Nicht nur junge SchülerInnen, sondern sogar noch Erwachsene haben unzulängliche Vorstellungen davon, wie GeschichtswissenschaftlerInnen zu ihren Erkenntnissen kommen. Mythen wie die des schaufelnden Archäologen, die sich in den Vorstellungen verankern, werden über die Medien transportiert und verstärken derartige beliefs. Diese wirken sich vermutlich negativ auf historisches Denkvermögen aus. Höchste Zeit für die geschichtsdidaktische Forschung zu prüfen, wie das Verständnis von nature of history bei Heranwachsenden gefördert werden kann.
Historiker als “Schatzsucher”
SchülerInnen nehmen historische Darstellungen v.a. in Film und Fernsehen als Autorität wahr und nicht als Bewusstseinskonstrukt der Produzenten. Das haben empirische Untersuchungen mehrfach gezeigt.1 Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt das Bewusstsein, dass Darstellungen aufgrund des Blickwinkels der Betrachtenden und nicht etwa wegen fehlenden oder widersprüchlichen Informationen kontrovers ausfallen.2 Als ein Hemmnis für den kritischen Umgang mit Darstellungen stellte sich heraus, dass die Lernenden keine Idee davon hatten, wie eine HistorikerIn forscht, was überhaupt rekonstruiert werden kann und welche Erkenntnisprinzipien den Forschungsprozess bedingen. SchülerInnen besitzen nicht nur wenig differenzierte, sondern auch schiefe Vorstellungen über die Arbeit in den Geschichtswissenschaften.3 Lernende in der Sekundarstufe I betrachten häufig einen Historiker als grabenden Archäologen – wohl auch bedingt durch die über Lehrpläne normativ vorgegebene Konzentration auf Vor- und Frühgeschichte sowie Antike. Gestützt werden die beliefs u.a. durch die Verbreitung von Mythen über die historische Erkenntnisgewinnung von Archäologen in den Medien. So sehen laut einer Studie des Instituts für Klassische Archäologie der Universität Bonn aus dem Jahr 2000 über 30 Prozent der 1.400 befragten Erwachsenen die Erforschung von Dinosauriern als Aufgabengebiet der Archäologen; 90 Prozent stellen sich einen Archäologen ausschließlich als schatzsuchende WissenschaftlerIn vor. Das ist ein Mythos, der seit dem 19. Jahrhundert popularisiert wird, nicht zuletzt dadurch, dass Heinrich Schliemann und seine Ausgrabungen in Troja, Mykene und Tiryns bis heute medial befördert werden.4
Forschungs-Ergebnisse
Für die naturwissenschaftlichen Fächer ist bereits gut erforscht, dass ein Verständnis über nature of science die Lernenden stark in ihrer Flexibilität bei schwierigen Denkprozessen fördert. Dies wurde sogar schon für GrundschülerInnen belegt, die lediglich eine kurze Interventionsphase durchlaufen hatten.5 Dagegen existieren für das Fach Geschichte bislang vorwiegend einige amerikanische, britische, schwedische und spanische Untersuchungen. Es wird vielfach angenommen und ist ansatzweise belegt, dass das Verständnis über nature of history und die Rolle des Historikers die Lernenden dabei unterstützt, historisch argumentieren und denken zu lernen.6 Allerdings entsprechen die Prä-Konzepte in den beliefs der Lernenden meist nicht den wissenschaftlichen Konzepten. Gleichwohl konnten Denis Shemilt, aber auch Peter Lee und Rosalyn Ashby für epistemologische Überzeugungen zu Quellen, Darstellungen und zum historischen Forschungsweg in Interventionsstudien belegen, dass zumindest ein Teil der Testpersonen innerhalb einer von niedrig bis hoch gestuften Skala von nicht haltbaren bis wissenschaftlich haltbaren Denkniveaus eine hohe Stufe erreicht.7 Äußerst interessant ist, dass sich deren beliefs innerhalb einer Altersstufe stark unterschieden und 8-Jährige über elaboriertere Vorstellungen verfügten als 12- bis 14-Jährige. Insofern hängt es also nicht vom Alter ab, ob ein Denklevel erreicht wird, sondern von individuellen kognitiven Strukturen. Das ist ein deutliches Signal dafür, dass historisches Denken bereits vom Grundschulalter an möglich ist und offenbar gefördert werden kann. Unzureichende Vorstellungen von SchülerInnen liegen wohl letztlich auch darin begründet, dass der historische Erkenntnisprozess und dessen Bedingungen im Geschichtsunterricht bislang nur unzureichend thematisiert werden.
Forschungs-Chancen
Die vorliegenden Ergebnisse werfen viele Fragen und Herausforderungen für die empirische geschichtsdidaktische Forschung auf, die über Interventionsstudien anzugehen sind: Unterstützt das Verständnis über nature of history bei SchülerInnen die historische Denkfähigkeit? Wie könnten Prä-Konzepte davon über alle Schuljahre hinweg analysiert und modifiziert werden? Wie müssen sich Lernprozesse in verschiedenen Schularten, Lernvoraussetzungen oder auch bei Mädchen und Jungen unterscheiden?8 Weitgehend offen ist, wie Lernarrangements im Fach Geschichte gestaltet sein müssten, um eine Konzeptveränderung einzuleiten.9 Explorative Studien im Rahmen studentischer Masterarbeiten haben gezeigt, dass es gewinnbringend ist, die historischen Methoden und den Erkenntnis- und Deutungsprozess im forschend-entdeckenden Lernen zu untersuchen. Dabei hat es sich bestätigt, dass alleine ein Arbeiten mit Quellen und Darstellungen nicht genügt, sondern auf einer Metaebene über Widersprüche, Vorannahmen und Narrationen reflektiert werden muss. Dabei scheinen Ankerkonzepte aus lebensnahen Situationen der Lernenden die Einleitung der Konzeptveränderung zu erleichtern. Ergebnisse im Bereich der Conceptual-Change-Forschung in den Naturwissenschaften bieten möglicherweise relevante Anknüpfungspunkte. Hier haben sich problemorientiert angelegte Lernumgebungen mit Experimenten als sehr förderlich erwiesen.10 Eine aktuelle Idee in der Physikdidaktik ist es, die Geschichte des Faches selbst zu thematisieren.11 Wie hat sich Erkenntnisgewinnung früher gestaltet und wie hat diese sich verändert? Dies wäre ein weiterer möglicher Ansatzpunkt für Interventionen im Geschichtsunterricht: Die Mythen, die sich in der Vergangenheit über Archäologen gebildet haben, könnten gemeinsam mit den Lernenden entlarvt werden, um bei diesem Lernprozess deren beliefs über die Arbeitsweise von Historikern auf ein elaboriertes Niveau zu heben.
Literatur
- Drie, Janett van / Boxtel, Carla van: Historical Reasoning: Towards a Framework for Analyzing Students’ Reasoning about the Past. In: Educational Psychology Review 20 (2008) 2, S. 87-110.
- Limón, Margarita: Conceptual change in history, in: Limón, Margarita / Mason, Lucia (Hrsg.): Reconsidering conceptual change. Issues in theory and practice. Dordrecht / Boston / London 2002, S. 259-289.
- Voss, James F. / Wiley, Jennifer: Geschichtsverständnis: Wie Lernen im Fach Geschichte verbessert werden kann, in: Gruber, Hans / Renkl, Alexander (Hrsg.): Wege zum Können. Determinanten des Kompetenzerwerbs. Bern u. a. 1997, S. 74-90.
Externer Link
- Forschungsprojekt Historisches Denken von 4-10jährigen Kindern in der deutsch-, italienisch- und romanischsprachigen Schweiz (zuletzt am 02.04.2014).
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Abbildungsnachweis
© Wolfgang Dirscherl / pixelio.de
Empfohlene Zitierweise
Fenn, Monika: Mythen ade! – Conceptual Change im Geschichtsunterricht. In: Public History Weekly 2 (2014) 12, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1726.
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