Aldine und die Pappe

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Der Einband eines Oktavs hat sich gänzlich vom Buchblock gelöst; die Lederstreifen der Bünde, mit deren Verlängerung der Block in den Deckel eingehängt war, sind im Lauf jahrhundertelanger Benutzung gebrochen. Klebereste im Vorderdeckel lassen Vorsätze vorne und hinten vermuten, die indes verloren gegangen sind. Das Werk enthält die Orationes des Kirchenvaters Gregor von Nazianz (um 329-390), gedruckt 1516 in Venedig in griechischen Lettern und in kleinem Format. Der Titel zeigt ein Emblem aus Anker und Delphin, flankiert von den Lettern AL und DVS: die Druckermarke des Aldus Manutius aus Venedig. Im Druckervermerk zeichnete Andrea Torresano (auch Andrea da Asola, 1451-1528), seit 1495 in der Druckerei tätig, „[...] et Andreae Soceri“.manutius.nazianz.1516.einband.rück

Der aus Bassiano nordwestlich von Rom stammende Aldus Manutius (1449 – 1515) hatte um 1490 mit der Einrichtung einer Werkstatt in Venedig eine Drucker- und Verlegerdynastie begründet, die im 16. Jahrhundert europaweit bekannt wurde. Aldus druckte als erster auf der Welt ab 1498 in griechischen Lettern. Seine Ausgaben der Klassiker, Aldinen genannt, waren bei den Humanisten in ganz Europa begehrt. Das große Interesse an seinen Aldinen bewog Aldus dazu, den Drucken aus seiner Werkstatt die oftmals lange Reise zu erleichtern: er widmete sich dem kleinen Format und ließ diesem entsprechende Typographien entwickeln. Der vorliegende Druck zeigt winzige griechische Lettern, ist gleichwohl hervorragend lesbar und von bemerkenswerter Eleganz im Satz.

Die kleinformatigen, für die Reise vorgesehenen Aldinen waren auch nicht mehr in die im 15. Jahrhundert bevorzugten gewichtigen Holzdeckel eingebunden, sondern in solche aus Pappe; das machte sie nicht nur handlicher, sondern war auch neu. Unser aus den Lederbändern gefallenes Exemplar zeigt, wie diese Pappe aussah. Sie bestand in fest verleimten und gepressten Lagen aus Makulatur, Fragmenten aus den Resten verschiedener Druckproduktionen. Pappe wird heute noch genauso hergestellt: aus Papier- und Zellulosemakulatur werden Vliese gewonnen, die feucht zusammengepresst zur Pappe werden; die Aldinen des 16. Jahrhunderts sind jahrhundertealte Wegweiser ins Recycling.

Wohin die Reise unseres Drucks führte, lassen die Besitzereinträge auf dem Titel vermuten: nach England. Matth[ew] Hutton (1529–1606), Erzbischof von York von 1595 bis 1606, war vielleicht ein erster Besitzer, der seinen Namen über Aldus’ Anker schrieb. Der Erzbischof hatte, anders als sein gleichnamiger und erheblich jüngerer Kollege in Canterbury (1693-1758), einen ältesten Sohn namens Timothy (1569-1629), und der dürfte sich unten auf dem Titel in in der erkennbar jüngeren Hand als „Timo Hutton“ verewigt haben. Der weitere Weg unserer Aldine ist unbekannt; womöglich enthielten die verloren gegangenen Vorsätze Hinweise auf die Stationen ihrer Wanderung in die Bibliothek des Christianeums (Sign. M 192/16). Der kleine Vermerk oben am Rand des Titels, datiert 1592, könnte einen ersten Schritt weisen.

Druck

Gregori Nazanzeni Theologi Orationes Lectissimae XVI. Venetiis: Aldus; Andreas Socer, 1516

Links und Literatur

Universitätsbibliothek Basel: Divi Gregorii Theologi, Episcopi Nazianzeni Opera […]

Staatsbibliothek zu Berlin: Die Aldinen

Im Zeichen von Anker und Delphin. Die Aldinen-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, Leipzig 2005

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/408

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Lesezeichen

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Das aus einem hektographierten Blatt herausgerissene Lesezeichen hat bei Papier des frühen 19. Jahrhunderts einen Schaden verursacht: Säurefraß. Der Schaden erstreckt sich auf beide anliegenden Seiten sowie auf ein in einem größeren Format dahinter eingebundenes weiteres Manuskript, am oberen Bildrand erkennbar.

Die Abbildung der Schäden zeigt Seiten aus einem der zahlreichen Bände handschriftlicher Vorträge des “Altonaer Wissenschaftlichen Primanervereins Klio”, gegründet 1828. Primanervereine waren en vogue, die Schüler der Selecta des Altonaer Gymnasiums Christianeum (gegründet 1738) folgten dem Vorbild der studentischen Burschenschaften. “Klio” existierte bis 1935; dann löste sich der Verein angesichts der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten auf. Die gesamte Hinterlassenschaft des Vereins, neben den handschriftlichen Abhandlungen auch Satzung, Kassenbücher, Mitgliederlisten etc sowie die kleine Vereinsbibliothek, wurde dem Gymnasium übereignet und befindet sich noch heute dort im Archiv.

Die Abhandlung, mit dem Titel beginnend auf der rechten Seite, stammt von der Hand J[ohannes]. Mommsens, besser bekannt unter seinem weiteren Vornamen Tycho. Tycho (1819-1900) und sein älterer Bruder Theodor (1817-1903) waren Schüler des Chistianeums und Mitglieder des Primanervereins; sie haben in den späten 1830er Jahren zahlreiche Aufsätze in den Klio-Bänden hinterlassen. Tychos Abhandlung aus dem Jahr 1836 hat im Titel die Frage: “In welchem Verhältniße stehen unter einander politische Verbindungen, in welchem religöse?”

Der Schaden wird datierbar durch ein weiteres Lesezeichen, das an einer anderen Stelle weiter hinten im selben Band einen nahezu identischen Säurefleck verursachte, wiederum eine Abhandlung Tycho Mommsens, diesmal vom 4. November 1837, betitelt: “Unser Verein ein Staat”.

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Ich vernachlässige nun allerdings die Inhalte der beiden Aufsätze; dass die jugendlichen Ideen durchaus politische Bewegung zeigen, mag aus den Titeln bereits deutlich werden. Mich interessiert vorerst das weitere Lesezeichen. Es passt in seinem Abriss genau in das erste, und es enthält ein Datum: 1963. Jemand hat sich nach 1963 ein mit dem Spiritusdrucker vervielfältigtes Blatt mit Hinweisen auf eine Publikation im “Neuen Deutschland” zur Jugend in der DDR, das er nicht mehr benötigte, zerschnitten und die Teile nochmals durchgerissen, um die Makulatur als Findehilfe zu verwenden.

Der Schaden wird 2014 entdeckt: die beiden Lesezeichen lagen exakt und unberührt in den durch die Säuerung stark gebräunten Umrissen. Die Lesezeichen werden entfernt, gesondert gesichert und nur fürs Foto nochmal hingelegt. Wann kamen sie dahin und wer hat sie hineingetan?

1967 feierte das Christianeum den 150. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen. Der Festakt im Christianeum am 30. November wurde in einem Heft publiziert: “Theodor Mommsen. 1817-1967″, besorgt von Hans Haupt, Bibliothekar und Archivar des Christianeums von 1947 bis 1976. Im Anhang abgedruckt eine “Rede Theodor Mommsens am Stiftungsfeste des a. w. V. d. 15. Nov. 1837″, betitelt: “Der Altonaer Wissenschaftliche Verein – ein Staat?” Brüder arbeiten zusammen; Archivare haben herauszusuchen.

Im Jahr 2003 fand im Christianeum erneut eine Gedenkveranstaltung statt:  “Theodor Mommsen 1817-1903″,  diesmal zum100. Todestag des berühmten Eleven von einst. Wäre der Band mit den Lesezeichen vor oder in diesem Jahr konsultiert worden, hätten wir 2014 verrutsche oder gar keine Blättchen mehr darin vorgefunden; als ebenso unwahrscheinlich anzunehmen ist die Verwendung von 40 Jahre alten Zetteln als Lesezeichen Anfang der 2000er Jahre.

Wir können damit zumindest die Arbeitshypothese aufstellen, dass die Lesezeichen zwischen 1963 und 1967 in den Handschriftenband eingelegt wurden und im Lauf des folgenden halben Jahrhunderts die alten, noch geschöpften Papiere des frühen 19. Jahrhunderts durch ihren Säuregehalt angefressen haben. Die Frage nach Brüderlichkeiten im Verein, ihrem Staat, bleibt davon indes unberührt und kann in den Quellen erforscht werden, die sich nach wie vor im Archiv des Christianeums befinden.

Literatur

Niels Hansen, 100 Jahre Altonaer Wissenschaftlicher Primaner-Verein Klio. Hammerich & Lesser, Altona 1928

ders., Die Schülervereine des Christianeums. In: Heinz Schröder (Hrsg.), 200 Jahre Christianeum zu Altona 1738-1938. Hamburg 1938; S. 109-121

Gudrun Wolfschmidt (Hrsg.), Hamburgs Geschichte einmal anders. Nuncius Hamburgensis. Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften. Hamburg 2009; S. 47

Theodor Mommsen. 1817-1967. Der Festakt am 30. November 1967 im Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer. 24. Jahrgang, Heft 1, Hamburg Februar 1968

Ulf Andersen, Zum 100. Todestag Theodor Mommsens. In: Christianeum, Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer. 58. Jahrgang, Heft 2, Hamburg Dezember 2003; S. 3-9

Fotos: Archiv des Christianeums

 

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/373

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Ad fontes: “bibliotheca.gym” – ein neues Blog!

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Manch ein Reisender war Jahrhunderte unterwegs. Heutige Forscher reisen, real oder virtuell, um an die Quellen zu kommen, zum Beispiel für die Geschichte Bayerns.

Womöglich trägt die eine oder andere der schriftlichen Quellen den Stempel einer historischen Gymnasialbibliothek oder eines Gymnasialarchivs? Mag ein solcher Stempel für die eigene Forschung auch eher marginal sein, für das Blog bibliotheca.gym könnte er nebst der solchermaßen in ihrer Provenienz gekennzeichneten Schrift indes eine Bereicherung darstellen – deshalb bitte das Blog anschauen und gerne mitmachen!

Die sogenannte Causa Stralsund, der Verkauf einer geschlossenen Gymnasialbibliothek aus dem Stadtarchiv in Stralsund 2012, hat gezeigt, wie gefährdet heute diese Sammlungen sind, nicht zuletzt, weil die spezielle Sammlungsform – und damit auch ein Stück Bildungsgeschichte unseres Landes – in Vergessenheit geraten ist.

Vernetzung hilft der Forschung und dient überdies der Bewahrung schriftlichen Kulturguts ersten Ranges!

 

 

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/2254

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Bücher reisen.

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Vor einiger Zeit drückte mir ein Kollege zwei in Leder gebundene alte Oktavs in die Hand. Etwas für die Bibliothek? Keine Ahnung, keine Stempel, keine Besitzervermerke. Woher stammen die Stücke? Aus einem Karton neben der Sporthalle, ich habe aufgeräumt. – Gymnasialbibliotheken sind Teil der Schule. Was tun mit solchen Gaben? Anschauen und recherchieren.

Das eine Bändchen enthält ein Traktat des Augustinus von Hippo (354-430) in der Fassung von Justus Baronius (geboren um 1570), herausgegeben vom Neffen und Protegé des Fürstbischofs  Emmerich von Breidbach zu Bürresheim (1707-1774), Karl Wilhelm Joseph von Breidbach zu Bürresheim, gedruckt in Mainz 1764. Das andere enthält die Handschrift eines Benediktiners “di San Benedetto su’l monte di San Pietro”, eine Sammlung von Gebeten und frommen Sentenzen in italienischer und lateinischer Sprache, “a’o 1717 ai vinti tre da Agosto”, vom 23. August 1717.

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Das lateinische Traktat “D. Aurelii Augustini”  mit der gewaltigen Editorennotiz des Fürstbischofsneffen fand ich langweilig. Interessanter war die Handschrift des italienischen Benediktiners, denn sie enthält Einträge. Auf dem vorderen Einbandspiegel und auf dem eng beschriebenen vorderen Vorsatz ist eine Reihe von Ortsnamen eingetragen, die sich durch einen schmalen, hinten angebundenen und nicht datierten Druck erklären, ein “Verzeichnüß der Posten und Botten/wann solche in Nürnberg/Franckfurt am Mayn und Leipzig ankommen/und ablauffen” – einen Fahrplan für Reisende und Postwillige. Nimmt man die handschriftlichen Einträge im vorderen Einbandspiegel und auf dem Vorsatz für wahr, ist der italienische Benediktiner, wer immer er war, ganz schön weit herumgekommen, aus welchem Grund auch immer; er wird seine persönlichen “Litaniae” wohl häufiger hat wiederholen müssen. In den Einbandspiegel des Rückdeckels zeichnete der Reisende einen Herrn in flotter Uniform.

Ich stempelte die beiden Bändchen nicht, sondern schickte eine Mail mit einem Scan an meinen Vorgänger. Er schlug umgehend Alarm: nicht stempeln! Die beiden Stücke, so mein Vorgänger, gehörten einem unterdessen pensionierten Kollegen, der sie privat erworben, ihm dermaleinst zur Begutachtung vorgelegt und die er längst zurückgegeben habe. Ich leite die Bibliothek seit 2004. Welche Reise die beiden Bändchen im Laufe von zehn Jahren in der Anstalt vollzogen haben mögen, kann mir vielleicht ihr Besitzer erhellen, wenn ich ihm die Exemplare demnächst zurückgeben werde.

Bücher reisen. Nicht nur provinziell-dörflich wie in meiner Anstalt, sondern auch großräumig-global, zum Beispiel durch Erbschaften und Verkäufe derselben. Provenienz- und Einbandforschung können die Wege nachweisen. Die Wege sind aber nur dann nachvollziehbar, wenn die Bücher einen Ort haben. Das ist wie im Leben, das ebenso fragil und flüchtig ist wie eine liebevoll betitelte Reisezehrung fürs Seelenheil eines unbekannten italienischen Benediktiners zu Beginn des 18. Jahrhunderts, der sich die ulkige Uniform des winkenden Zeitgenossen in die Erinnerung zeichnete.

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/106

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Gymnasialarchiv

Den nachstehenden Artikel verfasste ich für eine Blogparade, ausgerufen von siwiarchiv, dem Gemeinschaftsblog der Archive im Kreis Siegen-Wittgenstein; unter meinem Nick “FeliNo” veröffentlichte ich ihn am 28. Januar 2014 bei Archivalia, dem Blog von Klaus Graf (bei de.hypotheses siehe Weblog Kulturgut).

An dieser Stelle nun erneut eingestellt, mag er hier das Besondere verdeutlichen, das ein Schularchiv mit historischen Dokumenten, die bis heute an ihrem angestammten Ort haben verbleiben können, zu leisten vermag.

 

Gymnasialarchiv? Was ist das denn? 


Schulzeugnis von Peter Behrens (Quelle: Archiv des Christianeums)

„Warum sollten Archive worüber wie bloggen?“ Diese Frage stellt siwiarchiv und ruft zum Schreiben auf. Ich weiß nicht, warum Archive worüber bloggen sollten und wie. Ich mach’s einfach, aber mehr mit hübschen Bildern aus der Bibliothek und aus dem Archiv unseres Gymnasiums, dem Christianeum, gegründet 1738 im holsteinischen Altona, heute ein Bezirk von Hamburg. Der Archivbestand (zurückgehend bis zum Gründungsdatum) ist erfasst und in einem Findbuch erschlossen.

Was kann an einem Gymnasialarchiv interessant sein für ein Internetpublikum? Nun, vielleicht zunächst einmal, dass kaum eine Anstalt so etwas hat.

Nach heutigem Hamburger Archivgesetz (seit 1991 in Kraft) sind nicht mehr benötigte Dokumente aus Verwaltung und Schule dem Hamburger Staatsarchiv regelmäßig anzubieten. Das Christianeum wurde davon ausgenommen, es darf als sog. „Archiv-Schule“ seinen alten Archivbestand behalten, unter anderem auch die Unterlagen über seine Lehrer und Schüler, die somit archivalisch seit 1738 an ihrem Wirkungsort präsent sind: eine Quelle, die von Historikern und Biographen, gelegentlich auch von Familienforschern, nicht selten in Anspruch genommen wird und zuweilen sogar bislang bestehende biographische Lücken zu füllen behilflich sein konnte, wie zum Beispiel im Fall des Designers Peter Behrens (1868-1940) und des Geschichtsforschers Gottfried Heinrich Handelmann (1827-1891). Auch gelangten Archivbestände bereits in Ausstellungen, so 2005 ins Vorderasiatische Museum zu Berlin zum archäologischen Bauforscher Robert Koldewey (1855-1925) oder in die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek mit dem alten Siegel des Christianeums für die „Emblemata Hamburgensia“ 2009.

Die Matrikel des Christianeums, die handschriftlichen Einträge der Schullaufbahnen seit 1738, zeigen überdies die enge Verknüpfung mit der alten Bibliothek des Christianeums. Da es Sitte war, dass Schüler und Lehrer, die die Anstalt verließen, der Bibliothek ein Geschenk machten, lassen sich Besitzer- und Donationsvermerke in einzelnen Exemplaren des Bibliotheksbestands oft anhand der Matrikel erschließen. So stammt eine der Inkunabeln des Christianeums, ein wunderschöner und seltener Druck von Aldus Manutius, von einem ehemaligen Schüler im 18. Jahrhundert, dessen Name nur durch zwei Publikationen in Göttingen belegt ist – und in den Matrikeln des Christianeums.

Die Bibliothekare – seit 1738 bis heute stets Mitglieder des Lehrerkollegiums – sahen im 19. Jahrhundert die als Quellen zur Geschichte der Anstalt fungierenden Schulschriften als Bibliotheksgut an. Diese Schriften wurden seit dem 18. Jahrhunderts kontinuierlich gedruckt und gebunden, seit dem 19. Jahrhundert in Form der sog. „Schulprogramme“ gesammelt und ab 1850 mit einer Bibliothekssignatur versehen. Seit den 1920er Jahren erscheint die Schulchronik zweimal jährlich im „Christianeum“, der Publikation des Fördervereins der Schule, und wird – nunmehr wiederum gebunden im Fünfjahrespaket – der Tradition folgend in der Bibliothek verwahrt. Verknüpft mit Dokumenten des Archivs reicht die Aussagekraft dieser Schriften häufig über die Schule hinaus und verweist direkt in die Stadtgeschichte Altonas, das bis 1867 (danach preußisch, seit 1937 Hamburg) zum Herzogtum Holstein gehörte, dessen Landesherr in Personalunion der König von Dänemark war. So erfahren wir im Archiv zum Beispiel die Hintergründe des Geschenks der kolorierten Flora Danica seitens Frederiks VI. von Dänemark (komplett geliefert 1816 und die folgenden Jahrzehnte) und die Provenienz eines großen Teils unserer Inkunabelsammlung aus der Bibliothek des Altonaer Pfarres Johann Adrian Bolten (erworben 1808).

Die Stadt Altona erhielt 1664, vor genau 350 Jahren, das Stadtrecht durch Frederik III., König von Dänemark. Sie verfügte dermaleinst über ein umfangreiches eigenes Stadtarchiv, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde; die Überreste befinden sich im Hamburger Staatsarchiv. Heute zeigt uns Google ein „Altonaer Stadtarchiv e.V.“ an, Bestände eines Altonaer Privatsammlers, der sie dem Publikum unterdessen auf seiner Hompage zur Benutzung anbietet. Und dann gibt es eben noch das Archiv des Christianeums. Darunter unter anderem wertvollste Zeugen auch jüngerer Hamburger Geschichte: Dokumente zum Bau des derzeitigen Schulgebäudes, das dritte in der Geschichte des Christianeums (gebaut zwischen 1968 und 1971, Architekt: Arne Jacobsen) – und dabei vor allem auch Fotos.

Das Christianeum verfügt über ein umfangreiches Fotoarchiv mit Abzügen seit dem 19. Jahrhundert, nicht nur von den Gebäuden (wie z. B. dem Abriss des bauhausinspirierten zweiten Gebäudes), sondern auch von Personen und insbesondere von Altona und dessen im Zweiten Weltkrieg zerstörten Straßen und Häusern in der Umgebung des ersten Schulgebäudes (genutzt bis 1936), dem alten Stadtkern, von dem nach der “Operation Gomorrha”, dem Bombardement Hamburgs 1943, nicht viel übrig blieb.

Ob das alles aber jemanden interessiert? Ich weiß es nicht – und benutze denn auch das Blog „Bibliotheca Altonensis“ bei tumblr nicht selten dazu, auf die Homepage zu verlinken, wo sich das eine oder andere anschauen lässt – nicht nur aus der Bibliothek, sondern auch aus dem Archiv, nicht systematisch, vielmehr mit dem bescheidenen Anspruch, überhaupt einen kleinen Einblick zu liefern, was das eigentlich ist: eine Gymnasialbibliothek mit einem Schularchiv.

Felicitas Noeske

 

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/56

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Gymnasialbibliothek

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen die zum Teil seit dem 16. Jahrhundert überkommenen höheren Bildungsanstalten – vormals hervorgegangen aus Klöstern oder gegründet nach fürstlichem, aber auch städtisch-protestantischem Willen – nicht mehr hinreichend für die modernen Zeiten, in denen die technische und gesellschaftliche Entwicklung eine weiter gestreute höhere Schulbildung erforderte. Man gründete, insbesondere zwischen den 1860er und 1890er Jahren, die modernen, sogenannten „Realgymnasien“, in denen Latein, aber nicht mehr das Griechische, dafür aber die Naturwissenschaften gelehrt wurden und aus denen der heutige Schultyp „Gymnasium“ hervorgegangen ist. Alle diese Aberhunderte von Gymnasien im Land besaßen Bibliotheken, die alten Anstalten seit dem 16. Jahrhundert sogar Sammlungen von 30.000 und mehr Exemplaren. Gleichwohl sind „Gymnasialbibliotheken“ heute nahezu unbekannt. Kaum ein Gymnasium besitzt noch seine Buchsammlung aus vergangenen Jahrhunderten. Wo sind diese Bibliotheken mit insgesamt Millionenbeständen geblieben?

Seit dem 16. Jahrhundert waren die Gymnasialbibliotheken, vor allem im Norden, auch die Stadtbibliotheken, die neben den Rats- und Kirchenbibliotheken mit deren juristischen bzw. theologischen Schwerpunkten nicht nur den Schülern und Lehrern, sondern auch den Bürgern den Wissensbedarf nach der Philologie erfüllten. Die Bildungsidee folgte den Humanisten des späten 15. Jahrhunderts: „ad fontes“, zu den Quellen. Spätestens im 19. Jahrhundert bezogen einige dieser Bibliotheken eigene Häuser und wurden als „Stadtbibliothek“ geführt. So basiert zum Beispiel die Stadtbibliothek Lübeck seit dem 17. Jahrhundert auf den Beständen der Bibliothek des Katharineums, des alten Gymnasiums der Hansestadt. Die Stadt- und Universitätsbibliothek Köln hält die Bibliothek des alten Kölner Gymnasiums, seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Kölner Stadtbibliothek, heute als ausgewiesene Sondersammlung.

In den 1920er Jahren ließen wiederholt Gymnasien ihre alten Buchbestände in die nächsten größeren Bibliotheken bringen; die Neuordnung des Schulwesens nach dem Ersten Weltkrieg, aber insbesondere die Knappheit der finanziellen Mittel in den späten 1920er Jahren gaben die Motivation. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, in dessen Zuge auch Gymnasialbibliotheken zerstört worden waren, wurde viele Sammlungen vor dem Zugriff der anrückenden Truppen, vor allem im Osten Deutschlands, versteckt. Der Fall der Bibliothek des Stralsunder Gymnasiums, gegründet 1560, die 1945 bei Nacht und Nebel ins städtische Archiv verbracht worden war, erhielt Aufmerksamkeit dadurch, dass das Stadtarchiv Stralsund im Jahr 2012 diese Bestände in den Handel gab.

Seit den frühen 1950er Jahren bis etwa 1970 fanden auch im Westen Abgaben der gymnasialen Buchsammlungen an die Stadt- Landes- und Staatsbibliotheken oder die örtlichen Archive statt; die Neuordnung des gymnasialen Schulwesens hatte keinen Bedarf an Erinnerung ihrer historischen Zeiten; man brauchte Platz und hatte keine Kapazitäten frei für die Erfassung überkommener Bestände. Ein Beispiel dafür ist die Bibliothek des Bismarckgymnasiums Karlsruhe, einer markgräflichen Gründung von 1586, deren wertvolle Altbestände zwischen 1953 und 1970 ihren Weg in die Badische Landesbibliothek fanden. Das Bibliothekswesen erfasste diese Bestände landauf landab nahezu durchweg ohne jeden Provenienzhinweis und ordnete sie ins Magazin ein; die Digitalisierung der Kataloge seit 2004 erfolgte zumeist anhand der Zettelkataloge, ohne die Exemplare aufzusuchen.

Einige Gymnasialbibliotheken „leben“ noch an ihren angestammten Orten; viele von den verbliebenen überdauerten indes nicht selten vergessen auf Dachböden oder in Kellern. Seit den 1990er Jahren fanden sie zögerlich wieder Beachtung und es stellte sich heraus, dass sie durchweg viel Geld kosten, wofür indes weder der Staat noch die Kommunen und die Länder einen Haushaltstitel haben. Sie werden deshalb meistens von engagierten Lehrern, Schülern, Eltern und Bürgern saniert, gepflegt und behütet, die indes nicht selten gar keine Vorstellung davon haben (haben können), welch einen Schatz diese Buchsammlungen für die Erkenntnis der Bildungs- und Kulturgeschichte unseres Landes darstellen. Das Wissen um diese Sammlungen schützt sie vor dem Vergessen infolge einer an Standards ausgerichteten Ignoranz der Bildungspolitik, die das Wort „humanistisch“ immer gern dann anführt, wenn es nichts kostet.

Über die weitgehend unbekannte Bedeutung historischer Gymnasialbibliotheken habe ich 2010 für den Frühneuzeit-Blog geschrieben. ( http://frueheneuzeit.hypotheses.org/503 ) Die Anregung kam damals von Klaus Graf, der 2005 im „netbib“-Blog eine Liste dieser Sammlungen veröffentlichte; bereits seit 2004 hatte er im selben Blog immer wieder auf historische Gymnasialbibliotheken hingewiesen.

Netbib (kg):

http://log.netbib.de/archives/2005/11/17/inkunabeln-und-handschriften-der-gymansialbibliothek-gotha/

http://log.netbib.de/archives/2005/05/31/budingen-gymnasialbibliothek-nicht-mehr-existent/

http://log.netbib.de/archives/2004/12/31/deutsche-handschriften-in-historischen-schulbibliotheken/

http://log.netbib.de/archives/2004/08/04/schulbibliothek-in-hof/

Eine Recherche der in dieser Liste angeführten Orte ergab seinerzeit für mich ein buntes Bild, was die jeweilige Betreuung – und auch die Präsentation im Netz – betrifft: mal umsorgte ein Mitglied des Kollegiums den Bestand (Konstanz, Hamburg), mal ist’s die Landesbibliothek (Coburg, Speyer), mal war ein Bibliothekar fest angestellt (Stade), mal hatte ein Förderverein einen „Direktor“ installiert (Hadamar), mal hielt ein Pensionär den Laden offen und in Schuss (Seesen). Auch die Präsentation im Netz reichte von bildschön (Rastatt) bis gar nicht (Düsseldorf, wo nur nach eingehender Erforschung der Seite überhaupt ein Hinweis auf den Status einer Bibliothek zu bekommen war); manche hatten auch bereits den virtuellen Zugang eröffnet, durch Fördervereine (Jever) oder durch eine Zentralbibliothek. Jeder machte es nach seinen Möglichkeiten und wie es zu seinem Haus und zu seinem Ort passte. Diese Individualitäten unterstreichen den besonderen Charakter der Sammlungen: keine gleicht der anderen, ihre Geschicke bilden die historischen und bis in die Gegenwart wirkenden Identitäten der Anstalten ab. Gemeinsam veranschaulichen sie indes die Bildungsgeschichte unseres Landes.

Im Leben wie im Internet fand sich bislang kein Ort, diese bildungsgeschichtlich einmaligen Schatzkammern zu würdigen; allein das von Klaus Graf betriebene Blog „Archivalia“ ( http://archiv.twoday.net/ ) widmet dem Thema wiederholt und mit einiger Regelmäßigkeit Einträge:

Historische Schulbibliotheken bei „Archivalia“

Inkunabeln in historischen deutschen Schulbibliotheken (bei: „Archivalia“, Stand 2006)

Eine umfassende Darstellung zur Bedeutung der Gymnasialbibliothek für die Kultur- und Bildungsgeschichte unseres Landes existiert bislang nicht. Seit dem 19. Jahrhundert bis heute sind die Veröffentlichungen zu einzelnen Sammlungen indes so zahlreich, dass die Erschließung nur in einer kommentierten Bibliographie möglich ist; die auch über die überregionale Bedeutung dieser speziellen Sammlungsform Aufschluss geben kann. Ausgangspunkt ist die Erfassung sowohl „toter“ als auch „lebender“ historisch gewachsener gymnasialer Buchsammlungen.

Felicitas Noeske, Hamburg

Literatur:

Reinhard Feldmann: Historische Sammlungen der Schulbibliotheken im Rheinland und in Westfalen. In: Schulbibliothek aktuell 2, 1993; S. 150-156

Matthias Richter, Carl Michael Wiechmann: Das kleine Corpus doctrinae. Bärensprung, 1865

Armin Schlechter: Zum Verkauf der Stralsunder Gymnasialbibliothek. In: Bibliotheksdienst, Bd. 47, 2013, Nr. 2: 97-101

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/1

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Historische Schulbibliotheken sind wertvolles Kulturgut

Der Schiffsbarbier Friedrich Martens schrieb 1671 seine Reise nach Grönland und Spitzbergen auf, versehen mit nach der Natur gefertigten Federzeichnungen, darunter auch solche von Walen und Seehunden, seinerzeit ungeheuerlichen Geschöpfen. Die Schrift wurde umgehend gedruckt und bestimmte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts  für die Gelehrten und Forscher das Bild der Arktis. Martens verfasste auch […]

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