Glaubwürdigkeit ist ein neues boomendes Forschungsfeld der Kultur- und Sozialwissenschaften. Auch beim historischen Lernen, sei es in Schule, Akademie oder vor dem Monitor, geht am Ende immer nur darum, auf gute Argumente oder Urteile, die besser Wissende fällen, zu vertrauen. Denn jede fachliche (Nach-)Prüfung bleibt hier notgedrungen unvollkommen, und irgendwann müssen wir schließlich mit dem Deuten aufhören, um mit dem Handeln anzufangen. Doch zum rechten Glauben darf niemand gezwungen werden.
Die Geschichte muss nicht neu geschrieben werden
Die römische Landstadt Pompeji wurde im Jahr 79 n. Chr. vom Ascheregen des Vesuvs verschüttet. Allerdings existierten schon lange Indizien dafür, dass die von Plinius d. J., einem Augenzeugen, berichtete und allseits für wahr erachtete Tagesangabe des 24. August nicht zutreffe. Im Zuge aktueller Ausgrabungen gemachte Funde von jungem Wein und reifen Früchten lassen nunmehr keinen anderen Schluss zu, als dass die schreckliche Naturgewalt den Ort erst im vorangeschrittenen Jahreslauf auslöschte. So haben wir uns von der tragisch-erhabenen Geschichte zu verabschieden, dass die Menschen damals am Ende eines langen, drückenden Sommers just in dem Augenblick von der tödlichen Katastrophe überfallen wurden, als die lähmende Hitze einem lebensfrohen Herbst zu weichen versprach. Doch ist das eigentlich wichtig? Noch kein Latein-Schüler oder Althistoriker hat, überzeugt vom irrigen Datum, Schaden genommen oder wäre daran zugrunde gegangen. Und das charakterisiert zunächst einmal den Unterschied im Glaubwürdigkeitsproblem zwischen der Geschichte und, sagen wir, der Medizin, Technik oder Jurisprudenz.
Ein neuer Historikerstreik?
Nicht immer jedoch bleibt falsches Vertrauen in die Erzählung vergangener Wirklichkeit harmlos. In seinem fulminanten Werk „The Sleepwalkers“ etwa möchte der renommierte australische Historiker und Deutschland-Kenner Christopher Clark jetzt glauben machen, das Deutsche Reich, da kaum militaristischer als seine Nachbarn, habe unmöglich jene ihm früher zugeschriebene herausgehobene Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren getragen. Das ist als These nicht mehr ganz so explosiv, wie es jetzt in den Gazetten gefeiert wird. Aber eine bemerkenswerte Änderung der Tonlage ist es schon, dazu mit der schrillen Coda, dass, gerade so wie im verhetzten (Ex-)Jugoslawien der 1990er Jahre, letztlich die übernationalistischen Serben Schuld am Schlamassel von 1914 gewesen wären. Wurde da unter der Hand ein Sach- zu einem Werturteil?
Grenzen der historischen Sinnbildung
Gleich ob eine Petitesse aus grauer Vorzeit oder eine geschichtspolitische Volte: Beschrieben wird mit alldem ja nichts anderes als das everyday life der Geschichtswissenschaft: Da in unserer Disziplin jede gut belegte Behauptung auf eine widersprechende, nur eben anders gut belegte und genauso unbeweisbare Behauptung stoßen kann, ist es eben – wie mein Kollege Martin Lücke und ich in der Einleitung zum Handbuch „Praxis des Geschichtsunterrichts“ schrieben – allen, deren Geschichtsbewusstsein mit modernen Standards Schritt halten soll, unbedingt erlaubt, „sich sogar von guten Argumenten ohne Schaden nicht überzeugen zu lassen“. Gemeint ist damit nichts anderes als jenes „Überwältigungsverbot“ des Beutelsbacher Konsenses, der als zivilgesellschaftliche Errungenschaft mit sehr guten Gründen vornehmlich die Politische Bildung, daneben das historische Lernen seit den 1970er Jahren anleitet. Hinter die didaktische Einsicht, dass junge Lernende in der Schule zu selbstverantwortlichen Ko-Konstrukteuren ihrer Welt (und damit auch von historischen Hypothesen) werden, tritt jedes noch so wohl gemeinte idealistische Bildungsanliegen zurück. Deswegen ist die Kritik, die der langjährige Vorsitzende des Geschichtslehrerverbandes NRW Rolf Brütting in seiner Besprechung des Handbuchs anbringt, missverständlich und unterkomplex: Er argwöhnt, die gewährte Glaubensfreiheit höre mindestens auf, wo „im Rahmen von Schule“ „mit Rechts- oder Linksradikalen [umzugehen]“ sei. Ein unnötiger Reflex, denn bei der auf terroristische Diktaturen bezogenen Benennung von Verbrechen und der Aufzählung von Opfern handelt es sich ja gar nicht um historisch-narrative Argumente, sondern um theorielose, referentielle (nach Ankersmit: „durchsichtige“) Befunde, die schwerlich in den Gefahrenbereich der Überwältigung fallen.
Das Argument (er-)zählt
Argumente als Auffassungsvorschläge (bei Frank Ankersmit daher: „proposals“) werden im Diskurs immer dort benötigt, wo die theoretische und empirische Prüfung des in Rede stehenden Sachverhalts unvollständig geblieben ist oder bleiben muss (im Falle der Geschichtswissenschaft also quasi überall). Der Glaube an sie ist damit nicht unbegründet, daher weder bloße Vermutung noch spekulative Annahme, er scheint aber müßig. Um als „historisch“ (und nicht politisch, ideologisch etc.) apostrophiert zu werden, benötigen Argumente indes die narrative Form: Es sind Teil- oder Ersatz-Erzählungen noch vor dem prosaisch gefügten Endprodukt. Wie an jede historische Erzählung können an sie, mit Jörn Rüsen, Ansprüche der empirischen, normativen und narrativen Triftigkeit gestellt werden. Anders also: Sind die beweisthematischen Narrative jeweils zuverlässig, zulässig und eingängig zugerichtet? Das Problem dabei ist, dass niemals alle drei Prüfkriterien gleichermaßen erfüllt sein können. Das pompejanische August-Erlebnis las sich traurig schön, doch war die Überlieferung offenbar unzuverlässig. Christopher Clark, der die Quellenlage zur balkanfixierten Juli-Krise von 1914 möglicherweise genauer kennt und konsequenter nutzt als manche vor ihm, liefert doch nur eine passend für den Jubiläumsanlass arrangierte Geschichte, deren Zulässigkeit bezweifelt werden mag. Meinem Vernehmen nach formieren sich jedenfalls schon namhafte (deutsche) Weltkriegsforscher, um den Schlafwandlern in die Parade zu fahren. Wo kämen wir hin, wenn in einem solchen Gefecht nicht auch die jungen Lernenden eine eigene Überzeugung besitzen dürften!
Gute Argumente und sichere historische Urteile
Lieber sollten wir FachdidaktikerInnen, statt zu verfügen, was SchülerInnen unbedingt und absolut von der Vergangenheit zu halten haben bzw. wo die pluralistische Meinungsvielfalt ausnahmsweise zu unterbinden sei, uns lieber Gedanken darum machen, wie die Gratwanderung zwischen vorschlagendem Argument und hingebungsvollem Glauben (vulgo: historische Urteilsbildung) mit den beschränkten Mitteln des Geschichtsunterrichts ohne Sturz in den Kraterschlund abzusichern sei. Voraussetzung für den Gang wäre, dass sich Pulverdampf wie Eruptionsrauch verzogen und den klaren Blick vom Kap wieder frei gegeben haben. Plinius übrigens hätte gesagt: Fide, sed cui, vide.
Literatur
- Ankersmit,Frank: Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation. Cornell 2012.
- Becker, Axel : Historische Urteilsbildung. In: Barricelli, Michele / Lücke, Martin (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 316-325.
Externe Links
Abbildungsnachweis © Michele Barricelli. Sophistik oder Dekadenz am Fuße des Vesuvs? Studierende der Leibniz Universität Hannover auf ihrer Grand Tour (September 2012).
Empfohlene Zitierweise Barricelli, Michele: Fide, sed cui, vide. Wie wahr muss Geschichte sein? In: Public History Weekly 2 (2014) 8, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1517.
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