Das twitter-Projekt zum Novemberpogrom vor 75 Jahren @9nov38 (Homepage) verzeichnete mit inzwischen fast 11.000 Followern, zahlreichen Retweets und Kommentaren sowie einem breiten, positiven Medienecho (z.B.„Reichspogromnacht in 140 Zeichen“ oder „Geschichte neu gezwitschert“) in den vergangenen Tagen erstaunliche Erfolge. Die positive Resonanz ist erfreulich; dem Anspruch, neue Wege der Geschichtserzählung zu beschreiten um die Öffentlichkeit für Geschichte zu interessieren, ist – sicher weit mehr als die fünf Initiatoren des Projekts vorstellen konnten – Rechnung getragen worden. Das Web2.0 macht einmal das große Potenzial deutlich, historische Themen in neuer Form zu popularisieren.
Zwei kurze Gedanken bzw. Fragen sollen dennoch einem gewissen Unbehagen Ausdruck geben – und haben zunächst einen ganz subjektiven Subkontext: Ich mag keine sog. „Liveticker“, die im Netz auf Nachrichten- und Presseportalen inzwischen inflationär verbreitet sind. Stehen aktuelle Ereignisse, Katastrophen oder erwartbare Entscheidungen an, werden dort alle möglichen Informationsschnipsel angehäuft, Wichtiges steht neben Banalem, eine Analyse wird nicht gegeben, sie erfolgt assoziativ und situativ (sowie vermutlich nicht selten fehlgeleitet) beim Rezipienten. Auch weil die tweets von @9nov38 im Präsens verfasst werden, entsteht der Eindruck eines solchen Livetickers. Die erste Frage: Was können die Summe der teils in darstellender Form, teils auf Grundlage von Zitaten aus Quellen verfassten tweets zur historischen Erkenntnis des Ereignisses beitragen – oder konkreter: Ist die Erkenntnis gegenüber anderen Darstellungsformen nicht eher dünn?
Man könnte entgegenhalten: Der besondere Effekt des „Live-Bloggens“ historischer Ereignisse liegt sicher darin, eine zeitliche Abfolge, Entwicklung und Dramaturgie aufzuzeigen – somit Vergangenheit „erfahrbar“ zu machen. In der Geschichtsdidaktik ist dieser Anspruch aber durchaus umstritten. Die Vergangenheit ist vorbei, jede Geschichtsschreibung als Deutung von Vergangenheit in der (jeweiligen) Gegenwart ist eben vor allem durch die Gegenwart geprägt, durch aktuell wirksame Deutungsbedürfnisse und beispielsweise geschichtspolitische Gemengelagen. Ziel der Ausbildung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins ist insbesondere, die Unterscheidung von Vergangenheit und Geschichte bewusst zu machen. Man kann also 2013 nicht „live“ beim Novemberpogrom dabei sein, es ist vor allem auch nicht triftig für eigenes Handeln – anders als bei den Menschen 1938, die entweder großes Leid erfuhren oder zu Tätern oder stillschweigenden Zuschauern wurden. Deshalb die zweite Frage (vielleicht an zukünftige Projekte solcher Art, die @Julikrise zeichnet sich ja schon ab): Wäre es nicht sinnvoller, die Rückschau als historisches Narrativ im Imperfekt abzufassen und damit als solches zu kennzeichnen – dass also Geschichte geschrieben und nicht Vergangenheit „nacherlebt“ werden soll?
empfohlene Zitierweise Pallaske, Christoph (2013): nachgefragt | Vergangenheit im Liveticker – geht das? | @9nov38 In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 12.11.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/2196, vom [Datum des Abrufs].