In einer kleinen Blogreihe wird Susanne Weiß in den kommenden Wochen einen Einblick in ausgewählte Klassiker_innen der Soziologie geben. Den Anfang machen heute die beiden Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Dem US-amerikanischen Soziologen Peter L. Berger (geb. 1929) … Weiterlesen
Fundstücke
- Ein englischsprachiger Artikel, der sich mit den Folgen von historisch angehauchten Videospielen auf die Geschichtswissenschaft beschäftigt.
- Wunderschöne Illustrationen auf chinesischen Propagandapostern.
- einestages berichtet über Napolas.
- Beeindruckende Bilder aus dem New York der 70er Jahre.
Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/05/fundstucke_6.html
DHd-Blog: Berichte der Enquete-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft”
Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen; Berlin 2012 (Rezension)
Arno Münster, emeritierter Professor für deutsche Philosophiegeschichte, Ernst Bloch-Schüler und Autor vieler Schriften, die dem Wissenstransfer zwischen der deutschen und französischen Linken dienten, legt in Utopie, Emanzipation, Praxis zehn Texte (Vorträge, Aufsätze, ein Interview) vor, deren Gemeinsamkeit er darin sieht, einen „stets kritischen, dialektischen und materialistischen Ansatz in der Gesellschaftsanalyse mit der Analyse von Denksystemen“ zu verbinden, „die die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse immer noch mit der Hoffnung einer letztendlich vielleicht doch noch möglichen gesellschaftlich-politischen Durchsetzung des Emanzipationsgedankens und der sozialen Gerechtigkeit vereint“ (S.9).
Besonders wichtig scheint es Münster dabei der von ihm diagnostizierten „’Abwicklung’ und Marginalisierung des Marxismus nach der deutschen Wiedervereinigung“ etwas entgegenzusetzen (S.10) – indem vor allem an einen anderen, freiheitlichen Marxismus erinnert wird. Hierbei steht Ernst Bloch im Zentrum dreier Texte, und dessen „Grundverdienst“ sieht Münster dann auch darin, „dass er den Marxismus humanistisch, messianisch-utopisch bereichern, erneuern wollte“ (S.41f.). Der Aufsatz/Vortrag zu Jean Paul Sartre hebt positiv hervor, dass dieser mit seiner Kritik der dialektischen Vernunft, neben wenigen anderen „den wichtigsten theoretischen Beitrag zur Neubegründung einer kritischen, undogmatischen und auf weite Strecken neo-marxistischen Praxisphilosophie im 20.Jahrhundert“ geleistet hätte (S.98). Und zum Austromarxisten Max Adler wird auf dessen „sehr wertvollen und gleichzeitig auch sehr wichtigen Beitrag zur Entdogmatisierung des Marxismus“ aufmerksam gemacht (S.190), wie auch Pierre Bourdieu bescheinigt wird, sich „der marxistischen Kritik in zahlreichen Punkt angenähert“ zu haben (S.123).
Dieser Fokus auf einen anderen Marxismus hindert Münster aber nicht daran sich auch mit anarchistischen Autoren zu beschäftigen. So findet sich im Band ein kurzer Zeitungsartikel zum „radikale[n] libertäre[n] Pragmatiker“ Proudhon (S.136) und ein Vortrag/Aufsatz zur „Stirner-Rezeption im französischen Existentialismus“, in dem die Stirnerinterpretation von Albert Camus in Der Mensch in der Revolte im Mittelpunkt steht. Diese Fokussierung ist etwas schade, weil dem Einfluss Stirners, oder Stirner’sche Motive für die 1968er und die alternativen Bewegungen der 70er Jahre nachzugehen – von marxistischer Seite bisweilen in polemischer Absicht unterstellt – eine interessante Arbeit wäre und auch mit der Frage verbunden werden könnte, inwieweit, nach dem modischen Strukturalismuszwischenspiel der 1960er Jahre existentialistische Aspekte wieder aufgegriffen wurden. Mit dem Pariser Mai ’68, als der „umfassendste[n] spontane[n] Emanzipationsbewegung, die jemals über die so genannten ‚Konsumgesellschaften’ der Nachkriegszeit hinwegfegte“ (S.172), beschäftigt sich Münster, damals Augenzeuge der Ereignisse in einem weiteren Vortrag/Aufsatz.
Das Buch dürfte eine nette Lektüre für Menschen sein, die sich für die hier besprochenen Thematiken, bzw. Personen interessieren. Mir selbst erschien vieles nicht allzu originell, oft ein wenig zu knapp, bisweilen werden die von Münster geschätzten Autoren auch zu positiv perspektiviert. Man erfährt beispielsweise nichts davon, dass Bloch im Prinzip Hoffnung auf dem Höhepunkt des Stalinismus die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats als Ausdruck einer „Monomanie von Autoritätshass“ pathologisierte, sowie über seine Ausfälle gegen Dissidenten zu Zeiten der Moskauer Schauprozesse der 1930er Jahre. Im Sartre-Aufsatz gar kein Thema, wird dessen wichtige Auseinandersetzung mit Albert Camus an anderer Stelle kurz erwähnt, und – wie mir scheint – zu Unrecht Camus das Vertreten „links-liberale[r] Positionen“ vorgeworfen (S.152). Proudhons Antisemitismus wird erwähnt (S.134), aber nicht dessen massiver Antifeminismus, der seinerzeit schon Kritik hervorrief. Dass Max Adler 1919 einen „radikalen ultralinken Antiparlamentarismus“ (S.187) vertreten habe, scheint mir ebenso wenig zuzutreffen (siehe seinen Text Demokratie und Rätesystem, 1919), wie dessen Gegnerschaft zum Bolschewismus vereinseitigt wird, da Adler in den 1930er Jahren vehement betonte, dass „die russische Revolution auch in ihrer jetzigen Gestalt gegen alle feindlichen Bestrebungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Reaktion zu verteidigen“ sei (Unsere Stellung zu Sowjetrussland, 1932).
Philippe Kellermann
Arno Münster: Utopie, Emanzipation, Praxis. Sozialphilosophische Interventionen. Karin Kramer Verlag, 2013, 208 Seiten, 19,80 Euro
Wir danken Philippe Kellermann herzlich für die Erlaubnis zur Erstpublikation dieser Rezension auf kritische-geschichte. Kellermann schreibt u.a. für Graswurzelrevolution und kritisch-lesen.de. Von ihm erschien zuletzt u.a. Anarchismus, Marxismus, Emanzipation (Berlin 2012, als Hrsg.).
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Erinnerung: Unser Call4Papers zum Thema “Kriminalität und soziale Normen. Wer weicht hier eigentlich wovon ab?” läuft nur noch 4 Wochen!
Kriminalität setzt soziale Normierung voraus, denn ohne eine gesetzte Norm gibt es keine Möglichkeit, von ihr abzuweichen und in der Folge als „kriminell“ zu gelten. Unser Call fragt also nach mehreren Aspekten: Wir wollen wissen, was abweichendes Verhalten eigentlich ist, … Weiterlesen
Zu Wikipedia | Überprüfbarkeit
Ein Beitrag von Rebecca Araya und Philipp Veratti.
Wikipedia beruft sich auf die Darstellung verbreiteten und festgestellten Wissens. Deshalb ist es wesentlich, dass der Inhalt eines Artikels nachprüfbar und im akademischen Bereich anerkannt ist. Wikipedia ist grundsätzlich eine Sekundär- bzw. Tertiärquelle, und beruht deshalb meistens auf Sekundärliteratur.
Unter Überprüfbarkeit versteht man die Fähigkeit, nach dem Wahrheitsgehalt einer Aussage zu suchen und ihn anhand von Belegen, welche von der besagten Aussage unabhängig vorhanden sind, zu festigen. Enzyklopädisch heißt in dem Fall belegbar und bereits festgestellt.
BELEGE
Wikipedias Grundsätze zur Belegbarkeit lauten
- Artikel sollen nur überprüfbare Informationen aus zuverlässiger Literatur enthalten.
- Angaben, die nur mit Rechercheaufwand bestätigt werden können sowie strittige Angaben und Zitate sind mit Herkunftsangaben zu belegen.
- Die Pflicht, Informationen zu belegen, liegt bei dem, der sie im Artikel haben möchte, nicht bei dem, der sie in Frage stellt. In strittigen Fällen können unbelegte Inhalte von jedem Bearbeiter jederzeit unter Hinweis auf diese Belegpflicht entfernt werden. 1
ZUVERLÄSSIGE QUELLEN
Eine zuverlässige Quelle ist eine, die langfristig und zugänglich verfügbar ist: Dies widerspricht oft Internet-Quellen und im Internet zu findenden Funkquellen:Im Falle der Internet-Quellen, weil sie relativ willkürlich gelöscht werden können; im Falle der Funkquellen weil sie in der Regel nach einem bestimmten Zeitraum gelöscht werden müssen.
Der Neutralität Wikipedias gemäß sind parteiische Informationsquellen in den meisten Fällen gar nicht als Belege benutzbar, sondern nur in ganz besonderen Fällen.
Wissenschaftliche Quellen
Wissenschaftliche Publikationen, darunter Standardwerke, begutachtete Veröffentlichungen, systematische Übersichtsarbeiten (systematic review) werden normalerweise als zuverlässig beachtet. Mit zu beachten ist aber die Aktualität der Publikation und ihre Veranlagung im akademischen Diskurs. Veröffentlichungen aus dem Selbstverlag gelten nicht als solche, “falls sie nicht zuvor als Dissertations- oder Habilitationsschriften angenommen worden sind.” 2
Internet-Quellen
Internet-Informationen werden in der Regel als unzuverlässig beachtet, um so mehr wenn es um private und/oder kommerzielle Seiten geht. Wenn ein Zusammenhang zum Thema besteht, könnte in Sonderfällen eine Internetseite als Beleg benutzt werden. Dazu gehören aber Wikis nicht; es sei denn, der Autorenkreis ist geschlossen. Übersetzungen von anderen Wikipediaseiten sind auch nicht als Beleg zu sehen, es sei denn, die Quellen sind auf Deutsch übertragbar.
THEORIEFINDUNG
“Grundsätzlich beruhen Artikel in der Wikipedia auf überprüfbaren Aussagen. Überprüfbar ist, was mithilfe verlässlicher Informationsquellen belegt werden kann. Ob Aussagen wahr sind oder nicht, ist – insbesondere in umstrittenen Fällen – nicht in der Wikipedia zu klären.” 3
Was nicht in akademischen Bereichen festgestellt wurde, darf in der Regel nicht in Artikeln erscheinen. Quellen für Wikipedia-Artikel sollten haupsächlich der Sekundärliteratur entnommen werden; womöglich sollte man auch auf Primärquellen verzichten, es sei denn, es gibt keine Sekundärliteratur dazu (dies ergibt aber die Frage, ob das Thema relevant genug ist, um in Wikipedia eine Darstellung zu finden). Neugebildete bzw. unvollkommene Begriffe sind streng zu vermeiden. Sowohl Minderheitenmeinungen als auch relativ unbekannte Beiträge sind wegen ihrer Irrelevanz oder geringer Resonanz unerwünscht.
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Ein paar “Unzeitgemässe Betrachtungen”
Ist Wikipedia eine reine Sammlung von Information?
Bewertung ist in der Wikipedia nicht angemessen. Es ist verständlich, dass eine zugängliche und weit verbreitete Institution so neutral wie möglich sein muss, um überhaupt zugänglich und verbreitet zu sein, die Frage ist aber: Wäre es nicht möglich, mehrere Meinungen darzustellen anstatt keine Meinung?
Was ist relevant (und wieso)?
“Fehlende wissenschaftliche Sekundärliteratur bei vielen Themen deutet auf fehlende enzyklopädische Relevanz hin”. 4
Hier tritt die Frage der Minderheitenmeinungen wieder auf. Wer entscheidet darüber, was Minderheiten sind? Wenn Wikipedia kein “experiment in anarchy or democracy” 5 ist, auf welchen Gründen basieren die Entscheidungen? Wikipedia ist eine Macht im Bereich des Wissens; wie rechtfertigt sie sich?
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Siehe auch:
Wikipedia is not an indiscriminate collection of information.
Ö1: Arbeitermusikkultur in Österreich
Apropos Musik
mit Johannes Leopold Mayer.
"Revolutionäre Lieder und Symphonien Mahlers" - Arbeitermusikkultur in Österreich
Der Mai ist ein Monat, der wie kaum ein anderer durch seinen ersten Tag geprägt ist, den historisch so bedeutsamen "Tag der Arbeit". Die mit ihm verbundene Hochschätzung der Arbeit sollte auch das kulturelle Bewusstsein der Arbeiterschaft fördern. Arbeiterlieder waren dafür ebenso geeignet, wie die von der Sozialdemokratischen Kunststelle in Wien organisierten Arbeiter-Symphoniekonzerte, für welche sich Anton von Webern als Dirigent zur Verfügung stellte.
Happy Birthday!
Sonst zum heutigen Geburtstag Berliner Straßentafeln und die Abwesenheit der Hausnummer in London, Dean Street 28:



(1) Berger/Luckmanns sozialkonstruktivistischer Ansatz – Von Susanne Weiß
In einer kleinen Blogreihe wird Susanne Weiß in den kommenden Wochen einen Einblick in ausgewählte Klassiker_innen der Soziologie geben. Den Anfang machen heute die beiden Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Dem US-amerikanischen Soziologen Peter L. Berger (geb. 1929) … Weiterlesen
06. Benjamin und das Ereignis im Zeitalter seiner technischen Multiplizierbarkeit
Per Fingerdruck in die Ewigkeit
Neulich im Zoo, Abteilung für Fische, Reptilien, Amphibien und ähnliches: Menschen, die vor Aquarien und Terrarien stehen, ohne auf die Tiere selbst oder wenigstens auf die sie einsperrende Glasscheibe zu sehen, sondern beständig den Bildschirm ihres Smartphones anstarren und ein Foto nach dem anderen schießen, möglicherweise auch den einen oder anderen Kurzfilm drehen. Ich erwische mich bei einer viel zu naheliegenden kulturpessimistischen Reaktion: Warum, um Himmels willen, muss man bei einem Zoobesuch Zierfische, Stabschrecken oder Tiefseequallen fotografieren, anstatt sie einfach nur anzusehen? Was macht man zu Hause mit diesen Dutzenden von Bildern – außer löschen, um danach neue unsinnige Bilder zu knipsen?
Bevor mich die nicht mehr ganz frische Überzeugung vom Untergang des Abendlandes endgültig in ihre Krallen bekommt, fällt mir dankenswerterweise noch ein, dass ein anderer Beobachter sich hätte fragen können, warum man sich als halbwegs reflektierter Mensch in eine Institution namens „Zoologischer Garten“ begibt, um dort in naturidentischen Mikrobiotopen Tiere zu betrachten, die in diesem Gefängnis nun wirklich nichts verloren haben. Mein Verhalten gibt also nicht minder Anlass zu Stirnrunzeln und Kopfschütteln.
Um hier aber nicht in thematisch unüberschaubare Gefilde wie Mensch-Tier-Beziehungen zu geraten, bleiben wir zunächst bei den Alltags- und Alles-Fotografen. Die Existenz dieses Phänotypus ist nun alles andere als eine aufregende Beobachtung, schließlich haben entsprechende Bildgebungstechniken schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Womit wir es aber in der jüngeren Vergangenheit zu tun haben, ist das exponentielle Wachstum der fotografischen Bildproduktion durch die Unabhängigkeit vom Fotoapparat. Man muss schon seit einer kleinen Weile keine unhandliche Kamera mehr mit sich herumschleppen, man kann einfach den Apparat zücken, der früher vor allem ein Telefon war, um das gewünschte Foto zu machen. Die beständige Verfügbarkeit – lediglich gebremst durch die Akkulaufzeit – lädt ein zum Dauerknipsen. Die Frage, die mich dabei interessiert, kann man in gut Benjaminscher Manier stellen: Welche Rückwirkungen hat diese Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation auf unser Verständnis von Geschichte und ihren Ereignissen (S. 12)?
Abgesehen von der Frage, wie sehr wir uns auf ein Leben vor und durch den Bildschirm einlassen wollen, muss ich wohl neidlos anerkennen, dass all die Fotografierer und Videografierer, all die Dokumentaristen ihres eigenen Alltags ein wesentlich tiefer gehendes Verständnis von Geschichte haben als ich. Sie arbeiten nämlich mit Hochdruck am Projekt der Auto-Historisierung, der durchgehenden und umfassenden Überlieferung ihres eigenen Lebens – das höchstwahrscheinlich nichts „Historisches“ (im Sinne von „Außergewöhnliches“) aufzuweisen haben wird, außer der Überlieferung selbst. Unzählig viele Menschen sind genau in diesem Moment dabei, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu basteln, indem sie ihr Dasein bildlich fixieren. Auch das hat schon Walter Benjamin in seiner eigenen Gegenwart beobachtet: Man kann sich mit einem Fingerdruck in die Ewigkeit katapultieren (S. 131). Die Kamera im Mobiltelefon potenziert diese Möglichkeiten nochmals um ein Vielfaches, weil sich der Weg zwischen Objektsichtung, Aufnahme und Veröffentlichung auf ein Minimum reduziert hat.
Sofern sich das Problem der dauerhaften Datensicherung halbwegs in den Griff bekommen lässt – schließlich sind elektronische Speichermedien für eine längerfristige Archivierung denkbar ungeeignet –, werden zukünftige Historiker/innen in einem unüberschaubaren Ozean umfassend dokumentierter Lebensläufe baden können. Hier entsteht eine eigene Parallelüberlieferung zur offiziösen und institutionell kontrollierten Geschichtsschreibung der Mächtigen. Die Geschichte des Alltags könnte in gänzlich neue Dimensionen vorstoßen, weil die Vielen eben nicht mehr nur stumme Objekte der Historiographierung derjenigen sind, die sich (auch überlieferungstechnisch) besser organisieren können, sondern die technischen Möglichkeiten ihnen eigene Stimmen und Perspektiven verschaffen. „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.“ (S. 32) Und sei es auch nur beim Bestaunen von Zierfischen.
Nachgemachte Ereignisse
Ebenso dürften künftige Historiker/innen bei der Sichtung dieses Materials aber feststellen, dass sich in den autobiographischen Bilderstrecken von der Wiege bis zur Bahre nicht nur der widerständige Eigensinn eingenistet hat, sondern dass hier zugleich machtgesättigte Diskurse für ihre eigene Reproduktion und Multiplikation sorgten. Und da kann ich den Kulturpessimisten in mir nicht ganz zum Schweigen bringen. Denn werden nicht massenhaft diejenigen Ereignisse als Ereignisse festgehalten, die zuvor schon als Ereignisse apostrophiert und inszeniert wurden? Was sieht man denn inzwischen bei Krönungsfeierlichkeiten, Staatshäupterbegegnungen, Sportwettkämpfen oder Prominentenauftritten außer einem Wald von hochgereckten Handys? Die Zuschauerschar wird nachdrücklich auf die „historische“ Ereignishaftigkeit eines Geschehens hingewiesen, um es dann brav für den privaten Rahmen zu reproduzieren und im Netz zu multiplizieren. Was als nächstes geschehen wird, ist immer schon längst geschehen, weil in hinreichendem Maß durch eine ausgefeilte Inszenierung geplant. Ereignisse werden gemacht – und nachgemacht. Der große historische Auftritt, minutiös im Vorhinein einstudiert, wird tausendfach aus jeweils individuellen, zugleich gänzlich stromlinienförmigen Blickwinkeln festgehalten. Ereignisse werden (und sind) damit in einem kaum noch steigerbaren Maß selbstreferentiell, weil in den Medien vorkommt, was in den Medien vorkommt.
Bei Ereignissen, denen die Menschen nur noch durch ihre Handy-Kameras beiwohnen, ohne das Geschehen selbst zu betrachten, ist diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der historischen Archivierung mit Händen zu greifen: Hier bestätigt sich die Bekanntheit des Bekannten, hier öffnet sich das Fenster zur öffentlichen Multiplizierbarkeit. Im Moment, in dem „es“ geschieht (was immer „es“ auch ist), sieht man „es“ schon durch die mediale und damit auch historische Bedeutsamkeit suggerierende Vermittlung des eigenen kleinen Taschenbildschirms: Mama, wir sind im Fernsehen!
Die Körnung der Ereignisse
Aber wie schon Benjamin wusste: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (S. 17) Es sind mithin nicht nur die inszenierten Ereignisse, die auf ihre Multiplikatoren wirken, sondern es sind ebenso die Multiplikatoren, die nun Ereignisse erzeugen – und nicht selten völlig ungeahnte.
Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation demokratisiert das historische Ereignis. Es lässt sich nicht mehr absehen und nicht mehr kontrollieren, wann ein Ereignis zu einem solchen wird. Und unerwünschte Ereignisse lassen sich inzwischen auch schwerer unterdrücken. Die Planbarkeit von Historischem entzieht sich zumindest teilweise dem Zugriff der Machthaber. Die allzeit bereiten Bildaufzeichnungsgeräte, die im Stile eines fotografierenden Revolverhelden in Sekundenschnelle gezückt werden können, sind auch überall dort, wo eigentlich nichts passieren sollte. Ereignisse lassen sich von unten machen. Das mag gänzlich Unspektakuläres betreffen, wenn private Videos via Youtube eine Aufmerksamkeit erhalten, die sie überhaupt erst zu Ereignissen machen. Das betrifft aber auch gravierendere Geschehnisse wie Demonstrationen, Proteste, Aufstände oder Kriege – man sehe sich nur die Dokumentation des arabischen Frühlings an –, wenn das Fehlen anderer Beobachter die Handy-Kamera zur dokumentarischen Macht werden lässt.
Mit Blick auf die Presse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Benjamin davon gesprochen, dass immer mehr Lesende inzwischen zu Schreibenden werden (S. 32f.). Aufs Historische übertragen, kann man feststellen, dass immer mehr Ereignisrezipienten zu Ereignisproduzenten werden. Die fernsehbebilderten Abendnachrichten sind deutlich geprägt durch das Informationsmaterial von (nicht selten unfreiwilligen) Amateurkorrespondenten. Es vergeht kaum eine Sendung, in der nicht ein privates Foto oder ein verwackelter Videomitschnitt Verwendung finden. Naturkatastrophen, Unfälle oder Anschläge – mit anderen Worten, all die plötzlich eintretenden Dinge, die nicht schon als pünktlich terminierte Ereignisse angekündigt und vorbereitet worden waren, werden zum Tummelfeld der Knipser und Filmer. Diese Bilder in eher schlechter Auflösung und mit zu geringer Pixelzahl, diese verwackelten Videos, bei denen man zuweilen vor allem sieht, dass man nichts sieht, außer plötzlich explodierenden Farben, kombiniert mit einem wilden Stimmengewirr auf der Tonspur, können dem Geschehen wieder etwas Anarchisches zurückgeben. Auch wenn es sich zumeist um wenig erfreuliche Vorgänge handelt, um Tod und Zerstörung, so halten diese Bilder doch auch eine historische Lehre parat: Die Körnung der Bilder verweist auf die Körnung der Ereignisse. Sie zeigen uns die Unschärfe des Plötzlichen.
[Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. Detlev Schöttker, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2012]
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