]    „Sibylle“ war eine Modezeitschrift in der DDR, die von 1956 bis 1995 erschien. Besonders beliebt waren ihre Fotostrecken, die von namhaften Fotografen abgelichtet wurden.

[6]    Rudi Meisel arbeitete als Fotograf für viele Zeitungen und Zeitschriften, so etwa für den „Spiegel“ und „The Economist“. Zur Zeit der deutschen Teilung lag der Schwerpunkt seiner Fotografie auf dem Alltag in der Bundesrepublik und DDR. Heute ist er als Architektur-, Porträt- und Reportagefotograf tätig.

[7]    Rolf Gillhausen war Fotograf und Journalist. Er gründete das Magazin „Geo“ und war von 1980 bis 1984 Chefrdakteur des „stern“; siehe http://www.visual-history.de/2014/11/24/der-blattmacher-rolf-gillhausen (10.02.2015).

[8]    In der Seminarsitzung hatte Harald Schmitt bereits ausführlich von seiner Überwachung durch die Staatssicherheit berichtet. In der seit November 2013 eröffneten Ausstellung „Alltag in der DDR“ in der Kulturbrauerei Berlin sind Teile dieser Akte ausgestellt.

[9]    Börnersdorf ist ein Ortsteil der Stadt Bad Gottleuba-Berggießhübel im Bundesland Sachsen.

[10]  Paul Eßling geriet am 31. Dezember 1982 in Klosterfelde bei Wandlitz in eine Schießerei mit Polizisten aus Honeckers Wagenkolonne und kam selbst ums Leben, vermutlich durch Selbstmord. Die Geschichte wurde knapp zwei Wochen später im „stern“ veröffentlicht und als Anschlagsversuch auf Honecker gewertet (Magazin Nr. 3, 13.1.1983).

[11]  Bernd Brückner: An Honeckers Seite. Der Leibwächter des ersten Mannes, Berlin 2014. Bernd Brückner arbeitete ab 1976 als Leibwächter von Erich Honecker.

[12]  Die Geschichte erschien 1979 im „stern“.

 

Harald Schmitt (*1948)

1969 – 1972 Sportfotograf bei der Agentur Frinke in München

1972 – 1974 Politischer Fotograf bei der Agentur Sven Simon in Bonn

1974 – 1975 Star Agency in Paris und Nizza

1975 – 1977 Fotoagentur Sven Simon in Bonn

1977 – 2011 Festangestellter Fotoreporter des Magazins stern in  Hamburg

seit 2011 freischaffender Fotoreporter in Hamburg

Quelle: http://www.visual-history.de/2015/03/30/dann-muss-etwas-an-der-sache-dran-sein/

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