“Der Historiker von morgen wird Programmierer sein oder es wird ihn nicht mehr geben” #dguw15

Im Proseminar lesen wir außer den einleitenden Kapiteln von Peter Habers „Digital Past“ auch einen Text, dessen hier im Titel zitierter letzter Satz „l’historien de demain sera programmeur ou il ne sera plus“ oft zitiert wird, zumeist jedoch gekürzt und ohne den vollständigen Kontext. Es handelt sich um den kurzen Beitrag „L’historien et l’ordinateur“ des französischen Mediävisten Emmanuel Le Roy Ladurie, 1968 in der Wochenschrift „Le Nouvel Observateur“ erschienen und wiederabgedruckt in einem Sammelband des Autors1. Der Beitrag ist weitsichtig und umreißt die auch heute noch gültigen Probleme und Fragestellungen, die die Nutzung von Computern in der Geschichtswissenschaft mit sich bringt. Interessant sind die darin erwähnten verschiedenen quantitativen Forschungsprojekte der Zeit, die im Umfeld der Annales-Schule entstanden sind: etwa das Projekt zur Mietpreisentwicklung in Paris vom 15.-17. Jahrhundert. Durch den Computer konnte nach Eingabe der Daten nicht nur eine einzige Kurve erstellt werden, wie man sie auch von Hand hätte errechnen können (wenn auch mit einiger Mühe). Sondern es war möglich, in kurzer Zeit die Daten in verschiedenen Graphiken auszugeben und miteinander in Bezug zu setzen und etwa Mietkurven in einzelnen Vierteln, nach Gebäudetyp, nach Beruf des Mieters etc. auszugeben. Schon bei Le Roy Ladurie findet sich außerdem die Idee, aus den Forschungsdaten Archive zu konstituieren und diese von anderen Forschergruppen nachnutzen zu lassen: also Offenheit und Zusammenarbeit, die beiden Grundwerte, die Lisa Spiro vorschlägt2.

Sein Plädoyer für einen Einsatz von Computern in den Geschichtswissenschaften gründet sich nicht zuletzt auch auf der Befürchtung, dass Frankreich ansonsten von den USA im Bereich der quantitativen Sozialgeschichte überholt werden könnte. Und er schließt mit einer Prognose: „En France aussi, un pronostic s’impose, en ce qui concerne l’histoire quantitative telle qu‘elle sera pratiquée dans les années 1980: dans ce domaine au moins, l’historien de demain sera programmeur ou il ne sera plus“. Seine Prognose für die Geschichtsforschung in den 1980er Jahren bezieht sich also nur auf die quantitative Geschichtsforschung, nicht auf die Geschichtswissenschaft allgemein. Sie ist nicht eingetroffen, da Le Roy Ladurie die Entwicklungen der 70er und 80er Jahre und das Aufkommen von fertig anwendbarer Software nicht vorhersehen konnte, für deren Anwendung man keine Programmierkenntnisse haben muss.

Im digitalen Zeitalter stellt sich diese Frage gleichwohl neu: Welche Kenntnisse, auch Programmierkenntnisse, sind notwendig für eine digitale Historikerin? Reicht es, Webanwendungen bedienen zu können und für Programmier- und Auszeichnungssprachen zumindest sensibilisiert zu sein, oder muss man XML-TEI, gephi und anderes selbst beherrschen? In Frankreich gehört das Zitat von Le Roy Ladurie zur Grundausbildung von Studierenden der digitalen Geschichtswissenschaft, und dort findet auch eine vertiefte Auseinandersetzung damit statt3.

An der Universität Wien sind Statistik und Quantifizierung Pflichtfach für Studierende der Geschichtswissenschaft im Bachelor. Programmiert wird freilich nicht, aber beispielsweise Auswertungen über Excel vorgenommen und die methodischen Implikationen von quantitativer Geschichte gelehrt. Wir sind uns uneinig, ob der in den 1950er Jahren aufkommende Gegensatz zwischen quantitativ arbeitenden und textbasiert arbeitenden Historikern heute ihre Verlängerung findet im Dualismus von digitaler und analoger Geschichtswissenschaft.

  1. Emmanuel Le Roy Ladurie, Le territoire de l’historien, Paris (Gallimard), 1973, S. 11-14.
  2. Siehe dazu den Beitrag “Digital Humanities über Werte definieren?” in diesem Blog
  3. Vgl. z.B. Franziska Heimburger, Émilien Ruiz, Les Historiens sont ils finalement des programmeurs?, in: La Boite à outils, 22.9.2011, http://www.boiteaoutils.info/2011/09/les-historiens-seront-ils-finalement/

Quelle: http://dguw.hypotheses.org/98

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