Der „späte Sieg der Diktaturen“ – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts?

 

„Surely a grade of 33 in 100 on the simplest and most obvious facts of American history is not a record in which any high school can take pride.“ Dieser Satz fasst das Ergebnis einer Schülerbefragung zusammen. In dem amerikanischen Blog „History News Network“ wurde zu dieser Aussage die Frage gestellt, aus welchem Jahr das Zitat stamme: 1987, 1976, 1942 oder aus keinem dieser Jahre. Das Letzte ist richtig. Denn der Satz stammt aus einer Studie von 1917.1

 

Mangelhafte Geschichtskenntnisse

Nun fand diese Untersuchung nicht in Deutschland, sondern in den USA statt, vor fast einhundert Jahren. Aber Vorsicht: Ähnliche Umfrageergebnisse lassen sich sowohl für andere Länder als auch für Deutschland relativ problemlos dokumentieren. Legendär ist zum Beispiel die Studie des Kieler Diplompädagogen Dieter Boßmann „Was ich über Adolf Hitler gehört habe…“ von 1977.2 „‚Nichts, leider’, formulierte eine 16-jährige Berufsschülerin. Tatsächlich ist Unkenntnis die Regel. Dem äußerst geringen Sachwissen entsprechen die vielfach abstrusen Wertungen.“ Der Autor nenne das Ergebnis „eine blanke Katastrophe“, wusste der SPIEGEL darüber zu berichten – womit wir beim Thema wären. Was diese Studien und ihre folgende mediale Verarbeitung schon immer ausmachte, ist nicht die Tatsache mangelnden Wissens an sich. Der Anlass zur Kritik liegt stattdessen darin, dass unzureichendes Wissen mit Werturteilen in Verbindung gebracht wird. Während die Mängel etwa in Mathematik mit dem Verlust der wirtschaftlichen Zukunftsfähigkeit des Landes assoziiert werden, steht beim lückenhaften Geschichtswissen mindestens die Stabilität der deutschen Demokratie auf dem Spiel. Als Urheber dieser Defizite wird umstandslos die Schule ausgemacht. Obwohl gerade bei historischem Wissen und geschichtsbezogenen Werturteilen solche einfachen kausalen Schlüsse wissenschaftlich alles andere als bewiesen sind, garantieren sie maximale Aufmerksamkeit. Ob historische Werturteile auch oder sogar stärker außerhalb des schulischen Kontextes vermittelt werden, steht dabei zumeist nicht zur Debatte.

Demokratiedefizit oder schlechte Lesekompetenz?

Gänzlich unbeeindruckt zeigt sich in dieser Hinsicht auch der Berliner Politologe Klaus Schroeder, der 2012 eine Studie über „zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ mit dem Titel „Später Sieg der Diktaturen“ vorgelegt hat, die große Kenntnisdefizite bei deutschen SchülerInnen über Zeitgeschichte zeigen wollte. Und erneut war es der SPIEGEL, der auf dieser Grundlage Aufklärung in Sachen Bildung und Schule an seine Leser brachte.3 Schroeder meint, bei Zehntklässlern ein Demokratiedefizit entdeckt zu haben, weil die Jugendlichen bei Fragen wie „Die (unterschiedlichen) Planwirtschaften des NS und der DDR sind nicht besser oder schlechter als die Marktwirtschaften der BRD vor und nach der Wiedervereinigung“ das Kreuz nicht bei „Lehne voll ab“ gemacht haben. Die berechtigte Frage, ob SchülerInnen solche Sätze überhaupt verstehen oder nur sozial erwünschte Antworten geben, sind Schroeder zu feinsinnig.

„Ergebnisoffener Unterricht“ als Ursache?

In einer Pressemitteilung macht er jedenfalls aus der für ihn daraus resultierenden, simplen Verbindung von „fehlendem“ Wissen und „falschem“ Urteil gar keinen Hehl: „Als Konsequenz aus den Ergebnissen unserer Befragungen halten wir eine Werteorientierung im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik im zeitgeschichtlichen Schulunterricht für unverzichtbar. Die Werte einer freiheitlichen Demokratie – Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus – müssen die Grundlage für die Beurteilung von Systemen bilden. Schulunterricht darf nicht prinzipiell ‚ergebnisoffen‘ sein, sondern nur bezogen auf den Spielraum im Rahmen einer pluralistischen Demokratie.“4 Diese Schlussfolgerung ist erklärungsbedürftig. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Es ist doch gar nicht abzustreiten, dass fehlendes Wissen und mangelndes Urteil miteinander zu tun haben. Aber wo ist die Logik des von Schroeder konstruierten Zusammenhangs? Er hat überhaupt nicht untersucht, ob bei den befragten Schülern ein „ergebnisoffener“ Unterricht durchgeführt wurde, was auch immer Schroeder darunter verstehen mag. Insofern ist es mit der Validität der Untersuchung nicht weit her.

Wertevermittlung im Gespräch

Meine Vermutung geht eher in eine andere Richtung, dass nämlich der Unterricht genau so „wertorientiert“ abgehalten wurde, wie es Schroeder als Ziel vorschwebt. Dafür gibt es im Hinblick auf den Unterricht zum Nationalsozialismus starke Belege.5 Die Schüler sind vermutlich mit den „Vorzügen“ der Bundesrepublik und den „Konstruktionsfehlern“ der DDR konfrontiert worden. Das Problem besteht dabei darin, dass eine solche „Wertorientierung“ erheblich mit den Erzählungen, die in der Geschichtskultur präsent sind, kollidiert. Wie sollen Lernende damit umgehen? Sie können verwirrt sein, sie können den Widerspruch verdrängen, sie können den Schulstoff nachplappern oder sich dagegen auflehnen. Wäre es nicht sinnvoller, mit ihnen darüber zu sprechen? Insofern würde ich die These wagen, dass ein Geschichtsunterricht, wie ihn Schroeder fordert, genau zu den Ergebnissen führt, die seine Untersuchung hervorgebracht hat.

 

 

Literatur

  • Schroeder, Klaus u.a.: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt/M. u.a. 2012.
  • Monika Deutz-Schroeder / Klaus Schroeder: Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie, Schwalbach/Ts. 2009.
  • Rothe, Valentine: Werteerziehung und Geschichtsdidaktik. Ein Beitrag zu einer kritischen Werteerziehung im Geschichtsunterricht, Düsseldorf 1985.

Externe Links

 



Abbildungsnachweis
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Empfohlene Zitierweise
Bernhardt, Markus: Der “Späte Sieg der Diktaturen” – Resultat ergebnisoffenen Unterrichts? In: Public History Weekly 2 (2014) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1578.

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