Wozu braucht die Linguistik (noch) den Zeichenbegriff?

Wenn man wissenschaftlich aufwächst an einem Ort, an dem die Zeichennatur der Sprache ganz selbstverständlich vermittelt wird, braucht es – selbst bei professoralem Frischwind – eine Weile, bis man die Grenzen dieses Begriffes wirklich durchschaut und dann zu der unumgänglichen Frage kommt: Wozu ist der dann eigentlich noch gut?

Jüngst bin ich wieder auf einen Handbuchartikel von Ludwig Jäger gestoßen, den ich noch aus meiner Chemnitzer Zeit als Preprint kannte. Und wie das so ist, wenn man ‘flügge’ wird, stellen sich die Dinge rückblickend manchmal ganz anders und wieder draufschauend ganz neu dar.

Es handelt sich um den Artikel Sprache, erschienen in Binczek, Natalie/Dembeck, Till/Schäfer, Jörgen (Hg.) (2013): Handbuch Medien der Literatur. Berlin: De Gruyter, S. 11–26. Hier möchte ich nicht eingehen auf die sehr guten Gedanken bezüglich der Materilität/Körpergebundenheit von Sprache, ihre bewusstseins- und weltkonstitutive Kraft und die fruchtbare Relektüre von Saussures (2003a; 2003b) nachgelassenen Schriften. Was mich hier interessieren soll, ist der Abschnitt zur “Zeichenhaftigkeit” von Sprache (S. 16-19).

Die Zeichenhaftigkeit von Sprache steht gewissermaßen – auch widerstreitend in meinem Kopf – der Handlungsqualität von Sprache gegenüber. Schließen sich diese beiden Gedanken wechselseitig aus? Sicherlich nicht – auch wenn Ausdrücke wie ‘Zeichenhandeln’ oder ‘Zeichengebrauch’ doch stark den Eindruck einer begrifflichen Krücke machen. Fraglich ist dabei nur, wer wen wie abstützt und auf welche begrifflichen Schwächen das hinweist?

Diese Ausdrücke weisen auf jeden Fall darauf hin, dass dem Begriff des Zeichens die Handlungsqualität nicht unmittelbar zu eigen ist. Man fühlt sich zu dieser Wortbildung oder zur Erwähnung des Determinatums genötigt, um diesen Aspekt am Zeichen hervorzukehren. Solch eine Explikationsform findet sich auch in Jägers Ausführungen zur Sozialitätsbedingung von (sprachlichen) Zeichen:

“Gerade hier hat die Sozialität sprachlicher Zeichen ihren systematischen Ort. Die Konstitution von Bewusstsein ist eng mit dem Gebrauch von Zeichen im diskursiven Horizont sozialen Austauschs verknüpft.” (Jäger 2013: 18; Herv. i.O.)

Im Kontext der Zeichentheorie scheint es also nicht das Determinatum (“-handeln”) zu sein, das es gilt, zu bestimmten und so bspw. Zeichenhandeln von anderem Handeln zu unterscheiden, sondern vielmehr ist es das Determinans (“Zeichen-”), dem hier etwas nebengeordnet wird. Aus dem Determinativkompositum wird in dieser Verwendung ein doppelköpfiges Kopulativkompositum. Die Relation zwischen diesen beiden ‘bestimmenden’ Bestandteilen/Köpfen des Kompositums ist nun relativ unklar. Wie stehen Zeichen und Handlung in einem Verhältnis zueinander? Wie lässt sich Zeichenhandeln hinsichtlich beidem, der Zeichennatur und der Handlungsqualität, bestimmen? Hier deutet sich schon die – m.E. einzige – begriffliche Lösung an, auf die ich am Ende zurückkommen werde.

Vorher soll hier aber darauf eingegangen werden, was für ein Bias allgemein im Zeichenbegriff liegt und wie diesen auch Jäger in seinen zeichenphilosophischen Überlegungen reproduziert, die Handlungsqualität von Sprache daher nur als argumentativen Unterbau gebraucht, sie in der Explikation seines Sprachbegriffs nur randständig behandelt und damit große Bereiche der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel ausblendet.

Zwar hat Jäger in seinem Handbuchartikel auch einen Abschnitt über die “Funktionalität” von Sprache (S. 12f.), dort deutet sich der eben erwähnte Bias aber schon an. Geht er dort doch nur recht abstrakt auf einerseits die “kommunikativen Funktionen” “der Übertragung, Distribution und Speicherung von Sinn” und andererseits die “kognitive[.] Funktion” ein. Bei letzterer geht es um das Verhältnis von Ich- und Weltbewusstsein und deren wechselseitige, konstruktive Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen Gebrauch vergesellschafteter Mittel. Hier spricht er sich also gegen eine simple Auffassung der Relation zwischen Bewusstsein und Welt aus, die in Begriffen des ‘Abbilds’ oder der ‘Wiederspiegelung’ auch in der Linguistik immer noch präsent sind. Die diesbezügliche Pointe ist – platt gesagt – das Medium ist die Botschaft: Die unterschiedlichen Sprachen sind mit ihren Strukturen immer auch Strukturierer: Sprache “verarbeitet keinen sprachtranszendenten Sinn, sondern sie erzeugt Eigensinn” (S. 12).

Wie dieser Eigensinn nun aber en détail und mithin sprachtypologisch je verschieden hervorgebracht wird, fällt aus Jägers philosophischer Perspektive heraus. Dies ist damit auch nicht Thema weder, wenn es um die Funktionalität von Sprache, noch, wenn es um ihre Zeichenhaftigkeit geht. Im Abschnitt zur Zeichenhaftigkeit wird auch wieder deutlich, wie stark Jäger der sprachphilosophischen und wie wenig er der im engeren Sinne linguistischen Diskussion verpflichtet ist.

Der ganze Abschnitt beschäftigt sich mit der großen Frage des Zusammenhangs zwischen materialem Zeichen und mentalem Begriff. Jäger formuliert in diesem Abschnitt vier Bedingungen, die die “Darstellungsleistung” (S. 16) von Sprache ermöglichen. Den Zusammenhang zwischen Ausdruck und Inhalt denkt Jäger also alles andere als (ver)einfach(t) und das begriffliche Entfalten der Handlungsqualität von Sprache torpediert diese Überlegungen m.E. auch nicht. Dennoch sind sie gewissermaßen auf einem Auge blind und einer zeichentheoretischen Tradition verpflichtet, die eine spezifische, durchaus wichtige Qualität von Sprache hervorhebt, damit aber eine Grundcharakteristik verkennt. Eine Reihe von Substantiven, die in diesem Abschnitt präsent sind, können verdeutlichen, um welchen Bias es mir hier geht:

“Bedeutung”, “Begriff”, “Darstellungsmittel”, “Darstellungsleistung”, “Gehalt”, “Ausdruck”, “Inhalt”, “Referenzgegenstände”, “Objekt”.

Weisen nicht alle diese Substantive mit gleicher Intensität in dieselbe Richtung und stammen sie u.a. auch aus unterschiedlichen Philosophenfedern (prominent sind Cassirer, Humboldt, Peirce), so wird doch durch diese Zusammenschau deutlich, dass dem Zeichenbegriff allgemein und auch in Jägers Artikel ganz zentral die Zweiseitigkeit von materialem Zeichen und mentalem Begriff zu eigen ist: aliquid stat pro aliquo. Wie komplex man diese antike Formel auch immer begreifen will, Gültigkeit hat sie nur für einen spezifischen Mittelbereich menschlicher Sprachen: für die “Symbolfeldausdrücke” (vgl. z.B. Redder 2005: 48) oder mit Bühler (1982: 149) die “Nennwörter”. Die funktional-pragmatische Unterscheidung von 5 sprachlichen Feldern (überblickend Ehlich 2007a), also von 5 Aufgaben- oder Zweckbereichen, für die in der Genese der Einzelsprachen die je spezifischen sprachliche Mittel funktionalisiert wurden, knüpft an Bühler an und folgt konsequent einer Rekonstruktion sprachlicher Handlungsqualität.

Die sprachlichen Mittel, die mit dem zeichentheoretischen Bias Jägers ausschließlich in den Blick kommen, sind z.B. Substantive, Adjektive und Verben. Diese werden als Symbolfeldausdrücke verstanden. Symbolische Prozeduren bearbeiten den Zweck begriffliches Wissen in der mentalen Sphäre des Hörers zu aktualisieren:

“In allen Sprachtheorien gilt eine Funktion von Sprache gemeinhin als fundamental, nämlich die des sprachlichen Benennens von Wirklichkeitselementen, mithin der durch nennende Prozeduren vollzogene Zweck. Deshalb erscheinen die Ausdrucksmittel des Symbolfeldes zumeist als sprachliche Mittel par excellence – so auch im Primat der Darstellungsfunktion von Sprache bei Bühler. Gewöhnlich gelten Symbolfeldausdrücke als situationsentbundene, kontextunabhängige Zeichen, eben als Symbole im Sinne der Semiotik. Handlungstheoretisch wird demgegenüber der Zeichenbegriff für Symbolfeldausdrücke wie auch für die anderen sprachlichen Mittel verflüssigt, wenn Zeichen nicht als Basisgrößen gelten, sondern als Mittel zum Vollzug von Prozeduren zwischen S[precher] und H[örer]. Der Zeichenbegriff gewinnt daher in der F[unktionalen] P[ragmatik] eine abgeleitete Qualität. Symbolische Ausdrucksmittel, Ausdrücke des Symbolfeldes also, gelten dann auch nicht länger als Leitgrößen für semantische Konzepte, für Bedeutungshaftigkeit schlechthin. Vielmehr haben alle sprachlichen Ausdrucksmittel gleichermaßen eine prozedurale Bedeutung. Beispielsweise besteht eine symbolische, nennende Prozedur in der Aktualisierung von sprachlich verfasstem Wissen über Wirklichkeit(selemente) [...]; das ist die kategoriale Bedeutung einer nennenden Prozedur. Die besondere, ausdrucksspezifische Prozedur ist im Falle von Symbolfeldausdrücken als das spezifisch zu aktualisierende Wissen zu rekonstruieren.” (Redder 2005: 48f.)

Handlungstheoretisch betrachtet, stellt sich die Rekonstruktion von solchen Ausdrücken also etwas anders dar als mit der Zeichenkonzeption: Es geht nicht nur um “Darstellungsleistung” (S. 16). Es geht vielmehr um die konstitutive Qualität der “kommunikative[n] Dyade” (Weinrich 2006: 17) und damit um die konsequent gestellte Frage, was macht ein sprachliches Mittel wie ein vom Sprecher geäußertes Substantiv mit dem Hörer?

Mehr noch aber führt die handlungstheoretische Sprachkonzeption dazu, zu bemerken, dass eine große Menge sprachlicher Mittel von der Aliquid-stat-pro-aliquo-Vorstellung des Zeichens gar nicht berührt wird: Was für einen begrifflichen Gehalt sollten auch Wörter wie ‘du’, ‘dabei’, ‘er’, ‘aber’, ‘der’, ‘seitdem’ etc. haben? Deren Funktionalität (bei der Konstitution von Ich- und Weltbezug) kann nicht als Zeichen und auch nicht als Zeichenhandeln befriedigend herausgearbeitet werden. In diesem Sinne gewinnt, wie Redder (2005: 48) schreibt, der “Zeichenbegriff” als spezifischer, nicht generalisierbarer Fall nur “abgeleitete Qualität“.

Es bleibt also die Frage, wozu der Zeichenbegriff dann noch taugt? Ist er lediglich ein Begriff für ein spezifisches semantisches Verhältnis, wie es die Symbolfeldausdrücke kennzeichnet? – Ich denke, damit wird man dem Zeichenbegriff der semiologischen Tradition nicht gerecht. Mag er zwar den erörterten Bias aufweisen, liegt doch aber eine Menge seines begrifflichen Gewichtes weniger im ‘Inhalt’ als vielmehr im ‘Ausdruck’! Immer, wenn von Zeichen gesprochen wird, ist unweigerlich seine materiale Beschaffenheit im Fokus, damit seine basale medialisierende Funktion, also das sinnliche Wahrnehmbar-Werden für Sprecher und Hörer im Sprechhandeln oder allgemein im Zeichenhandeln.

Hier kann das ‘Zeichenhandeln’ nämlich wieder als Determinativkompositum ernst genommen werden. Im Verständigungsprozess bedienen wir uns naturgemäß immer “Sprache und mehr” (Linke et al. 2003). Der Zeichenbegriff ist vor dem Hintergrund der obigen Kritik mit dem begrifflichen Fokus auf die medial-materiale Charakteristik des Verständigungsprozesses m.E. ‘nur noch’ dazu geeignet, unterschiedliche Mittelkomplexe kontrastierend beschreibbar zu machen. Mit ihm kann auf die Prozesse der medialen Materialisierung und der daran geknüpften Eigenlogik der Sinnkonstitution abgehoben werden. So kann beispielsweise in den Fokus gelangen, wie Sprache im Vergleich zu Bildern ihre kommunikative Funktionalität aufgrund ihrer spezifischen materialen Struktur entfaltet. Dafür kommen eine Reihe von Bestimmungen infrage, die der Sinnentfaltung während des Sprechens, d.h. während des Material-Werdens von Gedanken, sowohl für den Sprecher wie auch für den Hörer zugrunde liegen. Dies stellt vor allem eine Herausforderung für die Medienlinguistik dar.

Die unumgehbare Linearität des Zu-Verstehen-Gebens und des Verstehens ist da nur die augenfälligste Bestimmung. Ehlich (2007b: 60) hat bspw. die sprachtypologisch unterschiedlich ausprägte Nutzung der materialen Potentiale des menschlichen Stimm- und Hörapparates als “Entscheidungen” beschrieben, die der Bearbeitung sprachinterner Zwecke dienen. ‘Entscheidung’ ist hier freilich nicht teleologisch zu verstehen, sondern weithin metaphorisch.

Der Zeichenbegriff ist also da noch gebrauchbar, wo es darum geht, die unterschiedlichen Mittel kommunikativen Handelns in ihrer materialen Eigenlogik und in ihrem, darauf beruhendem, potentiellen Zusammenwirken zu beschreiben. Jenseits dieser Basisdifferenzierung unterschiedlicher medialer Qualitäten der unterschiedlichen Zeichen, bedarf es aber dann einer handlungstheoretischen Konzeption, um beschreibbar zu machen, in welcher Weise im Verständigungsprozess Sprecher und Hörer gemeinsam sich dieser differenzierten Mittel bedienen, um Verstehen zu ermöglichen.

Bühler, Karl (1982): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Ungekürzter Nachdruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart: Gustav Fischer.
Ehlich, Konrad (2007a): Prozedur. (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache). In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 2: Prozeduren des sprachlichen Handelns. Berlin, New York: De Gruyter, S. 1–2.
Ehlich, Konrad (2007b): Sprachmittel und Sprachzwecke. In: Konrad Ehlich: Sprache und sprachliches Handeln. Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Berlin, New York: De Gruyter, S. 55–80.
Jäger, Ludwig (2013): Sprache. In: Binczek, Natalie/Dembeck, Till/Schäfer, Jörgen (Hg.): Handbuch Medien der Literatur. Berlin: De Gruyter, S. 11–26.
Linke, Angelika/Ortner, Hanspeter/Portmann-Tselikas, Paul R. (Hg.) (2003): Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer.
Redder, Angelika (2005): Wortarten oder sprachliche Felder, Wortartenwechsel oder Feldtransposition? In: Knobloch, Clemens/Schaeder, Burkhard (Hg.): Wortarten und Grammatikalisierung. Perspektiven in System und Erwerb. Berlin, New York: De Gruyter, S. 43–66.
Saussure, Ferdinand de (2003a): Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass : Texte, Briefe und Dokumente. Gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Saussure, Ferdinand de (2003b): Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlass. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger. Übersetzt und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Weinrich, Harald (2006): Einige kategoriale Überlegungen zur Leiblichkeit und zur ‘Lage’ der Sprache. In: Harald Weinrich: Sprache, das heißt Sprachen. Mit einem vollständigen Schriftenverzeichnis des Autors 1956–2005. 3., ergänzte Auflage. Tübingen: Narr, S. 17–25.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/581

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Semiologische Anmerkungen zur zirkulierenden Referenz

Seit dem ich mit Bruno Latours Schriften in Kontakt gekommen bin, erlebe ich immer zweierlei: die Fruchtbarkeit seiner soziologischen Perspektive und ein latentes Unbehagen gegen seinen oft flapsigen Stil und die Ungenauigkeit seiner Polemik. Daraus ergeben sich immer wieder die Fragen der Kompatibilität und der wechselseitigen Bereicherungsmöglichkeiten mit meiner eigenen Perspektive. Bezeichnenderweise ausgelöst durch den Workshop „Unsicheres Wissen“ der GfM-AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung ausgerichtet in Kooperation mit den DFG-Graduiertenkollegs „Automatismen“, „Das Reale in der Kultur der Moderne“ und „Locating Media“ in Paderborn wurde eine Latour-Lektüre wieder wachgerufen und suchte danach das latente Unbehagen zu konkretisieren. Es handelt sich um einen relativ alten aber in der Medienwissenschaft kulturwissenschaftlicher Provenienz immer noch prominenten Aufsatz oder – wie Latour selbst ihn nennt – „foto-philosophischen Essay“ (Latour 2002, 38), der synoptisch oft als ‚Pedologenfaden‘ angesprochen wird. Als zweiter Teil der Hoffnung der Pandora, die 1999 auf Englisch das erste Mal und 2002 in deutscher Übersetzung erschien, bespricht der Essay Zirkulierende Referenz eine Feldforschung eines Pedologen, einer Botanikerin, einer Geomorphologin und einem Anthropologen (Latour) in Boa Vista (Brasilien), die der Frage nachgeht, ob der Regenwald in die Savanne vordringt oder die Savanne in den Regenwald, und die 1991 in einem Expeditionsbericht ihren ersten vorläufigen Abschluss bekommt. Dass die Lösung wahrscheinlich weder eine genuin botanische noch eine geomorphologische oder pedologische ist, kann gleich vorweggenommen werden. Am Ende des Expeditionsberichts steht die starke Vermutung, dass es die Regenwürmer sind, die den Übergangsbereich prägen, und es steht die Aufgabe, dieser Vermutung durch eine weitere Expedition nachzugehen.

Latour nimmt als Teilnehmer der Expedition diese interdisziplinäre Auseinandersetzung und Zusammenarbeit zum Ausgangspunkt, – wie es der Titel schön verrät – die philosophische Frage nach der Referenz zu klären. Wie er das tut, ist für die praxeologische Medienwissenschaft von starkem Interesse, das Ergebnis einer Kritik an einem alten philosophischen und zeichentheoretischen Modell vielleicht weniger, aber das kann auch eine linguistische Fehleinschätzung sein. Mit einer linguistischen Perspektive jedenfalls neigt man wohl dazu nicht zuvorderst die praxeologische Rekonstruktion zu fokussieren, sondern das Schwergewicht auf die referenztheoretischen Schlussfolgerungen zu legen, gerade weil die Linguistik sich seit ihren philosophischen Anfängen in der Antike mit zeichentheoretischen Modellen rumschlägt, sich an ihnen abarbeitet und sie – auch seit ihrer pragmatischen Wendung – adäquat zu konzeptualisieren. Dieses Schwergewicht zu legen, ist aber nicht angemessen, wenn man einer fruchtbaren Verbindung zwischen praxeologischer Medienforschung und pragmatischer Sprachforschung nachgehen will und wird auch Latours Entwurf einer zirkulierenden Referenz nicht gerecht.

Genau um diesen Entwurf soll es hier gehen und dabei um die Frage, wie angemessen er aus der Sicht einer pragmatischen Semiologie erscheint. Die zentrale Frage, die sich mit dem Begriff der Referenz stellt und die auch Latour neu zu fassen versucht, ist ja die, wie die Beziehung zwischen Welt und Zeichen zu denken ist. Interessant ist dabei, welche Nachbarn er diesen beiden Begriffen im Laufe seiner Ausführungen zur Seite stellt:

    • Welt: Materie, materiell, Ding, Gegenstand, Sachverhalt,
    • Zeichen: immateriell, Form, Aussage, Geist, Idee.

Im ‚klassischen‘, weithin semiotischen (nicht semiologischen!) Modell[1] schlägt die Operation des Referierens eine Brücke zwischen diesen beiden als abschlossen gedachten Sphären, sie überwindet die Kluft oder den Bruch zwischen Welt und Zeichen und ermöglicht einen Abgleich mit der ‚Wirklichkeit‘. Auf Seite 84f. bringt er das kanonische Modell und im Kontrast dazu seinen Entwurf auf den Punkt:

„Die Sprachphilosophie tut so, als gäbe es zwei Ensembles, die nichts miteinander zu tun haben und durch einen einzigen, radikalen Schnitt getrennt sind (Abbildung 2.20). Sie tut so, als müßte man sich darum bemühen, ihn zu reduzieren, indem man nach einer Korrespondenz, einer Referenz zwischen der Welt und den Worten sucht. Wenn wir jedoch unserer Expedition folgen, kommen wir zu einem ganz anderen Schluß (Abbildung 2.21). Wie man sieht, beruht die Erkenntnis nicht auf einer Gegenüberstellung von Geist und Gegenstand, so wenig die Referenz eine Sache durch einen Satz bezeichnet, der sich durch die Sache verifizieren ließe. Im Gegenteil, wir sind bei jedem Schritt auf einen gemeinsamen Operator gestoßen, der die Extreme von Materie und Form verbindet und der sich vom folgenden Schritt durch einen Bruch unterscheidet, durch ein gap, das durch keinerlei Ähnlichkeit überbrückt werden kann. Diese Operatoren verketten sich zu einer Serie, die quer zu der Differenz zwischen den Dingen und den Worten steht. Entlang dieser Serie mischen sich die beiden alten Ensembles der Sprachphilosophie neu: Die Erde wird zu einer Pappschachtel, die Worte werden zu Papier, die Farben werden zu Chiffren und so weiter.“ (ebd., 84f.; Herv. als fett von mir)

Im letzten Satz spielt er dabei auf die umfangreichen und detaillierten Ausführungen an, die dem vorausgehen, und die die „Praxis“ der Wissenschaftler rekonstruiert als „Hybride zwischen einer Form, einer Materie, geschickten Körpern und Gruppen“ (ebd., 70).[2] Die Pappschachtel spielt dabei auf den sog. Pedokomperator an, einem Bodenproben versammelnden und ordnenden Kasten, mit dem es möglich ist, einen Querschnitt des Bodens synoptisch sichtbar und transportierbar zu machen. Das Papier thematisiert diverse Notationen und die chiffrierten Farben ein Lochkartensystem, das es erlaubt, Bodenproben mit dem standardisierten Munsell-Code vergleichbar zu machen.

Latours Entwurf verwandelt also den einen großen Bruch des klassischen Modells in ganz viele kleine Brüche, die bei jeder Übersetzung oder Transformation von ‚Form‘ in ‚Materie‘, nicht aber bei der Übersetzung von ‚Materie‘ in ‚Form‘ überwunden werden:

„Man bemerkt, daß jedes beliebige Glied der Kette von seinem Ursprung her auf die Materie und von seiner Bestimmung her auf die Form bezogen ist; daß es aus einem konkreten Ensemble herausgenommen wird, um dann im nächsten Schritt selbst wieder als zu konkret zu erscheinen. Niemals läßt sich ein scharfer Bruch zwischen den Dingen und den Zeichen feststellen. Und niemals stoßen wir auf eine Situation, in der willkürliche und diskrete Zeichen einer gestaltlosen und kontinuierlichen Materie aufgezwungen würden. Immer sehen wir nur eine kontinuierliche Reihe von ineinandergeschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorhergehende und die eines Dings für das nachfolgende Element spielt. […] In der Tat, wenn wir alle diese Bilder an uns vorbeiziehen lassen, so bemerken wir, daß jede Etappe, so genau meine Untersuchung auch sein mag, durch einen totalen Bruch mit der jeweils vorangehenden und folgenden gekennzeichnet ist.“ (ebd., 71; Herv. als fett von mir)

Diese Verschachtelung versucht dann auch sein Schaubild sinnfällig zu machen. Dabei wird eine lineare Kette von ineinandergeschobenen Materie-Form-Einheiten als in beide Richtungen unendliche Verkettung (∞) dargestellt.[3]

Kanonisches Referenzmodell und zirkulierende Referenz (aus Latour 2002, 85)

Damit wird – mehr beiläufig als dezidiert – zum Ausdruck gebracht, dass der Akt des Referierens niemals auf eine Welt jenseits von Materie-Form-Einheiten zeigt, sondern immer auf weitere letztlich Zeichen(komplexe) verwiesen bleibt. Das macht auch sinnfällig, warum Latour den Referenz-Begriff nur etymologisch ‚retten‘ kann: „Wir vergessen immer, daß das Wort »Referenz« vom lateinischen Verb referre abgeleitet ist, was so viel wie »herbeischaffen« heißt. Ist der Referent das, worauf ich mit dem Finger zeige und was außerhalb des Diskurses bleibt, oder das, was ich in den Diskurs hereinhole?“ (ebd., 45) Inferenz scheint aus der semiologischen Perspektive der viel passendere Begriff zu sein, da er darauf abhebt, wie Schlüsse auf Basis von Beziehungen zwischen Zeichen gezogen werden und nicht auf Basis eines Abgleichs mit einer Welt jenseits von Zeichen (vgl. Jäger 2008), als wartete „die »wirkliche« Katze […] brav auf ihrer Matte, um den Satz zu bestätigen: »Die Katze sitzt auf der Matte.«“ (Latour 2002, 62) Es handelt sich also um Operationen, die Latour in seiner gesamten Studie auch en détail herausarbeitet (s.u.). Hier soll aber keine Terminologieklauberei vorgenommen werden.

Wie das oberste, eingerückte Zitat zum Ausdruck bringt, könnten nach Latour die beiden Bereiche ‚Welt‘ und ‚Zeichen‘ nicht getrennt voneinander gedacht werden, sondern mischten sich in jeder Materie-Form-Einheit, die von der nächsten Materie-Form-Einheit durch einen Bruch gekennzeichnet sei: „Jeder Schritt ist Materie für den, der folgt, und Form für den, der voraufgeht. Der Bruch zwischen den beiden ist jeweils ebenso deutlich wie der alte Abstand zwischen den alten Worten und den alten Dingen.“ (ebds., 90) Mit ‚Schritt‘ ist hier der Prozess gemeint, der die Verbindung stiftet zwischen Materie und Form und die in einigen Hinsichten als Konvention(alisierung) (z.B. in Hinsicht auf Sprache) und in anderen Hinsichten als Standard(sierung) (z.B. in Hinsicht auf den von Latour erwähnten Farbcode) zu begreifen ist. Ein Prozess, der notwendigerweise auf Materialität angewiesen ist, um eine gesellschaftliche Verfestigung erlangen zu können. So wurde innerhalb der Sprachwissenschaft im Zuge der Spur-Debatte und gegen z.B. Konzeptionen des Cours-Saussure oder des Chomsky-Kognitivismus die unabdingbare und voraussetzende Qualität der Materialität von Sprache zuvorderst natürlich der gesprochenen aber ebenso auch der geschriebenen und gebärdeten Sprache hervorgehoben. So verweist Jäger (2010, 316) in zahlreichen Arbeiten auf das sog. „Spur-Prinzip“ hin:

„Sowohl die begriffliche Ausdifferenzierung der Welt als auch die Herausbildung des Bewusstseins, das sich auf sie bezieht, sind ohne den medialen ‚Umweg‘ semiologischer Selbstlektüre und zeichenvermittelter Interaktion mit anderen, d.h. ohne intra- und intermediale Bezugnahmen, nicht möglich.“

Nur über den (rhetorischen) Umweg der materiellen Vermitteltheit kann sich Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenhang stabilisieren. Oder kurz: Tote Materie kann nur bedeutsam werden, wenn sie von Gesellschaften/Gruppen/Paaren als bedeutsame Materie Verwendung findet, also in und durch Praktiken als bedeutsame Materie herausgebildet wird. So ist Materie, die in eine Praktik eingebunden wird, immer schon Form und jenseits dieser Förmigkeit (also der Zeichenhaftigkeit) nicht ver-handel-bar. Die ‚alte‘ Kluft zwischen unbedeuteter Materie und bedeutender Sprache ist also weiterhin intakt, da unbedeutete, unbeobachtete, ontische Materie oder Materie ‚an sich‘ nie Eingang in eine Praktik finden kann, ohne vorher bedeutsam geworden zu sein.

Gerade dies scheint Latour aber nicht zu teilen, wenn er schreibt: „Entlang dieser Serie [gemeint ist die Verkettung, die im Schema symbolisiert wird] mischen sich die beiden alten Ensembles der Sprachphilosophie neu: Die Erde wird zu einer Pappschachtel, die Worte werden zu Papier, die Farben werden zu Chiffren und so weiter.“ (Latour 2002, 84f.) Vielmehr scheint er das alte Modell nur auf die Seite zu kippen, um dann zweierlei zu tun: Einerseits leugnet er den Bruch, wenn er Materie-Form-Einheiten als Vermischung zweier im kritisierten Modell als getrennt konzeptualisierten Bereiche oder Ensemble beschreibt. Andererseits rehabilitiert er den großen Bruch zwischen diesen beiden Bereichen als vervielfältigte kleine Brüche, die zwischen den Materie-Form-Einheiten durch einen Übersetzungs- oder Transformationsprozess überwunden werden, dabei aber – wie oben schon zitiert – füreinander in die eine Richtung ‚Materie‘, in die andere Richtung ‚Form‘ seien. Warum aber die eine Operation, die oben als Konventionalisierung oder Standardisierung bezeichnet wurde und die andere Operation, die Latour als Übersetzung oder Transformation bezeichnen würde, grundsätzlich unterschiedliche ontologische Status haben sollten, wird aus semiologischer Perspektive nicht plausibel.[4] Denn warum sollte die Verprobung des Bodens eine andere Semiopraxie vollziehen als die Codierung der Probe, als die schriftliche Notation oder als die Vergraphung der codierten Probe usf.?

Was aber plausibel wird und in der semiologischen Perspektive – soweit ich das überblicken kann – weithin ausgeblendet wird, sind die Praktiken, die von einer Materie-Form-Einheit zur nächsten Materie-Form-Einheit, also von einem Zeichen zum nächsten Zeichen die notwendigen materialen Veränderungen herbeiführen und so den Übersetzungsprozess im Latourschen oder den Transkriptionsprozess im Jägerschen Sinne also ermöglichen. Und es ist wenig verwunderlich, dass dies eine philosophische Perspektive, wie sie z.B. Jäger vertritt, nicht im Blick hat, wenn die „Verzeichnung“ der Welt (Fehrmann 2004) auf Sprache und (seltener) Sprachhandeln fokussiert bleibt. Um mit Sprache auf Sprache Bezug zu nehmen, muss nicht ein Gelände ausgemacht, der Boden vermessen und gerastert und geöffnet, müssen nicht Proben entnommen und geformt und vielfältig codiert werden. Die linguistische bzw. die sprachphilosophische Perspektive setzt meist erst da an, wo der Artikel schon geschrieben ist. Die medienwissenschaftliche Perspektive fokussiert dabei zu Recht die Praktiken, die der linguistischen Perspektive entgehen. Zusammen sind Diskurs und Praktik in wechselseitiger Voraussetzung zu verstehen.

Der Pedokomperator ist dafür das ideale Beispiel: Ein schon für den beobachteten Übergang als repräsentativ eingestufter Boden wird an mit dem Pedologenfaden vermessenen Stellen mit dem Spaten geöffnet, um mit einem Bohrer eine Probe zu entnehmen, die dann in eine kubische Form gebracht werden muss, um im Pedokomperator ihren Platz finden zu können und synoptisch die Veränderungen im pedologischen Horizont sichtbar werden zu lassen. Die Praktiken der Wissenschaftler bringen mittels unterschiedlicher (Körper-)Techniken Zeichen unterschiedlicher materialer Qualität hervor und verketten sie über die fortwährende, lokale Einfädelung in die globalen Diskurse.

 

Fehrmann, Gisela (2004): Verzeichnung des Wissens. Überlegungen zu einer neurosemiologischen Theorie der sprachgeleiteten Konzeptgenese. München: Fink.
Gießmann, Sebastian (2009): Debatte: Kulturwissenschaft und Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. S. 111–112.
Jäger, Ludwig (1994): Die Linguistik des Innern. Historische Anmerkungen zu den zeichen- und erkenntnistheoretischen Grundlagen der kognitivistischen Sprachwissenschaft. In: Jäger, Ludwig/Switalla, Bernd (Hg.): Germanistik in der Mediengesellschaft. München: Fink. S. 291–326.
Jäger, Ludwig (2008): Indexikalität und Evidenz. Skizze zum Verhältnis von referentieller und inferentieller Bezugnahme. In: Wenzel, Horst/Jäger, Ludwig (Hg.): Deixis und Evidenz. Freiburg i.Br.: Rombach. S. 289–315.
Jäger, Ludwig (2010): Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin, New York: de Gruyter. S. 301–323.
Latour, Bruno (2002): Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas. In: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 36–95.
Schüttpelz, Erhard (2006): Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Archiv für Mediengeschichte No. 6: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). S. 87–110.

[1] Vgl. Jägers (1994) Herausarbeitung einer semiotischen und einer semiologischen zeichentheoretischen Traditionslinie.

[2] Medientheoretisch reformuliert findet sich diese Heuristik in Schüttpelz’ (2006) Entwurf einer Medienpraxeologie.

[3] „Die Kette hat weder auf der einen noch auf der anderen Seite ein Ende. Während im alten Modell […] sowohl die Welt als auch die Sprache geschlossene Ensembles bleiben, die beide in sich selbst zurückliefen, kann man im neuen Modell im Gegenteil die Kette endlos verlängern, indem man ihr an beiden Ende neue Glieder hinzufügt.“ (Latour 2002, 86)

[4] „Zeichnet sich deren Denkstil [der der ANT] nicht durch eine unterkomplexe, aber pragmatisch durchführbare Semiologie aus, die deutlich hinter den zeichentheoretischen Wissensstand der Kulturwissenschaften zurückfällt?“ (Gießmann 2009, 111)

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/46

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