Es mag schon eine ältere Veröffentlichung sein, aber sie hat mich nachhaltig geärgert und irritiert:Am 24.06.2012 schrieb der Soziologe Georg Kamphausen unter dem Titel “Wie Studenten denken” über Studierende, die seinen Ansprüchen in einer Klausur offenbar nicht gerecht geworden waren. Aufhänger seiner Polemik war eine Karikatur, auf der ein Lehrer mit blauem Auge der Mutter eines Skinheads erklärt: “Ihr Sohn ist kein Choleriker. Er ist einfach emotional intelligent.”
Nachdem Kamphausen die vermeintliche Verschulung der Wissenskultur an der Universität (“Mit der Bachelor- und Modularisierung ihrer Studiengänge schließt die Universität nahtlos an die schulische Praxis der Wissensvermittlung an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu vermitteln, ohne die lästige Frage zu stellen, was sich denn eigentlich zu wissen lohnt, und die Kunst zu lehren, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.”) und die wachsende Relevanz von Lehrbüchern, Skripten und PowerPoint-Präsentationen kritisiert hat, kommt er auf seinen eigentlichen Punkt zu sprechen: “Was, aber vor allem wie denken unsere Studenten?”
Ausgangspunkt ist die bereits erwähnte Karikatur. Nach Kamphausens eigener Auskunft bestand die Klausuraufgabe darin, diese Karikatur zu “kommentieren”.Dabei ging es ihm “darum festzustellen, ob junge Leute mit Abitur in der Lage sind, ein eigenständiges Urteil zu begründen”. Ausführlich legt er dann Auszüge aus den Klausuren vor, die vor allem eines dokumentiere: Die Studierenden kommen mit der gestellten Aufgabenicht klar.
Ist das ein Wunder? “Kommentieren Sie die Karikatur” ist keine präzise Aufgabenstellung; selbst ein Zusatz wie “… und begründen Sie Ihr Urteil” würde diesen Mangel nicht heilen. Ein Studierender kann eine solche Aufgabe gar nicht zufriedenstellend lösen; er kann alles Mögliche kommentieren (und beispielsweise laut darüber nachdenken, wieso diese Karikatur nicht in Farbe abgedruckt wird), ohne dass eine Abweichung von der Zielsetzung der Aufgabe deutlich würde.
Viel interessanter und aussagekräftiger aber sind die Antworten, wenn man versucht, aus Ihnen Rückschlüsse über die der Klausur zugrundliegende Vorlesung (“Einführung in die Soziologie”) zu ziehen. Viele Antworten bemühen sich sichtlich, einen der soziologischen Klassiker (Max Weber, Theodor W. Adorno u.v.a.) heranzuziehen, um in deren Diktion eine Reaktion auf die unglückliche Aufgabenstellung zu formulieren. Offenkundig bestand die Vorlesung aus einer in solchen Einführungsvorlesungen leider üblichen Reihung soziologischer Klassiker – viele Lehrbücher, die in die Soziologie einführen, sind genauso aufgebaut. Ein problemorientierter Ansatz würde anders aussehen.
Vielleicht ist das dem Autor selbst undeutlich klar, denn er schreibt einleitend:
“Ein Problem als Problem zu behandeln, eine Frage als Frage zu erörtern ist daher nicht das Ziel modularisierter Vorlesungen. Es werden nur Fragen gestellt, auf die es auch eine Antwort gibt, Beobachtungen gemacht, aus denen sich Regeln ableiten lassen.”
Sollte er seine eigene Vorlesung so aufgebaut haben wie beschrieben, als Reihung von Klassikern ohne Problemorientierung, dann würden die studentischen Klausurantworten Sinn ergeben. Und eine solche Vorlesung würde auch die Aufgabenstellung erklären helfen: Wer nicht so recht weiß, wie er Studierende in soziologisches Denken (und eben nicht in Klassiker!) einführt, der weiß auch nicht recht, wie er entsprechende Prüfungsaufgaben stellen sollte.Kompetenzorientieres Prüfen heißt zuerst: Studierende vor Probleme stellen, die sie nur lösen können, wenn sie die fachspezifischen Standards des Problemlösens beherrschen. Das stellt für Vorlesungen natürlich eine besondere Herausforderung dar.
“An den Universitäten herrscht eine große Hilflosigkeit vor Texten und ein Mangel an Urteilskraft” – so fasst Kamphausen seine Eindrücke zusammen. Was viel mehr erschüttert, ist seine Hilflosigkeit vor Lehre und Prüfungen und sein Mangel an Selbstreflexion.
Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/35