02. Franziskus und die Frage nach Zeit oder Ewigkeit

Rituale im Flüsterton

Es ist schon ein paar Tage her, dass der katholischen Welt ein neues Oberhaupt beschert wurde und der Rest der Welt einen neuen Papst kennenlernte. Lassen wir an dieser Stelle die vielen Diskussionen um die Reformbedürftigkeit und Reformwilligkeit einer fast zweitausend Jahre alten Institution beiseite, all die Fragen um die Kompatibilität einer Heilsgarantieinstitution samt Alleinvertretungsanspruch mit den Gegebenheiten des frühen 21. Jahrhunderts. Als Unternehmensberater müsste man der katholischen Kirche wohl dringend raten, keinesfalls diesen Aufforderungen zur Anpassung an die Gegenwart nachzugeben, denn damit würde sie ihren unverwechselbaren Markenkern verlieren. Wo findet man so etwas noch, eine weithin etablierte Institution riesigen Ausmaßes mit einer gehörigen Anhängerschaft (wie aktiv oder passiv diese auch immer sein mag), die ganz offensichtlich in der Lage ist, ein bestimmtes menschliches Bedürfnis nach Ritual und Mysterium zu bedienen? Wie groß dieses Bedürfnis immer noch ist, kann man jedes Jahr an Weihnachten und eben bei jeder Papstwahl beobachten. Auch bei der Kür von Franziskus konnte man sich als Mensch mit einem halbwegs aufgeklärten Selbstverständnis nur wundern über die Berichterstattung diverser Medien. Da wurde über geheimnisvolle Rituale geraunt, wurden lateinische Formeln ausgedeutet und Jahrhunderte alte Traditionen mit gravitätischem Unterton auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft. Insbesondere bei Fernsehliveübertragungen müssen sich die Berichtenden dann auch noch eines leichten Flüstertons befleißigen, um ja die Aura des Geschehens nicht über Gebühr zu stören. Man kam sich vor wie bei einem dieser schlechten Dan-Brown-Vatikan-Thriller. Sage mir einer angesichts dieses offensichtlichen Bedürfnisses nach dem Numinosen, das die katholische Kirche umgibt (und mit dem sie umgeben wird), sie sei nicht mehr von dieser Welt. Gut, sie ist nicht mehr von dieser Welt, aber gerade deswegen wird sie sich nicht ändern. Man muss sich entscheiden: entweder Mysterium und Weihrauch (inklusive Zölibat, sexuellen Missbrauchsfällen, Homophobie und einer Ungleichbehandlung der Geschlechter) oder eine „moderne“ Kirche, die mit beiden Füßen in der Gegenwart steht – dafür aber ohne Tamtam und Klimbim. Ich denke, die Chancen der katholischen Kirche, sich nicht ernsthaft modernisieren zu müssen, stehen nicht schlecht.

Der Wievielte?

Aber das soll hier ja gar nicht interessieren. Am Tag der Wahl von Franziskus, am 13. März 2013, gab es eine andere, marginal erscheinende Gelegenheit festzustellen, wie weit die katholische Kirche und die Welt des frühen 21. Jahrhunderts sich bereits auseinander entwickelt haben. Aufgrund der unsäglichen Unsitte, inzwischen auch recht gute Restaurants flächendeckend mit Flachbildschirmen zu tapezieren, wurde ich während eines Abendessens unfreiwilliger Zeuge der Liveübertragung von der Proklamation des neuen Papstes in Rom. Wie auf Knopfdruck titelten alle Medien, und das offensichtlich weltweit, der Name des neuen Papstes sei „Franziskus I.“. Wie inzwischen bekannt, war das nicht korrekt, widersprach auch den Angaben des Vatikans, der die Zählung an keiner Stelle erwähnte, und wurde innerhalb von 24 Stunden von den gleichen Medien auch als Irrtum erkannt und korrigiert. Es gibt zunächst einmal einen trivialen logischen Grund, warum der Titel „Franziskus I.“ keinen Sinn ergibt. Warum sollte man irgendjemand als den Ersten bezeichnen, wenn es nicht mindestens einen Zweiten gibt, von dem er sich unterscheiden könnte? Wenn man schon unbedingt eine Zählung einführen wollte, dann müsste Franziskus nicht „der Erste“, sondern korrekterweise „der bisher Einzige“ als Namenszusatz führen. Oder wenn wir schon bei unsinnigen Titulaturen sind, dann könnten wir ihn, in memoriam Michael Ende, auch Franziskus den Viertelvorzwölften nennen.

Zeit oder Ewigkeit

Aber mit der Zählung war ja schnell Schluss, schon am Tag nach der Wahl hieß der Papst ganz brav überall nur noch „Franziskus“. Mir scheinen die Medienvertreter weltweit aber nicht nur deswegen spontan mit der Bezeichnung „Franziskus I.“ reagiert zu haben, weil sie in ihrer Ausbildung leider gerade auf einem Betriebsausflug waren, als die Seminare „Logik I und II“ angeboten wurden, sondern weil hier zwei grundsätzlich verschiedene temporale Modelle aufeinandertreffen. Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Fortschritts- und Heilsgeschichte. Und möglicherweise wird gerade an dieser Marginalie, ob man Franziskus nun als den ersten bezeichnen möchte oder nicht, deutlich, wie sehr sich die katholische und die nicht-katholische Welt unterscheiden. Mit einem säkularen Zeit- und Geschichtsverständnis könnte es durchaus sinnvoll erscheinen, Franziskus als den ersten zu bezeichnen. Schließlich muss und darf man davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit (und der katholischen Kirche) auf Erden noch eine ganze Weile, um nicht zu sagen: unendlich fortgesetzt wird, so dass schon irgendwann ein zweiter kommen wird. Dieses subkutan vorherrschende historische Modell hat, so denke ich, zu den spontanen Tickermeldungen geführt, die den neuen Papst als den ersten seines Namens durchnummerierten. Übersetzt könnte das heißen: Er ist der erste Franziskus, aber ein zweiter wird schon noch kommen, selbst wenn wir ein paar Jahrhunderte warten müssen, aber die Zeit haben wir. Die katholische Kirche hingegen lebt in einer heilsgeschichtlich orientierten Welt, in der es einerseits die Zeit auf Erden gibt, andererseits eine göttliche Ewigkeit, eine transzendente Zeitentrücktheit, auf die Religion im eigentlichen Sinn konzentriert sein muss. Angesichts der Ewigkeit ist die Zeit auf Erden nicht nur eine zu vernachlässigende Marginalie, sondern sie ist auch noch endlich. Schließlich ist die Schöpfung mit einem heilsgeschichtlichen Verfallsdatum versehen, wird irgendwann an ihr Ende kommen, um der Ewigkeit Platz zu machen, wird irgendwann das Jüngste Gericht einberufen, nicht nur um seine Urteile zu fällen, sondern auch um die irdische Zeit in all ihrer Vergänglichkeit abzuschaffen. Und wer weiß, ob es bis dahin einen zweiten Franziskus gegeben haben wird? Sicherlich lässt gerade dieses Ewigkeitsmodell für eine erkleckliche Anzahl von Menschen die katholische Kirche, trotz aller Kritik, immer noch attraktiv erscheinen, weil sie sich einen verschwenderisch-entspannten Umgang mit der Zeit leisten kann, die den meisten Menschen – verstrickt in die Rundum-Ökonomisierung ihres Lebensalltags – abhandengekommen ist. Deswegen kann für die Papstkirche Franziskus eben nicht der erste sein, dem sicherlich ein zweiter nachfolgen wird, sondern muss der bisher einzige sein – der möglicherweise auch der letzte bleiben wird.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/06/02-franziskus-und-die-frage-nach-zeit-oder-ewigkeit/

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01. Nietzsche und die historische Gretchenfrage

Aus nicht ganz aktuellem Anlass ein paar Worte zu einem alten Freund und Kupferstecher: Nietzsche ist ein notorisch aufregender Diskussionspartner, schließlich gibt es im Dialog mit seinen Büchern kaum Wohltemperiertheit. Die mittlere Stimmung ist nicht seine Stärke, die heftige Polemik, die thesenhafte Zuspitzung, die Verschmähung von Gegnern, das opulent formulierte eigene Anliegen hingegen schon. So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder zwischen jubelnder Zustimmung und grunzender Ablehnung.

Da mich das Historische in seiner allgemeinen wie auch besonderen Präsenz in unser aller Alltag interessiert, soll es hier um Nietzsches famose zweite unzeitgemäße Betrachtung gehen. Dieser Text hat unübersehbaren Einfluss ausgeübt auf die Behandlung der geschichtstheoretischen Gretchenfrage, wie wir es nämlich mit der Bedeutung der Geschichte in unserem Leben halten wollen. Bei Nietzsches Lebensbegriff mag das verzweifelte Stöhnen der Leserschaft bereits anheben. Denn sein Verständnis von „Leben“ ist emphatisch aufgeladen und kommt – Arm in Arm untergehakt – mit der „Gesundheit eines Volkes“ und der Bedeutung der „Tat“ daher, die allesamt in mehr als einer Hinsicht Schwierigkeiten machen können.

Wollen Sie die letzten zwanzig Jahre noch einmal leben?

Seien wir jedoch für einen Moment großzügig und lassen die eine oder andere Unstimmigkeit beiseite. Ich befleißige mich eher als geschichtstheoretischer Parasit und befrage Nietzsches „Unzeitgemäße“ (welche Anmaßung schon hier: bestimmen zu wollen, was „die Zeit“ ausmacht, um sich von ihr mit einem hochnäsigen Avantgardismus abzusondern) daraufhin, was sie uns heute noch zu sagen hat. Weniger erkenntnisfördernd finde ich dabei die ansonsten häufig behandelte Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung. Es ist vielmehr eine andere, eher unscheinbare, weil theoretisch auf den ersten Blick nicht sonderlich interessante Frage, die meines Erachtens Aufmerksamkeit verdient. Was nämlich, so fragt Nietzsche, wenn man seine Bekannten (oder auch die gänzlich Unbekannten) fragen würde, ob sie die letzten zehn bis zwanzig Jahre noch einmal durchleben wollten (S. 255)? An dieser Form historischer Problematisierung – wie hältst du es mit der Bedeutung der Vergangenheit für deine Gegenwart? – könnten sich unterschiedliche Formen der Geschichtskultur festmachen lassen, ließen sich diverse historische Typen identifizieren (von denen Nietzsche schon einige benennt) und damit auch gänzlich unterschiedliche Arten und Weisen bestimmen, Geschichte zu haben und zu machen. Aus diesen diversen Formen der Geschichte ergäben sich wiederum Möglichkeiten der geschichtstheoretischen Reflexion.

Man kann den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ also in der vermeintlich banalen Beobachtung sehen, dass wir in einer Kultur leben, die sich ohne große Gegenrede seit Langem darauf verständigt hat, „der Geschichte“ eine zentrale Rolle zuzuweisen. Wir leben mithin in einer soziokulturellen Wirklichkeit, die sich der Beobachtung der eigenen Historisierung verschrieben hat, die also ihrer eigenen Geschichte konstitutiven Wert beimisst, gegenwärtige Geschehnisse beständig auf ihren historischen Wert hin taxiert, permanent mit der Produktion von „eigener“ Geschichte beschäftigt ist und nicht zuletzt deswegen sämtliche Phänomene mit einem Datum versieht. Das ist in (historisch und global) vergleichender Perspektive keineswegs notwendig. Man könnte auch sehr gut ohne ein solches Verständnis von „Geschichte“ leben. Europa und dem Westen kann das aber kaum noch gelingen. Warum nicht? Welche Vor- und Nachteile hat eine solche Form der permanenten Historisierung?

Sie verführt zumindest dazu, „Geschichte“ als einen neutralen, alles umhüllenden Container zu begreifen, der die objektive Chronologie vorgibt, in den sich menschliche Tätigkeiten, gesellschaftliche Begebenheiten und kulturelles Geschehen einsortieren lassen. „Geschichte“ wird damit zum säkularen Religionsersatz. Was jedoch außer Acht bleibt, ist die Historizität der Historie – mit fatalen Folgen. [1]

Die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anpassen

Nietzsche warnt beispielsweise vor einer naiven, ja ich würde sagen: arroganten Art und Weise des Umgangs mit dem Historischen, die nicht erst zu seinen Zeiten ein Problem darstellte, sondern seither nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es ist eine Position, die untrennbar mit einer diffusen Fortschrittsgläubigkeit verbunden ist und sich unbesehen selbst an die Spitze der historischen Entwicklung setzt, um majestätischen Blicks auf die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit herabzublicken. „Jene naiven Historiker nennen ‚Objectivität‘ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“ (S. 289)

Das schließt für Nietzsche eine weitere Position im Umgang mit der Vergangenheit aus, nämlich die richtende. Wenn man sich schon nicht anmaßen kann, die Klimax historischer Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen – Nietzsches Lieblingshaudrauf ist hier natürlich Hegel –, wie sollte man sich dann ein Urteil über frühere Zustände erlauben? „Als Richter müsstet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid. Die Gäste, die zuletzt zur Tafel kommen, sollen mit recht die letzten Plätze erhalten: und ihr wollt die ersten haben?“ (S. 293)

Aber halt: Würde ein solcher Verzicht denn nicht bedeuten, sich der Beurteilung offensichtlichen Unrechts zu entheben? Man muss dabei nicht erst auf den Holocaust verweisen, denn das Problem würde sich auch in zahlreichen anderen Fällen stellen. Hier ginge es aber wohl darum, die Ebenen auseinander zu halten, denn ein Geschehen historisch einzuordnen und für eine Gegenwart anschlussfähig zu machen, ist etwas anderes, als daraus die moralischen Konsequenzen zu ziehen. Beide Schritte bleiben zwar aufeinander bezogen, betreffen aber tatsächlich grundlegend andere Zeitebenen. Einmal wird in der Gegenwart über die Vergangenheit gesprochen, das andere Mal werden aus der Vergangenheit Konsequenzen für die Gegenwart gezogen. Ob die Vergangenheit diese Konsequenzen auch schon hätte ziehen können, wäre wiederum eine historische Frage.

Kein Baum vor lauter Wald

Welche Fragen könnte man also im Anschluss an Nietzsche stellen? Welche anderen Umgangsformen mit dem Geschichtlichen kann man identifizieren? Wo ließe sich das Historische in unserem Alltag und unserem „Leben“ ausfindig machen? Die Schwierigkeit ist wahrscheinlich eher, den Baum im Waldesdickicht erkennbar zu machen. Denn, wie nicht großartig bewiesen werden muss, das Historische ist überall – nur möglicherweise nicht immer ganz offensichtlich. Und es ist nicht immer leicht zu sagen, in welcher Form es sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bemerkbar macht.

Beispiele für Historisierungen, für den Gebrauch und Missbrauch von Geschichte gibt es nun wahrlich zuhauf. Wir werden geradezu überflutet mit der beständigen Rede von angeblich historischen Ereignissen, die sich im Minutentakt ereignen, von einem alles erinnernden Memorialkult, vom Geschichtsfernsehen, von Zeitschriften und Büchern historischen Inhalts, von Mittelaltermessen – und von unserem eigenen permanenten Verfilmen und Verfotografieren unseren banalen Alltags, wodurch wir längst zu unseren eigenen Ego-Historikern und Ego-Archivaren geworden sind. Man kann zuweilen Nietzsches Verzweiflung angesichts einer allgegenwärtigen Überhistorisierung verstehen. „By the time you look at something it’s already history“, sang Bruce Cockburn einst. Auch wenn er damit eher die Flüchtigkeit von Werten beklagte, kann man diesen Satz auch als Anklage gegen eine übermäßige Vergeschichtlichung verstehen.

Wie weitermachen? Wie soll man sich in einer solchen Situation noch ernsthaft mit Geschichte beschäftigen können? Nietzsche weiß Rat: mit der unumgänglichen Anwendung der Historie auf sich selbst. Eine Selbstoperation ohne Narkose, gewissermaßen. Es geht also nicht um eine disziplinäre Selbstversicherung, nicht um eine Geschichte der Geschichtsschreibung, sondern um eine geschichtstheoretische Selbstverunsicherung. Der „Ursprung [der historischen Bildung] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren […].“ (S. 306) Daher: Sucht „die Geschichte“ und spießt sie auf, wo immer ihr sie trefft. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, wir hätten mit dieser Arbeit kaum begonnen.

[1] Elizabeth Deeds Ermarth, History in the discursive condition. Reconsidering the tools of thought, London/New York 2011, 98.

[Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Sämtliche Werke. Krirtische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 9. Aufl. München 2012, 243-334]


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/03/30/nietzsche-und-die-historische-gretchenfrage/

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