Was jedoch nicht daran liegt, dass es ein Super-Erinnerungsjahr ist, sondern daran, dass die Geschichte sich allerlei fadenscheinige Vergleiche gefallen lassen muss.
In ihrer Neujahrsansprache schwor die Bundeskanzlerin die Bevölkerung auf das Super-Erinnerungsjahr 2014 ein. 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Berliner Mauer sind die Eckpfeiler dieses Erinnerungsmarathons, der schon seit Monaten angekündigt wird.
Ich habe kein Problem damit, an runden Jahrestagen historischer Ereignisse zu gedenken. Die magische Anziehung dieser Zahlen bringt Menschen dazu, an Jubiläen ihr eigenes Leben zu feiern (Geburtstage, Hochzeitstage, Dienstjubiläen usw.) oder eben auch, sich einer übergreifenden und kollektiven Vergangenheit zu versichern. Diese Jahre wirken als erinnerungskulturelle Katalysatoren und sind imstande, das öffentliche Bewusstsein auf Ereignisse und Prozesse zu richten, die in “normalen” Jahren nur wenig Beachtung finden und in ihren “Ehrenjahren” notwendige Neubewertungen erfahren und Gegenstand größerer Debatten werden. [1]
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird das Erinnerungsjahr 2014 dominieren. Das liegt einerseits an der runden magischen Zahl 100, aber auch daran, dass dieses Ereignis (in Deutschland) vergleichsweise wenig öffentlich diskutiert wird. Zweiter Weltkrieg und Mauerfall hingegen werden auch außerhalb runder Jahrestage häufiger vergegenwärtigt. Dies alles finde ich in Ordnung. Eine möglichst breite Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg wird der Erinnerungskultur und auch der Geschichtswissenschaft gut tun.
Was mich allerdings monströs nervt, sind diejenigen, die die Erinnerungswelle ausnutzen und alles Mögliche, was im Jahr 2014 passiert oder nicht passiert, in Beziehung zu den Ereignissen des Jahres 1914 setzen. So bieten im Super-Erinnerungsjahr die Finanzkrise und die europäische Eurokrise wie selbstverständlich Parallelen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nur: Hätte diese Parallele auch jemand bemüht, wenn die magischen 100 Jahre nicht im Spiel wären?
Ich möchte zwei Beispiele anführen, die mir in jüngster Zeit aufgefallen sind. Das erste ist extrem dreist, das zweite etwas intelligenter, aber nicht weniger falsch.
Der Spiegel-Online-Kolumnist Wolfgang Münchau schrieb im Dezember über die Eurokrise und argumentierte, dass die Krise sich weder über eine politische Integration noch über Markt-Anpassungsmechanismen lösen lasse, sondern nur über die Schaffung einer übergeordneten staatlichen Einheit auf europäischer Ebene, die über ein Mindestmaß an wirtschaftspolitischer Souveränität verfügen müsse, wozu unter anderem das Recht auf Steuererhebung und Verschuldung gehöre.
Mit dieser Analyse ist Münchau seiner Aufgabe als Wirtschafts- und Finanzexperte nachgekommen. (Vermutlich wird alles ganz anders kommen, aber dass sind wir von Wirtschaftsexperten ja gewöhnt, was uns hier aber nicht stören soll.) Da sich aber das Jahr 2013 zu Ende neigte und 2014 vor der Tür stand, musste noch der Erste Weltkrieg in die Kolumne hinein. Münchaus Argumentation ist folgendermaßen aufgebaut: Angela Merkel habe kürzlich Christopher Clarks Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog [2] gelesen und sogar daraus zitiert. Daraus könne geschlossen werden, dass die heutige europäische Politik etwas mit der des Vorkriegs-Europas gemeinsam haben. Das war gewissermaßen der Teaser des Artikels. Alle Leser, die erwartet haben, dass jetzt eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen 1914 und 2014 aufgelistet würden, wurden bitter enttäuscht. Es kommt kein einziges Argument, das sich auf 1914 bezieht. Lediglich am Schluss wird vage auf eine gegenseitige Blockade verwiesen, die als Parallele zum Ersten Weltkrieg zu verstehen sei: „Da sich jetzt alle Beteiligten perfekt gegenseitig blockieren, passiert gerade nichts. Das Schiff driftet. Irgendwann kommt es an das Ende vom Auge des Sturms. Was dann passiert, ist ergebnisoffen. Ohne den historischen Vergleich überzustrapazieren, es gibt in der Tat einige, spezifische Parallelen mit 1913/14.“
Und das ist die Dreistigkeit des Artikels: Es wird nur eine fadenscheinige Mini-Verbindung zum Ersten Weltkrieg gezogen und die geht auch noch komplett am Ziel vorbei. Wenn Münchau schon Clark zitiert, warum schaut er nicht einfach mal in das Buch hinein. Es ist wirklich keine Qual. Im Gegenteil: Es ist bestechend, wie scheinbar mühelos Clark ein komplexes und fesselndes Narrativ entwirft, das an keiner Stelle platt, analytisch schwach oder anekdotenhaft wirkt. Nicht die gegenseitige Blockade der europäischen Mächte hat den Ersten Weltkrieg ermöglicht, sondern der Handlungsspielraum, der durch zwei voneinander getrennte und gegeneinander gerichtete Blöcke entstanden war. Im Jahr 1878 kann man hingegen von einer diplomatischen oder politischen Blockade durch das europäische Bündnissystem sprechen. Der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien hielt die Spannungen zwischen Wien und Rom unter Kontrolle, der Rückversicherungsvertrag zwischen Russland und Deutschland bewahrte Deutschland davor, in den Konflikt zwischen Russland und Österreich hineingezogen zu werden. Ebenfalls konnte so ein russisch-französisches Bündnis gegen Deutschland verhindert werden. Großbritannien war durch die Mittelmeerentente mit Österreich und Italien verbunden und somit indirekt auch mit Deutschland. Erst das Auslaufen des Rückversicherungsvertrags zwischen Deutschland und Russland ermöglichte ab 1890 die Bildung eines bipolaren Europas, das sich nicht blockierte, sondern trotz aller dynastisch-familiären Verbindungen gegeneinander in Stellung brachte. [3] Wenn Münchau sich schon nicht von einem historischen Vergleich abbringen lässt, dann wäre die Gefahr der erneuten Bildung eines bipolaren Europas doch eine viel plausiblere (wenn letztendlich auch ebenso falsche) Warnung an die heutigen Politiker: die Nordentete gegen den Südbund etwa oder die Reichmächte gegen die Armallianz.
Das zweite Beispiel ist von Jakob Augstein, der ebenfalls eine Kolumne auf Spiegel Online hat. Augstein geht in seinem Text 1914, 2014 und weiter? etwas ausführlicher auf den Ersten Weltkrieg ein als Münchau, bei dem es wirklich nur das Mäntelchen war (um vermutlich mehr Clicks zu generieren).
Augstein hat zwei Argumente. Er argumentiert, dass Angela Merkel die Zersetzung Europas betreibe. Dies führe dazu, dass die Mehrheit der Deutschen den Untergang Europas als Befreiung empfänden, ohne die ungeahnten Risken einer solchen Entwicklung zu sehen. Merkel mit Wilhelm II. zu vergleichen, ist wirklich kein feiner Zug. Von Augstein, der vor einem Jahr selbst Opfer eines abstrusen Vergleichs wurde, hätte ich mehr Takt erwartet. Sein zweites Argument ist völlig unabhängig vom ersten und betrifft den Konflikt zwischen China und den USA. Seines Erachtens mimt heute China das aufstrebende Deutschland zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und die Vereinigten Staaten sind das Vereinigte Königreich, die sich mit ihrem schwindenden Status in der Welt nicht abfinden mögen. Es fehle also nur noch ein Auslöser wie damals die Ermordung des Kronprinzen in Sarajewo oder irgendeine loose cannon und die Welt stehe wieder in Flammen. Auf den ersten Blick ist dieser Vergleich interessant, da er sich auf den ewigen Konflikt zwischen dem Emporkömmling und dem Platzhirschen reduzieren lässt. Der zweite Blick zeigt jedoch, dass dies ein extremer Fall von Rosinenpickerei ist, der in keiner Weise der Komplexität der Julikrise oder der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs gerecht wird. Erstens gibt es in der Geschichte immer Auf- und Absteiger, was mal zu größeren Konflikten führt und mal nicht. Zweitens war Großbritannien nicht der erbitterte Gegner Deutschlands, sondern Frankreich. Das Vereinigte Königreich war viel stärker auf die Konflikte außerhalb Europas konzentriert. Den Ersten Weltkrieg auf einen Konflikt zwischen Großbritannien und Deutschland zu reduzieren, ist eine unzulässige Verkürzung, ähnlich wie der Versuch, die Weltpolitik heute lediglich als Auseinandersetzung zwischen den USA und China zu sehen. Trägt man den Vergleich auch nur einen Schritt weiter und versucht, die damaligen Interessen und das damalige Bündnissystem auf heute zu übertragen, führt er sich selbst ad absurdum. Denn wer ist heute in der Rolle von Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, den Balkan-Ländern, dem Osmanischem Reich, den USA und so weiter? Ist Taiwan dann Serbien oder doch eher Japan?
Wenig überraschend wird Christopher Clark auch von Augstein angeführt, um die kruden Vergleiche zu rechtfertigen. Dieser habe die Akteure von 1914 schließlich als unsere Zeitgenossen bezeichnet, die gewusst hätten, dass sie mit dem Feuer spielten. Ja, Clark schreibt, dass die Zeitgenossen von damals moderne, heutige Züge trugen. Er schreibt aber auch: “Accepting this challenge does not mean embracing a vulgar presentism that remakes the past to meet the needs of the present, but rather acknowledging those features of the past of which our changed vantage point can afford us a clearer view.” [4]
Was in den besprochenen Kolumnen passiert, ist das Gegenteil der von Clark geforderten Anstrengungen, eine klare Sicht auf die Dinge zu bekommen. Es sind Nebelkerzen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart einräuchern – und andersherum. Presentism eben, für das sich noch keine deutsche Übersetzung etabliert hat.
Bleibt die Hoffnung, dass nach all den Gedenkfeiern, Reden, Talkshows, Dokumentationen, Fernsehfilmen etc. die das Jahr 2014 noch bringen wird, so viel Wissen über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kursiert, dass es schwieriger wird, weiterhin solche nebulösen, effekthascherischen Vergleiche anzustellen. Die Geschichtswissenschaft vermag diese nicht alleine zu verhindern, wie der falsche Gebrauch von Clarks Arbeit zeigt. In diesem Sinne: Happy New Memory Boom Year!
[1] Für eine Kritik an Gedenktagen siehe Achim Landwehrs Blog-Post Gedenken auf Teufel komm raus.
[2] Christopher Clark, The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, (London: Allen Lane, 2012).
[3] Ebd. 121ff.
[4] Ebd. xxvi.
Quelle: http://fyg.hypotheses.org/156