06. Benjamin und das Ereignis im Zeitalter seiner technischen Multiplizierbarkeit

Per Fingerdruck in die Ewigkeit

Neulich im Zoo, Abteilung für Fische, Reptilien, Amphibien und ähnliches: Menschen, die vor Aquarien und Terrarien stehen, ohne auf die Tiere selbst oder wenigstens auf die sie einsperrende Glasscheibe zu sehen, sondern beständig den Bildschirm ihres Smartphones anstarren und ein Foto nach dem anderen schießen, möglicherweise auch den einen oder anderen Kurzfilm drehen. Ich erwische mich bei einer viel zu naheliegenden kulturpessimistischen Reaktion: Warum, um Himmels willen, muss man bei einem Zoobesuch Zierfische, Stabschrecken oder Tiefseequallen fotografieren, anstatt sie einfach nur anzusehen? Was macht man zu Hause mit diesen Dutzenden von Bildern – außer löschen, um danach neue unsinnige Bilder zu knipsen?

Bevor mich die nicht mehr ganz frische Überzeugung vom Untergang des Abendlandes endgültig in ihre Krallen bekommt, fällt mir dankenswerterweise noch ein, dass ein anderer Beobachter sich hätte fragen können, warum man sich als halbwegs reflektierter Mensch in eine Institution namens „Zoologischer Garten“ begibt, um dort in naturidentischen Mikrobiotopen Tiere zu betrachten, die in diesem Gefängnis nun wirklich nichts verloren haben. Mein Verhalten gibt also nicht minder Anlass zu Stirnrunzeln und Kopfschütteln.

Um hier aber nicht in thematisch unüberschaubare Gefilde wie Mensch-Tier-Beziehungen zu geraten, bleiben wir zunächst bei den Alltags- und Alles-Fotografen. Die Existenz dieses Phänotypus ist nun alles andere als eine aufregende Beobachtung, schließlich haben entsprechende Bildgebungstechniken schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Womit wir es aber in der jüngeren Vergangenheit zu tun haben, ist das exponentielle Wachstum der fotografischen Bildproduktion durch die Unabhängigkeit vom Fotoapparat. Man muss schon seit einer kleinen Weile keine unhandliche Kamera mehr mit sich herumschleppen, man kann einfach den Apparat zücken, der früher vor allem ein Telefon war, um das gewünschte Foto zu machen. Die beständige Verfügbarkeit – lediglich gebremst durch die Akkulaufzeit – lädt ein zum Dauerknipsen. Die Frage, die mich dabei interessiert, kann man in gut Benjaminscher Manier stellen: Welche Rückwirkungen hat diese Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation auf unser Verständnis von Geschichte und ihren Ereignissen (S. 12)?

Abgesehen von der Frage, wie sehr wir uns auf ein Leben vor und durch den Bildschirm einlassen wollen, muss ich wohl neidlos anerkennen, dass all die Fotografierer und Videografierer, all die Dokumentaristen ihres eigenen Alltags ein wesentlich tiefer gehendes Verständnis von Geschichte haben als ich. Sie arbeiten nämlich mit Hochdruck am Projekt der Auto-Historisierung, der durchgehenden und umfassenden Überlieferung ihres eigenen Lebens – das höchstwahrscheinlich nichts „Historisches“ (im Sinne von „Außergewöhnliches“) aufzuweisen haben wird, außer der Überlieferung selbst. Unzählig viele Menschen sind genau in diesem Moment dabei, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu basteln, indem sie ihr Dasein bildlich fixieren. Auch das hat schon Walter Benjamin in seiner eigenen Gegenwart beobachtet: Man kann sich mit einem Fingerdruck in die Ewigkeit katapultieren (S. 131). Die Kamera im Mobiltelefon potenziert diese Möglichkeiten nochmals um ein Vielfaches, weil sich der Weg zwischen Objektsichtung, Aufnahme und Veröffentlichung auf ein Minimum reduziert hat.

Sofern sich das Problem der dauerhaften Datensicherung halbwegs in den Griff bekommen lässt – schließlich sind elektronische Speichermedien für eine längerfristige Archivierung denkbar ungeeignet –, werden zukünftige Historiker/innen in einem unüberschaubaren Ozean umfassend dokumentierter Lebensläufe baden können. Hier entsteht eine eigene Parallelüberlieferung zur offiziösen und institutionell kontrollierten Geschichtsschreibung der Mächtigen. Die Geschichte des Alltags könnte in gänzlich neue Dimensionen vorstoßen, weil die Vielen eben nicht mehr nur stumme Objekte der Historiographierung derjenigen sind, die sich (auch überlieferungstechnisch) besser organisieren können, sondern die technischen Möglichkeiten ihnen eigene Stimmen und Perspektiven verschaffen. „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.“ (S. 32) Und sei es auch nur beim Bestaunen von Zierfischen.

Nachgemachte Ereignisse

Ebenso dürften künftige Historiker/innen bei der Sichtung dieses Materials aber feststellen, dass sich in den autobiographischen Bilderstrecken von der Wiege bis zur Bahre nicht nur der widerständige Eigensinn eingenistet hat, sondern dass hier zugleich machtgesättigte Diskurse für ihre eigene Reproduktion und Multiplikation sorgten. Und da kann ich den Kulturpessimisten in mir nicht ganz zum Schweigen bringen. Denn werden nicht massenhaft diejenigen Ereignisse als Ereignisse festgehalten, die zuvor schon als Ereignisse apostrophiert und inszeniert wurden? Was sieht man denn inzwischen bei Krönungsfeierlichkeiten, Staatshäupterbegegnungen, Sportwettkämpfen oder Prominentenauftritten außer einem Wald von hochgereckten Handys? Die Zuschauerschar wird nachdrücklich auf die „historische“ Ereignishaftigkeit eines Geschehens hingewiesen, um es dann brav für den privaten Rahmen zu reproduzieren und im Netz zu multiplizieren. Was als nächstes geschehen wird, ist immer schon längst geschehen, weil in hinreichendem Maß durch eine ausgefeilte Inszenierung geplant. Ereignisse werden gemacht – und nachgemacht. Der große historische Auftritt, minutiös im Vorhinein einstudiert, wird tausendfach aus jeweils individuellen, zugleich gänzlich stromlinienförmigen Blickwinkeln festgehalten. Ereignisse werden (und sind) damit in einem kaum noch steigerbaren Maß selbstreferentiell, weil in den Medien vorkommt, was in den Medien vorkommt.

Bei Ereignissen, denen die Menschen nur noch durch ihre Handy-Kameras beiwohnen, ohne das Geschehen selbst zu betrachten, ist diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der historischen Archivierung mit Händen zu greifen: Hier bestätigt sich die Bekanntheit des Bekannten, hier öffnet sich das Fenster zur öffentlichen Multiplizierbarkeit. Im Moment, in dem „es“ geschieht (was immer „es“ auch ist), sieht man „es“ schon durch die mediale und damit auch historische Bedeutsamkeit suggerierende Vermittlung des eigenen kleinen Taschenbildschirms: Mama, wir sind im Fernsehen!

Die Körnung der Ereignisse

Aber wie schon Benjamin wusste: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (S. 17) Es sind mithin nicht nur die inszenierten Ereignisse, die auf ihre Multiplikatoren wirken, sondern es sind ebenso die Multiplikatoren, die nun Ereignisse erzeugen – und nicht selten völlig ungeahnte.

Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation demokratisiert das historische Ereignis. Es lässt sich nicht mehr absehen und nicht mehr kontrollieren, wann ein Ereignis zu einem solchen wird. Und unerwünschte Ereignisse lassen sich inzwischen auch schwerer unterdrücken. Die Planbarkeit von Historischem entzieht sich zumindest teilweise dem Zugriff der Machthaber. Die allzeit bereiten Bildaufzeichnungsgeräte, die im Stile eines fotografierenden Revolverhelden in Sekundenschnelle gezückt werden können, sind auch überall dort, wo eigentlich nichts passieren sollte. Ereignisse lassen sich von unten machen. Das mag gänzlich Unspektakuläres betreffen, wenn private Videos via Youtube eine Aufmerksamkeit erhalten, die sie überhaupt erst zu Ereignissen machen. Das betrifft aber auch gravierendere Geschehnisse wie Demonstrationen, Proteste, Aufstände oder Kriege – man sehe sich nur die Dokumentation des arabischen Frühlings an –, wenn das Fehlen anderer Beobachter die Handy-Kamera zur dokumentarischen Macht werden lässt.

Mit Blick auf die Presse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Benjamin davon gesprochen, dass immer mehr Lesende inzwischen zu Schreibenden werden (S. 32f.). Aufs Historische übertragen, kann man feststellen, dass immer mehr Ereignisrezipienten zu Ereignisproduzenten werden. Die fernsehbebilderten Abendnachrichten sind deutlich geprägt durch das Informationsmaterial von (nicht selten unfreiwilligen) Amateurkorrespondenten. Es vergeht kaum eine Sendung, in der nicht ein privates Foto oder ein verwackelter Videomitschnitt Verwendung finden. Naturkatastrophen, Unfälle oder Anschläge – mit anderen Worten, all die plötzlich eintretenden Dinge, die nicht schon als pünktlich terminierte Ereignisse angekündigt und vorbereitet worden waren, werden zum Tummelfeld der Knipser und Filmer. Diese Bilder in eher schlechter Auflösung und mit zu geringer Pixelzahl, diese verwackelten Videos, bei denen man zuweilen vor allem sieht, dass man nichts sieht, außer plötzlich explodierenden Farben, kombiniert mit einem wilden Stimmengewirr auf der Tonspur, können dem Geschehen wieder etwas Anarchisches zurückgeben. Auch wenn es sich zumeist um wenig erfreuliche Vorgänge handelt, um Tod und Zerstörung, so halten diese Bilder doch auch eine historische Lehre parat: Die Körnung der Bilder verweist auf die Körnung der Ereignisse. Sie zeigen uns die Unschärfe des Plötzlichen.

[Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. Detlev Schöttker, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2012]


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05. Whitechapel und das mörderische Geschichtsfernsehen

Heutzutage lernt man im Fernsehen über das wirkliche Leben. Keine Sorge, hier folgt kein vorhersagbares Einprügeln auf unterirdisches „Reality-TV“, das seinen lebensfremden Charakter bereits durch den englischsprachigen Titel anzeigt, mit dem aufwendige televisonäre Produktionstechniken versprochen werden, wie sie im Bildschirm-Universum Sinn machen mögen, aber nicht unbedingt für die Welt außerhalb davon. „Wirklichkeitsfernsehen“ hingegen wäre eine verstörende, allzu pädagogisch klingende Bezeichnung – Fernsehen, das den Bildungsauftrag tatsächlich noch ernst nähme. Nein, es geht um die allseits hochgelobten Fernsehserien meist amerikanischer Machart, die möglichst lebensnah und möglichst glaubwürdig an unterschiedliche gesellschaftliche Situationen heranzoomen, um diese in Kombination mit entsprechenden Schauspielerleistungen, Drehbüchern und auch sonstigem technisch-künstlerischem Aufwand über viele Stunden Sendezeit hinweg in all ihren Verästelungen zu sezieren. Mögen diese Serien nun „The Wire“, „Homeland“, „Mad Men“, „Sopranos“ oder sonstwie heißen, hier scheint man irgendwie klüger fürs Leben zu werden.

Mein Pech, denn ich habe es nicht so mit dem Fernsehen. Mag zwar snobistisch klingen, aber ich halte diese Nicht-Tätigkeit zu einem gehörigen Teil für Zeitverschwendung. Nicht weil da nur Schrott liefe, denn es gibt inzwischen ausreichend Auswahl, um sich auch ein interessantes Programm zusammenstellen zu können. Nein, ich mag einfach die Situation der strukturellen Passivität nicht, in die mich das Fernsehen zwingt. Nicht nur die individuelle Zeitorganisation hat sich nach dem Fernsehen auszurichten, sondern man muss auch in körperlich unterwürfiger Duldungsstarre verharren, um die Inhalte zu erwarten, die einem serviert werden. Die einzig vom Zuschauer erwartete Aktivität besteht in der Hantierung der Fernbedienung und dem möglichst geschickten Abpassen der Werbepausen, um körperlichen Bedürfnissen nachzukommen. Nicht mein Ding, vor allem wenn die guten Sendungen gar keine Werbepausen haben!

Natürlich sehe ich fern. Nach einer zwischenzeitlichen zehnjährigen Abstinenz bin ich schon seit Längerem wieder Mitbesitzer eines entsprechenden Übertragungsgeräts. Die Nachrichten versäume ich eher ungern, zuweilen wird auch Fußball konsumiert und manchmal darf es ein Film sein, den man eigentlich im Kino anschauen sollte. Das war es eigentlich. Wenn es da nicht ab und an die kleinen Schicksalsschläge des Lebens gäbe, die strukturelle Passivität zu einem wohligen Zustand werden lassen. Die gemeine mitteleuropäische Durchschnittserkältung beispielsweise, oder der winterliche grippale Infekt, die jeglichen Ansatz von Aktivität in einem kläglich Kreislaufkreiseln und einem undefinierbaren Hirnwabern enden lassen. Da bin ich dann doch einmal ganz dankbar für die Programmgestaltung der Fernsehanstalten und die Segnungen des Zappens.

Bei einer solchen, eigentlich eher unwillkommenen Gelegenheit durfte ich die Erfahrung machen, wie man aus Fernsehserien tatsächlich etwas lernen kann, sogar etwas über die Arten und Weisen des Geschichtemachens. „Whitechapel“ heißt die britische Krimi-Serie, deren Inhalte hier nicht im Einzelnen nachzuerzählen sind. Wichtig ist die personale Grundkonstellation, aus der die jeweiligen Fälle ihre Dramatik beziehen: Inspektor Joseph Chandler ist ein typisches Produkt der englischen upper-class, gebildet, sportlich, hoch gewachsen, gut aussehend, snobistisch, aber mit dem Herz am rechten Fleck – und ausgestattet mit ein paar neurotischen Anwandlungen; Ray Miles ist der raue, altgediente Polizeihaudegen mit eher proletarischem Hintergrund, hat daher zunächst seine Probleme mit Chandler, die aber zusehends von väterlicher Sympathie abgelöst werden; und Edward Buchan, der Nerd in der Runde, ein Hobby-Krimihistoriker, der zunächst eingeführt wird als Autor populärhistorischer Bücher und Stadtführer und der sein Geld mit Führungen für Touristen an die Orte des Verbrechens in Whitechapel verdient, im Lauf der Serie aber zum Archivar und zum historischen Berater der Mordkommission mutiert (und dabei von dem Raubein Ray Miles notorisch abgelehnt wird).

Zwischen Unmengen Kräutertee und Medikamenten von ungewisser Wirkkraft war es insbesondere diese Figur des Edward Buchan, die mit ihren Wandlungen mein Oberstübchen ein wenig zum Leben erwecken konnte. Denn seine Aufgaben und sein Verständnis von der Geschichte des Verbrechens verändern sich im Lauf der Serie erheblich, und zwar in einer Art und Weise, dass man daran fast eine Geschichte der Geschichtsschreibung in Kurzform festmachen könnte:

Phase 1: Historia Magistra Vitae. In der ersten Staffel geht im Londoner Stadtteil Whitechapel ein Copykiller um, der die Morde von Jack the Ripper detailgetreu nachahmt. Der neu berufene Inspektor Chandler gerät an den Ripper-Experten (ripperologist heißt der treffende Ausdruck im Englischen) Edward Buchan, der ihm aufgrund seiner historischen Kenntnisse genau vorhersagen kann, wann und unter welchen Umständen der jeweils nächste Mord geschehen wird. Seine aus der Vergangenheit gewonnenen Prognosen sind so genau, dass Buchan zeitweilig selbst unter Verdacht gerät. Geschichte wiederholt sich hier tatsächlich. Man kann aber auch aus ihr lernen, denn zumindest der letzte Ripper-Mord kann dank der historischen Expertise verhindert werden – die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens.

Phase 2: Historismus. Edward Buchan hat sich von seiner Tätigkeit als ripperologist losgesagt, weil ihm bewusst geworden ist, dass echte Morde nichts mit der Schauermärchenromantik des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Wo Menschen tatsächlich sterben, kommt der nostalgische Voyeurismus an sein Ende. Buchan will sich mit seiner Expertise aber weiterhin nützlich machen und drängt sich der Polizei mit seinen Erkenntnissen auf. Inspektor Chandler sieht – trotz mancher Zweifel – den Erkenntnisgewinn, den ihm der rückwärtsgewandte Kriminalist verschafft. In einer weiteren kopierten Verbrecher-Karriere behaupten die Zwillingsbrüder Jimmy und Johnny Kray die Söhne von Ronnie Kray zu sein – der wiederum mit seinem Zwillingsbruder Reggie in den 1950er und 1960er Jahren Whitechapel unsicher gemacht hat. Wieder scheint sich Geschichte zu wiederholen, nun allerdings unter historistischen Vorzeichen: Die Polizei nutzt den Zugriff auf die historischen Quellen, soll heißen: auf die DNA der alten und der neuen Kray-Zwillinge, um den Schwindel auffliegen zu lassen. Denn bei der Wiederauflage der Verbrecherbrüder handelt es sich keineswegs um die Söhne von Ronnie Kray. Eine quellenkritische Geschichte hat die Wahrheit über Vergangenheit und Gegenwart ans Licht gebracht und damit dem mythisch angehauchten Spuk ein Ende bereitet.

Phase 3: Kritische Geschichte. Edward Buchan hat erreicht, was er wollte. Er ist als researcher bei der Mordkommission eingestellt, man könnte sagen: als polizeilich bestallter Kriminalitätshistoriker. Die Begründungen, die Inspektor Chandler für diese Personalentscheidung gibt, weisen der Geschichte nun eine kritische Rolle zu: Man soll nicht nur aus den 200 Jahren Verbrechensgeschichte lernen, die im hauseigenen Archiv lagern, sondern soll, vermittelt über dieses historische Material, auch eine andere Perspektive auf die jeweiligen Fälle gewinnen. Zusätzlich verändert sich die Rolle der Geschichte. Denn nun geht es nicht mehr um Copykiller, die die Vergangenheit imitieren. Die Situation wird komplexer. Buchan sitzt in seinem Archivkeller und soll die Berge an Akten über vergangene Verbrechen mit einem strukturierenden und systematisierenden Blick durchforsten. An die Stelle der Geschichte einzelner großer Kriminalfälle tritt nun die Strukturgeschichte mit ihrem typisierenden Verfahren. Zugleich muss der Polizeihistoriker jedoch erkennen, dass ihm mit dieser Zunahme an Komplexität auch die Fähigkeit der eindeutigen historisierenden Prognose verloren gegangen ist. Er kann nicht mehr vorhersagen, wann und wie ein Verbrechen geschehen wird, kann nur noch historisch gewonnene Muster erstellen. Weil diese jedoch nicht immer zutreffen, sterben Menschen. Buchan stellt die Sinnfrage und gerät in eine ernsthafte Krise.

Phase 4: Was nun? Mit einem verzweifelten Buchan, der aufgrund seiner Unzulänglichkeiten – die Geschichte ist nicht mehr Lehrmeisterin des Lebens! – inzwischen auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss, endet die dritte Staffel. Die Tragik wird noch dadurch gesteigert, dass Buchan auch den Tod seiner Psychologin nicht verhindern kann. Die Geschichte ist nicht nur kritisch geworden, sondern zugleich in eine handfeste Krise geraten. Wie in der kritischen Sozialgeschichte der 1970er Jahre wird auch hier die Frage gestellt: Wozu noch Geschichte?

Eine vierte Staffel der Serie ist offensichtlich geplant. Stellt sich die Frage, wie es weitergehen könnte mit unserem Polizeihistoriker und der Rolle der Geschichte bei der Bewältigung der Wirklichkeit (des Verbrechens). Nur konsequent wäre eine postmoderne Wende. Denkbar wäre eine Staffel, in der ein Archivaußen konsequent negiert wird, in der sich das Verbrechen nun im Archiv und seinen Akten abspielt, in der der Archivar möglicherweise selbst zum Mörder, zum Vollstrecker der historischen Überlieferung wird – und sich dabei im Archiv selbst auf die Schliche kommt. Der Polizeihistoriker würde dann möglicherweise verschwinden, aber das Archiv würde in all seiner zwielichtigen Bedrohlichkeit weiterbestehen.

Aber dann müsste auch noch eine fünfte Staffel folgen, in der das Verhältnis von Geschichte und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart neu und offen verhandelt würde. Dann ließen sich geschichtstheoretische Überlegungen in die Mordfälle einbauen, die das komplexe Wechselverhältnis zwischen einer Gegenwart und ihren verschiedenen Möglichkeiten der Bezugnahme zur Vergangenheit thematisieren. Dabei kann es auch nicht mehr genügen, ein dichotomisches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterstellen, sondern vergangene Gegenwart müsste als Teil unseres Hier und Jetzt offenbar werden, ohne zur Lehrmeisterin degradiert zu werden.

Zugegeben, ein wenig telegener Vorschlag. Ein Glück für dieses Medium, dass ich mir keine Fernsehmorde ausdenken muss. Ich kann nur hoffen, dass mich die nächste Erkältung zum richtigen Zeitpunkt niederstreckt – genau dann, wenn die vierte Staffel ausgestrahlt wird und ich mich gerne passiv berieseln und von geschichtstheoretisch affinen Serien belehren lasse.


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04. Die D-Mark und die Alternative im Gestern

Früher war nicht alles besser, früher war einfach vieles früher, wie der Alltagsethnograph Jochen Malmsheimer unnachahmlich und unmissverständlich festgestellt hat. Dabei ist es natürlich wohlfeil, rückwärtsgewandte Idealisierungen als naiv zu brandmarken. Es fällt leicht, mit süffisantem Lächeln auf diejenigen herabzublicken, die mit rosaroter Brille die Zustände vergangener Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte verherrlichen und dabei den moralischen, kulturellen und sowieso allumfassenden Verfall ihrer eigenen Gegenwart betrauern. Nostalgie ist ein ernst zu nehmendes Phänomen, und zwar nicht nur weil seine „Entdeckung“ im 17. Jahrhundert im medizinischen Kontext erfolgte und eine schwerwiegende Gemütserkrankung kennzeichnete. Vielmehr können ihre Symptome uns auch heute einigen Aufschluss geben über den Geschichtsgebrauch und die Vergangenheitsverarbeitung von Kulturen. Nostalgien werden inzwischen zwar nicht mehr in Arztpraxen behandelt, sind aber Indikatoren für herrschende (oder auch nur mögliche) temporale Verfassungen, gerade wenn sie sich in eine Vergangenheit zurücksehnen, die es nie gab.

Eine Altherren-Alternative

In Deutschland macht derzeit eine neu gegründete Partei von sich reden, die in politischen Kommentaren schnell als Nostalgieverein, als rückwärtsgewandter Club älterer (und zumeist gut situierter) Herren beschrieben wird. Dabei trägt die „Alternative für Deutschland“ vor allem eine zentrale Forderung vor sich her, nämlich den Euro abschaffen und die D-Mark wieder einführen zu wollen.

Es lohnt sich wohl, eine kurze Chronologie der „Alternative für Deutschland“ wiederzugeben. Denn wer weiß, in einigen Jahren wird hoffentlich dieses Blog noch existieren, aber die Partei möglicherwiese nicht mehr derart im Fokus stehen wie dieser Tage, unter Umständen sogar im Orkus der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein. Daher für alle Nachgeborenen: Die Gründung dieser Partei, die am 6. Februar 2013 erfolgte, war eine direkte Reaktion auf die Schuldenkrise, die den Raum der Euro-Währung seit 2009 in heftige Turbulenzen gebracht hatte. Hervorgegangen war die AfD aus den Reihen der CDU, getragen vor allem von euroskeptischen Menschen, die die gern als „alternativlos“ bezeichnete Europa- und Finanzpolitik der schwarz-gelben Regierung unter Kanzlerin Merkel nicht mehr akzeptieren wollten. Die „Alternative für Deutschland“ erfuhr unmittelbar große mediale Aufmerksamkeit und auch einen erheblichen Zulauf – darunter auffallend viele Männer mittleren Alters, die wohl eher wenig Anlass hatten, sich akute wirtschaftliche Sorgen zu machen; ach ja, und ein überproportional großer Anteil an Volkswirtschaftsprofessoren war ebenfalls dabei. Die Partei sprach eher dasjenige konservative Publikum an, das in einer weichgespülten CDU keine Heimat mehr fand. Indem sie dieses politische Spektrum rechts der Mitte bediente, rief die AfD aber zugleich die üblichen Verdächtigen von tiefschwarzer bis brauner Färbung auf den Plan.

Rückkehr zu Bewährtem

Am 14. April 2013 fand der Gründungsparteitag in Berlin statt, bei dem auch ein erstes Parteiprogramm beschlossen wurde. Nun gebe ich gerne zu, dass es mir an ökonomischer Expertise mangelt, um entweder die weitere Entwicklung der Euro-Währung oder die möglichen Konsequenzen einer Wiedereinführung der D-Mark einschätzen zu können. Vor allem werde ich den Verdacht nicht los, dass sich solche Fragen aufgrund der ungemein hohen Komplexität der Materie eher mit einer Glaskugel als mit wissenschaftlichem Sachverstand beantworten lassen. Im Besitz einer Glaskugel bin ich übrigens auch nicht. Daher lassen wir beim Blick in das Parteiprogramm die ansonsten immer wieder gern angeführten Kernforderungen der „Alternative für Deutschland“ beiseite, vergessen für einen Moment die von ihr gewünschte Auflösung des Euro-Raums und die Wiedereinführung nationaler Währungen, und kümmern uns stattdessen um die wirklich wichtigen Dinge, nämlich um das historische Programm, das es zwar nicht in die offizielle Parteidoktrin geschafft hat, das aber als beständig mitlaufender Subtext präsent ist.

Und da ist auffallend häufig von Dingen die Rede, die eher in die Zeit vor 1989 passen – falls sie historisch nicht noch weiter zurückreichen –, als die Welt einem noch hübsch geordnet vorkommen konnte. Da ist viel von „Deutschland“ die Rede (wenn auch immer wieder garniert mit den standardisierten Verweisen auf die nachbarschaftliche Kooperation mit dem Rest Europas), da wird regelmäßig die „Nation“ bemüht, da soll alles „kleiner“ und „stabiler“ werden (also nicht mehr so europäisch und so unübersichtlich), da ist die Familie die „Keimzelle der Gesellschaft“, da wird auch schon einmal explizit die „Rückkehr“ zu „Bewährtem“ gefordert, beispielsweise die „Rückkehr zu bewährten Diplom- und Staatsexamensstudiengängen“ und da soll (wenig überraschend) die „ungeordnete Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ unterbunden werden.

Flucht vor Verunsicherungen

Hier spricht die durchaus erwartbare konservative Furcht vor der Unübersichtlichkeit, vor der Fremdheit, vor Neuerungen und vor dem stets drohenden Verlust des Erreichten und Erarbeiteten. Jede Verschiebung im Horizont des eigenen Weltbildes löst Verunsicherungen aus, die durch ein Festhalten am Altgedienten kontrolliert werden sollen. Da das Morgen beim derzeitigen Lauf der Dinge eigentlich nur noch mehr Verunsicherungen bringen kann, wird das Heil in der Vergangenheit gesucht. Die „Alternative für Deutschland“ sucht also eine Alternative im Gestern.

Was bei all den Turbulenzen auf den Finanzmärkten und im Euro-Schulden-Raum, die das frühe 21. Jahrhundert zu bieten hat, allenthalben für erhebliches Unbehagen sorgt, sind nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die temporalen Auswirkungen. Auf den Finanzmärkten wird nämlich nicht nur Geld gewonnen oder verloren, sondern wird ebenso Zeit als Möglichkeitraum geschaffen oder vernichtet.[1] Und unabhängig davon, ob es die Finanzwirtschaft oder die Finanzpolitik ist, das Gebaren nicht nur der letzten Jahre, sondern der letzten Jahrzehnte zeigt in eine deutliche Richtung: In unserer eigenen Gegenwart können wir nur noch konstatieren, wie die jüngere Vergangenheit die Zukunft aufs Spiel gesetzt und sich dabei verzockt hat. Die unglaublichen Finanzmengen, die heute aufgewendet werden, um eine Zukunft zu retten, von der noch niemand weiß, wie sie aussehen wird, führen zu einer massiven Einschränkung künftiger Handlungsmöglichkeiten – und zwar schon heute. Wir verbrauchen unsere Zukunft (und die Gegenwart der Zukünftigen) schon jetzt. Möglicherweise sollte man – einem Vorschlag von Barbara Adam folgend – Aktionen und Produkte der Gegenwart nicht nur mit einem ökologischen, sondern auch mit einem temporalen Fußabdruck versehen. Er könnte sichtbar machen, ob zukünftige Handlungsspielräume eröffnet oder vernichtet werden. Wie dieser Fußabdruck beim gegenwärtigen Finanzgebaren aussähe, versteht sich von selbst.

Nun bereichert die „Alternative für Deutschland“ dieses Spiel mit der Zeit im Zeichen der finanziellen Apokalypse um eine weitere, recht naheliegende, aber bisher noch nicht so prominent dargebotene Variante. Nun wird auch noch mit der Vergangenheit gezockt. Man fühlt sich unweigerlich an das Europa des 16. Jahrhunderts erinnert, als nach der Reformation der Kontinent in zahlreiche unterschiedliche Konfessionskirchen aufgespalten war. Auch damals stand das Ende der Welt vor der Tür, wenn auch in heilsgeschichtlicher Hinsicht. Und im Angesicht der Apokalypse wurden auch damals unterschiedliche zeitliche Varianten durchgespielt. Die Protestanten wollten mit ihren reformatorischen Bestrebungen zurück zu den Zuständen der christlichen Urkirche, andere hingegen ersehnten die naheliegende Zukunft einer tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden, bevor es zum Jüngsten Gericht kommen sollte. Auch gegenwärtig scheinen wir es eher mit ökonomischen Glaubensgemeinschaften als mit rationalen Programmen zu tun zu haben, die hier gegeneinander stehen.

Aber den Alternativsuchern im Gestern sei eine historische Grunderkenntnis mit auf den Weg gegeben, die sie bei ihren Bemühungen achtsam beherzigen sollten: Nicht nur die Zukunft, auch die Vergangenheit ist unvorhersagbar. Das Gestern kann zwar besser werden, muss aber nicht. Daher Vorsicht an historischen Bahnsteigkante.

[1] Elena Esposito, Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, Heidelberg 2010


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03. Niebel und die musealisierte Mütze

Selbstentwicklungshilfeminister

Es war einmal ein deutscher Entwicklungshilfeminister, der gar nicht Entwicklungshilfeminister werden wollte und bei dem sich auch niemand erklären konnte, warum ausgerechnet er diesen Job übernehmen sollte. Zudem hatte dieser Entwicklungshilfeminister einen Regierungsposten besetzt, den seine Partei und wahlprogrammgemäß auch er selbst kurz zuvor noch als unnötig und geldverschwenderisch abschaffen wollten. Nicht zuletzt musste man sich fragen, bei welcher „Entwicklung“ dieser Minister hätte helfen können, außer vielleicht bei seiner eigenen karrieretechnischen. Aber es scheint dann insbesondere der letzte Punkt gewesen zu sein, der ihn alle Bedenken über Bord werfen ließ, um im Dienst der Sache, nämlich seiner eigenen, im Jahr 2009 diesen Posten zu übernehmen. Besser irgendein Minister als gar kein Minister.

Seither kann man ab und an beobachten, wie Dirk Niebel möglichst medienwirksam in dieser politischen Arena zu reüssieren versucht, wie er bei großen internationalen Kongressen immer etwas deplatziert wirkt in diesen multikulturellen Zusammenhängen, wie in der Begegnung mit Menschen von anderen Kontinenten die Überraschung über deren FDP-Ferne immer noch groß zu sein scheint, wie ein gewisses Fremdeln mit dem eigenen Amt und den damit zusammenhängenden Aufgaben kaum zu übersehen ist – und wie ein Minister sich mit einer befremdlichen Mütze vor der Hitze Afrikas zu schützen sucht.

Die Mütze im Museum

Richtigerweise muss man inzwischen sagen: mit der er sich zu schützen versuchte. Denn die vor Kurzem noch aktuelle Verwendung von Niebels Mütze ist inzwischen zur Vergangenheit geworden. Eine Verwendungsweise hat der anderen Platz gemacht, das Kleidungsstück ist zum Ausstellungsstück mutiert. Niebels Mütze ist den Weg alles Symbolischen gegangen: Sie ist ins Museum gewandert. Am 7. März 2013 übergab der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, dem Sammlungsdirektor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, Dr. Dietmar Preißler, die Mütze, die er seit seiner Bundeswehrzeit bei den Fallschirmjägern besaß (die Fallschirmspringerei scheint in der FDP eine gewisse Tradition zu genießen) und die er bei seinen ministerialen Auslandsreisen immer getragen hat. Wir haben es also mit der historischen Großepoche zwischen Frühjahr 2010 (Niebels erste Auslandsreise) und Frühjahr 2013 (Musealisierung der Mütze) zu tun.

In dieser Zeit hat Niebel – diese Mütze tragend – welche historisch aufwühlenden Taten vollbracht oder ihnen wenigstens beigewohnt? Nun, er ist ins nicht-europäische Ausland gereist und hat Fernsehinterviews gegeben, was man eben so macht als Entwicklungshilfeminister. Dabei hat er immer getreu dem Michel-aus-Lönneberga-Motto gehandelt: „Nicht ohne meine Müsse.“ Da kann man nur sagen: Das wurde aber auch Zeit, dass dieses einmalige Stück der jüngeren Zeitgeschichte endlich dem Museum vermacht und dem drohenden Verlust für die Nachwelt entrissen wurde. Entsprechend ließ der Minister auf der Internetseite seines Ministeriums auch der Freude Ausdruck verleihen, „dass meine Mütze heute den Weg in die Geschichtsbücher findet.“ (Ohne allzu beckmesserisch sein zu wollen, aber zunächst ist die Mütze ins Geschichtsmuseum gewandert; ob sie es in die Geschichtsbücher schafft, ist eine andere Frage. Aber vielleicht freut sich der Minister auch, dass sie den Weg in (m)ein Geschichtsblog gefunden hat?)

Mütze und Macht

So erfreulich und geschichtsträchtig dieser Vorgang auch sein mag, einige Fragen drängen sich natürlich auf, bei denen es politisch und vor allem historisch interessant wird. Da wäre einmal die Frage nach der Initiative – wer hat denn dafür gesorgt, dass das gute Stück ins Museum kommt? Ich hege den Verdacht, dass es vielleicht nicht das Museum selbst war. Schließlich hat Niebel schon vor Längerem angekündigt, dass es seine umstrittene Kopfbedeckung noch einmal ins Museum schaffen würde. Aber dass es so schnell gehen würde …

Nächste Frage: Was könnte sich das Museum von dieser vorauseilenden Historisierung versprechen? Sammlungsdirektor Preißler sagte laut Pressemeldung, die Mütze stehe „in einer Reihe mit Kleidungsstücken von Politikern, die über deren Person und die Wahrnehmung in den Medien Auskunft geben“. Joschka Fischers Turnschuhe, Helmut Kohls Strickjacke, Helmut Schmidts Schirmmütze – alles museal nachvollziehbar und tatsächlich Teil des bundesrepublikanischen Bildgedächtnisses geworden. Aber befindet sich Niebels Mütze tatsächlich schon in dieser Liga? Sollte dem nicht so sein, dürfte man weniger die Mütze selbst als vielmehr ihren Träger dafür verantwortlich machen. Das Museum wäre zumindest vorbereitet, wenn dem Politiker doch noch ein kometenhafter Aufstieg vergönnt sein sollte (auch das soll in der FDP ja schon vorgekommen sein). Und einer geschenkten Mütze schaut man nicht auf die Schweißränder.

Dritte Frage: Welche historische Erkenntnis darf der künftige Museumsbesucher von dem Ausstellungsstück erwarten? Es ist richtig, der Zusammenhang von Kleidung und Macht kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Botschaften, die eine Elisabeth II. im Krönungsornat, ein Mao Zedong in Arbeiter- oder Soldatenuniform und ein Joschka Fischer in Turnschuhen bei der Vereidigung übermitteln, sind wesentlich prägnanter als langatmige Reden. [1] Hier kann man tatsächlich auf einen Blick erfassen, wofür diese politischen Entscheidungsträger stehen oder wie sie gesehen werden wollen. (Das Bonner Museum kann sich also schon einmal an die Planung eines Anbaus machen, wenn demnächst Angela Merkel ihre gesamte Kollektion an Kostümen vorbeibringt.) Wenn das aber so ist, welche Botschaft wollte Niebel dann vermitteln, als er im Ausland ausgerechnet mit einer Mütze des deutschen Militärs auftauchte? Vielleicht: „Oh, Entschuldigung, ich hatte gerade keinen anderen Schutz gegen die Sonne zur Hand“? „Mein spärliches Ministergehalt genügt leider nicht für eine andere Kopfbedeckung“? „Entwicklungshilfe ist ein Kampfeinsatz“? Oder: „Wenn ich schon eine Randfigur im Kabinett bin und von der Materie wenig Ahnung habe, dann sollte ich dabei wenigstens optisch auffallen“?

Diese eher unangenehm berührende Form der Selbsthistorisierung kann den künftigen Museumsbesucher also am ehesten darüber belehren, wie zukünftige Vergangenheiten in der Gegenwart dazu missbraucht werden sollten, politische und historische Bedeutung zu produzieren, die bedauerlicherweise wenig Substanz hat. Geschichte wird gemacht, das ist schon richtig. Aber glücklicherweise ist daran nicht nur eine Person beteiligt. Über eine wirklich nachhaltige Historisierung und Musealisierung entscheiden immer noch die Nachgeborenen, nicht allein die Gegenwärtigen.

Schade allerdings, dass ausgerechnet diese weit reichende Erkenntnis den Besuchern des Hauses der Geschichte in Bonn bis auf weiteres verwehrt bleibt. Die Mütze verschwindet nämlich erst einmal in der Asservatenkammer (was die Pressemeldungen peinlichst verschwiegen haben). Dabei war es doch das Ziel dieser Aktion, Niebels politischer Karriere genau diesen Gang zu ersparen.

[1] Thomas Frank u.a.: Des Kaisers neue Kleider. Über das imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt a.M. 2002.


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02. Franziskus und die Frage nach Zeit oder Ewigkeit

Rituale im Flüsterton

Es ist schon ein paar Tage her, dass der katholischen Welt ein neues Oberhaupt beschert wurde und der Rest der Welt einen neuen Papst kennenlernte. Lassen wir an dieser Stelle die vielen Diskussionen um die Reformbedürftigkeit und Reformwilligkeit einer fast zweitausend Jahre alten Institution beiseite, all die Fragen um die Kompatibilität einer Heilsgarantieinstitution samt Alleinvertretungsanspruch mit den Gegebenheiten des frühen 21. Jahrhunderts. Als Unternehmensberater müsste man der katholischen Kirche wohl dringend raten, keinesfalls diesen Aufforderungen zur Anpassung an die Gegenwart nachzugeben, denn damit würde sie ihren unverwechselbaren Markenkern verlieren. Wo findet man so etwas noch, eine weithin etablierte Institution riesigen Ausmaßes mit einer gehörigen Anhängerschaft (wie aktiv oder passiv diese auch immer sein mag), die ganz offensichtlich in der Lage ist, ein bestimmtes menschliches Bedürfnis nach Ritual und Mysterium zu bedienen? Wie groß dieses Bedürfnis immer noch ist, kann man jedes Jahr an Weihnachten und eben bei jeder Papstwahl beobachten. Auch bei der Kür von Franziskus konnte man sich als Mensch mit einem halbwegs aufgeklärten Selbstverständnis nur wundern über die Berichterstattung diverser Medien. Da wurde über geheimnisvolle Rituale geraunt, wurden lateinische Formeln ausgedeutet und Jahrhunderte alte Traditionen mit gravitätischem Unterton auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft. Insbesondere bei Fernsehliveübertragungen müssen sich die Berichtenden dann auch noch eines leichten Flüstertons befleißigen, um ja die Aura des Geschehens nicht über Gebühr zu stören. Man kam sich vor wie bei einem dieser schlechten Dan-Brown-Vatikan-Thriller. Sage mir einer angesichts dieses offensichtlichen Bedürfnisses nach dem Numinosen, das die katholische Kirche umgibt (und mit dem sie umgeben wird), sie sei nicht mehr von dieser Welt. Gut, sie ist nicht mehr von dieser Welt, aber gerade deswegen wird sie sich nicht ändern. Man muss sich entscheiden: entweder Mysterium und Weihrauch (inklusive Zölibat, sexuellen Missbrauchsfällen, Homophobie und einer Ungleichbehandlung der Geschlechter) oder eine „moderne“ Kirche, die mit beiden Füßen in der Gegenwart steht – dafür aber ohne Tamtam und Klimbim. Ich denke, die Chancen der katholischen Kirche, sich nicht ernsthaft modernisieren zu müssen, stehen nicht schlecht.

Der Wievielte?

Aber das soll hier ja gar nicht interessieren. Am Tag der Wahl von Franziskus, am 13. März 2013, gab es eine andere, marginal erscheinende Gelegenheit festzustellen, wie weit die katholische Kirche und die Welt des frühen 21. Jahrhunderts sich bereits auseinander entwickelt haben. Aufgrund der unsäglichen Unsitte, inzwischen auch recht gute Restaurants flächendeckend mit Flachbildschirmen zu tapezieren, wurde ich während eines Abendessens unfreiwilliger Zeuge der Liveübertragung von der Proklamation des neuen Papstes in Rom. Wie auf Knopfdruck titelten alle Medien, und das offensichtlich weltweit, der Name des neuen Papstes sei „Franziskus I.“. Wie inzwischen bekannt, war das nicht korrekt, widersprach auch den Angaben des Vatikans, der die Zählung an keiner Stelle erwähnte, und wurde innerhalb von 24 Stunden von den gleichen Medien auch als Irrtum erkannt und korrigiert. Es gibt zunächst einmal einen trivialen logischen Grund, warum der Titel „Franziskus I.“ keinen Sinn ergibt. Warum sollte man irgendjemand als den Ersten bezeichnen, wenn es nicht mindestens einen Zweiten gibt, von dem er sich unterscheiden könnte? Wenn man schon unbedingt eine Zählung einführen wollte, dann müsste Franziskus nicht „der Erste“, sondern korrekterweise „der bisher Einzige“ als Namenszusatz führen. Oder wenn wir schon bei unsinnigen Titulaturen sind, dann könnten wir ihn, in memoriam Michael Ende, auch Franziskus den Viertelvorzwölften nennen.

Zeit oder Ewigkeit

Aber mit der Zählung war ja schnell Schluss, schon am Tag nach der Wahl hieß der Papst ganz brav überall nur noch „Franziskus“. Mir scheinen die Medienvertreter weltweit aber nicht nur deswegen spontan mit der Bezeichnung „Franziskus I.“ reagiert zu haben, weil sie in ihrer Ausbildung leider gerade auf einem Betriebsausflug waren, als die Seminare „Logik I und II“ angeboten wurden, sondern weil hier zwei grundsätzlich verschiedene temporale Modelle aufeinandertreffen. Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Fortschritts- und Heilsgeschichte. Und möglicherweise wird gerade an dieser Marginalie, ob man Franziskus nun als den ersten bezeichnen möchte oder nicht, deutlich, wie sehr sich die katholische und die nicht-katholische Welt unterscheiden. Mit einem säkularen Zeit- und Geschichtsverständnis könnte es durchaus sinnvoll erscheinen, Franziskus als den ersten zu bezeichnen. Schließlich muss und darf man davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit (und der katholischen Kirche) auf Erden noch eine ganze Weile, um nicht zu sagen: unendlich fortgesetzt wird, so dass schon irgendwann ein zweiter kommen wird. Dieses subkutan vorherrschende historische Modell hat, so denke ich, zu den spontanen Tickermeldungen geführt, die den neuen Papst als den ersten seines Namens durchnummerierten. Übersetzt könnte das heißen: Er ist der erste Franziskus, aber ein zweiter wird schon noch kommen, selbst wenn wir ein paar Jahrhunderte warten müssen, aber die Zeit haben wir. Die katholische Kirche hingegen lebt in einer heilsgeschichtlich orientierten Welt, in der es einerseits die Zeit auf Erden gibt, andererseits eine göttliche Ewigkeit, eine transzendente Zeitentrücktheit, auf die Religion im eigentlichen Sinn konzentriert sein muss. Angesichts der Ewigkeit ist die Zeit auf Erden nicht nur eine zu vernachlässigende Marginalie, sondern sie ist auch noch endlich. Schließlich ist die Schöpfung mit einem heilsgeschichtlichen Verfallsdatum versehen, wird irgendwann an ihr Ende kommen, um der Ewigkeit Platz zu machen, wird irgendwann das Jüngste Gericht einberufen, nicht nur um seine Urteile zu fällen, sondern auch um die irdische Zeit in all ihrer Vergänglichkeit abzuschaffen. Und wer weiß, ob es bis dahin einen zweiten Franziskus gegeben haben wird? Sicherlich lässt gerade dieses Ewigkeitsmodell für eine erkleckliche Anzahl von Menschen die katholische Kirche, trotz aller Kritik, immer noch attraktiv erscheinen, weil sie sich einen verschwenderisch-entspannten Umgang mit der Zeit leisten kann, die den meisten Menschen – verstrickt in die Rundum-Ökonomisierung ihres Lebensalltags – abhandengekommen ist. Deswegen kann für die Papstkirche Franziskus eben nicht der erste sein, dem sicherlich ein zweiter nachfolgen wird, sondern muss der bisher einzige sein – der möglicherweise auch der letzte bleiben wird.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/06/02-franziskus-und-die-frage-nach-zeit-oder-ewigkeit/

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01. Nietzsche und die historische Gretchenfrage

Aus nicht ganz aktuellem Anlass ein paar Worte zu einem alten Freund und Kupferstecher: Nietzsche ist ein notorisch aufregender Diskussionspartner, schließlich gibt es im Dialog mit seinen Büchern kaum Wohltemperiertheit. Die mittlere Stimmung ist nicht seine Stärke, die heftige Polemik, die thesenhafte Zuspitzung, die Verschmähung von Gegnern, das opulent formulierte eigene Anliegen hingegen schon. So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder zwischen jubelnder Zustimmung und grunzender Ablehnung.

Da mich das Historische in seiner allgemeinen wie auch besonderen Präsenz in unser aller Alltag interessiert, soll es hier um Nietzsches famose zweite unzeitgemäße Betrachtung gehen. Dieser Text hat unübersehbaren Einfluss ausgeübt auf die Behandlung der geschichtstheoretischen Gretchenfrage, wie wir es nämlich mit der Bedeutung der Geschichte in unserem Leben halten wollen. Bei Nietzsches Lebensbegriff mag das verzweifelte Stöhnen der Leserschaft bereits anheben. Denn sein Verständnis von „Leben“ ist emphatisch aufgeladen und kommt – Arm in Arm untergehakt – mit der „Gesundheit eines Volkes“ und der Bedeutung der „Tat“ daher, die allesamt in mehr als einer Hinsicht Schwierigkeiten machen können.

Wollen Sie die letzten zwanzig Jahre noch einmal leben?

Seien wir jedoch für einen Moment großzügig und lassen die eine oder andere Unstimmigkeit beiseite. Ich befleißige mich eher als geschichtstheoretischer Parasit und befrage Nietzsches „Unzeitgemäße“ (welche Anmaßung schon hier: bestimmen zu wollen, was „die Zeit“ ausmacht, um sich von ihr mit einem hochnäsigen Avantgardismus abzusondern) daraufhin, was sie uns heute noch zu sagen hat. Weniger erkenntnisfördernd finde ich dabei die ansonsten häufig behandelte Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung. Es ist vielmehr eine andere, eher unscheinbare, weil theoretisch auf den ersten Blick nicht sonderlich interessante Frage, die meines Erachtens Aufmerksamkeit verdient. Was nämlich, so fragt Nietzsche, wenn man seine Bekannten (oder auch die gänzlich Unbekannten) fragen würde, ob sie die letzten zehn bis zwanzig Jahre noch einmal durchleben wollten (S. 255)? An dieser Form historischer Problematisierung – wie hältst du es mit der Bedeutung der Vergangenheit für deine Gegenwart? – könnten sich unterschiedliche Formen der Geschichtskultur festmachen lassen, ließen sich diverse historische Typen identifizieren (von denen Nietzsche schon einige benennt) und damit auch gänzlich unterschiedliche Arten und Weisen bestimmen, Geschichte zu haben und zu machen. Aus diesen diversen Formen der Geschichte ergäben sich wiederum Möglichkeiten der geschichtstheoretischen Reflexion.

Man kann den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ also in der vermeintlich banalen Beobachtung sehen, dass wir in einer Kultur leben, die sich ohne große Gegenrede seit Langem darauf verständigt hat, „der Geschichte“ eine zentrale Rolle zuzuweisen. Wir leben mithin in einer soziokulturellen Wirklichkeit, die sich der Beobachtung der eigenen Historisierung verschrieben hat, die also ihrer eigenen Geschichte konstitutiven Wert beimisst, gegenwärtige Geschehnisse beständig auf ihren historischen Wert hin taxiert, permanent mit der Produktion von „eigener“ Geschichte beschäftigt ist und nicht zuletzt deswegen sämtliche Phänomene mit einem Datum versieht. Das ist in (historisch und global) vergleichender Perspektive keineswegs notwendig. Man könnte auch sehr gut ohne ein solches Verständnis von „Geschichte“ leben. Europa und dem Westen kann das aber kaum noch gelingen. Warum nicht? Welche Vor- und Nachteile hat eine solche Form der permanenten Historisierung?

Sie verführt zumindest dazu, „Geschichte“ als einen neutralen, alles umhüllenden Container zu begreifen, der die objektive Chronologie vorgibt, in den sich menschliche Tätigkeiten, gesellschaftliche Begebenheiten und kulturelles Geschehen einsortieren lassen. „Geschichte“ wird damit zum säkularen Religionsersatz. Was jedoch außer Acht bleibt, ist die Historizität der Historie – mit fatalen Folgen. [1]

Die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anpassen

Nietzsche warnt beispielsweise vor einer naiven, ja ich würde sagen: arroganten Art und Weise des Umgangs mit dem Historischen, die nicht erst zu seinen Zeiten ein Problem darstellte, sondern seither nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es ist eine Position, die untrennbar mit einer diffusen Fortschrittsgläubigkeit verbunden ist und sich unbesehen selbst an die Spitze der historischen Entwicklung setzt, um majestätischen Blicks auf die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit herabzublicken. „Jene naiven Historiker nennen ‚Objectivität‘ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“ (S. 289)

Das schließt für Nietzsche eine weitere Position im Umgang mit der Vergangenheit aus, nämlich die richtende. Wenn man sich schon nicht anmaßen kann, die Klimax historischer Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen – Nietzsches Lieblingshaudrauf ist hier natürlich Hegel –, wie sollte man sich dann ein Urteil über frühere Zustände erlauben? „Als Richter müsstet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid. Die Gäste, die zuletzt zur Tafel kommen, sollen mit recht die letzten Plätze erhalten: und ihr wollt die ersten haben?“ (S. 293)

Aber halt: Würde ein solcher Verzicht denn nicht bedeuten, sich der Beurteilung offensichtlichen Unrechts zu entheben? Man muss dabei nicht erst auf den Holocaust verweisen, denn das Problem würde sich auch in zahlreichen anderen Fällen stellen. Hier ginge es aber wohl darum, die Ebenen auseinander zu halten, denn ein Geschehen historisch einzuordnen und für eine Gegenwart anschlussfähig zu machen, ist etwas anderes, als daraus die moralischen Konsequenzen zu ziehen. Beide Schritte bleiben zwar aufeinander bezogen, betreffen aber tatsächlich grundlegend andere Zeitebenen. Einmal wird in der Gegenwart über die Vergangenheit gesprochen, das andere Mal werden aus der Vergangenheit Konsequenzen für die Gegenwart gezogen. Ob die Vergangenheit diese Konsequenzen auch schon hätte ziehen können, wäre wiederum eine historische Frage.

Kein Baum vor lauter Wald

Welche Fragen könnte man also im Anschluss an Nietzsche stellen? Welche anderen Umgangsformen mit dem Geschichtlichen kann man identifizieren? Wo ließe sich das Historische in unserem Alltag und unserem „Leben“ ausfindig machen? Die Schwierigkeit ist wahrscheinlich eher, den Baum im Waldesdickicht erkennbar zu machen. Denn, wie nicht großartig bewiesen werden muss, das Historische ist überall – nur möglicherweise nicht immer ganz offensichtlich. Und es ist nicht immer leicht zu sagen, in welcher Form es sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bemerkbar macht.

Beispiele für Historisierungen, für den Gebrauch und Missbrauch von Geschichte gibt es nun wahrlich zuhauf. Wir werden geradezu überflutet mit der beständigen Rede von angeblich historischen Ereignissen, die sich im Minutentakt ereignen, von einem alles erinnernden Memorialkult, vom Geschichtsfernsehen, von Zeitschriften und Büchern historischen Inhalts, von Mittelaltermessen – und von unserem eigenen permanenten Verfilmen und Verfotografieren unseren banalen Alltags, wodurch wir längst zu unseren eigenen Ego-Historikern und Ego-Archivaren geworden sind. Man kann zuweilen Nietzsches Verzweiflung angesichts einer allgegenwärtigen Überhistorisierung verstehen. „By the time you look at something it’s already history“, sang Bruce Cockburn einst. Auch wenn er damit eher die Flüchtigkeit von Werten beklagte, kann man diesen Satz auch als Anklage gegen eine übermäßige Vergeschichtlichung verstehen.

Wie weitermachen? Wie soll man sich in einer solchen Situation noch ernsthaft mit Geschichte beschäftigen können? Nietzsche weiß Rat: mit der unumgänglichen Anwendung der Historie auf sich selbst. Eine Selbstoperation ohne Narkose, gewissermaßen. Es geht also nicht um eine disziplinäre Selbstversicherung, nicht um eine Geschichte der Geschichtsschreibung, sondern um eine geschichtstheoretische Selbstverunsicherung. Der „Ursprung [der historischen Bildung] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren […].“ (S. 306) Daher: Sucht „die Geschichte“ und spießt sie auf, wo immer ihr sie trefft. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, wir hätten mit dieser Arbeit kaum begonnen.

[1] Elizabeth Deeds Ermarth, History in the discursive condition. Reconsidering the tools of thought, London/New York 2011, 98.

[Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Sämtliche Werke. Krirtische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 9. Aufl. München 2012, 243-334]


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/03/30/nietzsche-und-die-historische-gretchenfrage/

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