Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Martin-Gropius-Bau, 1. August – 2. November 2014

 

Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ im Martin-Gropius-Bau.

Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ im Martin-Gropius-Bau.

Ausstellung: Filmaufnahmen aus Albert Kahns Sammlung „Archives de la planète“.

Ausstellung: Filmaufnahmen aus Albert Kahns Sammlung „Archives de la planète“.

Die kultur-, technik- und fotogeschichtliche Ausstellung Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg präsentiert drei Fotokampagnen, die die Schönheit und Vielfalt der Welt vor dem Ersten Weltkrieg dokumentieren sollen. Gezeigt werden 200 Farbfotos des Fotochemikers Adolf Miethe, seines Assistenten und Fotodokumentars des Russischen Reiches Sergei M. Prokudin-Gorskii und Fotos aus der Sammlung „Archives de la planète“ des französischen Bankiers Albert Kahn. Neben Bildkarten, Feldpostkarten, den ersten Fotobüchern und den „Kaiserpanoramen“ des Berliner Unternehmers August Fuhrmann wird auch die Entwicklung der Farbfotografie allgemein vorgestellt. In den letzten beiden Räumen sind Farbfotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu sehen, die aus dem Bereich der Kriegspropaganda stammen.

 

Ausstellungsplakat: Albert Kahn, Les archives de la planète, Stéphane Passet: China, Peking, Palast des Himmlischen Friedens, vierter Hof, östlicher Anbau, ein buddhistischer Lama in zeremoniellem Gewand, 26. Mai 1913.

Ausstellungsplakat: Albert Kahn, Les archives de la planète, Stéphane Passet: China, Peking, Palast des Himmlischen Friedens, vierter Hof, östlicher Anbau, ein buddhistischer Lama in zeremoniellem Gewand, 26. Mai 1913.

Eröffnet wurde die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau am 1. August 1914 – 100 Jahre nach Beginn des Kriegs, veranstaltet von den Berliner Festspielen im Zusammenhang mit dem „Europäischen Monat der Fotografie“. Der Landschaftsverband Rheinland-LVR gedenkt dem Ersten Weltkrieg in Form des Verbundprojekts „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“, zu dem auch dieses Ausstellungskonzept gehört, welches bereits 2013 in Paris und Bonn zu sehen war. Das Kuratorenteam besteht aus dem Medienhistoriker Rolf Sachsse, dem stellvertretenden Direktor des LVR-LandesMuseums Bonn Lothar Altringer und dem Leiter des Verbundprojekts Thomas Schleper. Die Ausstellung konnte in Kooperation mit dem Musée Albert-Kahn in Boulogne-Billancourt realisiert werden.

Die Farbfotografie gilt als medialer Umbruch, die neben den neuen Möglichkeiten, die Welt möglichst naturgetreu abzubilden, auch Gefahren der Manipulation mitführte, wenn der scheinbare Beweischarakter nicht hinterfragt wurde. Die Brüder Auguste Marie und Louis Jean Lumière entwickelten 1905 ein eigene Farbfototechnik: das Autochromverfahren, deren Diapositive auf Glasplatten für den Drei- und Vierfarbdruck verwendet werden konnten und bis Mitte der 1930er-Jahre den Markt dominierten. Die Herausforderung des Autochromverfahrens lag in der langen Belichtungszeit von 2 bis 15 Sekunden, weshalb die Abbildung von Menschen und bewegten Objekten Ungenauigkeiten hervorrief und eine standbildartige Haltung benötigte.

Der Chemiker Adolf Miethe (1862 bis 1927) von der Technischen Universität Berlin erfand 1902 eine panchromatische Filmbeschichtung zur Fotoeinfärbung, die an das Dreifarb-Druckverfahren anschloss und besonders gut für Verlagswerke und Bildpostkarten geeignet war. Er ließ einen Projektor bauen und führte seine Fotodokumentation der deutschen Landschaften Kaiser Wilhelm II. und auch auf der Weltausstellung 1903 in St. Louis vor.

 

Ausstellung: Stollwerk Sammelalbum No. 7. Aus Deutschlands Gauen.

Ausstellung: Stollwerk Sammelalbum No. 7. Aus Deutschlands Gauen.

Danach erschienen die Fotos als Sammelbilder in Schokoladentafeln und wurden mit dem ersten Farbbildband Deutschlands dem „Stollwerck-Album“ verbreitet, das auch neben anderen Fotobüchern in der Ausstellung durchgeblättert werden kann. Das xm:lab der Hochschule der Bildenden Künste im Saarland stellte für die Besucher der Ausstellung das Drei-Farb-Verfahren zum selbst Ausprobieren und Fotografieren bereit.

Mit dem in der Ausstellung zu sehenden Original-Projektor von Miethes Assistent Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii (1863 bis 1944), eine Leihgabe aus dem Deutschen Museum in München, soll dieser Zar Nikolaus II. von der Farbfotografie überzeugt haben:

 

Ausstellung: Projektor von Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii, Leihgabe aus dem Deutschen Museum München.

Ausstellung: Projektor von Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii, Leihgabe aus dem Deutschen Museum München.

Der Zar beauftragte ihn von 1909 bis 1916 mit einer Fotodokumentation des Russischen Reichs. Von den ca. 4500 Farbfotografien sind über 2000 erhalten geblieben, die sich als Digitalisate in der Library of Congress befinden. Die intendierte Verbreitung der Fotos scheiterte am teuren Reproduktionsverfahren.

Prokudin-Gorskiis Bilder verheimlichen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes und zeigen vorwiegend Landschaften, Dorfansichten, Kirchen, die Entwicklung der Industrie und spiegeln die ethnische Vielfalt wider. Aufgrund der Aufnahmetechnik mussten Bilder von spontanen menschlichen Handlungen inszeniert werden.

Sergeĭ Mikhaĭlovich Prokudin-Gorskiĭ, 1909, Russisches Reich: Dinner during haying.

Sergeĭ Mikhaĭlovich Prokudin-Gorskiĭ, 1909, Russisches Reich: Dinner during haying.

Der Großteil der Ausstellung zeigt Farbfotos aus der fotografisch-filmischen Sammlungstätigkeit des reichen Bankiers Albert Kahn (1860 bis 1940) aus Boulogne bei Paris, der seit 1906/09 Stipendien und Aufträge für Fotodokumentationen in Europa, Asien und Afrika vergab. Er präsentierte die Arbeiten mithilfe eines Projektors in seinem Anwesen vor einem elitären Kreis, u.a. auch dem Kaiser. Bis auf wenige zeitgenössische Veröffentlichungen blieben die Bilder aber weitestgehend unbekannt, sodass manche von ihnen zum ersten Mal im Rahmen der Ausstellung publiziert worden sind.

Das 1908 von Kahn gegründete „Les Archives de la planète“ konnte von ihm bis 1931 finanziert werden und enthält neben Schwarz-Weiß-Bildern über 100 Stunden Filmaufnahmen, auch 72.000 farbige Diapositive/Autochromplatten. Kahns Archivleiter Jean Brunhes (1869 bis 1930) gilt als „Humangeograf“, der das Bildprogramm maßgeblich mitbestimmt haben soll. Die Bildmotive wurden in Bezug auf die Wechselbeziehungen zwischen den Menschen und ihrer natürlichen Umgebung ausgewählt. Dazu zählen lokale Landschaften, Menschen in traditioneller Kleidung und die Architektur.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Mongolei, nahe Ulaanbaatar, wahrscheinlich Damdinbazar, die achte Inkarnation des mongolischen Jalkhanz Kuthugtu, 17. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Auguste Léon: Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, Brothändler auf dem Markt, 15. Oktober 1912.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Auguste Léon: Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, Brothändler auf dem Markt, 15. Oktober 1912.

 

Menschen sollten in ihrer Umgebung bei alltäglichen, beruflichen, aber auch kulturellen und religiösen Handlungen festgehalten werden. Ziel war es, die kulturelle Vielfalt zu dokumentieren, um durch sie eine Völkerverständigung zu fördern. Kahns Fotosammlung versteht sich somit als Friedensmission und Bewahrung einer verschwindenden Welt vor 1914. Trotz seiner philanthropischen Intention transportierten auch Kahns Bilder weiterhin Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen und ihren Sitten.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passer: Mongolei, Ulaanbaatar, Verurteilter und Wärter im Gefängnis, 25. Juli 1913.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passer: Mongolei, Ulaanbaatar, Verurteilter und Wärter im Gefängnis, 25. Juli 1913.

Die Ausstellung „Die Welt um 1914“ präsentiert vor allem Auftragsarbeiten der Fotografen Auguste Léon (1857 bis 1942) und Stéphane Passet (1875-unbekannt). Auguste Léon startete 1909 die erste Fotokampagne für Albert Kahn und reiste über Wien in den Balkan und die Türkei. Seine Fotos zeigen Spuren der Balkankriege, wie den zerstörten mittelalterlichen Markt in Shkodra im Oktober 1913. Der ehemalige französische Kolonialoffizier Stéphane Passet unternahm eine Reise von 1913 bis 1914 über China, die Mongolei, Indien und die Türkei. Das Musée Albert Kahn bewahrt 350 seiner Bilder, die neben der Architektur auch wenige Menschen zeigen, darunter vorwiegend bekannte Bevölkerungsgruppen und ihre alltäglichen Handlungsabläufe. Nach Passets Meinung fotografierte er auch bisher nie festgehaltene Szenen wie ein muslimisches Gebet in Delhi.

 

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Frankreich, Paris, Eine Familie in der Rue du Pot de fer, 24. Juni 1914.

Albert Kahn, Les Archives de la planète, Stéphane Passet: Frankreich, Paris, Eine Familie in der Rue du Pot de fer, 24. Juni 1914.

Anlässlich des 100. Jahrestags des Kriegsausbruchs zeigt die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau auch vermehrt Farbfotos aus der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs. Die Welt vor 1914 wird dabei als eine Welt im Verschwinden begriffen, die durch die Farbfotos positiv erinnert werden sollte. Zudem wird die Entwicklung der Bildpostkarten angesprochen, die sich seit dem deutsch-französischen Krieg als Feldpostkarten zum Massenmedium entwickelten. Vom Ersten Weltkrieg werden dem Besucher hauptsächlich Propagandabilder gezeigt, die das Leben hinter der Front, Landschaften und freundliches Miteinander unter den Soldaten abbilden sollen und die Zerstörungen, das Kriegstreiben oder das persönliche Leid verschweigen.

 

Ausstellung: Hans Hildenbrand: Bildpostkarten mit verschiedenen Motiven vor und um 1914, LVR-LandesMuseum Bonn.

Ausstellung: Hans Hildenbrand: Bildpostkarten mit verschiedenen Motiven vor und um 1914, LVR-LandesMuseum Bonn.

Zu sehen sind Arbeiten des Stuttgarter Fotografen Hans Hildebrand (1870 bis 1957), der als offizieller Fotojournalist des deutschen Propaganda-Hauptamts für das Elsass, die Vogesen und die Champagne zuständig war. Auch Kahns Auftragsfotografen wie Jules Gervais-Courtellemont (1863 bis 1931) arbeiteten als Kriegsfotografen für das französische Informations- und Kunst-Ministerium.

Die Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg“ spiegelt eine philanthropische Sichtweise und die Begeisterung für die neue Technik der Farbfotografie wider. Durch die naturgetreuere Darstellung der Menschen, Landschaften und Gebäude scheint uns die Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts näher als auf den bekannteren Schwarz-Weiß-Bildern, die unsere Erinnerungen dominieren. Die Ausstellung und der dazugehörige Katalog zeigen eine fast touristische Perspektive auf faszinierende Sehenswürdigkeiten und Momentaufnahmen von posierenden Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Auch wenn ihr zeitgenössicher Beitrag zur Völkerverständigung und Friedenssicherung gering blieb, bleibt bis heute die generationsübergreifende Wirkmächtigkeit von Bildern aktuell.

 

 

Die Welt um 1914. Farbfotografien vor dem Großen Krieg

Albert Kahn, Sergei M. Prokudin-Gorskii, Adolf Miethe

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin

1. August – 2. November 2014

 

Katalog: 1914 – Welt in Farbe. Farbfotografie vor dem Krieg

Hatje Cantz Verlag, 144 Seiten, 101 Abbildungen

Maße: 24,3 x 28,2 cm, ISBN: 978-3-7757-3644-2

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/11/10/die-welt-um-1914-farbfotografien-vor-dem-grossen-krieg/

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Walker Evans. Ein Lebenswerk

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946. Das Foto erschien 1947 im Wirtschaftsmagazin Fortune in dem Artikel „Chicago. A Camera Exploration”
Ausstellung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung „Walker Evans. Ein Lebenswerk“ im Martin-Gropius-Bau

„Du beginnst mit deiner Kamera Menschen auszuwählen. Das ist zwanghaft, und man kann es nicht stoppen. Ich denke, alle Künstler sind Sammler von Bildern.“ (Art in America, März-April 1971: Interview with Walker Evans by Leslie Katz)

Der US-Amerikaner Walker Evans (1903-1975) kam über Umwege nach einem abgebrochenen Literaturstudium Ende der 1920er-Jahre in New York zur Fotografie. Das Wirtschaftsmagazin „Fortune“ publizierte ab 1934 über 400 Bilder von Evans in 45 Artikeln und beschäftigte ihn von 1945 bis 1965 als Bildredakteur und Fotografen. Seine frühen Fotoserien zur Viktorianischen Architektur und Bilder von Auftragsreisen nach Tahiti und Kuba fanden große Beachtung, sodass 1938 die erste monografische Ausstellung des Museum of Modern Arts zu „Walker Evans: American Photographs“ in New York stattfand.

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946.

Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign, Chicago, Illinois, 1946.

 

Walker Evans nahm eine Vorreiterrolle in der Fotografie des „dokumentarischen Stils“ ein, die sich durch Zurückhaltung und ein Gespür für nicht inszenierte Posen auszeichnet. Insbesondere viele Fotografen der 1960er- und 70er-Jahre wie Helen Levitt, Robert Frank, Diane Arbus und Lee Friedlander wurden durch ihn stark beeinflusst.

Die Ausstellung „Walker Evans. Ein Lebenswerk“ zeigt 200 Originalabzüge des Fotografen von 1928 bis 1974 und ist vom 25. Juli bis zum 9. November 2014 im Martin-Gropius Bau in Berlin zu besuchen. Sie wird im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie von den Berliner Festspielen gezeigt und wurde von der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur, Köln, bereitgestellt.

Der amerikanische Kunsthistoriker und ehemalige Kurator am Cincinnati Art Museum James Crump präsentiert in der Ausstellung die Anfänge und Entwicklungen in Evans Karriere und zeigt neben den Höhepunkten auch unveröffentlichte Arbeiten. Diese erste große Retrospektive von Walker Evans in Deutschland war 2013 schon in Köln, Linz und Amsterdam und ist nun in Berlin zu sehen. Der Direktor des Martin-Gropius-Baus Gereon Sievernich sprach bei der Eröffnung von einem „Traumprojekt“ und erwähnte in diesem Zusammenhang besonders die Förderung durch den Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV).

Nach Walker Evans Tod 1975 übernahmen das Metropolitan Museum of Art und das Getty Museum die Nachlassverwaltung, wozu u.a. Korrespondenzen und Sammlungen von Postkartenansichten, Werbung und Reklameschilder gehören. Die Fotos der Ausstellung stammen aus der Privatsammlung von Clark und Joan Worswick, der Sammlung Ulla und Kurt Bartenbach aus Köln sowie aus der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln und dem Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz aus Berlin. Um sein Werk aus insgesamt 46 Arbeitsjahren zu erhalten, hat die Familie Worswick seit 1976 Evans Originalabzüge gesammelt, die bereits seit 1974 von ihm an Kunsthändler verkauft worden sind.

Walker Evans: Façade of House with Large Numbers, Denver, Colorado, August 1967

Walker Evans: Façade of House with Large Numbers, Denver, Colorado, August 1967

Die Ausstellung zeigt neben den fotografischen Anfängen in New York Ende der 1920er-Jahre auch die Fotoserie, die den Verfall der Viktorianischen Architektur dokumentiert und so einen langsam verschwindenden amerikanischen Lebensstil zeigt.

Evans sachliche Aufnahmetechnik kommt insbesondere in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen seiner botanischen Studien, der Serie „Beauties of the Common Tool“ (1955, Fortune) und den Fotos zur „African Negro Art“ im MoMA von 1935 zur Geltung. Weitere Fotoaufträge realisierte er in den 1930ern auf einer Kreuzfahrt nach Tahiti, bei der auch sein einziger Film „Travel Notes“ entstand. Während seiner dreiwöchigen Kubareise im Auftrag des Verlegers J.B. Lippincott machte er 31 Fotos, die im Buch „The Crime of Cuba“ von Carleton Beals 1933 erschienen. Er fotografierte die Alltagskultur und Atmosphäre Havannas mit unverfälschtem Blick auf das echte Straßenleben.

Walker Evans: Girl In French Quarter, New Orleans, Februar - März 1935

Walker Evans: Girl In French Quarter, New Orleans, Februar – März 1935

Im Auftrag der Resettlement Administration, später Farm Security Administration, entstand sein umfangreichstes Werk mit über 200.000 Bildern, die zum Thema Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre den Status von Ikonen erlangten. Von 1935 bis 1937 reiste Evans in den Süden der USA und fotografierte neben neuklassizistischer Architektur auch lebensnahe Porträts. Anlässlich Roosevelts „New Deal“ sollte eine fotografische Dokumentation der sozialen und wirtschaftlichen Lebensumstände gerade auf dem Land nach der „Großen Depression“ entstehen.

Walker Evans: Barn, Nova Scotia, 1969 – 1971

Walker Evans: Barn, Nova Scotia, 1969 – 1971

Zu den Motiven gehörten Wohngebiete, Fabriken, Scheunen, Friedhöfe, einfache Behausungen der Handwerker und Bergleute, Straßenfeste, Interieurs, Siedlungen und Straßenszenen in den Bundesstaaten Louisiana, Georgia, Massachusetts, Mississippi, Alabama, West Virginia und Florida. Die Fotos vermitteln nicht nur die Not und Armut der Bevölkerung, sondern dokumentieren vorwiegend ihr Alltagsleben, die ländlichen Traditionen und die Atmosphäre, die bis heute das amerikanische Bildgedächtnis an die „Große Depression“ prägen. In diesem Zusammenhang entstanden die Buchpublikationen „Let Us Now Praise Famous Men“ (mit dem Schriftsteller James Agee) von 1941 und „Many Are Called“ von 1966.

Zu Evans weiteren Arbeiten zählen die Subway-Porträts von 1938. Walker Evans fotografierte mithilfe einer 35mm-Contax Knopflochkamera und einem Drahtauslöser am Ärmel die Passanten in der New Yorker U-Bahn. Die Motive und Fahrgäste wirken nachdenklich, introvertiert und träumerisch. Seine Polaroids aus den 1970er-Jahren sind leider nicht im Martin-Gropius-Bau ausgestellt. Sie zeigen vor allem Evans Leidenschaft für Werbe- und Reklameschilder. Walker Evans Karriere spiegelt somit neben der ständigen Präsenz bestimmter Themen, wie Arbeitslosigkeit, Architektur und Amerikas Süden, auch eine Interessenerweiterung wider, die im Martin-Gropius-Bau in drei Ausstellungsräumen neu entdeckt werden kann.

 

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung “Walker Evans. Ein Lebenswerk” im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung "Walker Evans. Ein Lebenswerk" im Martin-Gropius-Bau

Ausstellung “Walker Evans. Ein Lebenswerk” im Martin-Gropius-Bau

 

Kurzbiografie

1903 Geboren in St. Louis, Missouri, USA

1922-1924 Phillips Academy, Andover, und Williams College, Williamstown, Arbeit in der NY Public Library

1926 Paris-Aufenthalt, erste Fotografien

1928-1930 New York, erste Veröffentlichungen in „The Bridge“ von Hart Crane

1931 Serie über Viktorianische Häuser

1932 Schiffsreise nach Tahiti

1933/34  Reise nach Kuba und Fotos für das Buch „The Crime of Cuba“ (1933) von Carleton Beals. Erster Auftrag für das Wirtschaftsmagazin „Fortune“. Das MoMA zeigt die Ausstellung „Photographs of the 19th-Century Houses” mit 39 Evans-Fotografien

1935-1937 Kooperation mit der Resettlement Administration/Farm Security Administration (FSA)

1939 Retrospektive „Walker Evans. American Photographs“ im MoMA (nochmal 1962). Porträts von Fahrgästen in der New Yorker Subway

1940/41 Buch-Publikation „Let Us Now Praise Famous Men“ über drei Pächterfamilien in Alabama mit Texten von James Agee und Evans Fotos von 1936 aus Hale County

1945-1965 Anstellung bei dem Wirtschaftsmagazin „Fortune“

1947 Retrospektive im Art Institute of Chicago

1964/65-1972 Professur für Graphic Design, Yale University, New Haven

1966 Buch „Many Are Called“ und Portfolio „Message from the Interior“. MoMA-Ausstellung „Walker Evans. Subway Photographs“

1969 Fotografiert bei Robert Frank in Nova Scotia, Kanada

1971-1973 Retrospektive im MoMA und Wanderausstellung. Fotos mit Polaroid SX-70

1975 Verkauf der Abzüge. Tod in New Haven, Connecticut

 

 

Walker Evans. Ein Lebenswerk

Ausstellung im Martin-Gropius-Bau

25. Juli-9. November 2014

 

Veranstalter: Berliner Festspiele. Eine Ausstellung der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, aus der Sammlung von Joan und Clark Worswick. Gefördert durch den Sparkassen-Kulturfonds des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, die Berliner Sparkasse und die Sparkasse Köln-Bonn. Im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie Berlin.
Kurator: James Crump

 

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/09/30/walker-evans-ein-lebenswerk/

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Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft“ – Bericht

Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München
Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München

Workshop Teilnehmer, 04. September 2014, Deutsches Museum München

Der interdisziplinär ausgerichtete Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft“ fand im Rahmen des SAW-Verbundprojekts „Visual History. Institutionen und Medien des Bildgedächtnisses“ am 4. September 2014 im Deutschen Museum in München statt und wurde von  Stefanie Dufhues und Wilhelm Füßl organisiert. In drei Sektionen zu den Themen 1. „Zeichnung – Fotografie – Film. Visualisierung von Wissen“, 2. „Mehr Sehen, mehr Wissen. Verbreitung der Fotografie“ und 3. „Forschen mit der Kamera. Blicke in die wissenschaftliche Praxis“ wurden die theoretischen und praktischen Entwicklungen der wissenschaftlichen Fotografie seit dem frühen 19. Jahrhundert diskutiert.

Die Sektionen wurden von dem Leiter des Archivs des Deutschen Museums Wilhelm Füßl, der Kuratorin für Foto und Film des Hauses Cornelia Kemp sowie der Historikerin Annette Vowinckel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam moderiert. Wilhelm Füßl verwies auf die umfangreiche Sammlung des Deutschen Museums mit 1,4 Millionen Fotografien und Dias.

Die erste Sektion wurde von der Kunsthistorikerin Elke Schulze, Stiftungsvorstand der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, eingeleitet. In ihrem Beitrag „Auf den Strich gebracht. Von der Eigenart wissenschaftlichen Zeichnens“ sprach sie über die zeichnerische Praxis an den Universitäten im 19. Jahrhundert und stellte die besondere Funktion von naturwissenschaftlichen Zeichnungen heraus. Sie galten als „rechte Hand des Naturforschers“, der sich durch diese auch dem Laien verständlich machen konnte. Die Mikrofotografie wurde daher anfangs nur als Vorlage für Zeichnungen genutzt.

Stefanie Dufhues: Mikrofotografie, Beispiele

Stefanie Dufhues: Mikrofotografie, Beispiele

Die Kunsthistorikerin Stefanie Dufhues berichtete im Anschluss von ihrem Dissertationsprojekt am Deutschen Museum mit dem Beitrag „‚objektiv‘/ ‚naturgetreu‘/ ‚authentisch‘? Fotografie im mikroskopischen Arbeitsprozess“. Mitte des 19. Jahrhunderts führte ein Paradigmenwechsel zur Aufwertung der Mikrofotografie, die dem Wunsch nach Objektivität näher kam und in Schriften und Büchern vervielfältigt werden konnte. Die „Naturtreue“ der Zeichnungen wurde nun angezweifelt. Mikrofotografien galten als visuelle Belege für das Gesehene, deren Wahrhaftigkeit und Objektivität kaum in Frage gestellt wurde.

Den Sektionsabschluss bildete die Wiener Filmwissenschaftlerin Regina Wuzella von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die über „Maßloses Leben – Mikrokinematografien physiologischer Vorgänge“ anhand von Medizin- und Wissenschaftsfilmen berichtete, in denen u.a. mit modernsten filmischen Mitteln die Entwicklung eines Embryos gezeigt wurde.

Die zweite Sektion bestand aus dem Beitrag „Fotografie in der Sackgasse? Vervielfältigungen der Daguerreotypie“ von dem Kunst- und Medienwissenschaftler Steffen Siegel von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Das von dem französischen Maler Louis Jacques Mandé Daguerre und dem Heliografie-Erfinder Joseph Nicéphore Nièpce in den 1830ern erfundene Fotografie-Verfahren basierte auf versilberten Kupferplatten, die die Motive seitenverkehrt abbildeten und als Unikate nicht vervielfältigt werden konnten. Steffen Siegel sprach daher von einem Rückschritt in der sich entwickelnden Reproduktionskultur des frühen 19. Jahrhunderts. Der Vortrag der Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Ulrike Matzer von der Wiener Akademie der bildenden Künste zu Josef Maria Eders „Ausführliches Handbuch der Photographie“ musste leider entfallen.

 

Ernst Mach, Schuss durch dein Cartonblatt

Ernst Mach, Schuss durch ein Cartonblatt. Bleiprojectil. Linke Blendung, 3,9×3,9 cm, Glasplattennegativ, 1888

Die dritte Sektion wurde von dem Luzerner Historiker Christoph Hoffmann mit dem Beitrag „Mit voller Schärfe. Bedingungen und Funktionen der Geschossfotografie von Ernst Mach und Peter Salcher 1886“ eingeleitet. Die österreichischen Physiker Ernst Mach und Peter Salcher wurden 1886 durch ihre 7mm großen Geschossfotografien bekannt, welche die Luftwellen von einem mit Überschallgeschwindigkeit fliegenden Gewehrprojektil zeigten. Die Herausforderung bestand unter anderem in der Abgrenzung des Projektils gegenüber Störungen auf der Fotoplatte.

 

Lars Nowak: Geschoßfotografie einer fliegenden Granate, Thomas Skaife, 1858

Lars Nowak: Geschoßfotografie einer fliegenden Granate, Thomas Skaife, 1858

Der Medienwissenschaftler Lars Nowak von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sprach in seinem Vortrag „Bewegungsunschärfen. Zum Gebrauch der Langzeitbelichtung in der ballistischen Fotografie“ über die Bewegungsabläufe und Verräumlichung der Zeit u.a. am Beispiel fliegender Granaten. Die Formen der Geschoßbahnen wurden als Lichtstrahlen sichtbar gemacht und anhand von Streifenfotografien Verdichtungswellen aufgezeichnet. Neben der Nachfrage von ballistischen Fotografien in populärwissenschaftlichen Publikationen wurden sie vermehrt nach 1900 für militärische Zwecke genutzt.

Den Abschluss bildete der Vortrag von Sara Hillnhütter vom Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik in Berlin zum Thema „Geschichte machen. Der Gebrauch der Fotografie und Zeichnung als Planbilder in der Denkmalpflege des 19. Jahrhunderts“. Im Mittelpunkt standen die Arbeiten des deutschen Bauingenieurs Albrecht Meydenbauer zur Architektur-Fotogrammmetrie seit 1885. Die Bildvermessung von Gebäuden wurde anhand mehrerer Fotografien aus verschiedenen Perspektiven mit einem bestimmten Abstand zum Horizont und der Bildmitte zur maßstabsgetreuen Restauration wieder verwendet. Der Workshop schloss mit einer Diskussion, in der noch einmal die wichtigsten Entwicklungen der wissenschaftlichen Fotografie und Formen der Visualisierung in der wissenschaftlichen Praxis ebenso wie in der Gesellschaft resümiert wurden.

 

Workshop „Fotografie im Dienst der Wissenschaft”
München, Deutsches Museum, Bibliotheksgebäude
4. September 2014, 9.00 – 16.00 Uhr
Flyer

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/09/16/workshop-fotografie-im-dienst-der-wissenschaft-bericht/

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