Petition zum Erhalt des Alten Bahnhofs Schleißheim
Hans-Ulrich Wehler ist tot
Museumsreport: Residenzschloss Heidecksburg in Rudolstadt/Thüringen
Museumsreport: Leuchtenburg bei Seitenroda/Thüringen
Die Universität Rostock plant die Ehrenpromotion Edward Snowdens — zur Bewertung einer politischen Tradition
Die Schultern, auf denen wir stehen
Die Parallelen zwischen den Bibeldeutungen des Hieronymus und Auslegungstraditionen der rabbinischen Literatur, die wir in diesem Blog untersuchen, sind anderen Wissenschaftlern schon viel früher aufgefallen. Ihre Namen sind verbunden mit der aufblühenden jüdischen Wissenschaft, die u.a. in Breslau am dortigen Jüdisch-Theologischen Seminar ein wichtiges Zentrum hatte. Im Folgenden sollen hier drei Vertreter dieser großen Tradition kurz vorgestellt werden.
Moritz Rahmer (1837-1904)
In Breslau hatte Mitte des 19. Jahrhunderts Rabbiner Dr. Moritz Rahmer studiert, der vor allem in Magdeburg wirkte (Kurzbiografie der Universität Magdeburg). Er publizierte in jüdischen wissenschaftlichen Zeitschriften seine Untersuchungen zu den hebräischen Traditionen bei Hieronymus und lieferte damit die unmittelbare Vorlage für die Arbeit dieses Blogs. Aufgrund seiner umfassenden Bildung war Rahmer nicht nur in der Lage, die rabbinische Literatur, sondern auch die Schriften der Kirchenväter zu überblicken. Durch ihn bin ich beispielsweise auf die bemerkenswerte Darstellung des Hieronymus gestoßen, wie sich der sich lateinische Kirchenvater seine Kenntnisse der hebräischen Sprache aneignete. Diese Bildung Rahmers stellt für heutige Leser eine Herausforderung dar: Lateinische oder hebräische Zitate werden von ihm grundsätzlich nicht übersetzt, da er das Verständnis beider Sprachen voraussetzt.
Louis Ginzberg (1873-1953)
Wahrscheinlich bekannter als Rahmer dürfte Louis Ginzberg sein, dessen monumentales Werk The Legends of the Jews (1909-1928) weite Verbreitung gefunden hat. Ende des 19. Jh. schrieb er in Heidelberg eine Dissertation zum Thema: Die Haggada bei den Kirchenvätern. Der später nach Amerika ausgewanderte Wissenschaftler, der jahrzehntelang am Jewish Theological Seminary of America einen Lehrstuhl innehatte, zeigt hier seine souveräne Beherrschung des Themas. Sprachlich gilt das selbe für ihn wie für Moritz Rahmer: Die Beherrschung der lateinischen und der hebräisch/aramäischen Sprache und Literatur ist ihm Selbstverständlichkeit.
Samuel Krauss (1866-1948)
Der nächste Wissenschaftler ist Prof. Samuel Krauss, der Rektor der Israelitisch Theologischen Lehranstalt in Wien war. Ich habe ihn schon einmal an anderer Stelle etwas ausführlicher vorgestellt. Krauss verfasste das Werk Griechische und Lateinische Lehnwörter in Talmud, Midrasch und Targum, das heute noch für unsere Untersuchungen sehr nützlich ist.
Im Grunde genommen greifen wir hier in diesem Blog also die Fäden auf, die der damaligen jüdischen Wissenschaft aus den Händen gerissen, bzw. deren Forschungen in der Patristik lange ignoriert wurden. Angelika Neuwirth hat in ihrem Buch »Der Koran als Text der Spätantike« darauf hingewiesen, dass es ebenfalls jüdische Wissenschaftler – allen voran Abraham Geiger – waren, die eine Koranforschung betrieben, bei der sie ihre umfassenden Sprachkenntnisse in die Lage versetzten, die gemeinsamen und doch so differenzierten Auslegungstraditionen von Rabbinen, Kirchenvätern und dem Koran erstmalig zusammensehen zu können. Auch von diesen Leistungen zehrt die Forschung bis heute.
Graphisch aufbereitete Blog-Statistik für 2013 (seit Mai)
Weihnachtswünsche
Lektüre: “Europa erfindet die Zigeuner”
Ich lese gerade Klaus-Michael Bogdals lesenswerte Studie über die diskursive Erfindung und Darstellung der “Zigeuner” in der europäischen Literatur seit dem späten Mitteltalter. Die Vereinnahmung der Romvölker und ihre Darstellung in Wissenschaft und Kunst, ohne mit den Menschen selber zu sprechen und wie dies zu Ausgrenzung und dauerhafter Marginalisierung führt, ist das Thema das Buches. Gut wird auch dargestellt, dass solche “harmlosen” Repräsentationen nicht unschuldig sind, sondern mit Praktiken der Entrechtung und Verfolgung korrespondieren.1
Anregend fand ich die Perspektive, die ich als mit kolonialgeschichte Beschäftigter gerne übersehe, nämlich dass die europäischen Nationen ihr Anderes, gegenüber dem sie ihre eigene zivilisatorische Höherwertigkeit begründeten, zuerst in Europa fanden, vor allem die Romvölker und – mit Unterschieden – die europäischen Juden. Vorurteile von erblicher Kriminalität, widersprüchliche Narrative von “Unzivilisierbarkeit” und gleichzeitigen Assimilations- und Erziehungsversuchen und anthropologische Vermessungen und Klassifizierungen im Geiste einer aufklärerischen Wissenschaft haben hier ihre Wurzeln. Das Instrumentarium, dass der misstrausche Staat gegenüber nicht-sesshaften Gruppen entwickelt hatte, wurde auch in Britisch-Indien im 19. Jahrhundert angewendet, etwa gegenüber den sogenannten “criminal tribes“.
Dass die durch jahrhundertelange diskursive Ausgrenzung und Marginalisierung erzeugten Vorurteile nach 1945 keineswegs aufhörten und sich besonders den Roma gegenüber am stärksten und längsten hielten, hat mich nicht überrascht. Dennoch ist das Urteil des BGH von 1956 bezüglich Wiedergutmachungsansprüchen der “Zigeuner” in seinem unverblümten Rassismus für mich besonders eindrücklich dafür gewesen, wie tief die durch Literatur und Wissenschaft erzeugten Repräsentationen bis heute Realitäten und Wahrnehmungen prägen:
Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.2
Angesichts aktueller Fälle rassistischer Praktiken und den selbstgefälligen Schwierigkeiten, dies auch so zu benennen, zeigt sich, wie tief die konstruierten Bilder des Fremden immer noch unser Denken prägen, selbst wenn man sich vor Rassismus gefeit wähnt.
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011.